VWL Skript 02 - Makroökonomie - Hochschule Pforzheim

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Noll, Skript W-Ing. VWL 2/3 Makroökonomik 2011 Prof. Dr. Bernd Noll Hochschule Pforzheim Skript 2: Makroökonomik Anmerkungen zum richtigen Umgang mit diesem Skript: Dieses Skript ist kein Lehrbuch, auch kein Lehrbuchersatz. Es ist vielmehr eine Arbeitsunterlage, ein „Lückenskript“, mit dem sich nur dann sinnvoll arbeiten lässt, wenn man zugleich die Veranstaltung besucht. Viele Themen werden anhand von Leitfragen erarbeitet. Diese sind blau formatiert. Kontrollfragen sind rot markiert und sollten vom aktiven Zuhörer beantwortet werden. Fett markierte Wörter und Teile sollten als Schlagwörter genügen, um eine stichfeste Erklärung um dieses Wort aufzubauen. Im Anschluss an jedes Kapitel sind Wiederholungsaufgaben und Kontrollfragen eingefügt, die zur eigenständigen Bearbeitung für die Kursteilnehmer vorgesehen sind. Die grau unterlegten Teile des Skriptes werden in der Vorlesung nicht behandelt; es wird erwartet, dass sich die Teilnehmer selbst mit dem darin enthaltenen Stoff auseinandersetzen. Zum Skript gibt es einen Materialteil mit Grafiken, Tabellen und einigen Aufsätzen; dieser Materialteil wird zum Besuch der Veranstaltung benötigt.

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Makroökonomie Skript

Transcript of VWL Skript 02 - Makroökonomie - Hochschule Pforzheim

Noll, Skript W-Ing. VWL 2/3 Makroökonomik 2011

Prof. Dr. Bernd Noll                   Hochschule Pforzheim                       

 

Skript 2: Makroökonomik   

   

                

Anmerkungen zum richtigen Umgang mit diesem Skript: 

Dieses Skript ist kein Lehrbuch, auch kein Lehrbuchersatz. Es ist vielmehr eine Arbeitsun‐terlage, ein „Lückenskript“, mit dem sich nur dann sinnvoll arbeiten lässt, wenn man zu‐gleich die Veranstaltung besucht. 

Viele Themen werden anhand von Leitfragen erarbeitet. Diese sind blau formatiert. 

Kontrollfragen sind rot markiert und sollten vom aktiven Zuhörer beantwortet werden. 

Fett markierte Wörter und Teile sollten als Schlagwörter genügen, um eine stichfeste Erklärung um dieses Wort aufzubauen. 

Im Anschluss an jedes Kapitel sind Wiederholungsaufgaben und Kontrollfragen einge‐fügt, die zur eigenständigen Bearbeitung für die Kursteilnehmer vorgesehen sind. 

Die grau unterlegten Teile des Skriptes werden in der Vorlesung nicht behandelt; es wird erwartet, dass sich die Teilnehmer selbst mit dem darin enthaltenen Stoff auseinander‐setzen.  

Zum Skript gibt es einen Materialteil mit Grafiken, Tabellen und einigen Aufsätzen; die‐ser Materialteil wird zum Besuch der Veranstaltung benötigt. 

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Im Mittelpunkt der Makroökonomik steht als übergreifende Frage: Soll der Staat für gesamtwirtschaftliche Entwicklungen zuständig sein und wenn ja, mit welchen Instrumenten?  Leitfragen zur Stabilisierungspolitik:  

Welche gesamtwirtschaftlichen Ziele sind für die Wirtschaftspolitik wichtig und wie sind sie zu interpretieren?  

 

Wer ist für die Erreichung der wirtschaftspolitischen Ziele zuständig? Wer sind die wirt‐schaftspolitischen Akteure? 

 

Welche wirtschaftspolitisch relevanten Daten kann das Volkswirtschaftliche Rechnungs‐wesen liefern?   

 

Warum vollzieht sich wirtschaftliche Entwicklung im Normalfall unter zyklischen Schwan‐kungen? Welche stabilitätspolitischen Konzeptionen werden vertreten, d.h. welche Poli‐tik soll verfolgt werden, um den Konjunkturablauf zu verstetigen?  

 

Wie gestaltet sich der Strukturwandel in westlichen Volkswirtschaften? Wie kann die Wirtschaftspolitik auf die Strukturprobleme in unserer Volkswirtschaft reagieren? 

 

Worin sind die Triebkräfte für wirtschaftliches Wachstum zu sehen? Wie kann Wachstum beeinflusst werden? 

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Übersicht 1:  

Volkswirtschaftslehre 

 Mikroökonomie  Makroökonomie 

Gemeinsamkeiten   

Unterschiede   

 

 

Themen /Fragestellungen   

 

 

 

   

 

 

 

 

 

wirtschaftspolitische Ziel‐setzungen: 

 

 

 

   

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3.  Gesamtwirtschaftliche Ziele der Wirtschaftspolitik  

 § 1 Stabilitätsgesetz bestimmt folgende Ziele:  „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts‐ und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfor‐dernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu berücksichtigen. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“  Wieso bezeichnen die vier Ziele ein magisches Viereck?     Die Ziele Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität genießen Priorität!    Gibt es weitere wichtige gesamtwirtschaftliche Ziele?     

3.1.   Vollbeschäftigung  

3.2.1.  Gründe für Vollbeschäftigung  Warum ist Vollbeschäftigung ein wichtiges Ziel?   

Arbeitslosigkeit wird aus individueller Sicht vielfach als schweres Schicksal empfunden.   

Ein hoher Beschäftigungsgrad besitzt einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert.   

Ein hoher Beschäftigungsgrad ist aus ökonomischen Überlegungen wünschenswert   

Arbeitslosigkeit bedeutet Verzicht auf Güterproduktion und materiellen Wohlstand.  

  Zudem sind  ökonomische Folgeprobleme mit Arbeitslosigkeit verbunden   Verteilungskonflikte  

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 3: 

Bofinger, Peter Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, München 2003, Kapitel 14. 

Mussel, Gerhard / Pätzold, Jürgen Grundfragen der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, München 2005, Kapitel C ‐ F. 

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3.1.2. Indikatoren des Arbeitsmarktes   Wie misst man Arbeitslosigkeit?                     Die Arbeitslosenquote kann ermittelt werden als Verhältnis zwischen den bei den Arbeits‐ämtern registrierten Arbeitslosen und abhängigen Erwerbspersonen (=verdeckte AQ) oder allen Erwerbspersonen (=offene AQ)   die Arbeitslosenquote ist eine echte Quote.   beide Definitionen der Arbeitslosenquote werden in der BRD benutzt.    Wo liegen die Schwachpunkte der amtlichen Statistik?    Neben der registrierten Arbeitslosigkeit gibt es auch eine „stille Reserve“ und verdeckte 

Arbeitslosigkeit.   

Welche Personengruppen gehören zur  „stillen Reserve“?       Andererseits enthält die Arbeitslosenstatistik Formen von unechter Arbeitslosigkeit.    Problem der deutschen Arbeitsmarktstatistik ist, dass das Meldeverhalten mit der Ar‐

beitslosenunterstützung verkoppelt ist.     Weitere Indikatoren des Arbeitsmarktes sind die Zahl der Kurzarbeiter, die Zahl der offenen Stellen, das erbrachte Arbeitsvolumen und die Zahl der Erwerbstätigen.   

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3.1.3. Entwicklung des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik  Wie hat sich der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten entwickelt?    Erwerbsquote 

   (gesamtwirtschaftliche) Arbeitslosenquote 

   regional differierende Arbeitslosigkeit 

   qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit 

   zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit    

3.1.4. Arten der Arbeitslosigkeit  Welche Arten von Arbeitslosigkeit können idealtypisch unterschieden werden?    saisonale Arbeitslosigkeit als Folge jahreszeitlicher Produktionsschwankungen.     friktionelle oder Sucharbeitslosigkeit tritt auf, wenn Arbeitskräfte entlassen werden 

und infolge von Suchprozessen bis zum Antritt einer neuen Stelle nicht beschäftigt sind.     Konjunkturelle Arbeitslosigkeit beruht auf einem Mangel an Gesamtnachfrage, sie ist 

also nachfrageseitig bedingt, ist makroökonomischer und (eher) kurzfristiger Natur.    Die „restliche“ Arbeitslosigkeit wird als strukturelle Arbeitslosigkeit bezeichnet. 2 Kate‐

gorien sind zu unterscheiden:  

Strukturwandel sorgt dafür, dass Teilarbeitsmärkte (Berufe, Branchen oder Regionen) nicht mehr im Gleichgewicht sind.  

     Diese Form ist mikroökonomischer und langfristiger Natur.   

Strukturelle Arbeitslosigkeit kann makroökonomischer Natur sein, wenn es an zureichendem Wirtschaftswachstum fehlt (wachstumsdefizitäre Arbeitslosig‐keit).  

  

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3.2.   Preisniveaustabilität  

3.2.1. Gründe für Preisniveau‐ bzw. Geldwertstabilität  

Geldwertstabilität hat eine psychologische oder Vertrauensfunktion.   

Inflation beeinträchtigt den Marktmechanismus (Allokationsfunktion des Marktes).   

Mögliche Konsequenzen sind:  

kurzfristige Kapitalanlage  Flucht in die Sachwerte   Kapitalexport 

 Welche Konsequenzen ergeben sich für die Zinsen? (Zinsstrukturkurve?) 

       

Inflation ist unsozial, denn sie begünstigt Sachwertbesitzer und enteignet tendenziell die Gläubiger von Nominalwerten. 

 

 3.2.2. Inflation – Deflation ‐ Stagflation  Inflation ist eine über einen längeren Zeitraum zu beobachtende Zunahme des Preisniveaus. Seit Ende des 2. Weltkrieges erleben wir eine chronische Inflation.   Man unterscheidet offene und zurückgestaute Inflation.    Unter Deflation versteht man ein Sinken des Preisniveaus, zumeist verbunden mit einer ku‐mulativen Abwärtsbewegung der wirtschaftlichen Aktivität. Warum ist sie besonders gefähr‐lich?    Stagflation bedeutet das Zusammentreffen von steigenden Preisen und stagnierender bzw. nachlassender Wirtschaftstätigkeit und damit verbundener Arbeitslosigkeit     

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3.2.3. Messung und Entwicklung der Inflation  Preisniveauveränderungen werden mit Hilfe von Preisindices (Maßzahlen) für „Güterkörbe“ ermittelt:   

der wichtigste Preisindex ist der Verbraucherpreisindex für Deutschland. Für die Europä‐ische Zentralbank ist der „Harmonisierte Index der Verbraucherpreise“ Orientierungs‐größe. 

 

Preisniveaustabilität ist wegen Qualitätsverbesserungen der Güter mit einer (geringen) positiven Inflationsrate vereinbar! 

  Wie hat sich die Inflation entwickelt?      

3.3.  Stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum  Wie wird Wachstum gemessen?   Als Maßgröße wird in der Praxis zumeist auf die Zunahme des realen BIP im Zeitablauf ab‐gestellt. Zu unterscheiden sind:  

Entwicklung des BIP oder BNP pro Kopf bzw. je Einwohner und Entwicklung des BIP oder BNP für eine gesamte Volkswirtschaft. 

 

Nominales und reales Inlandsprodukt oder Nationalprodukt. Bei Ermittlung des realen Inlandsprodukts nimmt man eine „Preisbereinigung“ vor. Man rechnet also die Inflation heraus. 

  Wie hat sich das Inlandsprodukt in der BRD entwickelt?    Warum ist Wachstum ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel?    Ein maximales quantitatives Wachstum ist nicht möglich. dafür sprechen 2 Gründe:  

einmal die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen.  

zum anderen wird die mit dem industriellen Wachstum verbundene umweltpolitische Zerstörung ohne größere Krisen nicht mehr in bisherigem Maße hinnehmbar sein. 

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Die daraus teilweise abgeleitete Forderung nach einem Null‐Wachstum ist problematisch. Besser begründet ist die Auffassung, dass die westlichen Gesellschaften stärker von einem quantitativen zu einem qualitativen Wachstum übergehen müssen. Forderungen nach einem dauerhaft tragfähigen Wirtschaftswachstum (=sustainable development):  

nicht völliger Verzicht auf Nutzung der Natur.   aber: bei regenerierbaren Ressourcen muss die Nutzung auf das Maß der Regenerati‐

onsfähigkeit begrenzt werden. (Bsp. Forstwirtschaft) 

  nicht regenerierbare Ressourcen dürfen nicht schneller verbraucht werden, als die Ent‐

wicklung von Substituten vorankommt. (Bsp. Glasfaserkabel)  Ziel ist daher kein maximales, sondern ein „angemessenes Wirtschaftswachstum“.   3 Gründe sprechen für ein weiteres (qualitatives) wirtschaftliches Wachstum:  

Wirtschaftswachstum ist wünschenswert, da im Bereich der kulturellen und sozialen Bedürfnisse noch viele Bedürfnisse unbefriedigt sind. Ein solcher Weg ist auch mit öko‐logischen Forderungen verträglich. 

