Vorworte Die Erinnerung - Michael Imhof Verlag · Gloire à la plus grande France Französische...

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Die Erinnerung 118 Die wiedergefundenen Stimmen der muslimischen Gefangenen SOPHIE BAJART 122 Kolonialsoldaten im Rheinland 1920–1923 SANDRA MASS 126 Der französische Ehrenfriedhof in Mainz ANNAMARIA BRANDSTETTER 128 Das „Denkmal für die Helden der Schwarzen Armee“ in Reims CHEIKH SAKHO 132 Die Gruft, von der niemand weiß JULIE COULOMBEL 134 Senegalesische Kriegsgefangene erzählen JOE LUNN 138 Die staatliche Erinnerung im Senegal IBRAHIMA THIOUB 142 Der letzte Tirailleur, das Dorf und die Medaille (1914–1998) MARTIN MOURRE 146 Ein Kunsthistoriker im Gefangenenlager ADOLPH GOLDSCHMIDT Anhang 152 Zeittafel 154 Landkarte: Die Welt 1914 156 Über die Autoren 158 Leihgeber, Dank, Impressum, Partner und Förderer 6 Vorworte JAN GERCHOW, KARLHEINZ KOHL, PIERRE MONNET 10 Zum Konzept der Ausstellung BENEDIKT BURKARD / CÉLINE LEBRET Die Soldaten 14 Die französischen Afrikatruppen im Ersten Weltkrieg ANTOINE CHAMPEAUX / ÉRIC DEROO 24 Kolonialsoldaten in Gefangenschaft und Lager MARGOT KAHLEYSS Die Fotografien 52 Den Feind im Auge PETER STEIGERWALD 58 Afrikanische Kriegsgefangene in der deutschen Propaganda JANÓS RIESZ 72 Das offizielle Bild der afrikanischen Truppen in Frankreich HÉLÈNE GUILLOT Die Wissenschaft 80 Kriegsgefangenenlager als frühes wissenschaftliches Terrain JEANLOUIS GEORGET 84 Physische Anthropologie und Völkerkunde KATJA GEISENHAINER 94 Die Gefangenen als Untersuchungsobjekte BRITTA LANGE 102 Leo Frobenius und der Erste Weltkrieg RICHARD KUBA Inhalt

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Die Erinnerung118 Die wiedergefundenen Stimmen der muslimischen Gefangenen

