Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

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suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 341

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Benjamin on Kafka

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suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 341

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Benjamin über Kafka

Texte, Briefzeugnisse,

Aufzeichnungen P T 2-Czi

Herausgegeben von AZ( AC Hermann Schweppenhäuser / 2 I

»Eine Deutung des Dichters aus der Milte seiner Bilderwelt«, seiner »Sprache« und seiner »Gebärden« ist die Methode und das Ziel-von Ben-jamins Kafka-Studien. Komplement dieses von jahrzehntelanger germa-nistischer »Forschung« weder eingeholten noch gar überholten Vorge-hens ist die Zurückweisung des Versuchs, ein »religionsphilosophisches Schema den Büchern Kafkas unterzuschieben«. Dabei gehört zur Dialek-tik von Benjamins Vorgehen, daß die als lnhalts-Schematisierungen zu-rückgewiesenen Desiderate der Theologie und Metaphysik in der »Deu-tung der Bildcrwelt« auf subtilste Weise wiederkehren. Denn in der Komposition der Sätze, Bilder und Gebärden Kafkas sieht Benjamin den geschieh dich bedingten Auflösungsprozeß von Metaphysik und Theolo-gie sich selbst reflektieren. Als metaphysischer Abschied von der Meta-physik, der zugleich die geschichtsphilosophische Rettung ihrer Anlie-gen gegen ihre (Schein-)Lösungen ist, stellt Kafkas Werk die »Struktur« einer »die Frage aufhebenden Antwort«. Mit der Beschreibung dieser »Struktur« weist Benjamins Kafka-Deutung noch der neuesten struktu-ralistischen Kafka-Rezeption unbegangene Wege. Der vorliegende Band vereinigt die vier abgeschlossenen Texte Benja-mins über Kafka, Ansätze zu einer geplanten Revision des großen Kafka--Essays und die umfangreiche Korrespondenz über Kafka, in der sich die Mehrschichtigkeit von Benjamins Studien durch die Einstellung auf die jeweiligen Adressaten und Mitunterredner (Scholem, Adorno, Kraft, Brecht) prismatisch in ihre Elemente zerlegt.

m W \ T Y OF COlOftA.no CtëRARÏES

BOULDER, COLORADO

Suhrkamp

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Inhalt

Texte

Franz, Kafka, Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages . Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer Kavaliersmoral Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Prag 1937 Nachweise ..,

Briefzeugnisse

Aus der Korrespondenz mit Gershom Scholem Aus der Korrespondenz mit Werner Kraft Aus der Korrespondenz mit Theodor W. Adorno. ».

suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 34% Erste Auflage 1981

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1981 Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile

Satz: Philipp Hümmer» Waldbüttelbrunn Druck: Georg Wagner, Nördlingen

Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

CiP-Kurztitekufnahme der Deutschen Bibliothek Benjamin, Walter;

[Sammlung] Benjamin über Kafka; Texte, Briefzeugftisse, Aufzeichnungen / hrsg. yon Hermann Schweppenhausen -

l- Aufl. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, icj&i. (Suhrkamp-Taschenbücher Wissenschaft; 341)

ISBN 3-518-07941-7

Aufzeichnungen

1. Aufzeichnungen (bis 1928) a. Notizen zu Kafka »Der Prozeß« b. Idee eines Mysteriums .

2. Aufzeichnungen (bis 1931) a. Aufzeichnungen zu einem ungeschriebenen Essay

und zum Vortrag von 1931 b. Aufzeichnungen im Tagebuch Mai-Juni 1931

3. Aufzeichnungen (bis Juni 1934) a. Motive und Disposition zum Essay von 1934 b. Diverse Aufzeichnungen zum Essay

4. Aufzeichnungen (bis August 1934) a.. Gespräche mit Brecht • b. Notizenzu dem Briefvomii. 8.1934 an Scholem ..

5. Aufzeichnungen (ab September 1934) a. Dossier von fremden Einreden und eigenen

Reflexionen b. Entwürfe, Einschöbe, Notizen zu einer

Umarbeitung des Essays . Editorische Notiz

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¡FRANZ К АРКА

Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Potemkin

Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wußte man, daß jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lan-ge. Ernste Mißstände waren die Folgen; in den Registraturen häuften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift Potemkins unmöglich war, von der Zarin gefordert wurde, Die hohen Beamten wußten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwal-kin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsräte wie gewöhnlich jammernd und klagend beisammen standen, »Was gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?« bemerkte der eilfertige Schuwalkin. Man erklärte ihm den Fall und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen zu können. »Wenn es weiter nichts ist, meine Herren,« ant-wortete Schuwalkin, »überlassen Sie mir die Akten. Ich bitte darum.« Die Staatsräte, die nichts zu verlieren hatten, ließen sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbiindel unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum Schlafzimmer Potemkins ein. Ohne anzuklopfen, ja ohne halt-zumachen, drückte er die Türklinke nieder. Das Zimmer war nicht verschlossen. Im Halbdunkel saß Potemkin auf seinem Bett, nägelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schu-walkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand,' den erstbesten Akt auf seine Knie. Nach einem abwesenden Blick auf den Eindringling, wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unter-schrift, dann eine zweite; weiter die sämtlichen. Als die letzte geborgen war, verließ Schuwalkin ohne Umstände, wie er ge-kommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Trium-phierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm

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entgegen stürzten die Staatsräte, rissen die Papiere aus seinen Händen. Atemlos beugten sie sich darüber. Niemand sagte ein Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin näher, wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Be-stürzung der Herren. Da fiel auch sein Blick auf die Unter-schrift, Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin.. , Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt. Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registra-turen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt. Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt mit leeren Händen da steht, ist Kafkas K. Potemkin aber, der halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu dem der Zugang untersagt ist, dahindämmert, ist ein Ahn jener Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachböden, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr Versinkende sind, da-für aber noch in den Untersten und in den Verkommensten -den Türhütern und den altersschwachen Beamten - auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können. Worüber dämmern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Viel-leicht halten sie darum den Kopf »so tief auf die Brust gesenkt, daß man kaum etwas von den Augen« sieht, wie der Schloß-kastellan auf seinem Porträt oder Klamm, wenn er mit sich allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur daß schon das Alltäglichste ihr Gewicht hat: »Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Wcißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.« - Georg Lukács hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen, muß einer das architektonische Genie von Michel-angelo haben. Wie Lukács in Zeitaltem so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus sonderbarem Anlaß klatschen Kafkas Figuren in die Hände. Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, daß diese Hände »eigent-lich Dampfhämmer« sind.

In ständiger und langsamer Bewegung - versinkend oder stei-

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gend - lernen wir diese Machthaber kennen. Furchtbarer aber sind sie nirgends, als wo sie aus der tiefsten Verkommenheit sich heben: aus den Vätern. Den stumpfen altersschwachen Vater, den er soeben sanft gebettet hat, beruhigt der Sohn: »>Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.< - >Nein!< rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. >Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für d i ch ! . , . Den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durch-schauen.« . . . - Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht. - . . . »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch !<« Der Vater, der die Last des Dcckbetts abwirft, wirft eine Weltlast mit ihr ab. Weltalter muß er in Bewegung setzen, um das uralte Vatcr-Sohn-Verhältnis lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen! Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vater ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an. Viel deutet darauf hin, daß die Beamten weit und die Welt der Väter für Kafka die gleiche ist. Die Ähnlichkeit ist nicht zu ihrer Ehre. Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht sie aus. Die Uniform des Vaters ist über und über fleckig; seine Unterwäsche ist unsauber. Schmutz ist das Lebenselement der Beamten. »Es war ihr unverständlich, wozu es überhaupt Par-teienverkehr gab. >Um vorn die Haustreppe schmutzig zu machen<, hatte ihr einmal ein Beamter auf ihre Frage, wahr-scheinlich im Ärger, gesagt, ihr aber war das sehr einleuchtend gewesen«. In dem Grade ist Unsauberkeit das Attribut der Be-amten, daß man sie geradezu als riesenhafte Parasiten ansehen könnte. Das betrifft natürlich nicht die wirtschaftlichen Zusam-menhänge, sondern die Kräfte der Vernunft und der Mensch-lichkeit, von denen diese Sippe ihr Leben fristet. So fristet aber auch der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem Sohn sein Leben, liegt wie ein ungeheurer Parasit auf ihm. Er zehrt nicht nur an seiner Kraft, er zehrt an seinem Rechte dazu-

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sein. Der Vater, der der Strafende ist, ist zugleich auch der An-kläger. Die Sünde, deren er den Sohn bezichtigt, scheint eine Art von Erbsünde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung, welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als den Sohn: »Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, be-steht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.« Wer aber wird dieser Erbsünde -der Sünde einen Erben gemacht zu haben - bezichtigt wenn nicht der Vater durch den Sohn? Somit wäre der Sündige der Sohn. Nicht aber darf man aus dem Satze Kafkas schließen, daß die Bezichtigung sündig sei, weil falsch. Nirgends steht bei Kafka, daß sie zu Unrecht erfolgt. Es ist ein immerwährender Prozeß, der hier anhängig ist, und es kann auf keine Sache ein schlechteres Licht fallen als auf die, für die der Vater die Soli-darität dieser Beamten, dieser Gerichtskanzleien in Anspruch nimmL. Ал ihnen ist eine grenzenlose Korrumpierbarkeit nicht das Schlechteste. Denn ihr Kern ist von solcher Beschaffenheit, daß ihre Bestechlichkeit die einzige Hoffnung ist, die die Mensch-lichkeit in ihrem Angesicht hegen kann. Zwar verfügen die Ge-richte über Gesetzbücher. Man darf sie aber nicht sehen. » > . . . es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird««, mut-maßt K. Gesetze und umschriebene Normen bleiben in der Vor-welt ungeschriebene Gesetze. Der Mensch kann sie ahnungslos überschreiten und so der Sühne verfallen. Aber so unglücklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Eintritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall sondern Schicksal, das sich hier in seiner Zweideutigkeit darstellt. Schon Hermann Cohen hat es in einer flüchtigen Betrachtung der alten Schicksalsvorstellung eine »Ein-sicht, die unausweichlich wird,« genannt, daß es seine »Ordnun-gen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu ver-anlassen und herbeizuführen scheinen.« So steht es auch mit der Gerichtsbarkeit, deren Verfahren sich gegen K. richtet. Es führt weit hinter die Zeit der Zwölf-Tafel-Gesetzgebung in eine Vor-welt zurück, über die einer der ersten Siege geschriebenes Recht war. Hier steht zwar das geschriebene Recht in Gesetzbüchern, jedoch geheim, und auf sie gestützt, übt die Vorwelt ihre Herr-schaft nur schrankenloser.