 

Wachstum ist aus beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten wichtig:  

       Steigt die Arbeitsproduktivität (z.B. wegen technischem Fortschritt), kann eine bestimm‐te Wirtschaftsleistung mit einem geringeren Arbeitsvolumen bewerkstelligt werden, z.B. durch eine Verringerung der Arbeitszeit und/oder eine Verringerung der Beschäftigten. 

  

Wirtschaftswachstum entschärft Verteilungskonflikte:  

zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.  zwischen privatem und öffentlichem Sektor. 

  

3.4.  Außenwirtschaftliches Gleichgewicht  Dieses Ziel ist wenig präzise und man findet auch unter Fachleuten unterschiedliche Vorstel‐lungen darüber. Der zentrale Aspekt, der mit außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bzw. mit außenwirtschaftlicher Absicherung verbunden wird, ist, dass vom Ausland keine Instabilitä‐ten, keine Störungen in die heimische Volkswirtschaft hineingetragen werden. Es sollen also von der internationalen Verflechtung keine Störungen für die inländische Produktion, die inländische Beschäftigung oder das inländische Preisniveau ausgehen. 

 

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3.5. Exkurs: Wirtschaftspolitische Akteure 

 Für die bundesdeutsche Wirtschaftspolitik nehmen die folgenden 3 Gruppen wirtschaftspoli‐tischer Akteure einen dominanten Raum ein:  

Für die Finanzpolitik, d.h. die Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben öffentlicher Haushalte, sind neben den Gebietskörperschaften – Bund, Länder und Gemeinden – v.a. die Sozialversicherungen zuständig. Sie bewegen einiges an Finanzmassen. Darüber hin‐aus verfügt auch die EU über eigene Einnahmen und wirkt mit Ausgabenprogrammen in die deutsche Wirtschaftspolitik hinein. 

  

Für die Geld‐ und Währungspolitik haben wir in den letzten Jahren eine wichtige institu‐tionelle Weiterentwicklung erlebt. Früher waren die Notenbanken häufig von Weisun‐gen des Finanz‐ oder Wirtschaftsministers abhängig. Dies hatte häufig katastrophale Folgen, denn in Krisenzeiten – wie z.B. Kriegen – mit hohem Finanzbedarf wurde die No‐tenpresse angeworfen. Die Folgen waren massive Inflationen, dies führte zur kalten Ent‐eignung des Geldsparenden Mittelstandes. Vor diesem Hintergrund hat man Deutsch‐land – noch unter alliierter Besatzung – eine weisungsunabhängige, also autonome Zentralbank „verordnet“. Dies war – aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive ‐ eine gelungene Tat. Das Modell der autonomen Zentralbank wurde Ende der 90er Jahre für ganz Euroland übernommen. Die Europäische Zentralbank ist nach ihren Regularien von politischen Übergriffen frei und sie ist ausschließlich dem Ziel Geldwertstabilität ver‐pflichtet. 

 

Die Lohnpolitik wird von den nationalen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden betrieben. Wirtschaftshistorisch gesehen ist um die Koalitionsfreiheit – heute Art. 9 GG ‐ am längsten und heftigsten gekämpft worden. Noch im Kaiserreich gingen Polizei oder Militär gegen streikende Arbeiter vor und es gab Tote. Daher ist die Koalitionsfreiheit bei uns weitgehend gegen Veränderungen tabuisiert. So besteht in der Politik bislang noch wenig Neigung, das Tarifrecht zu novellieren, um die Befugnisse der Gewerkschaf‐ten und Arbeitgeberverbände zu begrenzen auch wenn die Tarifverbände häufig wirt‐schaftspolitisch falsch gehandelt haben.1  Erkennbar ist eine Insider‐Outsider‐Problematik: Aus der Gewerkschaftslogik ist eine Förderung der Arbeitnehmer (=Insider) zu Lasten der Arbeitslosen (=Outsider) ökonomisch konsequent. Die Lasten  

1 Auf die erste Ölkrise mit ihren Preissteigerungen für Energie haben die Gewerkschaften mit einem Lohnnach‐schlag reagiert; das hat die Gewinnsituation der Unternehmen beeinträchtigt und ist für die erste Treppenstufe in der Arbeitslosenstatistik verantwortlich; die Sockellohnpolitik der 70er und 80er für wenig qualifizierte Ar‐beitnehmer ist für den überproportionalen Anteil der gering qualifizierten Arbeitslosen verantwortlich. Und die schnelle Lohnangleichung nach der Wiedervereinigung hat maßgeblich für die noch dramatischere Entwertung des in der DDR‐Wirtschaft gebundenen Kapitals und damit für die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundes‐ländern gesorgt.  

Empfehlenswerte Literatur zu „Akteure der Wirtschaftspolitik“: 

Donges, Jürgen / Freytag, Andreas Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Stuttgart 2004, Kapitel I, 3. 

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dieser Politik werden aber der Allgemeinheit aufgebürdet. Hier liegt offensichtlich ein institutioneller Konstruktionsfehler.  

 Es gibt weitere Institutionen mit wirtschaftspolitischen Aufgaben, die für Teilbereiche der Politik eine herausragende Rolle spielen, mit denen wir uns aber nicht näher befassen wol‐len: 

das Bundeskartellamt ist Wächter über den Wettbewerb in der Bundesrepublik. Ihm obliegt es, die Einhaltung des GWB zu überwachen. 

das Umweltbundesamt ist zentrale Umweltbehörde der Bundesrepublik, auch wenn es neben dem Umweltbundesamt weitere Einrichtungen gibt.  

Erwähnenswert ist schließlich, dass es eine Fülle von Sachverständigenräten und Beirä‐ten gibt, die zumindest für die Meinungsbildung zentrale Bedeutung haben, auch wenn sie formal keine Entscheidungsbefugnisse besitzen. 

 Von zunehmender Bedeutung für die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik sind interna‐tionale Institutionen, auch wenn wir feststellen müssen, dass wir von einer tragfähigen in‐ternationalen Ordnung noch weit entfernt sind. Integrations‐ als auch Desintegrationsten‐denzen sind erkennbar. Nur so ist erklärbar, dass immer wieder der Vorwurf des Öko‐ oder Sozialdumpings zu hören ist. 

Die dynamischste  Entwicklung ist auf dem Gebiet der europäischen Integration zu er‐kennen. Die EU fußt nicht mehr nur auf intergouvernementaler Zusammenarbeit, son‐dern es ist im Laufe ihrer Geschichte eine supranationale Organisation mit einer Kompe‐tenzverlagerung von den Nationalstaaten auf europäische Institutionen erfolgt. Beson‐ders hervorzuheben sind die schon erwähnte Geldpolitik, daneben die Wettbewerbs‐ und Beihilfepolitik. Hier verdrängen Aktivitäten der EU‐Kommission im Zweifel das Han‐deln der deutschen Gebietskörperschaften.   

2 weitere wichtige Institutionen sind auf handels‐ und währungspolitischem Gebiet zu benennen. Sie sind unter maßgeblicher Gestaltung der USA entstanden. Man hat daher auch von einer pax americana gesprochen. So legten die USA 1944 auf einer internatio‐nalen Konferenz mit 44 Staaten, der Konferenz von Bretton Woods, einen Plan vor, der die Gründung eines Weltwährungsfonds (IWF) und einer Weltentwicklungsbank vor‐sah. Der Internationale Währungsfonds wurde am 27.12.1945 gegründet und nahm im Jahre 1947 seine Arbeit auf. Der US‐$ wurde in der Folgezeit zur einzigen tatsächlichen Leitwährung, denn die anderen Währungen sollten fest an den US‐$ und über die fixier‐te amerikanische Gold‐Dollar‐Parität auch an das Gold gebunden werden. Inzwischen ist das Fixkurssystem zerfallen, dem IWF kommt bei Währungskrisen aber weiterhin eine zentrale Rolle zu.   

Ein weiterer Pfeiler einer Weltwirtschaftsordnung ist das internationale Zoll‐ und Han‐delsabkommen, das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) ist als vorläufige Regelung 1947 in Kraft getreten. Das GATT hat den Abbau von Handelsschranken, von Zöllen, mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen und sonstigen protektionistischen Maßnahmen zum Ziel. In 8 langwierigen Verhandlungsrunden konnten – nicht zuletzt auf Druck der USA ‐ die Zölle für Industriegüter bis Anfang der 90er Jahre erheblich ge‐senkt werden. Inzwischen hat man das GATT durch eine World Trade Organization (WTO) ersetzt, auch das Themenspektrum hat sich gewandelt. Zölle sind nicht mehr zentrales Thema, sieht man mal von den Agrarzöllen der EU und der USA ab, es steht vielmehr der Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse und der Schutz geistigen Eigen‐tums oben auf der Agenda von Verhandlungsrunden. 

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3.6. Wiederholungsaufgaben und Kontrollfragen  

1. Erläutern Sie die gesamtwirtschaftlichen Ziele des „magischen“ Vierecks (§ 1 Stabili‐tätsgesetz)!  Bestehen zwischen den Zielen Antinomien, wie es die Kennzeichnung „magisch“ nahe legt (Begründung)? 

 2. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Schwachstellen der amtlichen Arbeitslosenstatistik in 

der Bundesrepublik?  3. Welche Arten von Arbeitslosigkeit lassen sich idealtypisch unterscheiden? Geben Sie 

Beispiele! Welche Bedeutung kommt diesen verschiedenen Arten der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zu?  

 4. Wie hat sich die Arbeitslosigkeit seit Beginn der 50er Jahr ein der Bundesrepublik ent‐

wickelt?  5. Warum wird Preisniveaustabilität als ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel angese‐

hen?  6. Warum kann Preisniveaustabilität in einer Marktwirtschaft nicht bedeuten, dass ein‐

zelne Preise stabil bleiben?  7. Wie ermittelt man die Inflationsrate? Gehen Sie bei Ihrer Erklärung auf die Rolle des 

Güterkorbs und der Basisjahre ein.  8. Erläutern Sie, was unter Stagflation zu verstehen ist und wie es zu stagflationären Ten‐

denzen kommen kann!  9. Erläutern Sie, was unter zurückgestauter Inflation zu verstehen ist!  10. Wieso ist Wachstum ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel?  11. Was halten Sie von den Forderungen, die westlichen Industrieländer sollten zu einer 

Politik des Null‐Wachstums oder zu einer Politik qualitativen Wachstums übergehen?  12. Welche Größe würden Sie verwenden, um die  Entwicklung des Wohlstands für die 

Bevölkerung eines Landes darzustellen? 

  

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4.   Volkswirtschaftliches Rechnungswesen  

 Es ist Aufgabe des Volkswirtschaftlichen Rechnungswesens, das Wirtschaftsgeschehen zu er‐fassen und zu beschreiben. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist also ein Informati‐onsinstrument für die Wirtschafts‐ und die Unternehmenspolitik.    

4.1. Wirtschaftsprozess als Wirtschaftskreislauf  Grundlage ist ein stark vereinfachtes Kreislaufmodell. Das Volkswirtschaftliche Rech‐nungswesen unterscheidet 4 makroökonomische Sektoren bzw. Gruppen von Wirtschafts‐subjekten   

Haushalte als konsumierende Einheiten.  

Unternehmen als produzierende Einheiten.  

Staat als Produzent öffentlicher Güter. 

Ausland („übrige Welt“).   Es werden zunächst nur die Beziehungen zwischen 2 Sektoren ‐ Haushalte (H) und Unter‐nehmen ( U) ‐ betrachtet:  

Der Sektor Haushalte besitzt alle Produktionsfaktoren, deren Nutzung er dem Sektor Unternehmen verkauft. Es fließt ein Strom an Produktionsfaktoren (=realer Strom) von den Haushalten zu den Unternehmen. Als Bezahlung dafür fließt umgekehrt ein Geld‐strom (=monetärer Strom), Einkommen (Y =Yield), von den Unternehmen zu den Haus‐halten zurück. 

 

Der Sektor Unternehmen stellt mit Hilfe der ihm von den Haushalten zur Verfügung ge‐stellten Produktionsfaktoren Güter her. Diese Güter verkaufen die Unternehmen an die Haushalte. Somit fließt ein Güterstrom (=realer Strom) von den Unternehmen zu den Haushalten. Die Haushalte verwenden ihre Einkommen für den Kauf von Gütern (Kon‐sum = C), es fließt ein Geldstrom (=monetärer Strom) von den Haushalten zu den Un‐ternehmen. 