SOPHIE BAJART

122 Kolonialsoldaten im Rheinland 1920–1923SANDRA MASS

126 Der französische Ehrenfriedhof in MainzANNA-MARIA BRANDSTETTER

128 Das „Denkmal für die Helden der Schwarzen Armee“ in Reims CHEIKH SAKHO

132 Die Gruft, von der niemand weißJULIE COULOMBEL

134 Senegalesische Kriegsgefangene erzählenJOE LUNN

138 Die staatliche Erinnerung im SenegalIBRAHIMA THIOUB

142 Der letzte Tirailleur, das Dorf und die Medaille (1914–1998)MARTIN MOURRE

146 Ein Kunsthistoriker im GefangenenlagerADOLPH GOLDSCHMIDT

Anhang

152 Zeittafel

154 Landkarte: Die Welt 1914

156 Über die Autoren

158 Leihgeber, Dank, Impressum, Partner und Förderer

6 VorworteJAN GERCHOW, KARL-HEINZ KOHL, PIERRE MONNET

10 Zum Konzept der AusstellungBENEDIKT BURKARD / CÉLINE LEBRET

Die Soldaten 14 Die französischen Afrikatruppen im Ersten Weltkrieg

ANTOINE CHAMPEAUX / ÉRIC DEROO

24 Kolonialsoldaten in Gefangenschaft und Lager MARGOT KAHLEYSS

Die Fotografien52 Den Feind im Auge

PETER STEIGERWALD

58 Afrikanische Kriegsgefangene in der deutschen PropagandaJANÓS RIESZ

72 Das offizielle Bild der afrikanischen Truppen in FrankreichHÉLÈNE GUILLOT

Die Wissenschaft80 Kriegsgefangenenlager als frühes wissenschaftliches Terrain

JEAN-LOUIS GEORGET

84 Physische Anthropologie und VölkerkundeKATJA GEISENHAINER

94 Die Gefangenen als UntersuchungsobjekteBRITTA LANGE

102 Leo Frobenius und der Erste WeltkriegRICHARD KUBA

Inhalt

im Jahr 1914 erstreckt sich das französische Kolonialreich übernord-, West- und Zentralafrika, madagaskar, die Komoren, Asienund auch über einige pazifische inseln. Die französischen Kolo-nien weisen nach Status, Funktionsweise und Verwaltung einestarke heterogenität auf. Algerien als Siedlungskolonie ist einSonderfall und besteht aus Departements, die als eine Verlänge-rung Frankreichs im südlichen mittelmeer gelten. Die institutio-nen, mit denen Algerien zwischen 1898 und 1900 ausgestattetwird, sollen seine integration verstärken. tunesien und marokkodagegen sind protektorate, die dem Außenministerium unterste-hen; Verteidigung und innere Sicherheit obliegen dem Kriegsmi-nisterium.Alle anderen territorien des Kolonialreichs unterliegen 1914 dem1894 gegründeten Kolonialministerium. es werden vier große Ge-neralgouvernements neu geschaffen: ab 1887 Französisch-indochi-na (Annam, Cochinchina, tongking, Kambodscha und Laos);1895 Französisch-Westafrika (AoF); 1910 schließlich Französisch-Äquatorialafrika (AeF), madagaskar und die Komoren; die übri-gen unterstehen dem Kolonialgouverneur. Dieses Kolonialreich,insbesondere Afrika, lieferte neben rohstoffen und landwirt-schaftlichen produkten auch Arbeitskräfte und truppen.

Schon bei den militärischen eroberungen der Kolonien habenalle großen Kolonialnationen, insbesondere Frankreich, Deutsch-land und england, einheimische einheiten aus Berufssoldaten,Wehrpflichtigen und hilfstruppen gebildet. Gründe dafür warenVerluste durch tropische Krankheiten, mangelnde Kenntnisse überdas jeweilige Land, unangemessene Ausrüstung und fehlende Frei-willige aus europa. Was Frankreich anbelangt, stellte man im 19. Jahrhundert eine Vielzahl besonderer militärischer Formatio-nen auf: im maghreb die sogenannte „Afrikaarmee“ (Arméed’Afrique) und die „Kolonialarmee“ überall sonst.1 Dieser Beitrag konzentriert sich auf die afrikanischen truppen.

Von der Geografie zur Ethnografie

Das 1845 geglückte experiment, senegalesische truppen zu schaf-fen, veranlasst den hauptmann der pioniere (und späteren Gou-verneur Senegals) Louis Faidherbe, ein Bataillon unter dem na-

men „tirailleurs sénégalais“ zu bilden, das 1857 von Kaiser napo-leon iii. amtlich anerkannt wird. Die von den alten handelsnieder-lassungen ausgehenden militärexpeditionen erobern immer um-fänglichere Gebiete, und die tirailleure spielen dabei eineentscheidende rolle. Dem 1884 im Senegal gebildeten 1. tirail-leur-regiment folgen eine Vielzahl weiterer. Die rekrutierten Sol-daten werden ursprünglich je nach ursprungsregion bezeichnet:Senegal-, hausa-, tschad-, Gabun-, madagaskar-tirailleure usw.einige Jahre über wurde auch die Bezeichnung „Kolonialtirailleu-re“ verwendet. in der praxis und aus Gründen der Verwaltungs-vereinfachung setzte sich ab 1900 die Bezeichnung Senegaltirail-leure durch. Der Begriff tirailleur, der ursprünglich einen„außerhalb der geordneten Gefechtsformation schießendenKämpfer mit größerer Bewegungsfreiheit“ meinte, fand später un-terschiedslos Anwendung auf infanteristen, Kavalleristen, Artille-risten und selbst Fahrer, Sanitäter oder Arbeiter von truppenteilenin der etappe.

Sehr rasch jedoch werden die tirailleure von den rekrutie-rungsoffizieren nicht mehr nach ihrer geografischen herkunft be-nannt, sondern nach ihrer Zugehörigkeitsethnie: es entwickelt sicheine rangfolge zwischen den tirailleuren, die „rassen“ angehören,die als „kriegerischer“ oder Frankreich wohlgesonnen gelten – inder Saharazone etwa die Bambara, mossi, malinke, Susu, Sara oderBanda –, und solchen, deren ethnien als weniger „kämpferisch“eingeschätzt werden, so die der äquatorialen oder tropischen Wäl-der wie die Gruppe der pahouin. Die seit längerem islamisiertenBevölkerungsgruppen wie die peuhl-toucouleur gelten im Übri-gen als wenig zuverlässig.2

im Jahr 1910 schreibt der oberstleutnant mangin in seinemBuch La Force noire: „Zweifellos sind diese rassen sehr unter-

Die französischen Afrikatruppen im Ersten WeltkriegAntoine ChAmpeAux / ériC Deroo

