Wahrhe t .. rz · 2015. 8. 10. · Wild-West-Helden Leutnant Blueberry oder des Rennfahrers Michel...

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i Wie Die Ärzte zur besten Band der Welt wurden Marc Frohner Das ist die ganze W h h e t r a .. r z t e © des Titels »Das ist die ganze Wahrheit« (ISBN 978-3-86883-676-9) 2015 by riva-Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München Nähere Informationen unter: http://www.riva-verlag.de

Transcript of Wahrhe t .. rz · 2015. 8. 10. · Wild-West-Helden Leutnant Blueberry oder des Rennfahrers Michel...

  • iWie Die Ärzte zur

    besten Band der Welt wurden

    Marc Frohner

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    VorwortGutes wird gerne kopiert, und wer Erfolg hat, fi ndet schnell Nachah-

    mer. Das trifft auf die Musik ebenso zu wie auf zahllose andere Berei-

    che. Jedem erfolgreichen Interpreten wird nachgeeifert, jede gefeierte

    Band kopiert. Mit einer Ausnahme: Seit mehr als 30 Jahren feiern die

    ärzte immer wieder neue Erfolge, besetzen Spitzenplätze der Charts

    und spielen ausverkaufte Tourneen. Doch in all diesen Jahren und

    Jahrzehnten gab es kaum einen nennenswerten Versuch, dem Stil die-

    ser Band etwas abzuschauen, ihn gar zu imitieren. Natürlich existieren

    diverse sogenannte Coverbands, die auf Volksfesten oder Familienfei-

    ern ihre bekannten Hits einfach nachspielen, aber niemand hat sich

    die ärzte zum Vorbild genommen und ihnen wirklich nachgeeifert.

    Und wenn es doch jemanden gab, dann ist er kläglich gescheitert. Was

    natürlich zu der Frage nach dem Warum führt, auf die es wiederum

    eine klare Antwort gibt: Weil es nicht geht. Nur die ärzte können Mu-

    sik machen, wie sie die ärzte spielen. Nur die ärzte können Texte

    schreiben und Reime reimen, wie es die ärzte tun. Denn kaum eine

    andere Musikgruppe ist so eng mit den Persönlichkeiten der Macher

    verfl ochten, wie es bei der Band aus Berlin der Fall ist. Ohne Farin

    Urlaub, ohne Bela  B und auch ohne Rodrigo González wird es nie © d

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    Das ist die ganze Wahrheit

    möglich sein, die ärzte zu kopieren – nur diese drei Köpfe gemeinsam

    können das machen, was die ärzte tun.

    Weil die ärzte nicht nur eines der erfolgreichsten, sondern gemein-

    sam auch das wohl ideenreichste und intelligenteste Musikprojekt

    Deutschlands seit Jahrzehnten darstellen. Diese Aussage mag Außen-

    stehende so überraschen, wie sie Fans eventuell verstört. Gerade intel-

    ligente Pop- oder Rockmusik ist schließlich ein Thema, das eher für

    die Grönemeyers dieser Welt steht. Und damit für eine musikalische

    Art und Weise, die weder die ärzte noch deren Anhänger mögen. Ge-

    rade dieser Band Intelligenz vorzuwerfen, hat aber damit zu tun, dass

    sie eben nicht das tun, was normalerweise unter solch intelligenter

    Rockmusik verstanden wird. Sie quälen ihre Zuhörer nicht mit ge-

    wollt verkopften Inhalten oder schwermütig grüblerischen Texten.

    Ihre Schläue verbirgt sich hinter einem »Leck mich«: Sie machen ihr

    Ding und halten sich nicht an Konventionen. Als Deutschland in den

    Neunzigerjahren nach der Wiedervereinigung unter Ausländergewalt

    und einer wachsenden rechten Szene ächzte, mühten sich Musiker im

    ganzen Land, die passende Antwort auf dieses Problem zu fi nden. Die

    meisten scheiterten, weil sie mit bleiernem Ernst an die Sache heran-

    gingen. Das war verständlich, aber eben nicht zielführend. Die ärzte

    machten es anders und zwar wesentlich schlauer. Das Ergebnis kennt

    auch mehr als 20 Jahre nach Veröffentlichung noch jeder. »Schrei nach

    Liebe« wurde zu einem kaum alternden Klassiker deutscher Rockmu-

    sik – und zu jenem Titel, der den Ausruf »Arschloch!« radiotauglich

    machte. Es gibt viele ähnliche Beispiele für die nur auf den ersten Blick

    oberfl ächliche Umgangsweise mit komplexen Themen, die erst auf den

    zweiten Blick ihre wahre Tiefe erkennen lässt. »Manchmal haben

    Frauen …« etwa, das in wenigen Strophen mehr über Emanzipation, © d

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    Vorwort

    Chauvinismus und Gewalt gegen Frauen aussagt, als es manche Bü-

    cher tun. Oder das weniger bekannte Stück »Meine Freunde«, das in

    vollkommener Lockerheit von der Selbstverständlichkeit der Homose-

    xualität erzählt – und daneben auch unbeschwert das Thema Sado-

    masochismus behandelte, als verklemmte Großstädter nicht ahnten,

    dass sie einmal in Scharen ein Buch mit dem Titel Shades of Grey

    kaufen würden.

    Trotz alledem werden die inzwischen zu Mittfünfzigern gereiften

    Gründer der Gruppe bis heute vielfach nicht als erwachsen wahrge-

    nommen. Was auch damit zusammenhängt, dass sie sich niemals Mühe

    gaben, das zu sein, was der Durchschnittsmensch als erwachsen und

    reif akzeptiert. In Interviews alberten und albern sie gern herum. Was

    anderen Musikern als fast schon anarchisches Statement abgenommen

    würde, wird bei diesem Trio traditionell als pubertäres Gehabe gewer-

    tet. So war es noch in den Neunzigerjahren einfach unvorstellbar, dass

    im Fernsehen oder dem Radio das Wort »fi cken« zu hören sein würde.

