W e tziko n Von katastrophaler Fam ilienbande

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Hoher Besuch für Wetzikon: Der diesjährige Preisträger des Georg-Büchner-Preises Reinhard Jirgl las aus seinem aktuellen Roman «Die Stille». Martin Meier Mit Reinhard Jirgl haben es die Orga- nisatoren erneut geschafft, einen hoch dotierten Schriftsteller nach Wetzikon zu holen. Das Team von Camera.lit. obscura stellt so sein feines Sensorium unter Beweis: Das Programm wurde Anfang Jahr aufgestellt, die Preisverlei- hung indes fand vor drei Wochen statt. Heuer führte Adrian Schnetzer wäh- rend einer Viertelstunde in das Werk des 57-jährigen Berliners ein. Bezeich- nend für Jirgls Weltverständnis sei die «praemeditatio malorum», wie sie in der philosophischen Schule der Stoa praktiziert wurde. Es sei dies die ge- dankliche Vorwegnahme des Schlimmst- möglichen, um diesem – sollte es sich tatsächlich ereignen – mit Fassung, eben stoisch, begegnen zu können. Bei Jirgls Versuchsanordnung muss die bürgerliche Familie herhalten. Der über 530 Seiten langen Familienchronik liegen einhundert, in Worten beschrie- bene Fotografien zugrunde, auf die je- weils eine Geschichte folgt. Episoden aus dem Leben von Georg, seiner Frau Henriette und seiner Schwester Feli- citas, mit der er Henry zeugt. In Jirgls einstündiger Lesung standen der Inzest und die Vater-Sohn-Beziehung im Zen- trum. «Verfluchte Nähe» der Familie Es sei eine «verfluchte Bande, die Familienbande». Eine «verfluchte Nähe» gehe von ihr aus. Doch Schuld am Sün- denfall sei die «vom Regen schraffierte Landschaft». Die Oder, die sintflutartig über die Ufer tritt, Grenzen verwischt, dass an eine Rückreise nicht zu denken sei. Sie zwingt Georg, bei der Schwester zu übernachten. «Sei nicht albern, zieh dich aus und komm ins Bett», eröffnet sie die gemeinsame Nacht. Wieder ver- schwimmen die Grenzen. Die Schwester «war ausserhalb ihrer», ihr Leib «wie eine geöffnete Hand». «Rätselhaft» sei es gewesen, «das Ziel dieses Flutens», nicht einmal der Krieg habe das Land derart verwüstet, schreibt Jirgl symbo- lisch. Wassermassen und Sprachgewalt Nationalsozialismus, DDR und BRD bilden den Horizont der Handlung. Oft scheint aber ein alttestamentarischer Gott die Handlung ins Zeitlose zu rü- cken. Die Wassermassen schwemmen Kadaver und Särge empor, «Zerstörtes erneut zerstörend». Was folgt, ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. So wurden Henry zwei Dinge eingeimpft: Gleichgültigkeit und die Fähigkeit zur Lüge. Der Vater eignete sich zur Zeit des Krieges im Waisenhaus ähnliche Über- lebensstrategien an. Entfernung – phy- sisch wie psychisch – wird zum fami- liären Patentrezept. Die Lesung schloss mit dem Treffen von Vater und Sohn: Ende des Kapitels, Ende der Beziehung. Jirgl setzte seine Brille wieder auf – et- was unangenehm schien ihm der lange Applaus zu sein. Täter und Opfer Während 30 Minuten stand der Preisträger schliesslich Rede und Ant- wort. Die Frage nach Schuld etwa werde gerne mit Täter und Opfer geklärt, kommentierte der Autor das soeben Ge- lesene – was aber zwei grundverschie- dene Kategorien seien: Während in juristischer Begrifflichkeit aus einer Tät- lichkeit ein Leidtragender oder ein Ge- schädigter hervorgehe, werde bei uns von einem Opfer gesprochen. Dieser Begriff entstamme jedoch der Religion und bezeichne die Gabe einer kulti- schen Handlung. Rede man bei Kriegs- geschädigten von Opfern, sei dies Pro- paganda. Dieses Durcheinander be- ginne ja in den eigenen Reihen; könne doch, was vormals auf dem Übungs- platz Familie erprobt wurde, nach draussen getragen werden. Die Hölle innerhalb der Familie, so Jirgl abschlies- send, sei lediglich Alltag. Wetzikon Die Autorenlesung mit Reinhard Jirgl gewährte Einsicht in eine Familienbeziehung Von katastrophaler Familienbande Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl während der Lesung in Wetzikon. (glg)

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ZO/Av U Montag, 15. November 2010 25Regionalkultur

ZO/AvU Seite: 25

Adrian Stern hat mit seinemneuen Album «Herz» inWetzikon Halt gemacht. Am Samstagabend spielte erim ausverkauften Scala.