Gloire à la plus grande FranceFranzösische Postkarte (Ausschnitt), 1914 (Sammlung Riesz)

Der kleine Krieger (Junger Serer)Französische Postkarte, um 1910 (Sammlung Riesz)

dert. Dieses recht hatten sie dank ihres Abgeordneten BlaiseDiagne7 erlangt, dem es gelang, dass 1915 ein entsprechendesGesetz verabschiedet wurde.8

Alle anderen Soldaten sind vom „Code de l’indigénat“ betrof-fen. Als „indigénat“ wird die Gesamtheit der regelungen bezeich-net, die auf die indigene Bevölkerung Algeriens und der seit 1833errungenen Kolonien anwendbar sind. in diesem juristischen re-gelwerk wurden die „eingeborenen“ als eine Kategorie eingestuft,die unter den französischen Bürgern stand, mit der Folge etwa ei-ner erweiterten Liste von Delikten und schwereren Strafen. Analo-ge regelungen wurden den Bevölkerungen der Kolonien im subsa-harischen Afrika, madagaskar und indochina im Zuge ihresorganisatorischen Aufbaus aufgezwungen. Dies hatte Folgen auchfür den Status der Soldaten.

Bis 1912 werden die einheimischen einheiten aus Afrika auffreiwilliger Basis rekrutiert. Da die Kolonialexpansion immermehr truppen erforderlich macht, erhöhen die regimenter dieZahl ihrer Bataillone: So umfasst das 1. regiment der algerischentirailleure bis zu acht Bataillone. Zur Bereitstellung der erforder-lichen mannschaftsstärken kommt es zu einberufungen unterZwang. Den Zwangseinberufenen werden im Gegenzug be-stimmte Vorteile eingeräumt: Wahlrecht in den heimatgemein-den, ihnen bislang vorenthaltene Beschäftigungen; die volleStaatsangehörigkeit wird ihnen allerdings weiterhin verwehrt.per Gesetz vom 19. Dezember 1912 sind nur die Algerier, die ih-ren militärdienst geleistet haben, vom regelwerk des „indige-nats“ befreit.

Die Truppen des Maghrebnahezu eine halbe million männer aus den französischen Kolo-nien nehmen an den Kämpfen des ersten Weltkriegs teil; dieüberwiegende mehrheit von ihnen ist in Afrika rekrutiert wor-den. Je länger der Krieg andauert, umso stärker wird auf die Ko-lonialtruppen zurückgegriffen. ein teil der truppen wird zurAufrechterhaltung der ordnung in den Kolonien oder in denKämpfen gegen die deutschen Kolonien in Afrika eingesetzt; derandere wird zu Kampfeinsätzen in europa und im mittleren os-ten geschickt.

Am Vorabend des Krieges kommen die in nordafrika statio-nierten truppen in marokko, wo Aufstände ausbrechen, bereitszum einsatz; daneben obliegt ihnen weiterhin die Aufrechterhal-tung der französischen hoheitsgewalt in Algerien. um dem mobi-lisierungsbefehl vom 1. August 1914 nachzukommen, werdenmarschregimenter9 aufgestellt. Sogleich werden drei infanteriedi-visionen sowie zwei Brigaden algerischer und marokkanischer Sol-daten an die Front geschickt. 25 000 algerische tirailleure gelangenso an die nordöstlichen Grenzen des mutterlands. in der mehrheitFreiwillige, bilden sie die ersten der 170 000 „indigenen“ – 33 000bereits unter den Fahnen, 80 000 einberufene und 57 000 Freiwil-lige –, die Algerien im Verlauf des ersten Weltkriegs bereitstellt.Schon bald macht der „totale Krieg“ einberufungen erforderlich,in der Folge auch häufig Zwangsrekrutierungen, was – insbesonde-re in Algerien – zu revolten führt. Auch tunesien und marokkostellen ihr Kontingent an Kämpfenden zur Verfügung: 62 400 tu-nesier und nahezu 37 000 marokkaner werden an allen Fronten inFrankreich und im orient kämpfen.