    Auch die ärzte kannten natürlich diese Regel  – und nutzten eine

    Live-Übertragung eines ihrer Konzerte zu einem Protest dagegen. Ei-

    nem Protest, der ohne Protestieren auskam: In fast jeder Pause zwi-

    schen den einzelnen Titeln sagten sie genau dieses Wort und begingen

    damit einen Tabubruch, den Tausende Zuhörer live verfolgen konn-

    ten. Als wäre das nicht genug, überzeugten sie auch noch die Zuhörer,

    die ebenfalls vielstimmig den Menschen an den Radios und natürlich

    den Verantwortlichen des Senders eben jenes Wort zuriefen. Kritiker

    mögen nun sagen, dass sich dahinter keine intellektuelle Großtat ver-

    birgt. Was sicher richtig ist. Trotzdem steht auch dieser Fall dafür, dass

    die ärzte eben eine Band sind, die eine eigene Meinung hat und sich

    nicht scheut, genau diese zu äußern.© d

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    Das ist die ganze Wahrheit

    Was am Ende auch zu einem weiteren Thema führt, das Anhängern

    ebenso wie Gegnern ein ablehnendes Schaudern vermitteln dürfte:

    Kunst. Natürlich ist Musik an sich immer auch eine Kunstform. Nur

    hat der Begriff Kunst im Allgemeinen oftmals einen eher zähen und

    tranigen Beigeschmack, der sich nur schwer mit einer Band wie die

    ärzte in Einklang bringen lässt. Tatsächlich aber haben gerade die ärzte

    von ihrer Gründung an mit dem Begriff Kunst gespielt, indem sie ihn

    auf ihre eigene Art und Weise überhöht und damit ins Absurde umge-

    kehrt haben. Immer wieder wurde gesagt und geschrieben, dass sich die

    ärzte anfangs als Parodie auf zeitgenössische Popgruppen der Achtzi-

    gerjahre sahen – und genau so verhielten sie sich auch. In frühen Inter-

    views sagten sie aber ebenfalls, dass sie wohl als Dadaisten durchgehen

    könnten, wenn sie nicht so erfolgreich wären. Und kaum ein Begriff

    trifft besser auf die ärzte zu als der des Dadaisten. Waren es doch gera-

    de die Dadaisten, die bürgerliche Klischees und herkömmliche Kunst-

    formen ablehnten und die das taten, indem sie diese parodierten.

    Niemand muss jedoch fürchten, dass sich dieses Buch in Ergüssen

    über intelligente Rockmusik oder eine längst vergessene Kunstform

    ergeht. Denn im Endeffekt sind die ärzte vor allem auch eine Band mit

    einer äußerst spannenden und kurzweiligen Geschichte. Sie galten als

    meistindizierte Musikgruppe der westlichen Welt, sie wurden von

    manchen schon totgesagt, als sie ein Gründungsmitglied schlicht und

    einfach rauswarfen. Die ärzte lösten sich sogar auf, als sie glaubten,

    dass sie alles erreicht hatten – nur um sich wenige Jahre danach wie-

    derzuvereinigen und Erfolge zu feiern, die alles Bisherige in den Schat-

    ten stellten. Und das alles nur, weil sich zwei Teenager zufällig über

    den Weg liefen und weil der eine einen Gitarristen suchte, während der

    andere immerhin eine Gitarre besaß.© d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    Westberlin

    Ho! Ho! Ho Chi Minh! vs. Geh doch rüber! – Ho! Ho! Ho Chi Minh! vs. Geh doch rüber! – Wie alles begannWie alles begann

    Die Geschichte der Band, die sich anfangs Die Ärzte und später die

    ärzte schreiben sollte, begann an einem Freitag – dem 14. Dezember

    1962. In jenem Jahr erlebte Deutschland einen der strengsten Winter

    des 20. Jahrhunderts, seit dem November herrschte Dauerfrost und

    daran sollte sich bis zum kommenden März auch nichts ändern. Für

    die Familie Felsenheimer in Berlin dürfte das allerdings zweitrangig

    gewesen sein. Denn hier erwartete man Nachwuchs. Nicht nur ein

    Kind sollte an jenem Tag auf die Welt kommen, sondern ein Zwillings-

    paar, Mädchen und Junge. Letzterer erhielt die Vornamen Dirk Albert, © d

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    Das ist die ganze Wahrheit

    und niemand hätte wohl im Traum daran gedacht, dass er sich einmal

    das Pseudonym Bela  B. zulegen und zu einem der bekanntesten

    Rockstars des Landes werden sollte.

    Denn die Felsenheimers waren keine Menschen, die nach Höherem

    strebten, sie waren bodenständige Leute, die hart arbeiteten, um über

    die Runden zu kommen. Man lebte nicht in bitterer Armut, war je-

    doch Lichtjahre von etwas entfernt, das man als wirklichen Wohlstand

    bezeichnen könnte. Erschwert wurde die Situation noch dadurch, dass

    die Ehe der Eltern nicht eben glücklich war und man sich trennte, als

    die Kinder gerade fünf Jahre alt waren. Von nun an lebte der junge

    Dirk mit der alleinerziehenden Mutter und seiner Schwester in Ber-

    lin-Spandau. Dirk Felsenheimer alias Bela B. beschrieb die Umstände

    später einmal so, dass die fi nanziellen Umstände es nicht zuließen, dass

    an jedem Tag der Woche Fleisch auf den Tisch kam – was ihm aber

    vergleichsweise wenig ausgemacht habe, da er als Kind eine Vorliebe

    für Milchreis entwickelt habe, erzählte er dem Obdachenlosenmaga-

    zin Hinz&Kunzt.

    Doch so bürgerlich das Leben der Familie auch war, fand es doch

    gleichzeitig in einem ausgesprochen aufgewühlten Umfeld statt. Gera-

    de das zu jener Zeit noch von einer Mauer umschlossene Westberlin

    stand zwischen 1966 und 1969 im Mittelpunkt der Proteste der deut-

    schen Studentenbewegung. Immer wieder kam es zu Demonstrationen

    und zu Zusammenstößen der Demonstranten mit der Polizei. Im Juni

    1967 erschoss ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg, kaum ein

    Jahr später wurde der Studentenführer Rudi Dutschke auf dem Kur-

    fürstendamm bei einem Attentat von drei Schüssen lebensgefährlich

    verletzt. Es war eine Zeit voller Extreme, zu denen jeder seine Mei-

    nung hatte und zu denen die Meinungen der Menschen extrem ausei-© d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    nanderklafften. Die einen hetzten gegen die Staatsmacht, die anderen

    schüttelten den Kopf über langhaarige Studenten. Im Haus Felsenhei-

    mer stand die Meinung ebenfalls fest. Wie wohl fast jeder Berliner er-

    lebte auch der junge Bela B die eine oder andere Demonstration mit

    eigenen Augen, und er konnte klar hören, was seine Mutter von der

    Sache hielt. Nämlich äußerst wenig. Sie habe sich vielmehr empört

    über die Demonstranten und auch jene Worte gesagt, die der bürgerli-

    che Teil der deutschen Gesellschaft zu jener Zeit gerne sagte, um mut-

    maßliche Aufwiegler abzukanzeln: Die Leute sollten doch »rüberge-

    hen«, wenn es ihnen hier im Land nicht passe. Gemeint war damit

    natürlich, dass sie nicht im Westen demonstrieren, sondern am besten

    gleich in den sozialistischen Osten und damit in die damalige Deutsche

    Demokratische Republik auf der anderen Seite der Berliner Mauer

    wechseln sollten.