Annette Saloma-HuberEr könnte unser Nachbar sein. Unser

Bruder, unser bester Freund. AdrianStern wirkt auch auf der Bühne im Scalanicht wie der Star, der er in der Schweizzweifellos ist, sondern vielmehr wie derJunge von nebenan. Kurz nach 21 Uhrbetritt er die Bühne, ein bisschen scheu,in Jeans und rot-schwarz kariertemHolzfällerhemd und lässt gar nicht ersteine Distanz zwischen sich und demPublikum aufkommen. Es könnte unserWohnzimmer sein, wo der Aargauerden Abend mit «Alles, was du wotsch»eröffnet, einem Song von seinem Album«S’Blaue vom Himmel».

Engumschlungene LiebespärchenDoch eigentlich ist Adrian Stern

gekommen, um sein neuestes Werk zupräsentieren. «Herz» heisst es, und inden zwölf Liedern geht es ausschliess-lich um die Liebe. Kein Wunder, stehenim Publikum vor allem engumschlun-gene Pärchen und schmachtende Frauenjeden Alters. Offensichtlich sind darun-ter nur wenige Raucher: Als Adrian Sternbeim Lied «Au eso» um Feuerzeugunter-stützung bittet, flackern nur gerade eineHandvoll Flammen auf. Dafür kennenseine Fans alle Lieder auswendig.

Wetzikon ist erst die zweite Stationauf Adrian Sterns «Herz»-Tournee, unddem Musiker macht es sichtlich Freude,seine neuen Songs vor Publikum zuspielen. Singt er von der glücklichen er-füllten Liebe, wirkt er überzeugend. DieLiebeskummersongs nimmt man ihmeher nicht so ab – zu breit lacht Sternden ganzen Abend in den vollen Saal.

Zur Seite stehen dem 35-Jährigenvier Musiker, die er aber getrost hätte zuHause lassen können. Da nützt es auchnichts, wenn er mit Simon Kistler ausWinterthur laut eigener Ansage «einender gefragtesten Schlagzeuger» dabeihat. Dieser haut so laut und abgehacktauf seine Trommeln, dass er nicht unter-stützend, sondern störend wirkt. Am

besten kommt Adrian Stern zur Geltung,wenn er sich selbst nur mit der elektro-nisch verstärkten akustischen Gitarrebegleitet, etwa beim Song «Lieber Lie-der», den er in einer Jazz-Version zumBesten gibt oder bei der Zugabe «Hoff-nig». Zudem braucht Adrian Sternssanfte Wohlfühlmusik keine lauten Be-gleitinstrumente; sie wirken fehl amPlatz. Ausser bei «Superman», wo er be-weist, dass er auch als Rockstar einegute Figur abgeben würde.

Grosse Nähe zum PublikumRasant singt sich Adrian Stern durch

den Abend, ohne Pause. Er spult dierund zwanzig alten und neuen Songsherunter, ist man versucht zu sagen,

würde er es nicht so unglaublich char-mant tun. Das Publikum lässt ihn nurungern gehen. 90 Minuten und drei Zu-gaben waren geplant, fast 120 Minutenund fünf Zugaben wurden es.

Aber Adrian Stern wäre nicht derJunge von nebenan, wenn er jetzt in ei-ner Limousine in die Nacht verschwin-den würde. Am Merchandising-Stand,wo man neben CDs und T-Shirts auchEinkaufstaschen kaufen kann, gibt ergleich nach dem Konzert völlig ver-schwitzt Autogramme und plaudert mitden vorwiegend weiblichen Fans. Seinelangjährige Freundin steht im schwarz-weiss gepunkteten Jupe daneben undwartet geduldig, bis sie Adrian Sternwieder ganz für sich allein hat.

Wetzikon Adrian Stern ist ein Star am Schweizer Musikhimmel – trotzdem bleibt er bodenständig

Der Junge von nebenan singt sich in die Herzen

Hoher Besuch für Wetzikon:Der diesjährige Preisträgerdes Georg-Büchner-PreisesReinhard Jirgl las aus seinemaktuellen Roman «Die Stille».