 Es existieren somit 2 geschlossene Kreisläufe, die in entgegengesetzter Richtung zueinander fließen: 

ein Güterkreislauf und  

ein Geldkreislauf. 

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 4: 

Wienert, Helmut Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Band 2: Makroökonomie, 2. Auflage, Stuttgart 2008, Kapitel 8.  

Bofinger, Peter Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märk‐ten, München 2003, Kapitel 15. 

Noll, Skript W-Ing. VWL 2/3 Makroökonomik WS 2010/2011

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Der Kreislauf wird erweitert:  

Haushalte konsumieren nicht ihr gesamtes Einkommen, sondern sie sparen einen Teil davon. Ersparnis (S) bedeutet Konsumverzicht, d.h. der Geldstrom, der aufgrund von Güterkäufen zu den Unternehmen fließt, ist kleiner als der Geldstrom, den die Haushal‐

te an Einkommen von den Unternehmen erzielen. Also  .  

Das Sparen erfolgt (vereinfachte Annahme) bei den Banken (B). Der Sektor Banken kann nun die Sparbeträge den Unternehmen als Kredite zur Verfügung stellen und sie somit der Investition (I) zuführen. Die Ersparnis entspricht also größenmäßig der Investition. 

Es gilt also   in unserem geschlossenen Kreislauf.   Fazit: Sparen und Investieren müssen in einer Wirtschaft immer übereinstimmen. Investition ist die Produktion, die nicht für Konsumzwecke von den Haushalten nachgefragt wird. Inves‐titionen umfassen also den Kauf von Maschinen und Anlagen (=Anlageinvestitionen), aber auch Veränderungen der Lagerbestände (=Lagerinvestitionen).   

4.2. Bruttoinlandsprodukt und Volkseinkommen  Anknüpfend an den Kreislauf kann man nun das Volkseinkommen und das Inlandsprodukt auf verschiedene Weise ermitteln:  

Entstehungsseite der Volkswirtschaft: es wird aufsummiert, was an Werten von den Un‐ternehmen, vom Staat und den privaten Haushalten in einer Periode geschaffen wird. 

 

 

Verteilungsseite der Volkswirtschaft: man knüpft bei den Haushalten an und fragt da‐nach, welche Einkommen sie in einem Jahr erzielt haben, d.h. wie viel an Löhnen, Zin‐sen, Pacht und Gewinnen sie erwirtschaftet haben. 

  

Verwendungsseite der Volkswirtschaft: die Leistung eines Jahres wird ermittelt als Summe aller Ausgaben für Konsum, Investition, Staatsnachfrage und Außenbeitrag. 

 Dementsprechend unterscheidet man:  

Einkommensentstehungs‐,   

Einkommensverteilungs‐ und   

Einkommensverwendungsrechnung. 

 

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Kreislauf einer offenen Volkswirtschaft mit staatlicher Aktivität                                        

Staat 

Unternehmen 

Vermögens‐veränderung 

Private Haushalte 

Ausland 

Faktoreinkommen YHU

Privater Verbrauch CH 

Güterkäufe GSubventionen Z

Faktoreinkommen YStU

Direkte Steuern TUdir

Indirekte Steuern TUdir

Faktoreinkommen YHSt 

Transfereinkommen Tr 

Direkte Steuern THdir 

Nettoinvestition IStn

Sparen Staat SSt

Sparen  Haushalte SH 

Nettoinvestition IUn

Sparen Staat SSt

Nettoinvestition IStn 

Export Ex  Import Im 

Exportüberschuss 

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4.2.1 Entstehungsrechnung  Wie gelangt man zum Inlandsprodukt?  Ausgangspunkt ist der Produktionswert. Er ergibt sich aus den Umsätzen + Lagerbestands‐veränderungen + selbst erstellten Anlagen der Unternehmen.   Von diesem Produktionswert werden zur Vermeidung von Doppelzählungen alle von ande‐ren Unternehmen gekauften Vorleistungen abgezogen (z.B. Roh‐ oder Hilfsstoffe)  Die Differenz von Produktionswert und Vorleistungen ist die Bruttowertschöpfung.2 Die Summe der Bruttowertschöpfungen von Unternehmen, Staat und Organisationen ohne Er‐werbscharakter ergeben ‐ etwas vereinfacht ‐ das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen. Das Bruttoinlandsprodukt stellt auf die im Inland erzeugte, das Bruttonationaleinkommen (vormals Bruttosozialprodukt) auf die von Inländern erzeugte Wertschöpfung ab.   

   4.2.2.Verteilungsrechnung  Anknüpfungspunkt bei der Verteilungsrechnung sind die Haushalte. Man ermittelt das Volkseinkommen, indem man die Faktoreinkommen aufaddiert, also Löhne, Zinsen und Ge‐winne. Es wird ermittelt, welche Einkommen bei der Erstellung des Nationalproduktes ent‐standen sind.  Das Volkseinkommen, also die Summe der (marktmäßigen) Einkommen der Haushalte, ent‐spricht nicht dem Bruttonationaleinkommen. Vielmehr sind davon 2 Größen abzuziehen:  

Abschreibungen , und zwar für den gebrauchsbedingten Verschleiß des Anlagen.   

zum anderen sind in dem Produktionswert indirekte Steuern (z.B. die Umsatzsteuer) enthalten, die nicht zu Einkommen für die Haushalte werden. 

 Schema der Verteilungsrechnung  

 Bruttonationalprodukt zu Marktpreisen   

‐ Abschreibungen  

‐ indirekte Steuern  + Subventionen  = Volkseinkommen 

2 Für die Ermittlung der BWS von Haushalten und Staat ergeben sich Besonderheiten 

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Das Volkseinkommen ist hinsichtlich der Frage interessant, wie sich die Aufteilung der Ein‐kommen auf Löhne und Gewinne gestaltet.                                            

   

              

4.2.3.Verwendungsrechnung  In der Verwendungsrechnung wird gefragt, für welche Zwecke das erstellte Bruttoinlands‐produkt verwandt wird (= volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage). Die Verwendungs‐rechnung macht deutlich, zu welchen Käufergruppen die in der Periode erstellten Güter ge‐langen. Die Verwendungsrechnung dient v.a. der Analyse von Konjunkturschwankungen und Wachstumsprozessen. Sie wird nach folgendem Schema berechnet: 

 Schema der Verwendungsrechnung 

 

Privater Verbrauch (in Deutschland)  +  Staatsverbrauch  +  Bruttoinvestitionen (in Deutschland)  +  Außenbeitrag   (Exporte – Importe)  =  Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen 

 

Der private Verbrauch (= Konsum) ist die Summe der Waren‐ und Dienstleistungskäufe der Haushalte im Inland. 

 

Zum Staatsverbrauch zählen alle Aufwendungen des Staates (i.w.S.), die dieser tätigen muss, um seine laufenden Verwaltungs‐ und Regierungsaufgaben zu erfüllen. 

 

Unter Bruttoinvestitionen werden die Güter erfasst, die zur Produktion anderer Güter beitragen; diese nennt man auch Anlageinvestitionen (Bau‐ und Ausrüstungsinvestiti‐onen). Daneben erfasst man hier auch Vorratsinvestitionen. Das sind Bestandsverände‐rungen an fertigen und unfertigen Erzeugnissen. 

 

Der Außenbeitrag ist der Saldo zwischen der Ausfuhr und Einfuhr von Waren und Dienstleistungen, also der Ex‐ und Import von Waren, Tourismus, Kapitalerträge, etc. Ein positiver Saldo bedeutet einen Überschuss der Exporte über die Importe. 

 

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4.3. Grenzen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung  Das Nationaleinkommen bzw. Inlandsprodukt weist als Wohlfahrtsmaßstab wichtige Schwä‐chen auf:  

die BIP‐Berechnung führt zu erheblichen Unterschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Leistung, denn Hausfrauen‐, Heimwerkertätigkeit und Schwarzarbeit bleiben unberück‐sichtigt. Die Wohlfahrt der Bevölkerung wird auch deshalb nicht richtig erfasst, weil bei‐spielsweise der Nutzen der (anwachsenden) Freizeit nicht berücksichtigt wird. 

 

die BIP‐Berechnung führt teilweise zu gewichtigen Überschätzungen. Reparaturen der privaten Haushalte, Gesundheitsleistungen u.ä. gehen erhöhend in die BIP‐Rechnung ein, während der Verbrauch der natürlichen Umwelt bislang nicht mit eingeht. Anderer‐seits erhöht die Beseitigung von Umweltschäden das BIP. 

 

schließlich ist das BIP ein recht grober Maßstab, da es allein nichts über die Verteilung der erwirtschafteten Einkommen und Vermögen aussagt.  

  

4.4. Verteilung von Einkommen und Vermögen  Um genauere Angaben über die Verteilung des Wohlstands, so z.B. von Einkommen und Ver‐mögen zu erhalten, bedarf es teilweise sehr aufwändiger Sonderuntersuchungen, die über die traditionelle Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hinaus gehen.   Zunächst unterscheidet man zwischen funktionaler und personeller Einkommensverteilung.  

Die funktionale Einkommensverteilung zeigt die Aufteilung der Einkommen nach Pro‐duktionsfaktoren, wie sie – wie oben erläutert ‐ durch die Lohnquote und Gewinnquote ermittelt wird. 

 

Die personelle Verteilung bestimmt die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Schulden nach verschiedenen Haushaltsgruppen.  

 In den letzten Jahren befasst man sich zunehmend mit der Messung von Armut und Reich‐tum in der Bundesrepublik.   

Bezeichnet man dabei all jene als arm, deren Pro‐Kopf‐Einkommen weniger als die Hälf‐te des durchschnittlich verfügbaren Einkommens erreichen, so waren in der Bundesre‐publik Mitte der 90er Jahre rd. 11 % aller Haushalte arm.  

 

Die (personelle) Einkommensverteilung lässt sich am ehesten aus der Einkommensteu‐erstatistik erkennen. Teilt man die Steuerpflichtigen in 3 Gruppen (bis 25.000 €, 25 – 50.000 € und mehr als 50.000 €), so waren 1995 in der „armen“ Gruppe 52 % aller Steu‐erpflichtigen, ihr Einkommensanteil betrug knapp 22 % und ihr Beitrag zum Steuerauf‐kommen rd. 13,4 %. In der „mittleren“ Einkommensschicht waren 35 % aller Steuer‐pflichtigen, die 41 % aller Einkommen auf sich vereinten und 35 % aller Steuerzahlungen 

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trugen. Die Schicht der „Reichen“ (inkl. „Superreichen“) umfasste 12,4 % aller Steuer‐pflichtigen, die gut 40 % der Einkommen erzielten und knapp 60 % der Enkommensteuern zahlten.  

 

Das Vermögen ist in der Bundesrepublik noch wesentlich stärker konzentriert als das Einkommen. So wurde bspw. für die alten Bundesländer ermittelt, dass allein die 10 % der vermögendsten Haushalte 1998 knapp 50 % des Geldvermögens ( =Spar‐ und Versi‐cherungsguthaben, Anleihen, Aktien) auf sich vereinigten. Bezieht man das Immobilien‐vermögen mit ein, ergibt sich ein ähnliches Bild, auch wenn die Ungleichverteilung nicht ganz so ausgeprägt ist. Die Ungleichheit hat im Zeitablauf zugenommen. 

  

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4.5. Wiederholungsaufgaben und Kontrollfragen  1. Erläutern Sie wie und mit welchen Maßen die Wirtschaftsleistung jeweils mit der Ent‐

stehungsrechnung, Verteilungsrechnung oder Verwendungsrechnung der Volkswirt‐schaftlichen Gesamtrechnung ermittelt werden kann. 

 2. Wie gelangt man von den Produktionswerten der Wirtschaftsakteure zum Bruttoin‐

landsprodukt einer Volkswirtschaft?  3. Wie unterscheiden sich das nominale und das reale Bruttoinlandsprodukt?  4. Erklären Sie den Unterschied zwischen Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationalprodukt 

und Volkseinkommen!  5. Erläutern Sie den Unterschied zwischen Brutto‐ und Nettoinvestitionen. Wie lassen 

sich die Nettoinvestitionen weiter untergliedern?  

6. Angenommen Sie verkaufen illegal Skripte einer Vwl‐Vorlesung. Ist dies eine produkti‐ve Tätigkeit und erhöht diese das BIP? 