    Mit dem Beginn der Siebzigerjahre beruhigte sich die Situation auf

    den Straßen in Maßen wieder, und für den jungen Dirk standen ohne-

    hin andere Dinge im Mittelpunkt. Längst hatte er sein Interesse für

    Comics entdeckt, von denen es in den frühen Siebzigerjahren einige an

    den Kiosken gab. Neben Micky Maus oder Fix & Foxi fanden sich da

    die Lucky-Luke-Hefte, Tim und Struppi und nicht zuletzt natürlich

    die Asterix-Hefte, deren deutsche Übersetzungen vor allem in den

    Siebzigern auf den Markt kamen. 1972 erschien dann als Highlight

    für die Jungs noch das Comic-Magazin Zack, das in Form gezeichne-

    ter Fortsetzungsgeschichten die Erlebnisse fi ktiver Figuren wie des

    Wild-West-Helden Leutnant Blueberry oder des Rennfahrers Michel

    Vaillant erzählte, die zu einem Stück Jugendkultur jener Ära wurden.

    Auch sein Faible für Horror und Horrorgeschichten entdeckte

    Bela B. schon in jungen Jahren. Allerdings über einen Umweg, der aus © d

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    Das ist die ganze Wahrheit

    heutiger Sicht nicht wirklich als eine Art Einstiegsdroge angesehen

    werden dürfte. Es handelte sich dabei nämlich um einen Film, der

    schon zu Beginn der Siebzigerjahre eigentlich alt und überholt war:

    Sindbads siebente Reise, ein Abenteuerfi lm aus dem Jahre 1958. Die

    Handlung ist dem Genre entsprechend recht simpel oder gar absurd.

    Seefahrer Sindbad ist gemeinsam mit seiner geliebten Prinzessin per

    Schiff auf der Reise nach Bagdad, wo er eben diese Prinzessin heiraten

    will. Bei einem Zwischenstopp auf einer griechischen Insel wird ein

    Magier von Zyklopen angegriffen, dann geht auch noch eine Wunder-

    lampe verloren und zu allem Überfl uss wird die Prinzessin in einen

    Zwerg verwandelt – aber am Ende geht dann natürlich doch alles gut

    aus. Die Handlung also war es wohl kaum, die in Bela B. eine lebens-

    lange Leidenschaft für das Horrorgenre entfachte. Tatsächlich ist der

    Film nicht in erster Linie wegen seines Plots bekannt geworden, son-

    dern wegen der Arbeit eines gewissen Ray Harryhausen. Der 1920

    geborene Amerikaner war nicht nur für das Drehbuch mitverantwort-

    lich, vor allem erweckte er mit einer Stop-Motion genannten Technik

    die Monster zu fi lmischem Leben, und zwar in einer für die damalige

    Zeit erstaunlichen Qualität. Mit seiner Hilfe und seinem Können war-

    fen Zyklopen Helden in Gitterkäfi ge oder hoben Sindbad mit den klo-

    bigen Fingern in die Luft. Was auf dem Umweg über das noch kindli-

    che Gemüt nun die bereits zweite lebenslange Leidenschaft des Bela B.

    schon früh weckte. Die dritte Leidenschaft dagegen ließ sich etwas

    Zeit und nahm dabei auch den einen oder anderen Umweg. Wenn

    Bela B. heute von seinen frühen Kontakten zur Musik berichtet, dann

    erzählt er, so in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, von

    einem Gemeinschaftsplattenspieler, den er und seine Schwester nutz-

    ten und für den die Geschwister immerhin jeweils eine eigene Schall-© d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    platte erhielten. Was sich grundsätzlich nach einer guten Idee anhört,

    wären die Platten nicht vom gleichen Interpreten gewesen. Denn als

    ersten Tonträger gab es für beide etwas, das so manchem den Musik-

    genuss dauerhaft verderben dürfte: eine Single von Tony Marshall.

    Mancher Spätgeborene wird von diesem Namen noch nie etwas ge-

    hört haben, was auch keinerlei Verlust bedeutet. Trotzdem kann ein

    wenig Wissen über den Schlagersänger nicht schaden: Tony Marshall

    ist heute noch aktiv und gilt in Deutschland als eine Art Star. Doch

    sein Starruhm beruht im Grunde auf einem einzigen Titel, der im Jahr

    1971 erschien und sich in den Charts rund ein Jahr lang festbiss:

    »Schöne Maid«, ein Stimmungslied, das sich weltweit drei Millionen

    Mal verkaufte – das aber schon zu seiner Zeit gerade von Jugendli-

    chen inbrünstig verachtet wurde.

    Tony Marshall war daher sicher auch nicht derjenige, der Bela B.

    den Rockmusiker in sich spüren ließ.

    Doch deutschsprachige Stimmungslieder standen in den beginnen-

    den Siebzigern längst nicht mehr allein an den Spitzen der Charts.

    Vielmehr hatte sich gerade in dieser Zeit in der weltweiten Musikszene

    einiges getan, vor allem etwas, das Bela B. wirklich zeitlebens ähnlich

    wie der spätere Punk prägen sollte. Denn bevor dieser Punk die Jugend

    und ihre Musik revolutionierte, gab es noch ein weiteres Phänomen,

    das später unter dem Begriff Glam Rock, oder im Deutschen Glitter-

    rock, zusammengefasst wurde.