Martin MeierMit Reinhard Jirgl haben es die Orga-

nisatoren erneut geschafft, einen hochdotierten Schriftsteller nach Wetzikonzu holen. Das Team von Camera.lit.obscura stellt so sein feines Sensoriumunter Beweis: Das Programm wurdeAnfang Jahr aufgestellt, die Preisverlei-hung indes fand vor drei Wochen statt.

Heuer führte Adrian Schnetzer wäh-rend einer Viertelstunde in das Werkdes 57-jährigen Berliners ein. Bezeich-nend für Jirgls Weltverständnis sei die«praemeditatio malorum», wie sie inder philosophischen Schule der Stoapraktiziert wurde. Es sei dies die ge-dankliche Vorwegnahme des Schlimmst-möglichen, um diesem – sollte es sichtatsächlich ereignen – mit Fassung, ebenstoisch, begegnen zu können.

Bei Jirgls Versuchsanordnung mussdie bürgerliche Familie herhalten. Derüber 530 Seiten langen Familienchronikliegen einhundert, in Worten beschrie-bene Fotografien zugrunde, auf die je-weils eine Geschichte folgt. Episodenaus dem Leben von Georg, seiner FrauHenriette und seiner Schwester Feli-citas, mit der er Henry zeugt. In Jirglseinstündiger Lesung standen der Inzestund die Vater-Sohn-Beziehung im Zen-trum.

«Verfluchte Nähe» der FamilieEs sei eine «verfluchte Bande, die

Familienbande». Eine «verfluchte Nähe»gehe von ihr aus. Doch Schuld am Sün-denfall sei die «vom Regen schraffierteLandschaft». Die Oder, die sintflutartigüber die Ufer tritt, Grenzen verwischt,dass an eine Rückreise nicht zu denkensei. Sie zwingt Georg, bei der Schwesterzu übernachten. «Sei nicht albern, ziehdich aus und komm ins Bett», eröffnet

sie die gemeinsame Nacht. Wieder ver-schwimmen die Grenzen. Die Schwester«war ausserhalb ihrer», ihr Leib «wieeine geöffnete Hand». «Rätselhaft» seies gewesen, «das Ziel dieses Flutens»,nicht einmal der Krieg habe das Landderart verwüstet, schreibt Jirgl symbo-lisch.

Wassermassen und SprachgewaltNationalsozialismus, DDR und BRD

bilden den Horizont der Handlung. Oftscheint aber ein alttestamentarischerGott die Handlung ins Zeitlose zu rü-cken. Die Wassermassen schwemmenKadaver und Särge empor, «Zerstörteserneut zerstörend». Was folgt, ist dieewige Wiederkehr des Gleichen. Sowurden Henry zwei Dinge eingeimpft:Gleichgültigkeit und die Fähigkeit zurLüge. Der Vater eignete sich zur Zeit desKrieges im Waisenhaus ähnliche Über-lebensstrategien an. Entfernung – phy-sisch wie psychisch – wird zum fami-liären Patentrezept. Die Lesung schlossmit dem Treffen von Vater und Sohn:Ende des Kapitels, Ende der Beziehung.Jirgl setzte seine Brille wieder auf – et-was unangenehm schien ihm der langeApplaus zu sein.

Täter und OpferWährend 30 Minuten stand der

Preisträger schliesslich Rede und Ant-wort. Die Frage nach Schuld etwa werdegerne mit Täter und Opfer geklärt,kommentierte der Autor das soeben Ge-lesene – was aber zwei grundverschie-dene Kategorien seien: Während injuristischer Begrifflichkeit aus einer Tät-lichkeit ein Leidtragender oder ein Ge-schädigter hervorgehe, werde bei unsvon einem Opfer gesprochen. DieserBegriff entstamme jedoch der Religionund bezeichne die Gabe einer kulti-schen Handlung. Rede man bei Kriegs-geschädigten von Opfern, sei dies Pro-paganda. Dieses Durcheinander be-ginne ja in den eigenen Reihen; könnedoch, was vormals auf dem Übungs-platz Familie erprobt wurde, nachdraussen getragen werden. Die Hölleinnerhalb der Familie, so Jirgl abschlies-send, sei lediglich Alltag.