 

7. Erhöht sich das BIP durch Abhalten einer Vorlesung?  8. Welche Gründe könnten ursächlich dafür sein, dass das Bruttoinlandsprodukt größer 

als das Bruttonationalprodukt ist?  9. Wie ist die Lohnquote definiert und warum ist sie für verteilungspolitische Überlegun‐

gen wenig brauchbar?  10. Wodurch unterscheiden sich Volkseinkommen und verfügbares Einkommen der priva‐

ten Haushalte? Welches ist größer?  11. Was versteht man unter Staatsverbrauch?  12. Wie gehen Reparaturen und die Beseitigung von Umweltschäden in die Ermittlung des 

BIP ein?  13. Weshalb ist das Bruttoinlandsprodukt ein problematisches Maß, wenn man die Wohl‐

fahrt der Deutschen bestimmen möchte?  14. Erläutern Sie die grundsätzlichen Möglichkeiten, mit denen nähere Informationen über 

die Verteilungssituation in Deutschland gewonnen werden!  15. Erläutern Sie die grundsätzlichen Möglichkeiten, mit denen nähere Informationen über 

die Verteilungssituation in Deutschland gewonnen werden!  

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5.   Konjunkturpolitik  

5.1.   Der Konjunkturzyklus 

 5.1.1. Phasen des Konjunkturverlaufs  Das Produktionspotential beschreibt die Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft.   Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotentials bezeichnet man als Konjunk‐turzyklus.   Konjunkturelle Schwankungen:    

treten mehr oder weniger regelmäßig mit einer Periodenlänge von 3 bis 7 Jahren auf  

und sind bei einer Vielzahl gesamtwirtschaftlicher Aggregate zu beobachten.  Beispiele:  Bei einem idealtypischen Konjunkturverlauf lassen sich 4 Konjunkturphasen unterscheiden:   

   

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 5.1: 

Baßeler, Ulrich / Heinrich, Jürgen / Utecht, Burkhard Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaftslehre, 18. Auflage, Stuttgart 2006, Kapitel 28. 

Aufschwung

Boom 

Abschwung 

Rezession

Wachstumstrend 

Zeit 

Reales  BIP 

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Im Konjunkturaufschwung nehmen Wachstumsrate des realen BIP, Auslastung des Pro‐duktionspotentials, Arbeitsproduktivität und Gewinne der Unternehmen zu.  

 

Im Boom wird die Normalauslastung des Produktionspotentials überschritten. Weitere Kennzeichen sind Kapazitätsengpässe, Kostensteigerungen und Preissteigerungen. 

 

Im Konjunkturabschwung sinken Wachstumsrate des realen BIP und Kapazitätsauslas‐tung. Zumeist wirken erhebliche Kosten‐ und Preissteigerungen aus der Boomphase nach. Es kommt zu ersten Entlassungen. 

 

In der Rezession (=Depression) haben wir eine Unterauslastung der Kapazitäten. Dem folgt ein Anstieg der Arbeitslosigkeit, während Kosten‐ und Preissteigerungen gering sind.  

  Die Gestalt der Konjunkturschwankungen hat sich im Zeitablauf verändert.   Zunächst waren Konjunkturschwankungen Wachstumsschwankungen.  Seit 1966 / 1967 erlebte die Bundesrepublik mehrere tiefe Rezessionen.   

5.1.2. Konjunkturindikatoren  Für die Konjunkturforschung ist interessant, möglichst frühzeitig über die wirtschaftliche Entwicklung Bescheid zu wissen. In der Konjunkturforschung werden deshalb drei Gruppen von Maßstäben (Indikatoren) genutzt:   

Die größte Rolle spielen die sog. Frühindikatoren, die möglichst frühzeitig über die wei‐tere Entwicklung der Konjunktur informieren sollen. Welche Indikatoren kommen hier in Frage? 

   

Präsenz‐ oder mitlaufende Indikatoren zeigen den jeweiligen Stand der Konjunktur an.     

Im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Debatte stehen Indikatoren, die als Spätindi‐katoren bezeichnet werden. Welche Indikatoren sind typischerweise Spätindikatoren? 

 

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 5.1.3. Ursachen von Konjunkturschwankungen: ein Überblick zur Konjunktur‐theorie und „stilisierte Fakten“ des Konjunkturzyklus   Warum vollzieht sich die wirtschaftliche Entwicklung unter konjunkturellen Schwankungen?   Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Konjunkturtheorien.   Auslöser für Konjunkturschwankungen können Faktoren sein, die mit der Wirtschaft nichts zu tun haben (exogene Konjunkturtheorien). Beispiele?     Auslöser für Konjunkturschwankungen können auch in der Wirtschaft bzw. der Wirtschafts‐politik ihre Ursachen haben (endogene Konjunkturtheorien). Beispiele?     Monokausale Erklärungsmuster sind nicht tragfähig, so dass es sinnvoll ist, ein stilisiertes Bild des Auf und Ab in einem Konjunkturprozess zu entwickeln.  Ein wirtschaftlicher Aufschwung wurde in der Bundesrepublik häufig eingeleitet durch:   Steigerung der Exporte   niedrige Kreditzinsen, die in Teilbereichen der Wirtschaft Investitionen lohnend machen   zusätzliche Nachfrage des Staates.   Es kommt zu Selbstverstärkungseffekten durch:   Multiplikatoreffekte   Akzeleratoreffekte, bei denen bspw. eine Erhöhung der Konsumgüternachfrage eine  

überproportionale Erhöhung der Investitionsgüternachfrage nach sich zieht.    Eine Erhöhung der Gewinne  hat eine anregende Wirkung auf die Investitionstätigkeit.   Verschiede Faktoren können dem Aufschwung Grenzen setzen und den Abschwung einlei‐ten; z.B. Kostensteigerungen    die aus einer nachhinkenden Lohnpolitik resultieren;  die sich bei steigenden Zinsen durch starke Inanspruchnahme der Kapitalmärkte erge‐

ben.   

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  Eine geringere Nachfrageexpansion verschlechtert die Gewinnposition der Unterneh‐

men und führt zur Korrektur von – zu optimistischen ‐ Einschätzungen des Marktes.   Verstärkungseffekte können zu einer Beschleunigung des Abschwungs beitragen. Die Volks‐wirtschaft schlittert auf diese Weise in eine Rezession.    Bedarf es einer diskretionären Konjunkturpolitik, damit die Volkswirtschaft wieder aus dem Konjunkturtal heraus kommt?   

5.2.  Stabilitätspolitische Konzeptionen  

 

5.2.1. Die (neo‐)klassische Konzeption  Grundfrage: 

Mikroökonomie: dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bei freier Preisbil‐dung auf Einzelmärkten wohnt eine Tendenz zum Gleichgewicht inne!  

Kommt es auch gesamtwirtschaftlich zum Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage?   Die klassischen Liberalen bejahen dies Frage mit Hinweis auf:  

flexible Preise, Löhne und Zinsen beim Wirken der „unsichtbare Hand der Konkurrenz“. 

und die Geltung des Sayschen Theorems.     Schritte:                             

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 5.2: 

Mussel, Gerhard Einführung in die Makroökonomik, 8. Auflage, München 2004, 2. Teil. 

Bofinger, Peter Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, München 2003, Kapitel 14. 

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 5.2.1.1. Arbeitsmärkte   Angebots‐ Nachfrage‐Modell für Arbeitsmarkt:   

Nachfrager nach Arbeit sind Unternehmen.  

Anbieter von Arbeit sind die Haushalte, also die „Arbeitnehmer“.   Wie verläuft die Kurve der Arbeits‐(kräfte)nachfrage im Normalfall?            Beispiel:  

Bäckerei 

produziert ein Produkt, nämlich 1 kg‐Brote 

hat kurzfristig einen gegebenen Kapitalbestand 

bietet auf einem Markt mir vollkommener Konkurrenz an;   pro Kilo Brot.  

Arbeitseinsatz, Zahl der Ar‐beitskräfte 

Produktionsergebnis insgesamt (Anzahl Brote pro Std.) 

Grenzprodukt der Arbeit pro Stunde 

Wertgrenzprodukt der Arbeit (€)  

Lohnsatz  Zusätzlicher Gewinn 

0  0         

1  10      15   

2  18      15   

3  24      15   

4  28      15   

5  30      15   

 Wie viele Arbeitskräfte wird der Bäckermeister in der Ausgangssituation einstellen?    Würde der Bäckermeister seine Beschäftigung variieren, wenn der Lohn pro Stunde auf 20 € steigen oder auf 12 € fallen würde?      

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Wie gestaltet sich das Arbeitsangebot in Abhängigkeit von der Lohnhöhe?  

Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen Lohnsatz und Arbeitszeit, denn ein höheres Entgelt bietet einen zusätzlichen Anreiz zu arbeiten! 

  

Ab einem bestimmten Lohnsatz fallen Anreize zu erhöhtem Arbeitsangebot weg, weil ein weiterer Einkommensanstieg geringer eingeschätzt wird als eine kürzere Arbeitszeit.  

  

Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II wirken faktisch als Mindestlohn!    Was besagt ein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt?   Wie wirken folgende Faktoren auf das Gleichgewicht auf den Arbeitsmärkten?   

Preiserhöhungen auf den Gütermärkten  

Produktivitätssteigerungen in der Produktion  

veränderte Präferenzen der Erwerbsfähigen für Freizeit‐ und Güterkonsum   

vermehrte Zuwanderungen   

Überalterung oder Schrumpfen der Bevölkerung   Wie entsteht aus klassischer Perspektive Mindestlohnarbeitslosigkeit?  Wovon hängt das Ausmaß der Mindestlohnarbeitslosigkeit ab?  In der Bundesrepublik ist der Arbeitsmarkt allerdings nicht ein Markt wie jeder andere. Viel‐mehr werden die Löhne in vielen Branchen durch Tarifverträge festgelegt.   Welche Konsequenzen hat dies für die Situation am Arbeitsmarkt?    Warum produziert Deutschland viel kapitalintensiver als Tschechien oder Kenia?   Durch die Globalisiserung besteht eine Tendenz zum Faktorpreisausgleich!   Was heißt das?    

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5.2.1.2. Das (Güter‐)Angebot bei Vollbeschäftigung  In der Volkswirtschaft besteht (kurzfristig) ein bestimmter Kapitalstock. Das ist realistisch, weil Kapazitätsanpassungen nur langfristig wirksam werden.   Die (neoklassische kurzfristige) Produktionsfunktion stellt auf das Verhältnis von gesamtwirt‐schaftlicher Beschäftigung und Output ab.  Mit dem Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt  ist nun zugleich das volkswirtschaftliche An‐gebot bestimmt.    5.2.1.3. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht  Findet das jeweils produzierte Angebot nun auch seine Nachfrage?  Dafür sorgt nach Auffassung der Klassiker:  

der Preismechanismus an den Gütermärkten  

der Zinsmechanismus am Kapitalmarkt.  

2‐poliger Kreislauf:  Es gilt  . 

 Es kommt zum Nachfragewandel: Gut x1 wird begehrter, Gut x2 findet eine geringere Nach‐frage.    Say’sches Theorem (1803): „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst“.    3‐poliger Kreislauf: Es gilt  .   Das Gleichgewicht wird über den Kapitalmarkt hergestellt. Welchen Einfluss hat der  (Real‐)Zins   

auf Sparen?  

Investieren?   

Es gilt also:       

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Haushalte sorgen mit ihren Entscheidungen für eine:  

intersektorale Allokation wie eine  

intertemporale Allokation der Ressourcen   Fazit: Marktwirtschaften sind grundsätzlich stabile Systeme. Dafür sorgen:   

der Preismechanismus auf den Gütermärkten.  

der Zinsmechanismus auf den Kapitalmärkten.  

flexible Lohnbildung auf den Arbeitsmärkten.   

 Die klassische Sichtweise:  

glaubt an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Praktiziert also eher eine  langfristige Perspektive.  

betonen, dass  Akteure nicht primär mit Mengen‐ , sondern mit Preisen reagieren.  

fokussiert ihre Analyse auf die Angebotsseite von Märkten.   

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5.2.2.  Die keynesianische Konzeption: der theoretische Ansatz  1929 brach die Weltwirtschaftskrise aus, in der der Glaube an die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft kräftig erschüttert wurde.   J. M. Keynes veröffentlicht 1936 ein Buch mit dem Titel „Allgemeine Theorie der Beschäfti‐gung, des Zinses und des Geldes“, in der er der klassischen Harmonievorstellung widerspricht und meint, ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung sei möglich.  Ursache wirtschaftlicher Krisen liegen auf der Nachfrageseite einer Volkswirtschaft.   

  5.2.2.1 Die makroökonomischen Nachfragekomponenten  Warum sollte die Güternachfrage in einer Volkswirtschaft gerade so groß sein, wie es aus Gründen der Vollbeschäftigung erforderlich wäre?    Endnachfragekomponenten der Volkswirtschaft:  

    Gesamtwirtschaftliche Konsumfunktion: Auf kurze Sicht wird der Konsum primär vom lau‐fenden Einkommen bestimmt (= absolute Einkommenshypothese).  Gegensatz: permanente Einkommenshypothese.   Die Konsumfunktion wird bestimmt durch   

die marginale Konsumneigung   

und den „autonomen Konsum“ bzw. Basiskonsum    Die Sparfunktion ergibt sich aus der Konsumfunktion.     