    Dahinter verbarg sich einerseits ein Auftreten der Musiker und

    Bands in auffälliger Kleidung, gleichzeitig ging es auch um das Spiel

    mit den Geschlechtern und darum, sich eben mit Glitter und Make-up

    vom Prototypen des Macho-Rockers oder intellektuell abgehobenen

    Bands wie Pink Floyd und Co. abzugrenzen. Hinzu kam eine Musik, © d

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    die auf meist eingängige Melodien in Kombination mit sehr rhythmi-

    schem Rock setzte. Der Glam Rock brachte gleich eine ganze Reihe an

    Stars hervor: Teenie-Idole wie The Sweet und Slade oder T. Rex mit

    dem Frontmann Marc Bolan und natürlich David Bowie. Glam Rock

    war in erster Linie eine britische Erfi ndung, hatte aber weltweit Ein-

    fl uss auf Musiker, die wenig später von sich reden machen sollten. Wie

    etwa die amerikanische Gruppe Kiss. Gerade Kiss sollte für Bela B. zur

    Initialzündung werden und er verehrt sie bis heute.

    Kiss veröffentlichten ihr erstes Album im Jahr 1974, doch erst mit

    ihrer vierten Langspielplatte Destroyer schafften sie es auch in

    Deutschland in die Charts. Trotzdem blieben sie vielen Menschen

    nicht wegen ihres Hardrock, sondern wegen ihrer Optik im Gedächt-

    nis. Bis 1983 zeigten sich Kiss in der Öffentlichkeit ausnahmslos mit

    den typischen aufgeschminkten Masken, die individuell auf jedes ein-

    zelne Gruppenmitglied zugeschnitten waren. Für den jungen Dirk Fel-

    senheimer wiederum war eben diese Verkleidung zweitrangig. Für ihn

    war es tatsächlich die Musik, die ihn faszinierte und die ihn erste

    Schritte auf seinem späteren Weg zum Schlagzeuger machen ließ. Spä-

    ter erzählte er, dass er zu Hause »mit irgendwelchen Klöppeln« auf

    Kissen eindrosch und damit das Spiel des damaligen Kiss-Schlagzeu-

    gers Peter Criss nachahmte. Trotzdem war das Schlagzeug zu diesem

    frühen Zeitpunkt nicht das einzige Instrument, das ihn begeisterte.

    Mangels echter Instrumente griff er auch mal zum Tennis- oder Feder-

    ballschläger, um vor dem Spiegel stehend den Gitarristen zu geben.

    Das führte schließlich auch zu einem ersten Auftritt als Musiker – oder

    besser als jemand, der so tut, als wäre er ein Musiker. In der sechsten

    Klasse, so Bela B., stellte er mit Freunden im Fasching die Band von

    Suzi Quatro nach. Was im Endeffekt nichts anderes hieß, als dass man © d

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    im Hintergrund eine Musikkassette mit einem Titel der Gruppe laufen

    ließ und selber das tat, von dem man annahm, dass es ein Musiker

    machen würde. Bela B. selbst schlüpfte dabei übrigens in die Rolle der

    Bandleaderin, die mit Titeln wie »Can the Can« oder »48 Crash« zu

    einer weiteren Ikone der Glam-Rock-Ära aufstieg – obwohl man sie

    zunächst nicht zu diesem Genre zählte.

    Doch Dirk alias Bela B. interessierte sich nicht nur für die Stars aus

    der ersten Reihe, sondern auch für jene Künstler, die eher im Hinter-

    grund blieben. Ein Beispiel ist Chris Spedding, von dem ein Poster in

    seinem Zimmer hing, wie er erzählte. Spedding gelang zwar 1975 mit

    »Motor Bikin’« ein Top-Ten-Hit. Doch den größten Teil seiner Karri-

    ere verbrachte er als gefragter Studiomusiker beziehungsweise Studio-

    gitarrist für Größen wie Roxy Music, Elton John oder auch Tom Waits.

    Dass er ungern im Vordergrund stand, das unterstreicht die Tatsache,

    dass er 1974 sogar das Angebot ablehnte, bei den Rolling Stones ein-

    zusteigen.

    Das Wesentliche im Hinblick auf Dirk Felsenheimer besteht aller-

    dings darin, dass Spedding eben ein Gitarrist war und damit ein weite-

    res Beispiel dafür darstellt, dass die endgültige Vorliebe für ein Instru-

    ment noch nicht feststand. Als seine Schwester später Gitarrenunterricht

    nahm, befand sich sogar ein echtes Instrument im Haus der Familie.

    Doch dann kam es der oft erzählten Legende nach zu einem Ereignis,

    das alles Kommende prägen sollte. Auch wenn dieses Ereignis gar nicht

    von ihm selbst ausgehen sollte.

    Diese Legende besagt, dass Dirks Schwester mit einem älteren Mit-

    glied der Schülerband »zusammen« war. Als die beiden in dessen El-

    ternhaus verabredet waren, hegte Mutter Felsenheimer gewisse Zwei-

    fel, was das unbeaufsichtigte Paar dort anstellen würde. Natürlich © d

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    Das ist die ganze Wahrheit

    wäre ein Verbot des Treffens dem Verhältnis zwischen Mutter und

    Kind nicht zuträglich gewesen, daher wurde ein Plan gefasst, der im

    Wesentlichen darin bestand, den Bruder Dirk als Aufpasser mit zu der

    Verabredung zu schicken. Aus offensichtlichen Gründen hatte das jun-

    ge Paar wenig Interesse daran, geplante Zweisamkeit durch einen Be-

    obachter zu beeinträchtigen, und fasste daher ebenfalls einen Plan,

    dessen Auswirkungen niemand voraussehen konnte. Man entledigte

    sich des Problems, indem der Bruder im Übungskeller der Schülerband

    geparkt wurde.

    Zum Wesen eines Übungskellers einer Band zählt natürlich, dass

    dort Instrumente auf ihren Einsatz warten. In diesem Fall vor allem

    ein Schlagzeug, das nun ausgiebig genutzt wurde. Damit war im Grun-

    de der weitere Weg als Musiker festgelegt. Mit einer entscheidenden

    Einschränkung: Der Übungskeller stand nicht dauerhaft für das

    Nicht-Mitglied der Schülerband zur Verfügung, und das Herumklop-

    fen auf häuslichen Kissen eignete sich kaum zur Perfektionierung des

    Spiels. Ein eigenes Schlagzeug musste also her, was schließlich mit fa-

    miliärer Finanzhilfe auch gelang. Nach einer Weile kam es dann zu

    Kontakten mit anderen Musikern, die wiederum in der Gründung ei-

    ner ersten Band namens Empire mündeten, die allerdings nur einen

    einzigen Auftritt beim Schulabschlussfest erlebte.