Wetzikon Die Autorenlesung mit Reinhard Jirgl gewährte Einsicht in eine Familienbeziehung

Von katastrophaler Familienbande

Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl während der Lesung in Wetzikon. (glg)

Vor ausverkauftem Scala sang Adrian Stern vornehmlich die Lieder seiner neuen CD «Herz». (glg)

Rüti

Kantate zu Psalm46 uraufgeführtReto E. Fritz dirigiertedie Uraufführung seinerKantate über den Psalm 46in der fast vollbesetztenreformierten Kirche Rüti.

Die Musiker des SalonorchestersZürcher Oberland und die Sänger undSängerinnen des Evangelisch-reformier-ten Kirchenchores Rüti zusammen mitdenjenigen des Singkreises Wetzikon,welche die Bühne vor dem Chor der Kir-che fast zum Bersten füllten, wecktenschon vor dem ersten Ton grosse Er-wartungen. Diese wurden dann auchnicht nur erfüllt, sondern weitgehendübertroffen.

Mit Spannung erwartetBereits «Pomp&Circumstance» von

Edward Elgar liess die Qualitäten, so-wohl des Orchesters wie auch des Cho-res, ein erstes Mal aufleuchten und er-zeugte bei den Zuhörern eine gespannteErwartung auf die Uraufführung derKantate Psalm 46. Diese war vom Diri-genten des Konzerts Reto E. Fritz kom-poniert worden, und er brachte siegleich selber zur ersten Aufführung.

Dieser Psalm hatte seinerzeit MartinLuther zum Kirchenlied «Ein feste Burgist unser Gott» inspiriert, welches er1529 oder 1531 geschrieben hatte. Manweiss heute immer noch nicht, ob derReformator Luther dieses Lied als Pro-test gegen die damals herrschenden Zu-stände im katholischen Rom oder dieebenfalls in Europa grassierende Pestgeschrieben hat. Auf jeden Fall hat sichdieses Lied bis heute gehalten und wirdin der Reformierten Kirche immer nochhauptsächlich am Reformationssonntagim Gottesdienst gesungen.

Subtil begleiteter SprechchorSo hat denn auch der Komponist

Reto E. Fritz den Text von Luther inverdankenswerter Weise und gekonntin seine eindrückliche Kantate einge-baut und dessen Melodie, quasi in Formvon Variationen, ebenfalls verwendet.Dabei wurden die spannungsvollenMelodien noch verstärkt mit gelegent-lich durch Sprechchor vorgetragenenTextstellen, welche vom Orchester sub-til begleitet wurden.

Dadurch entstand eine sehr dichteDarbietung, und sowohl Chor wie auchOrchester legten Zeugnis von ihremKönnen ab. Die dargebotene Präzisionder Einsätze verstärkte den Eindruckund trug zu einer gelungenen Urauf-führung des neuen Werkes bei.

Versprochene WeihnachtenAls ein anderes Genre, aber nicht

weniger eindrücklich erwies sich darauf«The Promise of Christmas» («Das Weih-nachtsversprechen») von Dan Burgess,dessen Musical sowohl dem Orchesterwie auch dem Chor alles abverlangte.Wohltuend wurden dabei die einzelnenAbschnitte durch die Erzählerin Char-lotte Joss unterbrochen, welche in sehrgepflegter Sprache die verbindendenund erläuternden Texte aus der Bibelsprach.

Die Bühne erwies sich dafür als zuklein, denn die Solisten Barbara Kand-ler, Mezzosopran, Simon Witzig, Tenor,und Andreas J. Baumberger, Bass, wur-den, zu nahe vor dem Orchester ste-hend, von diesem richtiggehend zu-gedeckt. Besonders von der lieblichenStimme der Mezzosopranistin hörteman leider nur sehr wenig.

Immer wieder erstaunte die Aus-druckskraft des Chores, und dies nichtnur in den Forte-Stellen, sondern auchdann, wenn ein leiser Part nur nochgehaucht werden musste. Die Darbie-tungen der einzelnen Abschnitte wur-den indes immer wieder durch einenzwar wohlgemeinten, aber die Homo-genität der Aufführung störenden Ap-plaus unterbrochen. Allen Aufführen-den muss ein grosses Lob für das ge-konnte Musizieren ausgesprochen wer-den. Mit dem Schlussapplaus erwirktendie Konzertbesucher noch eine Zugabe,indem ein Chor des Musicals ein zwei-tes Mal dargeboten wurde. (hs)