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 Auch Investitionen hängen von Vielzahl von Bestimmungsgrößen ab, besonders wichtig sind:   

der reale Zinssatz (wie in der Neoklassik).  

Ertragserwartungen.  In einer schweren Krise kann es sein, dass Unternehmer nur investieren, um eine Mindest‐kapitalausstattung zu halten, die die Betriebsfähigkeit gerade noch ermöglicht   konstante Ersatzinvestition bzw. autonome Investitionen.   5.2.2.2. Gleichgewicht, inflatorische und deflatorische Lücke  Wann befindet sich eine Volkswirtschaft in einem güterwirtschaftlichen Gleichgewicht?         Mit der Produktion entsteht in gleicher Höhe ein Einkommen. Einkommen und gesamtwirt‐schaftliche Produktion sind damit also notwendigerweise wertmäßig gleich groß. Es gilt also:        Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ergibt sich aus:         Es gilt also im Gleichgewicht am Gütermarkt:        Die Bestimmungsgründe des gesamtwirtschaftlichen Gütermarktgleichgewichts sind völlig unabhängig sind von den Determinanten des Vollbeschäftigungsoutputs. 3 mögliche Situa‐tionen sind zu unterscheiden:  

deflatorischer Lücke  

inflatorische Lücke   

Vollbeschäftigungsgleichgewicht    Exkurs: Welche Konsequenzen hätte es, wenn die Investitionen zinsabhängig sind?  

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5.2.2.3. Makroökonomische Arbeitslosigkeit  Was bedeuten die keynesianischen Überlegungen für die Beschäftigungssituation?    Was bedeutet eine deflatorische Lücke für das Verhältnis von Produktionspotential und tat‐sächlichem Angebot?   

  Welche Konsequenzen hat dies für die Produktion?    Welche Konsequenzen hat dies für den Arbeitsmarkt?    =► Mit Keynes können wir Arbeitslosigkeit rein makroökonomisch erklären. Keynesianische Arbeitslosigkeit wird auch als Nachfragemangelarbeitslosigkeit bezeichnet.   

Unternehmen sind auf dem Gütermarkt rationiert, d.h. sie können zu den herrschenden Preisen nicht alles absetzen.  

 

Haushalte werden auf dem Arbeitsmarkt rationiert. Sie können ihr beabsichtigtes Ar‐beitsangebot nicht realisieren.  

  In der praktischen Wirtschaftspolitik fällt es nicht einfach, zwischen keynesianischer und klassischer Arbeitslosigkeit zu unterscheiden!  

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5.3.  Keynesianische Stabilisierungspolitik   

 

5.3.1. Wesentliche Merkmale einer antizyklischen Konjunkturpolitik   4 Kennzeichen sind wichtig:  Staatliche Konjunktursteuerung ist antizyklisch angelegt. Diese „antizyklische Fiskalpolitik“ ist im folgenden tabellarischen Schema zusammengefasst:  

  Steuern  Staatsausgaben  Nachfrageimpuls  Finanzierung 

Rezession         

Boom         

  Staatliche Konjunkturpolitik soll Globalsteuerung sein, d.h. die geforderte Nachfragepolitik soll auf die globale Ebene beschränkt bleiben.  

Der Marktmechanismus soll weiterhin für die einzelwirtschaftliche Koordination sorgen.   

Globalsteuerung versteht sich nicht als Strukturpolitik.   Globalsteuerung bedeutet kurzfristige, diskretionäre Konjunkturpolitik.   Ergänzt werden kann diese Politik durch automatische Stabilisatoren, d.h. durch Mechanis‐men in öffentlichen Haushalten, die automatisch stabilisierend wirken:   

Ein zweiseitiger automatischer Stabilisator ist die Arbeitslosenversicherung.      

Das progressive Einkommensteuersystem wirkt als (einseitiger) automatischer Stabilisa‐tor. 

  

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 5.3: 

Baßeler, Ulrich / Heinrich, Jürgen / Utecht, Burkhard Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaftslehre, 18. Auflage, Stuttgart 2006, Kapitel 15. 

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 Keynesianer geben der Finanzpolitik den Vorzug zur konjunkturpolitischen Steuerung (=Fiskalpolitik)   

Sie ist geeigneter als die Geldpolitik.   

Auch die Einkommenspolitik soll nur eine ergänzende Funktion übernehmen.    

5.3.2. Der „Instrumentenkasten“ des Stabilitätsgesetzes  Das Stabilitäts‐ und Wachstumsgesetz aus dem Jahre 1967 bietet einen reich gefüllten In‐strumentenkasten für eine antizyklische Fiskalpolitik.   

Instrumente des Stabilitätsgesetzes 

Nachfrage‐komponente 

Rezession  Boom 

  

Konsum 

Herabsetzung der ESt  Heraufsetzung der ESt 

Nachträgliche Verminderung von ESt‐Vorauszahlungen 

Nachträgliche Erhöhung von ESt‐Vorauszahlungen 

Erhöhung von Staatsausgaben  Verminderung von Staatsaus‐gaben 

   

Investitionen 

Herabsetzung der ESt und KöSt 

Heraufsetzung der ESt und KöSt 

Nachträgliche Verminderung von ESt‐, KöSt‐ und GewSt‐Vorauszahlungen 

Nachträgliche Erhöhung von ESt‐, KöSt‐ und GewSt‐Vor‐auszahlungen 

Gewährung eines Investitions‐bonus 

Aussetzung der degressiven Abschreibung 

  Streichung von Sonderab‐schreibungen 

  

Staatsnachfrage 

Erhöhung von Staatausgaben  Verminderung von Staatsaus‐gaben 

Auflösung der Konjunkturaus‐gleichsrücklage; Aufnahme von Krediten 

Bildung einer Konjunkturaus‐gleichsrücklage; Tilgung von Krediten 

 

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5.3.3. Kaufkrafttheorie der Löhne 

 

Kerngedanke dieser von den Gewerkschaften favorisierten Position ist, die Löhne zu erhö‐hen, um auf diese Weise die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren! 

  Die unterstellte Wirkungskette weist jedoch einige Schwächen auf!   

Ist die Diagnose keynesianischer Arbeitslosigkeit falsch, wird das Beschäftigungsproblem durch eine Reallohnerhöhung zusätzlich verschärft. 

 

Positive Impulse für die Konsumnachfrage sind nur zu erwarten, wenn Unternehmer‐haushalte eine geringere marginale Konsumneigung als Arbeitnehmer‐Haushalte besit‐zen. 

 

Aber auch dann kann durch die Umverteilung die Investitionsneigung negativ berührt werden. Welche Konsequenzen kann dies haben? 

   Exkurs: Wären stattdessen (Nominal‐)Lohnsenkungen in der Konjunkturkrise eine Möglich‐keit, zurück zu Vollbeschäftigung zu gelangen?   

 5.4. Grenzen keynesianischer Stabilisierungspolitik und theoretische Weiter‐entwicklungen 

 4 Kritikpunkte sind besonders wichtig:  

Eine antizyklische, kurzfristige Steuerung des Wirtschaftsablaufs ist zu anspruchsvoll formuliert! 

  

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 5.3.3: 

Bofinger, Peter Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, München 2003, Kapitel 16.6 

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 5.4.: 

Wienert, Helmut Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Band 2: Makroökonomie, 2. Auflage, Stuttgart 2008, Kapitel 11.  

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Auf der instrumentellen Ebene stellen sich Dosierungs‐ und time‐lag‐Probleme:  

(a) Dosierungsprobleme resultieren daraus, dass   

die in der Makrotheorie unterstellten Verhaltensfunktionen realiter nicht be‐kannt sind  

  und das Verhalten der Wirtschaftssubjekte auch von deren Erwartungen ab‐

hängt.    

(b) Mögliche Wirkungsverzögerungen (time lags) beim Einsatz des konjunkturpolitischen Instrumentariums entstehen aus: 

  recognition lag 

  decision lag  

  implementation lag 

  operational lag 

   =►Es besteht die Gefahr einer prozyklischen Wirkung antizyklisch gedachter Maßnahmen?     

Keynesianische Wirtschaftspolitik vernachlässigt die Angebotsbedingungen in einer Volkswirtschaft und führt zur Wachstumsschwäche! 

  

Antizyklische Beeinflussung der Investitionstätigkeit führt zur Verunsicherung der Investoren, denn längerfristige, riskante Investitionen brauchen ein stabiles wirtschaftspolitisches Umfeld.  

  Ebenso bestehen Gefahren für eine stetige Kapazitätsentwicklung, wenn Unter‐

nehmen ihr Investitionsverhalten an einer antizyklischen Politik orientieren.   

Globalsteuerung wirkt nicht strukturneutral, sondern betrifft in besonderer Wei‐se einzelne Branchen wie die Bauwirtschaft.  

  

Keynesianische Wirtschaftspolitik vernachlässigt die Eigeninteressen der Politiker!  

Dies führt zu wachsender Staatsverschuldung und zum crowding out!   

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Keynesianische Wirtschaftspolitik führt zu Inflation und Stagflation, auf die der Keynesianer keine Antwort parat hat! 

  Mit dem Stabilitätsgesetz übernimmt Staat gesamtwirtschaftliche Verantwor‐

tung. Beschäftigungsrisiken der Arbeitnehmer könnten durch Stabilisierung der Nachfrage weitgehend beseitigt werden.  

  Ein solcher Glaube an die Machbarkeit bzw. Steuerbarkeit der gesamtwirtschaft‐

lichen Entwicklung verändert die Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte.   

Eine Verschärfung der Verteilungskonflikte ist die Folge.   

Konsequenz ist eine Lohn‐Preis‐Spirale.  

Bei sich verschärfendem Inflationsproblem muss Notenbank eine  restriktive Geldpolitik betreiben =► Stabilisierungskrise mit stagflationären Tendenzen.  

  für eine Stagflation hat die keynesianische Wirtschaftspolitik kein Rezept!  

   Fazit: Globalsteuerung mag für schwere Wirtschaftskrisen geeignet sein, nicht aber zur stän‐digen Feinsteuerung der Konjunktur!  

 Neben klassischer Mindestlohnarbeitslosigkeit und keynesianischer Nachfragemangelar‐beitslosigkeit gibt es plausible mikroökonomische Begründungen für Dauerarbeitslosigkeit 

Insider‐Outsider‐Modell 

Effizienzlohntheorie  Neben klassischer und keynesianischer Arbeitslosigkeit gibt es durch institutionelle Faktoren bedingte Arbeitslosigkeit.  

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5.5. Wiederholungsaufgaben und Kontrollfragen  1. Unterscheiden Sie die Phasen eines (idealtypischen) Konjunkturablaufes und geben Sie 

wichtige Kennzeichen zur Bestimmung der jeweiligen Phase an!  2. Erläutern Sie, was man unter einem konjunkturellen Frühindikator zu verstehen hat! 

Nennen Sie Beispiele!  3. Erläutern Sie, welche Faktoren verantwortlich für das Ende eines Aufschwunges sein 

können und die Wirtschaft in einen Abschwung führen!  4. Stellen Sie die Grundpositionen der Klassiker und der Keynesianer zu gesamtwirt‐

schaftlichen Problemen gegenüber!  5. Erläutern Sie einen steigenden Verlauf der neoklassischen Arbeitsangebotskurve mit   Hilfe des Entscheidungskalküls der Arbeitsanbieter!  6. Wovon hängen Umfang und Veränderung der Arbeitsnachfrage in der Neoklassik ab?  7. Warum kann es nach Auffassung der Klassiker nicht zu anhaltender unfreiwilliger Ar‐

beitslosigkeit kommen?  8. Zeichnen Sie eine neoklassische Produktionsfunktion für die Gesamtwirtschaft und er‐

läutern Sie Ihren Verlauf in verbaler Form!  9. Was besagt das Say´sche Theorem? Gilt es auch, wenn Teile des erwirtschafteten Ein‐

kommens gespart werden?  10. Sind nach dem Say’schen Theorem Konkurse möglich?  11. Hängt die Ersparnis in der Neoklassik neben dem Zinssatz auch vom Einkommen ab? 

Begründung!  12. Weshalb steigt die Ersparnis in der Neoklassik mit dem Zinssatz? Weshalb folgt daraus 

nach der neoklassischen Analyse zwangsläufig, dass der Konsum mit steigendem Zins‐satz abnimmt? 

 13. Wie beurteilen Keynesianer das Saysche Theorem?  14. Stellen Sie die Eigenschaften des Keynesschen Konsumfunktion dar! Welche Einwände 

lassen sich dagegen formulieren?  15. Es gelte eine für eine Volkswirtschaft eine Konsumfunktion   gilt. Es 

werden  (autonome) Investitionen in Höhe von   getätigt werden.  