    Genau dieser Schulabschluss hätte dann den eingeschlagenen Weg

    als Schlagzeuger noch einmal beenden können. Eltern halten bekannt-

    lich wenig davon, wenn der Nachwuchs sich im Überschwang der Be-

    geisterung für eine äußerst unsichere Karriere als Musiker entscheidet.

    Dirk Felsenheimers Mutter bildete da keine Ausnahme: Der Junge

    brauchte eine sichere Anstellung, was eben diesen Jungen dann auch

    derart überzeugte, dass er sich früh für eine solche sichere Stelle be-© d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    warb. Ausgerechnet die Polizei sollte es sein. Nicht aus ideologischen

    oder idealistischen Gründen, sondern einfach deshalb, weil es dort im

    ersten Lehrjahr das meiste Geld gab. Zu allem Überfl uss bestand der

    Anwärter auch noch die Aufnahmeprüfung. Das Ende der Polizeikar-

    riere war indessen schnell eingeläutet. Später berichtete Bela B., dass er

    sich bei der Polizei vom ersten Tag an unglücklich gefühlt habe. Dieses

    Gefühl hielt zwei Wochen an, bevor er die Ausbildung beendete, indem

    er kündigte – und sich umgehend wieder gut fühlte.

    Weniger gut fühlte sich seine Mutter, die den Wunsch nach einer

    sicheren Anstellung ihres Sohns den Bach runtergehen sah. Was wiede-

    rum der Sohn nicht mitansehen wollte und sich daher auf die Suche

    nach einem Job und einem neuen Ausbildungsplatz machte. Das mün-

    dete nach einer Weile schließlich in einer Lehrstelle als Dekorateur bei

    einer Kaufhauskette. Einem Beruf also, bei dem es im Wesentlichen

    darum geht, Schaufensterpuppen an- und auszuziehen, zu Weihnach-

    ten die Verkaufsräume festlich zu schmücken und vielleicht auch mal

    eine Leuchtstoffröhre auszutauschen, wenn der Hausmeister keine

    Zeit oder keine Lust hat. Keine Spur von dem Rock ’n’ Roll also, der

    den jungen Dirk Felsenheimer so begeisterte. Und schon gar keine

    Spur von Punk, der gerade die Begeisterung noch einmal verstärkte.

    Dieser Punk beeinfl usste bald auch ein Leben, das am 27. Oktober

    1963 ähnlich unspektakulär wie das des angehenden Dekorateurs aus

    Spandau begann. An jenem Herbsttag kam ebenfalls in Berlin ein Kind

    auf die Welt, das den Namen Jan Ulrich Max Vetter tragen sollte. Des-

    sen frühes Leben sollte einige Parallelen zu dem des Dirk Felsenheimer

    aufweisen, gleichzeitig jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Eine Pa-

    rallele bestand darin, dass sich auch die Eltern des jungen Jan sehr

    früh trennten. Doch das Kind wuchs nicht in einem so ausgewiesen © d

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    bürgerlichen Umfeld auf, wie es bei den Felsenheimers der Fall war.

    Vielmehr lebte die alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn in einer

    Wohngemeinschaft und damit quasi auf der anderen Seite der Gesell-

    schaft. Während Dirk Felsenheimer sich an die Ablehnung der De-

    monstrationen linksgerichteter Studenten vonseiten seiner Mutter er-

    innert, bestehen frühe Erinnerungen Jan Vetters beziehungsweise Farin

    Urlaubs darin, dass er mit seiner Mutter zu eben diesen Demonstrati-

    onen ging. Natürlich wusste er als kleines Kind nicht wirklich, worum

    es bei den Märschen ging. Er habe aber, wie er später erzählte, gerne

    die typischen Protestrufe wie »Ho! Ho! Ho Chi Minh!« mitgegrölt.

    Nicht weil er sich wie die Erwachsenen mit dem vietnamesischen Re-

    volutionär und späteren Präsidenten solidarisieren wollte, sondern

    weil sich die Rufe einfach gut anhörten und man sie eben auch gut

    brüllen konnte. Man wird es nie sicher sagen können, aber theoretisch

    ist es durchaus möglich, dass Jan Vetter rufend mit den Demonstran-

    ten durch die Straßen zog, während am Rand Dirk Felsenheimer ne-

    ben seiner Mutter stand, die den Protestlern zurief, sie sollten doch

    »rübergehen«, wenn es ihnen hier nicht passe.

    Auch über die Lebensumstände der Vetters hätte eine Frau Felsen-

    heimer durchaus den Kopf schütteln können: Nicht nur, dass man in

    einer Wohngemeinschaft lebte, zu der zählten zu allem Überfl uss auch

    noch Ausländer aus dem arabischen Raum – und dann bezeichneten

    diese Menschen sich selbst sogar noch als Kommunisten.

    Zu fi nden war diese Wohngemeinschaft im Stadtteil Moabit und

    damit recht zentral im Herzen des damaligen Westberlin. Obwohl Jan

    Vetter dort nur die ersten Jahre seines Lebens zubrachte, kann er sich

    an das Umfeld gut erinnern. So erzählte er einmal davon, dass zu der

    Wohnung auch ein Balkon gehörte, von dem aus er einen guten Blick © d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    auf den Stadtteil hatte. Wobei gut nicht gleichzeitig auch schön bedeu-

    tete. Schräg gegenüber, so Farin Urlaub, sah er auf den Knast – ge-

    nauer gesagt auf die Justizvollzugsanstalt Moabit, in der schon im

    19. Jahrhundert Straftäter in ihren Zellen saßen. Ebenfalls im Blick-

    feld: ein großes Jugendheim, in dem zu jener Zeit Waisen und schwer

    erziehbare Kinder untergebracht waren. Auch dieses Haus hatte be-

    reits eine lange Geschichte, die im 19. Jahrhundert begann, es ist mitt-

    lerweile allerdings abgerissen. Zu Zeiten der Wohngemeinschaft wur-

    de es noch betrieben, was auch der kleine Jan mitbekam, etwa als die

    Heimkinder dem nicht einmal Fünfjährigen den Roller wegnehmen

    wollten. Noch eine weitere Institution befand sich in der Nähe: Gleich

    um die Ecke lag eine Schule, die der Junge allerdings nur kurz besu-

    chen sollte.