Die Afrikaarmee bringt ab 1915 auch einen Gutteil der truppenauf, die gegen die türken bei den Dardanellen geschickt, dann in-nerhalb der orientarmee gegen die Deutschen, österreicher undBulgaren eingesetzt werden. Das 1917 der Armee des Generals Al-lenby integrierte französische Sonderkommando palästina-Syrien,das auch afrikanische truppen umfasst, nimmt an der einnahmevon Damaskus teil, bevor es in den Libanon zurückkehrt. Den inden Dörfern und längs der Strecken zur Front stationierten etap-peneinheiten obliegt der transport der Verstärkungstruppen, desproviants, die evakuierung der Kranken und Verwundeten sowohlin Frankreich als auch in der orientarmee. Die etappeneinheitenbestehen aus „indigenen“ und französischen Soldaten, die altersbe-dingt nicht im Kampf eingesetzt werden können. Sie haben auchbei den weitergehenden Kriegsanstrengungen eine große rolle ge-spielt, so dienten die tirailleure in pulverfabriken und anderenkriegswichtigen Fabriken, bei der eisenbahn, als Forst- und Land-wirtschaftsarbeiter. Am ende des Krieges gehören die einheitender nordafrikanischen tirailleure zu den am meisten Dekoriertender französischen Armee. ihre Verluste betragen 25 000 tote unterden Algeriern, 9 800 unter den tunesiern und 12 000 unter denmarokkanern, nicht zu vergessen die Zehntausende von Schwer-verwundeten und invaliden.

19 Die FrAnZöSiSChen AFriKAtruppen im erSten WeLtKrieG

schiedlich und ihre besonderen Charaktereigenschaften stark aus-geprägt. Die ethnografische Karte Westafrikas zeigt ein regelrech-tes mosaik […]. Doch die unaufhörlichen Kämpfe haben derschwarzen rasse seit unvordenklichen Zeiten einen kriegerischenCharakter eingeprägt, den sie zwangsläufig über Jahrhunderte be-stätigen wird.“3 Diese Kategorisierung in kämpferische rassenspiegelt die in jener Zeit in europa herrschenden, wissenschaftlichverbrämten Bestrebungen wider, eine auf den vom Darwinismusinspirierten theorien der natürlichen Auswahl oder dann, gegen1900, auf den Forschungen der pariser Anthropologieschule be-gründete rassenhierarchie zu etablieren. Daneben zeugen sie aberauch vom spezifischen interesse der militärs für die Bevölkerungs-gruppen, die sie anwerben und deren organisationsformen undFunktionsweisen sie zu verstehen versuchen. Schließlich sind mili-tärs auch die ersten, die nicht nur Studien veröffentlichen und Fo-tografien herstellen, sondern die auf die in den Dörfern gesammel-ten rituellen Gegenstände aufmerksam werden und damit einebesondere, auf das interesse europäischer Sammler ausgerichteteproduktion in Gang setzen.4

Staatsbürger oder „Eingeborene“

Diese Werturteile in Bezug auf die afrikanischen Bevölkerungenverweisen sowohl auf eine französische Besonderheit, eine spezifi-sche, gleichermaßen politische wie philosophische Weltsicht, alsauch auf die rolle, die Frankreich darin zu spielen gedenkt. offi-ziell strebte man eine Assimilation an. Dabei nimmt die Armee inden Kolonien eine zentrale Stellung ein. Sie trägt dazu bei, den re-kruten eine reihe von Werten und idealen zu vermitteln, die demrepublikanischen universalismus zugrunde liegen: Assimilation,später integration der Bevölkerungen, Ausbildung einer gesell-schaftlichen mittelklasse, einer gewissen elite. Diese besondereAuffassung von den Beziehungen zwischen Frankreich und denkolonisierten Bevölkerungen erklärt auch, warum dieses Land alseinziges schon im 19. Jahrhundert den einsatz einheimischer ein-heiten auf den Schlachtfeldern europas vorbereitet und dann auchin die tat umsetzt:5 im Krim-Krieg (1853–56) und im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) mit rekruten aus nordafrika undvon 1914 an mit tirailleurs sénégalais, indochinesen, madagassenund Komorern.6

Da dieser text dem einsatz der einheimischen afrikanischentruppen der französischen Armee im ersten Weltkrieg gewid-met ist, bleiben die Senegalesen der sogenannten „Vier Gemein-den“ (Dakar, Gorée, rufisque und Saint-Louis) unberücksich-tigt, denn sie waren als französische Staatsbürger in dienichteinheimischen einheiten der Kolonialtruppen eingeglie-

18 Die SoLDAten

„Tirailleurs“ aus Indochina an der Front im Nordosten Frankreichs, Postkarte, um 1916/17(Collection Éric Deroo)

Gloire à la plus grande FranceFranzösische Postkarte, 1914 (Sammlung Riesz)

Vorhergehende Doppelseite:Vorder- und Rückseite einer Landkarte aus: La Dépêche coloniale illustrée, Februar 1917 (Collection Éric Deroo)

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Französischer Kolonialsoldataus dem Niger-bogen (FoA 07-8303 und 8304)