Ermitteln Sie grafisch das gleichgewichtige Volkseinkommen! 

Wie lautet  die Sparfunktion dieser Volkswirtschaft? 

Zeigen Sie jeweils bei welchem Volkseinkommen eine deflatorische und eine in‐flatorische Lücke bestehen würde! 

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 16. Warum wäre es vermutlich kontraproduktiv, bei einer keynesianischen Arbeitslosigkeit 

im Sinne der Kaufkrafttheorie der Löhne eine Erhöhung der Löhne durchzusetzen?   17. Stellen Sie die wichtigsten Aspekte des Konzepts der Globalsteuerung dar!  18. Erläutern Sie, was man unter Multiplikatoreffekten versteht! Diskutieren Sie, wie sich 

c.p. die Multiplikatorwirkungen einer zusätzlichen Staatsnachfrage wohl verändern, wenn 

die Sparneigung der Bevölkerung aus Angst vor einer großen Wirtschaftskrise steigt! 

die Nachfrage nach Importen von Dienstleistungen steigt!  19. Wieso wirkt die Arbeitslosenversicherung wie ein (zweiseitiger) automatischer Stabili‐

sator?  20. Entspräche es dem Konzept der Globalsteuerung, wenn der Landwirtschaft eine Inves‐

titionszulage gewährt würde (Begründung)?  21. Diskutieren Sie, welche time lags beim Einsatz einer antizyklischen Finanzpolitik be‐

sonders bedeutsam sind!  22. Könnte man behaupten, dass eine keynesianisch inspirierte Wirtschaftspolitik für die 

exzessive Staatsverschuldung der westlichen Industrieländer wesentlich mitverant‐wortlich ist (Begründung)? 

 23. Erläutern Sie, warum eine keynesianische Wirtschaftspolitik kein Rezept zur Bekämp‐

fung einer Stagflation hat!  24. Erläutern Sie das Insider‐Outsider‐Modell zur Erklärung von Arbeitslosigkeit! Welche 

Form von Arbeitslosigkeit wird sich damit v.a. erklären lassen?        

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6.  Strukturpolitik 

 

6.1. Strukturwandlungen: Schumpetersche Unternehmer und Drei‐Sektoren‐Hypothese  

  J. A. Schumpeter hat den marktwirtschaftlich‐kapitalistischen Entwicklungsprozess als einem „Prozess schöpferischer Zerstörung“ beschrieben:   

Motor dieses Prozesses sind Pionierunternehmer, die Innovationen durchsetzen.   

Imitierende Unternehmen, die am Pioniergewinn partizipieren wollen, sorgen für breite Durchsetzung von Neuerungen. 

  Es entsteht ein typisches Entwicklungsmuster eines Produkt‐ oder Lebenszyklus.    Strukturwandel ist der Normalfall in marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften:  

Wandel der Unternehmensgrößen 

sektoraler Strukturwandel und  

regionaler Strukturwandel.    Der sektorale Strukturwandel vollzieht sich im Sinne der Drei‐Sektoren‐Hypothese.  

Die Land‐ und Forstwirtschaft (primärer Sektor) verliert seit der Industriellen Revolution allmählich seine führende Rolle an die Industrie und  das Handwerk (sekundärer Sek‐tor). 

 

Nach vorübergehender Dominanz des Verabreitenden Gewerbes (sekundärer Sektors) gewinnt der Dienstleistungssektor bzw. tertiärer Sektor mit Handel, Banken, Verkehr, Staat. etc. zunehmende Bedeutung.  

  =► Es vollzieht sich ein Wandel von der Agrar‐ über die Industrie‐ zur Dienstleistungsgesell‐schaft.  

Empfehlenswerte Literatur zu Kapitel 5.4.: 

Baßeler, Ulrich / Heinrich, Jürgen / Utecht, Burkhard Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaftslehre, 18. Auflage, Stuttgart 2006, Kapitel 27. 

Wienert, Helmut Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Band 2: Makroökonomie, 2. Auflage, Stuttgart 2008, Kapitel 14.  

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Die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft ist ablesbar an der Veränderung der Wert‐schöpfungsanteile zum Bruttoinlandsprodukt (BWS) sowie der Verschiebung der Erwerbstätigenanteile (ET).   Für den skizzierten Wandel sprechen 2 Gründe:  

nachfrageseitig: mit zunehmenden Pro‐Kopf‐Einkommen werden zunehmend weniger dringliche Bedürfnisse befriedigt. Das sind zunächst langlebige Konsumgüter, zuneh‐mend  mehr Dienstleistungen. 

  

angebotsseitig: große Produktivitätssteigerungen lassen sich vor allem im primären und sekundären Sektor erzielen, während im tertiären Sektor nach Auffassung der Verfech‐ter der Drei‐Sektoren‐Hypothese nur geringe Produktivitätssteigerungen möglich sind. 

  Die Drei‐Sektoren‐Hypothese beschreibt allenfalls eine „typischen Normalstruktur“. Hieraus können keine Trends für die weitere Entwicklung abgeleitet werden.  4 Einwände gegen die Drei‐Sektoren‐Hypothese sind relevant:   

Im Entwicklungsprozess verschieben sich die Preisrelationen zwischen industriell gefer‐tigten Gütern und Dienstleistungen, wodurch Substitutionsprozesse auf der Nachfrage‐seite ausgelöst werden.  

 

Beim tertiären Sektor handelt es sich um Wirtschaftszweige, bei denen die Ersetzung des Menschen durch Kapital in ganz unterschiedlicher Weise möglich ist. 

 

Der Dienstleistungssektor ist ein sehr heterogener Sektor =► Weiterentwicklung zur Vier‐Sektoren‐Hypothese? 

 

Die Zuordnung einer Branche zum sekundären oder tertiären Sektor wird schwieriger und fragwürdiger! 

   

6.2.   Technischer Fortschritt und strukturelle Arbeitslosigkeit   Ein Technologieschub macht viele Arbeitskräfte überflüssig!   

Freisetzungstheorie: Der technische Fortschritt führt dazu, dass immer mehr Kapital in Form von Maschinen eingesetzt wird. Bei unveränderter Nachfrage müssen dann Arbei‐ter entlassen werden (sog. „arbeitssparender technischer Fortschritt“).  

 

Kompensationstheorie: welche Kompensationsmöglichkeiten existieren?   

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Ergebnisse:   

Technischer Fortschritt bedingt einen Strukturwandel. Er verlangt, dass die freigesetz‐ten Arbeitnehmer flexibel genug sein müssen, um die neu entstehenden Arbeitsplätze besetzen zu können. 

 

Offensichtlich gibt es Gewinner und Verlierer im Strukturwandlungsprozess. Verlierer finden sich insbesondere im Bereich der gering qualifizierten Erwerbspersonen. 

 

Technischer Fortschritt sorgt für höhere Arbeitsproduktivität und höheres Realeinkom‐men  

 =► technischer Fortschritt ist keine eigenständige Ursache für Arbeitslosigkeit!   

6.3.  Fragwürdige Rezepte der Industriepolitik: Subventionen, Kon‐zentrationsförderung und Protektionismus 

 Zur Beseitigung oder Minderung der strukturellen Anpassungsprobleme werden v.a. interventionistische und weniger liberale, auf den Marktprozeß bauende Rezepte, prakti‐ziert.  Interventionistische Strukturpolitik (=Industriepolitik) möchte das Geschehen am Markt durch fördernde, hemmende oder hindernde Einflußnahme korrigieren, weil man dem Marktprozess misstraut.   

offensive Industriepolitik möchte Unternehmen oder Branchen zum Eintritt in neue Märkte verhelfen, denen eine Schlüsselrolle für die industrielle Entwicklung beigemes‐sen wird. 

 

defensiv angelegte Industriepolitik versucht in Bedrängnis geratene Unternehmen oder Branchen zu erhalten 

  Wichtigste Instrumente der Industriepolitik sind:  

Subventionen  

Konzentrationsförderung  

(Außenhandels‐) Protektionismus    

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Industriepolitik mag in besonderen Situationen gerechtfertigt sein. Allerdings gibt es gewich‐tige Bedenken gegen diese Art von Politik.  

Politiker haben Informationsprobleme hinsichtlich Art und Umfang eines Eingriffs in das Marktgeschehen. 

 

Politiker und Bürokraten haben Anreizprobleme, im Gemeinwohl liegende Entscheidun‐gen  zu treffen. 

 

Industriepolitik bedingt Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der nicht begünstigten Branchen und Unternehmen. 

 

Auch positive Beschäftigungswirkungen interventionistischer Strukturpolitik sind frag‐lich.  

 Auch eine entsprechende Industriepolitik im Ausland ist kein zwingender Grund für eine heimische Industriepolitik.   Sinnvoll sind vielmehr internationale Vereinbarungen zum Abbau von Subventionen und anderen Wettbewerbsverzerrungen =► Beihilfenkontrolle der EU.    Axel Börsch‐Supan: Die Heuchelei mit den Mindestlöhnen  

Kommende Woche haben die hessischen und niedersächsischen Bürger Gelegenheit, ihr Votum über den Mindestlohn kundzutun. Die SPD baut darauf, dass sie mit diesem Wahl‐kampfthema ordentliche Zuwächse erzielt und so freie Bahn erhält, die Wirtschaft flächen‐deckend mit Mindestlöhnen zu überziehen. Der Ökonom Axel Börsch‐Supan warnt. Es gebe zwar einige wenige ökonomisch überzeugende Argumente für Mindestlöhne, doch trügen diese im Fall Deutschlands nicht weit. Die hierzulande gebrauchten Argumente nennt er heuchlerisch, naiv oder falsch. Sie halten seiner Überprüfung nicht stand. Der Mindestlohn tauge nicht zur Armutsbekämpfung. Er mache, im Gegenteil, viele Menschen arm, weil er gerade den Schwächeren die Chance auf einen Arbeitsplatz raube.  Börsch‐Supan sieht diese These durch fast alle seriösen empirischen Untersuchungen bestä‐tigt. (hig.)  Jugendkriminalität und Mindestlohn: Die Parteien haben für die Wahlkampfrunde ihre The‐men gefunden, und nun geht es munter los mit dem populistischen Hauen und Stechen. Da‐rüber gehen tiefere Ursachen ebenso verloren wie subtilere Wirkungsmechanismen. Vor allem findet der enge Zusammenhang zwischen beiden Themen wenig Beachtung. Dabei liefert Frankreich ein erschreckendes Beispiel, wie der Mindestlohn Jugendliche systematisch vom Arbeitsmarkt ausschließt und dazu beiträgt, die arbeits‐ und hoffnungslosen Jugendli‐chen in die Jugendkriminalität zu treiben. Die populistischen Lösungsansätze für das Problem der Jugendkriminalität und die ebenso populistische Armutsvermeidungsstrategie durch Mindestlöhne haben auch gemeinsam, dass sie an Symptomen ansetzen, anstatt die grund‐legenden und schwerwiegenden Fehler der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen: vor allem das Versagen der Bildungspolitik, sozial Benachteiligte, ob deutsche oder Zugewanderte, zu integrieren. Schließlich ist den Diskussionen über beide Themen ein Maß an Heuchelei ge‐

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meinsam, das selbst für Wahlkampfzeiten abstoßend ist: Heuchelei über Integrationswillen, Heuchelei über Armutsbekämpfung. 

Braucht Deutschland einen Mindestlohn, um Armut und Hoffnungslosigkeit bei gering Qualifizierten zu bekämpfen? Wirkt ein hoher Mindestlohn gar als Anreiz, statt krimineller Aktivitäten einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen? Die Argumente, die in der politi‐schen Diskussion für und gegen den Mindestlohn vorgebracht werden, sind sehr schwarz‐weiß. Die klassische ökonomische Sichtweise lautet, dass hohe Mindestlöhne diejenigen vom Arbeitsmarkt ausschließen, deren Produktivität so gering ist, dass es sich nicht lohnt, sie zum Mindestlohn einzustellen, weil Maschinen oder Menschen im Ausland die Arbeit billiger ma‐chen können. Die Gegenposition behauptet, hohe Mindestlöhne verhinderten Geschäftsmo‐delle, bei denen die Arbeitgeber Arbeitnehmer ausbeuten oder Lohnsubventionen des Staa‐tes abschöpfen. Zudem verschaffe der Mindestlohn ein Minimum an Kaufkraft und helfe daher der makroökonomischen Stabilität. 