    Bald nämlich sollte es zu einer Veränderung im Leben von Mutter

    und Sohn kommen. Die Mutter lernte einen Mann kennen und heira-

    tete ihn. Der bislang weitgehend ohne Vater aufgewachsene Jan Vetter

    bekam also einen Stiefvater. Was allerdings nicht eitel Sonnenschein

    bedeutete. Oder wie es der Sohn später einmal im Gespräch mit dem

    Radiosender 1Live beschrieb: Seine Mutter habe es geschafft, ein noch

    größeres Arschloch als ihren ersten Mann zu heiraten.

    Hatte die Mutter als Studentin die Kleinfamilie unter anderem da-

    durch versorgt, dass sie nachts als Rosenverkäuferin durch das Vier-

    tel zog, war sie nun eine frischgebackene Beamtin – und bald schon

    machte sie sich mit ihrem ebenfalls verbeamteten Mann auf die Suche

    nach einer geeigneteren Unterkunft für die nun wieder komplette Fa-

    milie. Was einen radikalen Wechsel bedeutete. Fand das Leben des Jan

    Vetter bislang inmitten der geschäftigen Metropole statt, zog man nun

    an den Rand der Stadt nach Frohnau. Das hieß, dass man zwar weiter-© d

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    hin in Berlin lebte – doch wie jede Großstadt besteht auch Berlin aus

    sehr unterschiedlichen Teilen. Und Frohnau war nichts anderes als

    eine Art Gegenentwurf zu Moabit. Der Stadtteil liegt am nordwestli-

    chen Rand Berlins und entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts

    aus dem Projekt einer sogenannten Gartenstadt – also einem mit sehr

    viel Grün versehenen Teil einer Großstadt. Das viele Grün und der

    Umstand, dass hier vor allem Ein- statt Mehrfamilienhäuser standen,

    machte Frohnau zu einem Viertel, das eine eher wohlhabende Klientel

    anzog. Nicht die wirklich Reichen, aber diejenigen, die es in ihrer be-

    rufl ichen Laufbahn durchaus zu etwas gebracht hatten. Oder wie Jan

    Vetter es zusammenfasste, als er längst Farin Urlaub war: »Häuser mit

    Gärten und Mercedessen davor.« Den Mercedes allerdings gab es bei

    Familie Vetter nicht. Denn im Grunde hatte man sich mit dem Kauf

    des Zwanzigerjahre-Baus an die Grenzen der fi nanziellen Belastbar-

    keit gebracht. Dass die Vetters das Geld überhaupt aufbringen konn-

    ten, hing nach der Erinnerung des Sohnes vor allem damit zusammen,

    dass der Status als Beamte ihnen das Aufnehmen des entsprechenden

    Kredits erlaubte. Viel mehr ging dann nicht. Fuhr man in der Nachbar-

    schaft Mercedes, so reichte es hier meist nur zu Mobilen der Marke

    Fiat.

    Zur Zeit des Umzugs war Jan Ulrich Max Vetter sieben Jahre alt.

    Das Thema Musik nahm bis zu diesem Zeitpunkt eher begrenzten

    Raum ein. Die Beschäftigung damit geschah in den ersten Lebensjah-

    ren eher passiv, wie der ehemalige Leiter des Die-Ärzte-Fanclubs, Mar-

    kus Karg, in der 2001 erschienenen offi ziellen Band-Biografi e Ein

    überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf schrieb. Gehört

    wurde Musik vor allem in der Form, dass der Sohn einfach mitbekam,

    was die Mutter auf den Plattenteller legte. Die habe zunächst gerade © d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    einmal eine Handvoll Platten besessen – eine davon seien die Branden-

    burgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach gewesen, die restli-

    chen von den Beatles. Die Musik der Liverpooler Band kannte er also

    in- und auswendig, ohne jedoch bewusst etwas über die Gruppe zu

    wissen. Das führte zu einem merkwürdigen Moment, in dem Jan Vet-

    ter später eine Radiosendung über eben diese Beatles hörte und sich

    wunderte, dass er alle gespielten Titel bereits kannte.

    Das erste Instrument trat ins Leben des Jan Vetter, als der laut der

    Band-Biografi e neun Jahre alt war. Es war eine Gitarre, die er auf dem

    Sperrmüll entdeckte und die weit von einem perfekten Zustand ent-

    fernt war. Außerdem war es nicht so, dass die bloße Gegenwart des

    Instruments schon eine gewisse Virtuosität des späteren Musikers ans

    Tageslicht brachte. »Die Gitarre hat’s mir nicht leicht gemacht. Ich

    war nicht einer von denen, die sich rangesetzt haben und dann konn-

    ten sie Gitarre spielen«, fasste Farin Urlaub die Anfänge im Interview

    mit dem Radiosender 1Live zusammen. Er habe vielmehr zunächst

    einige Monate alleine »vor sich hin gebastelt«, allerdings ohne nen-

    nenswerte Fortschritte – vielmehr konnte er auch danach nicht wirk-

    lich Gitarre spielen. Bis seine Mutter schließlich ein Einsehen hatte,

    oder es vielleicht einfach leid war, die unmelodischen Versuche ihres

    Sohnes weiter zu ertragen.

    Wozu hat man Nachbarn: Jans Mutter nahm Kontakt zu einer be-

    nachbarten Musiklehrerin auf, die nach wechselnden Erinnerungen

    des Sohnes zwischen 147 und 200 Jahre alt war. Was sie natürlich

    nicht war, sondern schlicht und einfach schon etwas betagt. Verbun-

    den mit dem Alter war zudem eine Strenge, die manchem Musiklehrer

    eigen ist. Die Dame hielt nichts davon, einfach irgendwie das Spiel des

    Jungen zu verbessern. Zum Gesamtpaket zählten auch die korrekte © d

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    Körperhaltung des heranwachsenden Musikanten und nicht zuletzt

    die passende Musik, die es zu üben galt. Der mittlerweile zehnjährige

    Schüler durfte nicht einfach üben, was ihm gefi el, auf dem Schulungs-

    plan standen vielmehr Volkslieder und ähnliches Musikgut. Das än-

    derte sich auch nicht, als der Schüler eines Tages zum Unterricht mit

    dem Buch The Beatles Complete auftauchte, das angehenden Gitarris-

    ten das Spielen von Songs der Band vermitteln sollte.

    Zu diesem Zeitpunkt lag bereits rund ein Jahr strengen Gitarrenun-

    terrichts hinter Jan Vetter. Mehr sollte es dann aber auch nicht wer-

    den – nach der Ablehnung der Beatles-Titel schien ein weiteres Studi-

    um volkstümlichen Liedguts kaum mehr sinnvoll.

    Nach dem Ende dieser Episode wurde es im Leben des Jan Vetter

    dann politisch und gleichzeitig vollkommen unpolitisch, vor allem

    aber wesentlich musikalischer. Der politische Teil zeigte sich in Form

    der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken. Dabei handelte

    es sich um einen Kinder- und Jugendverband, der aus der sozialisti-

    schen Arbeiterbewegung hervorgegangen war. Der Name mag sich aus

    heutiger Sicht stark nach der ehemaligen DDR anhören. Tatsächlich

    war das Gegenteil der Fall: Im Osten Deutschlands waren die Falken

    sogar verboten und Sympathisanten wurden verfolgt. Im Westen und

    nicht zuletzt in Westberlin konnten die Falken dagegen unbeschwert

    agieren und ihre Ziele verfolgen. Die bestanden und bestehen vor al-

    lem darin, Kinder und Jugendliche zu kritischen und selbstbewussten

    Personen zu erziehen – auf einer sozialistischen Grundlage. Das hört

    sich natürlich arg nach politischem Gutmenschentum an, zeigte sich

    jedoch in der Realität, die Jan Vetter erlebte, in einer ganz anderen

    Form. Für ihn stellten gerade die sommerlichen Zeltlager der Falken

    ein Highlight in der Zeit des Heranwachsens dar – vor allem wenn © d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    auch die Gitarre dabei war. Denn die Realität dieser Zeltlager zeigte

    sich weit entfernt politischer Theorie und zeichnete sich vielmehr

    durch viele Freiheiten aus. Außerdem gehörten zu einem Zeltlager

    auch die Abende, an denen die Jugendlichen am Lagerfeuer saßen und

    eigentlich immer jemand Gitarre spielte, während die anderen mitsan-

    gen.

    Das hatte als Nebeneffekt zur Folge, dass auch Jan Vetter sich et-

    was vom Spiel der anderen abgucken konnte und mehr oder weniger

    fachmännische Tipps zur Verbesserung seines eigenen Könnens erhielt.

    Was dazu führte, dass er die Standards jener Zeit beherrschte. In seiner

    Erinnerung war eines der ersten Stücke der 1971 von der Gruppe

    America veröffentlichte Titel »A Horse with No Name«, weil es im

    Grunde nur aus zwei Akkorden bestand, die sich daher auch recht

    einfach lernen ließen. Als nächster Titel folgte Deep Purples Klassiker

    »Smoke on the Water« aus dem Jahr 1972 und später dann das 1975

    veröffentlichte »Wish you were here« von Pink Floyd.

    Auch abseits des reinen Gitarrespielens erweiterte sich der musika-

    lische Horizont nach und nach. Farin Urlaub berichtete später, dass er

    über die Plattensammlung seiner Eltern auf Frank Zappa stieß, der die

    Rockmusik durch seine außergewöhnlichen Kompositionen stark be-

    einfl usste. Von seinem gleichaltrigen Umfeld wiederum wurde er auf

    die Glam Rocker von The Sweet aufmerksam gemacht. Zusammen

    führte das schließlich zu Farin Urlaubs erster selbst gekaufter Lang-

    spielplatte: Deep Purples Live-Doppelalbum Made in Japan, das in

    Europa erstmals im Dezember 1972 erschien. Die zweite Platte war

    ebenfalls ein Live-Album, nämlich Strung up von The Sweet, das im

    November 1975 und damit nur kurz nach Jan Vetters zwölftem Ge-

    burtstag in die Läden kam.© d

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    Genau zu jener Zeit vollzog sich in der Musikszene jedoch ein Wan-

    del, der von entscheidender Bedeutung für die noch gar nicht gegrün-

    deten Die Ärzte sein sollte. Inzwischen war ein nicht geringer Teil der

    Musikfans ermüdet von dem Bombast-Rock, den Pink Floyd oder

    auch Genesis zelebrierten. Auf der anderen Seite lief auch die Ära des

    Glam Rock langsam ab. Es war Zeit für etwas Neues, und das ent-

    stand zunächst im amerikanischen und britischen Musik-Untergrund.

    Lange aber dauerte es nicht, bis diese Punk genannte Musik den ganz

    großen Durchbruch erlebte. Mitentscheidend für diesen Durchbruch

    war eine frisch gegründete Band, die im November 1975 erstmals

    unter dem Namen Sex Pistols live auftreten sollte. Ein Jahr später

    erschien im November 1976 dann auch die erste Single: »Anarchy in

    the U.K.«.

    Zu jener Zeit kannte Jan Vetter natürlich schon so manches andere

    Stück Pop- und Rockmusik, musste aber immer noch auch häufi g fest-

    stellen, dass er selber diese Titel nicht auf der Gitarre spielen konnte.

    Dann kam jener Moment, in dem er erstmals eines der neuen Punk-Stü-

    cke bewusst wahrnahm, und das trug fast schon selbstverständlich

    den Titel »Anarchy in the U.K.«. Schnell merkte er, dass diese Punk-

    songs anders waren und anders klangen, dass sie sich wohl auch ein-

    facher auf der Gitarre spielen ließen. Trotzdem war es nicht so, dass

    der spätere Dauerpunk quasi ein Erweckungserlebnis durchmachte

    und von einem Moment auf den nächsten zum überzeugten Punk-Jün-

    ger wurde, der nicht mehr ohne Sicherheitsnadel oder Nietenarm-

    band-Accessoire auf die Straße ging.

    Schließlich drehte es sich im Leben des Jugendlichen inzwischen

    auch gar nicht mehr ausschließlich um die Musik der anderen und da-

    rum, diese Musik nachzuspielen. Verstärkt ging es auch um die eigene © d

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    Teil 1: Die Ärzte früher!

    Musik. Der offi zielle Band-Biograf Markus Karg berichtet davon, dass

    Jan Vetter mit zwölf Jahren begonnen hat, eigene Lieder zu schreiben.

    Was später auch dazu führte, dass er daheim auf einem Kassettenrekor-

    der diese eigene Musik aufnahm und die Musikkassetten dann auf dem

    Schulhof verkaufen wollte – was sogar in einigen Fällen gelungen ist.

    Doch dann kam jenes Jahr, in dem der sechzehnjährige Jan Vetter

    doch zu jenem Punk wurde, der schließlich in Farin Urlaub münden

    sollte.