Wie so oft in wirtschaftspolitischen Fragestellungen sind die Wirkungsmechanismen kompli‐zierter. Dazu kommt, dass das Thema Mindestlohn ‐ ebenso wie das Thema Jugendkriminali‐tät ‐ hoch emotional angereichert ist. Der Verfasser dieses Artikels ist mit Herz und Seele Ökonom. Es mag den Leser daher verwundern, wenn er zunächst das Credo der Ökonomen in Frage stellt, dass hohe Mindestlöhne gering Qualifizierte vom Arbeitsmarkt ausschließen, weil Maschinen und ausländische Arbeitnehmer billiger sind. Das folgende Beispiel zeigt, dass dieses Credo in seiner Absolutheit nicht stimmt: Man stelle sich eine Kleinstadt in New Jersey vor, in der MacBurger der einzige Arbeitgeber ist, der gering qualifizierte Jugendliche einstellt. Da dieser Arbeitgeber der einzige ist, kann er den Lohn drücken, und zwar so lange, bis es den Jugendlichen lieber ist, gar nicht zu arbeiten und ihr Geld anderweitig an Land zu ziehen, sei es per Arbeitslosenunterstützung oder durch Jugendkriminalität. Je nachdem, wie attraktiv diese Alternativen sind, kann der Arbeitgeber den Lohn weit unter das Niveau drü‐cken, das der Produktivität der Jugendlichen entspricht, also weit unter den "gerechten Lohn". Hier hilft ein Mindestlohn: Er verhindert die Ausbeutung durch den Arbeitgeber und verhilft den Jugendlichen zu mehr Arbeit, denn jeder Cent Lohn mehr bewegt sie, bei Mac‐Burger zu arbeiten, anstatt arbeitslos oder kriminell zu werden. Auch ein zweiter, psycholo‐gisch wirksamer Mechanismus zeigt, dass das Credo vieler Ökonomen nicht die ganze Wahr‐heit ist. Hohe und niedrige Löhne haben Signalwirkungen. Ein "Hungerlohn" verärgert Ar‐beitnehmer, während die Signalwirkung eines höheren Lohnes mehr Leistungsbereitschaft und Solidarität mit dem Unternehmen hervorrufen kann. Im Fachjargon wird dies "Effizienz‐lohnmechanismus" genannt. Die so induzierte Produktivität rechnet sich, aber nicht alle Ar‐beitgeber mögen der Versuchung widerstehen, es mit niedrigen Löhnen zu versuchen. In dieser Situation kann der Staat durch das Setzen von Mindestlöhnen die Produktivität und die Wohlfahrt aller erhöhen. 

Die volkswirtschaftliche Weisheit ist also nicht absolut. Vielmehr gilt es, die Umstände abzu‐wägen, unter denen entweder das konventionelle Credo oder die subtileren Mechanismen Vorrang haben. Bevor man das tut, sollte man die Argumente der Gegenposition Revue pas‐sieren lassen. Die Postzustellung ist ein gutes Beispiel: Das Geschäftsmodell der Pin‐Gruppe war essentiell darauf aufgebaut, dass die Löhne niedrig gehalten werden können. Es hat ver‐sagt, als dies verhindert wurde. Nun verdienen die Kollegen bei der Deutschen Post unbedroht ihren Mindestlohn oder mehr. Der Mindestlohn hat also genau das bewirkt, was auch gefordert wurde: die Verhinderung eines Geschäftsmodells, das auf billiger Arbeit be‐

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ruhte, und die Stabilisierung der Löhne bei denen, die Arbeit haben. Auch das Argument, dass Mindestlöhne die arbeitgeberseitige Ausbeutung staatlicher Unterstützungsleistungen an die Arbeitnehmer verhindern, ist erst einmal korrekt. Bei denjenigen Pin‐Arbeitnehmern, deren Lohn so niedrig war, dass die ergänzende Unterstützung gemäß den Hartz‐IV‐Gesetzen zur Anwendung kam, ist es durch den Mindestlohn in der Postzustellung nun nicht dazu ge‐kommen, dass der Staat einen Teil der Pin‐Löhne zahlen muss, damit diese Arbeitnehmer überhaupt das Existenzminimum erreichen können. 

Beide Argumente haben aber gewaltige Pferdefüße. Sie entlarven, dass ein Mindestlohn nur für einige gut ist, für andere aber detrimentale Auswirkungen hat. Ein Mindestlohn schützt die Insider des Arbeitsmarktes auf Kosten der Outsider und macht damit gerade denjenigen das Leben schwerer, die besonders schutzbedürftig sind. Im ersten Fall haben die Arbeit‐nehmer der Post gewonnen. Die Pin‐Angestellten, die nun arbeitslos sind, haben verloren. Die Post behauptet zwar, sie stelle dank des Mindestlohns mehr Menschen ein. In der Sum‐me kann das aber nicht stimmen. Ein Unternehmen, das nun effektiv wieder ein Monopol hat, kann in der Tat höhere Löhne zahlen als ein Unternehmen im Wettbewerb, es wird aber seine Produktion nicht so ausweiten, wie es im Wettbewerb der Fall gewesen wäre. Dem‐entsprechend wird die Post weniger Menschen beschäftigen als Post und Pin zusammen. Weniger Menschen werden also mehr verdienen, die Insider. Die Outsider fallen durch das Netz. Der Mindestlohn als Instrument der Armutsvermeidung greift nicht, weil viele der schützenswerten Menschen keine Arbeit bekommen. Auch im zweiten Fall wird die Insider‐Outsider‐Problematik deutlich. Es ist richtig, dass sich der Staat bei den höheren Löhnen der Post einige Hartz‐IV‐Subventionen ersparen kann. Die ehemaligen Pin‐Arbeitnehmer sind aber nun arbeitslos. Ob die Subventionsrechnung in Gänze aufgeht, ist mehr als fraglich, denn ihre Arbeitslosigkeit wird den Staat erst einmal teuer kommen. Die Outsider erhalten eine Zeitlang Arbeitslosenunterstützung, die Insider aber haben Arbeit und sind durch Min‐destlöhne geschützt. Der Fall der Postzustellungsbranche zeigt also, wie problematisch bran‐chenspezifische Mindestlöhne sind. Tendenziell stärken sie die Macht der starken Unter‐nehmen in der Branche. Das ist gut für deren Beschäftigte, aber schlecht für die übrigen Ar‐beitnehmer. Schlecht ist es im Übrigen auch für die Kunden in der Branche, denn diese müs‐sen höhere Preise zahlen. 

Wäre also ein flächendeckender Mindestlohn dem Ziel der Armutsvermeidung angemesse‐ner? Immerhin steht der Vorschlag eines prominenten Sachverständigenratsmitglieds im Raum, einen Mindestlohn bei ungefähr 4,50 Euro pro Stunde so anzusetzen, dass bei Vollbe‐schäftigung das Sozialhilfeniveau garantiert werden kann. Zunächst zeigen die ökonomi‐schen Argumente für einen Mindestlohn (das MacBurger‐Beispiel und der Effizienzlohnme‐chanismus), dass das Gleichgewicht im Dreieck zwischen dem angebotenen Lohn, Anreizen für mehr Produktivität und alternativen "Verdienstmöglichkeiten" sowohl regional als auch sektoral unterschiedlich ist. Ein einheitlicher Mindestlohn mag aus politischen Verkaufsar‐gumenten reizvoll sein, ökonomisch sinnvoll ist er nicht, denn dazu unterscheiden sich Quali‐fikationsanforderungen und Produktionsabläufe zu stark. Natürlich kann man sich auf den niedrigsten Mindestlohn aller Branchen einigen, aber damit ist den Übrigen wenig geholfen. 

Noch schwerwiegender ist die politische Dynamik, die dem Mindestlohn innewohnt. Er wird natürlich zum politischen Preis, der populistischen Argumenten Tür und Tor öffnet. Die Achil‐lesferse der Demokratie ist der Zwang, nur oberflächlich richtigen, im schwer vermittelbaren Kern aber falschen Argumenten nachzugeben, um eine Wahl nicht zu verlieren. Ein flächen‐

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deckender politischer Mindestlohn wird vor jeder Wahl zur Diskussion stehen. Welche Re‐gierung wird es sich leisten können, hart zu bleiben? Die gegenwärtige Dezentralisierung der Lohnfindung in Deutschland, auch im niedrigen Bereich, muss erhalten werden, weil sie Kon‐flikte auf eine weniger emotionale und damit auf eine für populistische Versuchungen weni‐ger anfällige Ebene verschiebt. 

Kommen wir zurück von den politischen Argumenten gegen einen Mindestlohn zu den öko‐nomischen Argumenten für eine solche Lohnschranke, insbesondere auf den berühmten Fall der FastFood‐Industrie in New Jersey und dem benachbarten Pennsylvania. Er wurde des‐wegen berühmt, weil zum ersten Mal kein politisch oder ideologisch motiviertes Argument für den Mindestlohn vorgebracht wurde, sondern ein wissenschaftlich akzeptables, da im Prinzip korrektes theoretisches Argument. Die Ökonomenzunft musste lernen, dass die Wir‐kungsanalyse eines Mindestlohns empirisch erfolgen muss, weil die theoretisch möglichen Wirkungsmechanismen gegenläufig sind. Der Ausgang des Streits über den Mindestlohn in New Jersey und Pennsylvania ist schnell erzählt: In der nüchternen empirischen Analyse ha‐ben sich in diesem Fall weder positive Beschäftigungswirkungen noch substantielle Unter‐schiede in der Armutsvermeidung gezeigt. Dieser Streit hat zu einer umfassenden Bestands‐aufnahme des empirischen Wissens über Mindestlöhne geführt. Von den fast hundert Studi‐en, die seit 1990 die Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen untersucht haben, zeigen die Hälfte negative Beschäftigungswirkungen. Etwa 40 Prozent der Studien verlaufen ergeb‐nislos. Knapp 10 Prozent meinen, positive Beschäftigungswirkungen nachweisen zu können. Legt man scharfe wissenschaftliche Maßstäbe zugrunde, etwa die Reproduzierbarkeit der Arbeit und die Belastbarkeit der Resultate, bleiben 19 Studien, von denen eine einzige in einem speziellen Fall nachweisen kann, dass die Einführung des Mindestlohns keine zusätzli‐che Arbeitslosigkeit hervorgerufen hat.  

Das klassische Ökonomenargument, dass hohe Mindestlöhne diejenigen Menschen vom Arbeitsmarkt ausschließen, deren Produktivität so gering ist, dass es sich nicht lohnt, sie zum Mindestlohn einzustellen, weil Maschinen oder Menschen im Ausland die Arbeit billiger ma‐chen können, hat also bei weitem das höchste empirische Gewicht. So gerne man vielleicht das Gegenteil hätte glauben wollen, in der Realität verringern Mindestlöhne die Beschäfti‐gung und können per Saldo Armut nicht vermeiden. Viele der Argumente gegen diese Ein‐sicht sind hochgradig naiv, gelten im deutschen Kontext nicht oder beruhen auf falsch ver‐standenen internationalen Vergleichen. 

Hochgradig naiv ist es, anzunehmen, dass staatlich vorgeschriebene Löhne tatsächlich ge‐zahlt werden. Die Empirie zeigt, dass nur ein kleiner Teil der Arbeitgeber ihre Beschäftigten zu den höheren Löhnen im Betrieb behalten. Die meisten Unternehmen entlassen die teure‐ren Arbeitskräfte bei der nächsten Gelegenheit. Ihre Leistungen fallen entweder weg, wer‐den durch Maschinen ersetzt oder ins Ausland verlagert, wo die Löhne niedriger sind. Dieje‐nigen, die arbeitslos werden, haben wegen ihrer geringen Qualifizierung auch langfristig we‐nig Chancen auf Einstellung zu einem hohen Mindestlohn. Die harte Wahrheit ist, dass man in Deutschland keine Löhne setzen kann, wie es beliebt, sondern an die Lohnentwicklung in aller Welt gebunden ist. Sie diktiert, was gering qualifizierte Menschen verdienen können. Im Umkehrschluss zeigt dies, wie wichtig Bildungspolitik ist. Es ist unvereinbar, hohe Mindest‐löhne zu fordern in einem Land, in dem Kinder sozial schwacher Eltern kaum eine Chance haben aufzusteigen.  Falsch ist im deutschen Kontext das Argument, man brauche einen Mindestlohn, um Armut zu bekämpfen. Denn in Deutschland gibt es ein Mindesteinkommen, 

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das durch die Sozialhilfe gewährt wird. Es orientiert sich an den Ausgaben, die ein Haushalt für eine menschenwürdige Existenz haben sollte. Als Ersatz für ein Mindesteinkommen taugt der Mindestlohn nicht, denn der Mindestlohn hilft nicht, Armut zu vermeiden, wenn nur wenige Stunden gearbeitet wird. Wem der Sozialhilfesatz zu niedrig für eine menschenwür‐dige Existenz erscheint, der sollte das Kind auch beim Namen nennen.  