    Zur Folklore der Vorgeschichte der Band, die einmal Die Ärzte hei-

    ßen sollte, zählt ein London-Aufenthalt des jungen Mannes aus Froh-

    nau im Jahr 1980. Die britische Hauptstadt war als Ziel einer Klassen-

    fahrt ausgewählt worden. Jan Vetter und ein Schulfreund fassten

    jedoch den Plan, diesen Aufenthalt noch etwas auszudehnen, und reis-

    ten daher schon zwei Wochen vor dem eigentlichen Klassenfahrtter-

    min nach Großbritannien. Die Zeit nutzten sie nicht nur zum Erkun-

    den der Stadt, sondern vor allem auch dazu, ein wenig Geld zu

    verdienen. Sie traten als Straßenmusiker auf und übten sich als Pfl as-

    termaler. Vor allem aber verdienten sie auf diese Weise auch tatsäch-

    lich Geld – wie es in der Meerschwein-Biografi e heißt allerdings nicht

    allein wegen der Qualität ihrer Auftritte, sondern weil es die Londoner

    allem Anschein nach gewohnt waren, solchen augenscheinlich mittel-

    losen Menschen etwas Geld in die Hand zu drücken oder in den Hut

    zu werfen. In dem landeten daher bereits Münzen, als der Musiker

    noch dabei war, die Gitarre zu stimmen.

    Zu dieser Zeit war aus den Anfängen des Punk längst eine Jugend-

    bewegung entstanden. Die Band The Clash hatte im Januar 1980 ihr

    bahnbrechendes Album London Calling veröffentlicht, außerdem fei-

    erten im Sog der Punk-Bewegung auch neu entstandene Ska-Bands wie © d

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    Das ist die ganze Wahrheit

    The Specials Erfolge, die in jenem Jahr mit »Too Much Too Young« die

    Spitze der britischen Charts erreichten. Punk war also überall, und ge-

    rade in London war Punk auch ein Lebensgefühl, das die Metropole

    prägte. Der Aufenthalt in der Stadt hatte zur Folge, dass Jan Vetter

    immer faszinierter war von dem, was den Punk ausmachte. Und dazu

    zählte neben der Musik auch eine Mode, die manche Eltern verzweifeln

    ließ. Bunte und gerne auch zerrissene Klamotten, dazu Haare, die aus-

    schließlich in Richtungen zeigten, die nicht mit einem Scheitel in Ein-

    klang zu bringen waren. Nicht nur die Erzählungen und Berichte über

    die Vorgeschichte der späteren Band Die Ärzte, sondern auch erhaltene

    Fotos belegen, dass der London-Aufenthalt den Teenager Vetter grund-

    legend veränderte. Aus dem dunkelblonden Jan wurde ein Punk mit

    zunächst schwarz-rot gefärbten Haaren, die mit Unterstützung geläufi -

    ger Stabilisierungshilfen den Gesetzen der Schwerkraft trotzten.

    Nach der Rückkehr in die Berliner Heimat wurde dann auch die

    Kleidung zunehmend der nun äußerst punkigen Attitüde angepasst.

    Obwohl Punk inzwischen schon zahllose Jugendliche erreichte, lag die

    Zeit noch in weiter Ferne, in der die entsprechende Kleidung zum

    Standardsortiment jedes Kaufhauses zählte. Ein Punk der beginnen-

    den Achtzigerjahre machte sich noch selber an die Arbeit, um den Kla-

    motten den passenden Schliff zu verleihen. In Jan Vetters Fall führte

    das unter anderem dazu, dass eine einfarbig gelbe Hose mithilfe eines

    schwarzen Filzstiftes von einem Netz von Karos überzogen wurde.

    Ergänzt wurde diese Hose von einer Lederjacke, die Punk-typisch auf

    der Rückseite eigenhändig beschriftet wurde – später unter anderem

    mit dem Slogan »Verschwende Deine Jugend«, der auf dem gleichna-

    migen Titel beruhte, den das Elektropunk-Duo Deutsch Amerikani-

    sche Freundschaft – kurz D.A.F. – im Jahr 1981 veröffentlichte.© d

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    Für Jan Vetter war der Aufenthalt in London also ein Stück voran

    auf dem Weg der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings

    kollidierte dieser Fortschritt nach der Rückkehr auch wieder mit einer

    spießigen deutschen Realität. Noch immer war der Punk vor allem ein

    Gymnasiast, der bei seinen Eltern wohnte. Und der musste nun auch

    einige Realitäten des Frohnauer Umfeldes neu erleben, in dem er als

    erster und zunächst auch einziger offensichtlicher Punk sein Leben

    verbrachte. Wenn Farin Urlaub über die Zeit erzählt, dann kommt in

    den Berichten auch ein Taxifahrer vor. Der hatte hart dafür geschuftet,

    im wohlhabenden Frohnau leben zu können, und wusste so gar nichts

    damit anzufangen, dass ein junger Mann schon optisch alle bürgerli-

    chen Regeln brach und diese dann auch noch durch die Sprüche auf

    seiner Lederjacke in den Dreck zog. Dieser Taxifahrer, so Farin Ur-

    laub, habe ihn jeden Morgen abgepasst, wenn er auf dem Weg zum

    Bus war, und habe ihn immer wieder übelst beschimpft. Weil er es

    nicht verstehen konnte, dass ein junger Mensch schon vor dem Beginn

    einer wie auch immer gearteten berufl ichen Laufbahn seine Lebensein-

    stellung mit Sprüchen wie eben »Verschwende deine Jugend, solange

    du noch kannst« zum Ausdruck brachte.

    Den jungen Punker beeindruckten derartige Beschimpfungen we-

    nig. Jedenfalls nicht in dem vom Schimpfenden gewünschten Sinn –

    vielmehr zeigte eine solche Konfrontation, dass Punk genau das richti-

    ge Mittel war. Etwas, mit dem man aneckte. Doch noch immer waren

    Punk und Anecken nicht alles im Leben des Jan Vetter. Zwar genoss er

    beides in gewisser Weise, er ging aber nicht so weit, dass er sein bishe-

    riges Leben komplett abschüttelte und ein anderes begann. Der Gym-

    nasiast besuchte weiter die Schule, brachte weder erschreckende noch

    begeisternde Noten nach Hause. Immerhin reichten die Leistungen © d

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