Falsche Vergleiche schließlich gibt es in Hülle und Fülle in der Mindestlohndebatte, etwa das Argument, "fast alle EU‐Länder haben ihn, da kann er doch auch uns nicht schaden". Schaut man auf die Mindestlohnlandkarte, fallen einem die Länder auf, die keinen Mindestlohn ha‐ben: Dänemark, Schweden oder Österreich, also Länder, die nicht durch hohe Armut auffal‐len. Warum gibt es dort keinen Mindestlohn? Weil es in diesen Ländern, wie in Deutschland, ein Mindesteinkommen gibt, das Armut auffängt. "Aber selbst in urkapitalistischen Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien gibt es einen Mindestlohn." Richtig. Aber dort ist er so ausgestaltet, dass nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Arbeitnehmerschaft da‐von betroffen wird, vor allem durch Ausnahmeregeln, zum Beispiel für jugendliche Arbeit‐nehmer. In den Vereinigten Staaten erhalten 1,2 Prozent der Arbeitnehmer den gesetzlichen Mindestlohn, in Großbritannien 1,4 Prozent. Auch in den Niederlanden werden Jugendliche (bis 22 oder 23 Jahre) vom Mindestlohn ausgenommen. Dort erhalten etwa 2,1 Prozent der Vollzeitbeschäftigten den Mindestlohn. In Frankreich sind es dagegen 15,6 Prozent, was mit der Ausnahme von Luxemburg EU‐weite Spitze ist. Daher ist der Mindestlohn in den Verei‐nigten Staaten, Großbritannien und den Niederlanden mit dem Mindestlohn in Frankreich kaum vergleichbar. Die Arbeitsmarktwirkungen eines Mindestlohnes richten sich aber primär nach dem Anteil der Beschäftigten, die davon betroffen sind. Hier liegen Welten zwischen Großbritannien und Frankreich: In Großbritannien kann der Mindestlohn keine messbaren Auswirkungen auf die Gesamtbeschäftigung haben, weil er 98,6 Prozent der Beschäftigten nicht trifft. 

In Deutschland würde ein Mindestlohn von 7,50 Euro etwa 8,2 Prozent der Vollzeitbeschäf‐tigten betreffen. Damit läge es keinesfalls im Mittelfeld, im Gegenteil. Nur Frankreich und Luxemburg hätten dann eine höhere Betroffenheitsrate. Alle übrigen der 15 alten EU‐Länder, die einen Mindestlohn haben, weisen dagegen Betroffenheitsraten von unter 3 Pro‐zent auf. Deutschland würde mit einem flächendeckenden Mindestlohn von 7,50 Euro also in die Spitzengruppe der Betroffenheit katapultiert. Um die Arbeitsmarktfolgen zu verstehen, sind die Niederlande und Großbritannien wegen ihrer niedrigen Betroffenheit ungeeignete Vergleichsobjekte, erst recht die Vereinigten Staaten. Eher passt Frankreich, vor allem weil es die Jugendlichen nicht von der Mindestlohnregelung ausgenommen hat. Genau hier sieht man allerdings auch die Folgen in einer desaströsen Jugendarbeitslosigkeit. Auch der Zeitab‐lauf ist lehrreich: Diese schwankte im Gleichschritt mit der Höhe des für die Jugendlichen geltenden effektiven Mindestlohnes. 1996, als dieser am höchsten war, lag die Jugendar‐beitslosigkeit bei mehr als 27 Prozent. Mit der Senkung der Sozialabgaben auf Mindestlöhne sank die Jugendarbeitslosigkeit auf 19,4 Prozent im Jahr 2001, um nach der dann erfolgten Anhebung des Nettomindestlohns wieder auf über 22 Prozent zu steigen. Klarer können die Warnsignale für Deutschland nicht sein. Gut gemeint ist immer noch nicht gut gemacht. Mindestlöhne mögen populär sein; helfen werden sie aber weniger den sozial Schwachen und gering Qualifizierten, deren Arbeitsplätze leicht ersetzbar sind, sondern den Insidern, die ohnehin abgeschirmte Arbeitsplätze haben. Es ist viel Heuchelei dabei, mit Mindestlöhnen Armut vermeiden zu wollen. 

Text: F.A.Z., 19.01.2008, Nr. 16 / Seite 11 

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Subjekt versus Objekt – Prof. Dr. Hans Werner Sinn 10. April 2006 ifo Standpunkt Nr. 74 

Deutschland wird einen Kombilohn bekommen. Die Politik hat eingesehen, dass man die deutsche 

Weltmeisterschaft bei der Massenarbeitslosigkeit der gering Qualifizierten nur beenden kann, wenn 

man staatliche Hilfen fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben gewährt. Die Frage ist nur, ob der Kom‐

bilohn als Objekt‐ oder als Subjektförderung eingeführt werden soll, ob man die Unternehmen oder 

ihre Arbeitnehmer bezuschusst. Die öffentliche Diskussion des Kombilohns zeugt von Verwirrung, 

weil zwischen diesen Alternativen nicht klar unterschieden wird. Deutlich wird die Verwirrung bei 

dem Argument, die Einführung von Kombilöhnen veranlasse Unternehmen und Arbeitnehmer zu 

einem Komplott. Sie würden niedrigere Löhne vereinbaren, um auf diese Weise in den Genuss der 

staatlichen Unterstützung zu gelangen. Zum Schutz dagegen sei ein gesetzlicher Mindestlohn erfor‐

derlich. 

Das Argument ist zwar bei der Subjektförderung ansatzweise nachvollziehbar. Je niedriger der Lohn, 

desto größer ist der Zuschuss, den der Staat dem Arbeitnehmer gewähren muss, wenn er ihm ein 

bestimmtes Einkommen garantieren will. Nicht nachvollziehbar ist es jedoch im Falle der Objektför‐

derung, denn dann ist es ja umgekehrt: Je höher der Lohn, desto größer ist der Zuschuss, den der 

Staat einer Firma gewähren müsste, wenn ein bestimmtes Niveau der Arbeitskosten nicht überschrit‐

ten werden soll. Man müsste nach dieser Logik eigentlich einen gesetzlichen Höchstlohn fordern, um 

die Ausbeutung des Staates zu verhindern. Die Vorstellung eines Komplotts zwischen dem Unter‐

nehmer und seinen Arbeitern ist jedoch falsch. Erstens wird der Staat weder Lohnsenkungen noch ‐

erhöhungen voll kompensieren, sondern Fördertarife festlegen, die stets nur eine partielle Kompen‐

sation implizieren. Zweitens hat Deutschland einen Arbeitsmarkt, auf dem zwischen den Unterneh‐

men Konkurrenz herrscht. 

Im Falle der Subjektförderung wird es zwar im Ausmaß der Förderung zu einer Senkung der Lohnan‐

sprüche kommen, und genau deshalb wird es mehr Jobs geben. Aber der Lohn kann auch bei einer 

sehr großzügigen Förderung nicht ins Bodenlose fallen. Bei schätzungsweise einem Drittel unter dem 

Niveau heutiger Niedriglöhne dürfte das Marktgleichgewicht erreicht werden. Noch niedrigere Löhne 

sind dann nicht möglich, weil sich die Unternehmer bei der Konkurrenz um knappe Arbeitnehmer 

gegenseitig überbieten würden. Gesetzliche Mindestlöhne auf dem Niveau der heutigen Niedriglöh‐

ne sind nicht nur unnötig, sondern auch schädlich. Sie würden verhindern, dass neue Stellen entste‐

hen. 

Im Falle der Objektförderung sinken die Lohnkosten im Ausmaß der Förderung, ohne dass es zu‐

nächst zu einem nennenswerten Anstieg bei den Brutto‐ oder Nettolöhnen kommt. Ist die Förderung 

sehr großzügig, wird auch hier das Marktgleichgewicht erreicht, und erst dann kann die Konkurrenz 

der Arbeitgeber um knappe Arbeitnehmer zu Lohnerhöhungen führen. 

 

Noll, Skript W-Ing. VWL 2/3 Makroökonomik WS 2010/2011

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Ob Subjekt‐ oder Objektförderung: Das materielle Marktergebnis ist unabhängig davon, an wen das 

Geld fließt. Bei beiden Förderarten wird es die gleichen Lohnkosten, die gleichen Nettolöhne und die 

gleichen Beschäftigungseffekte geben, wenn der Staat das gleiche Fördervolumen realisiert und die 

gleichen Tatbestände fördert. 

Allerdings werden nicht die gleichen Tatbestände gefördert. Im Gegensatz zur Subjektförderung kann 

die Objektförderung auf die individuellen Besonderheiten der geförderten Arbeitnehmer nicht ein‐

gehen. Insbesondere ist es kaum möglich, anderweitige Einkünfte wie Zinsen, Mieten und Renten zu 

berücksichtigen, und wenn, dann nur unter prohibitivem Verwaltungsaufwand und Verzicht auf den 

Schutz der Privatsphäre. Als Folge würden sehr viele Streuverluste bei der Förderung auftreten. Eine 

unkontrollierbare Subventionsmaschinerie würde in Gang gesetzt, deren Kosten man kaum im Griff 

halten könnte. Die negativen Erfahrungen beim sozialen Wohnungsbau zeigen, was man erwarten 

muss. 

Vertreter der Objektförderung führen dagegen ins Feld, dass die Subjektförderung einen Drehtüref‐

fekt erzeugt, weil die Unternehmen angeregt würden, bereits beschäftigte teure Arbeitnehmer durch 

billigere neue Arbeitnehmer zu ersetzen. Dadurch entstünden die höheren fiskalischen Lasten. Der 

Drehtüreffekt könne bei der Objektförderung vermieden werden, indem man sie auf die Zunahme 

der Beschäftigung gegenüber einem historischen Stichjahr beschränkt. Diese Argumentation ist 

falsch. 

Zum einen ist die Subjektförderung trotz des vollen Drehtüreffektes finanzierbar, wenn man das Ar‐

beitslosengeld II im Sinne der Aktivierenden Sozialhilfe des ifo Instituts umgestaltet. Die 

Hinzuverdienstgrenze müsste von 100 auf 500 Euro erhöht und das ALG II bei Nichtstun um ein Drit‐

tel gekürzt werden. Und für den Notfall müsste es kommunale Leiharbeitsstellen geben, die in Höhe 

des heutigen ALG II bezahlt werden. Das schafft über drei Millionen Jobs, verringert die Lasten des 

Staates um fünf Milliarden Euro und erhöht den Lebensstandard der Armen deutlich über das ALG II 

hinaus. 

Zum anderen würde der Drehtüreffekt bei der Objektförderung ebenso stattfinden und zudem dra‐

matische Auswirkungen auf die Unternehmensstruktur haben. Neue Unternehmen, die nach dem 

Stichjahr gegründet werden, kämen nämlich in den Genuss der vollen Förderung, während alte Un‐

ternehmen, die ihren Reifezustand erreicht haben, leer ausgingen. Alte Firmen würden deshalb in 

den Konkurs getrieben oder umgewidmet und neuen Unternehmen Platz machen. Angesichts der 

absehbaren Massenproteste der etablierten Firmen kann man die politische Partei nur bedauern, die 

sich auf solche Konstruktionen einlässt.  

Erschienen unter dem Titel "Subjekt versus Objekt“, Wirtschaftswoche, Nr. 15, 10. April 2006, S. 186.  Hans‐Werner Sinn Präsident, Ifo Institute for Economic Research     

 

Noll, Skript W-Ing. VWL 2/3 Makroökonomik WS 2010/2011

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6.6. Wiederholungsaufgaben und Kontrollfragen  1. Erläutern Sie, was man unter der Drei‐Sektoren‐Hypothese versteht! Gilt die Hypothe‐

se auch, wenn man bedenkt, dass die internationale Vernetzung des Wirtschaftsge‐schehens eine zunehmende Rolle spielt? 

 2. Worin werden Ursachen für den fortschreitenden Strukturwandel gesehen?  3. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Strukturwandel für die Preisverhältnisse 

von Industriegütern und Dienstleistungen?  4. Was ist unter der Tertiarisierung des industriellen Sektors zu verstehen?  5. Diskutieren Sie, für welche Wirtschaftssektoren in der Bundesrepublik v.a. Wachs‐

tumserwartungen in den nächsten Jahrzehnten begründet werden können?  6. Die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik weist auf eine ausgespro‐

chene qualifaktionsspezifische Arbeitslosigkeit hin! Erläutern Sie, was unter einer qua‐lifikationsspezifischen Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zu verstehen ist und wie diese entstanden ist! 

 7. Diskutieren Sie, welche wirtschaftspolitischenpolitischen Instrumente gegen die 

qualifaktionsspezifische Arbeitslosigkeit Ihrer Ansicht nach sinnvoll sind!  8. Was versteht man unter Industriepolitik? Entspringt sie eher liberalem oder eher 

interventionistischem Denken?  9. Welche Kritikpunkte sind anzubringen, wenn es darum geht, Spitzentechnologien stär‐

ker mittels Subventionen zu fördern?