Die Zustände in Amt und Familie berühren sich bei Kafka mannigfaltig. Im Dorf am Schloßberg kennt mar eine Wendung, die darein leuchtet. »>Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mäd-chen.< >Das ist eine gute Beobachtung«, sagte K . , . . . >eine gute Beobachtung, die Entscheidungen mögen noch andere Eigen-schaften mit Mädchen gemeinsam haben.<« Deren bemerkens-werteste ist wohl, zu allem sich zu leihen, wie die scheuen Mäd-chen, die K. im »Schloß« und im »Prozeß« begegnen, und die der Unzucht im Familienschoß sich wie in einem Bette anheim-geben. Er findet sie auf seinem Weg auf Schritt und Tritt; das weitere macht so wenig Umstände wie die Eroberung des Aus-schankmädchens. »Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend, aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen S tunden , . . . in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.« Von dieser Fremde werden wir noch hören. Bemerkenswert ist aber, daß diese hurenhaften Frauen nie schön erscheinen. Vielmehr taucht Schönheit in der Welt von Kafka nur an den verstecktesten Stellen auf: bei den Angeklag-ten zum Beispiel. » >Das allerdings ist eine merkwürdige, gewis-sermaßen naturwissenschafdiche Erscheinung. . . Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön m a c h t . . . es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön m a c h t . . . es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet.«« Aus dem »Prozeß« läßt sich entnehmen, daß dieses Verfahren hoffnungslos für die Angeklagten zu sein pflegt - selbst dann hoffnungslos, wenn ihnen die Hoffnung auf Freispruch bleibt. Diese Hoffnungslosigkeit mag es sein, die an ihnen als den einzigen Kafkaschen Kreaturen Schönheit zum Vorschein bringt. Zumindest würde das sehr gut mit einem Gesprächsfragment

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übereinstimmen., das durch Max Brod überliefert wurde. »Ich entsinne mich«, schreibt er, »eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit aus-ging. »Wir sind«, so sagte er, »nihilistische Gedanken, Selbst-mordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.« Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. >Oh nein«, meinte er, »unsere Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.< - >So gä-be es außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen, Hoffnung?« - Er lächelte: »Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns.«« Diese Worte schlagen eine Brücke zu jenen sonderbarsten Gestalten Kafkas, die als einzige dem Schöße der Familie entronnen sind und für die es vielleicht Hoffnung gibt. Das sind nicht die Tiere, nicht einmal jene Kreu-zungen oder Gespinstwesen, wie das Katzenlamm oder Odradek. Alle diese vielmehr leben noch im Bann der Familie. Nicht um-sonst erwacht Gregor Samsa gerade in der elterlichen Wohnung als Ungeziefer, nicht umsonst ist das eigentümliche Tier, halb Kätzchen, halb Lamm, ein Erbstück aus des Vaters Besitz, nicht umsonst Odradek die Sorge des Hausvaters. Die »Gehilfen« aber fallen in der Tat aus diesem Ringe heraus. Diese Gehilfen gehören einem Gestaltenkreis an, der das ganze Werk Kafkas durchzieht. Von ihrer Sippe ist so gut der Bauern-fänger, der in der »Betrachtung« entlarvt wird, wie der Stu-dent, der nachts auf dem Balkon als Nachbar Karl Roßmanns zum Vorschein kommt, wie auch die Narren, die in jener Stadt im Süden wohnen und nicht müde werden. Das Zwielicht über ihrem Dasein erinnert an die schwankende Beleuchtung, in der die kleinen Stücke Robert Walsers - Verfasser des Romans »Der Gehülfe«, den Kafka sehr geliebt hat - ihre Figuren erscheinen lassen. Indische Sagen kennen die Gandharwe, unfertige Ge-schöpfe, Wesen im Nebelstadium. Von ihrer Art sind die Gehil-fen Kafkas; keinem der anderen Gestaltenkreise zugehörig, keinem fremd: die Boten, die zwischen ihnen geschäftig sind. Sie sehen, wie Kafka sagt, dem Barnabas ähnlich, und der ist ein Bote. Noch sind sie aus dem Mutterschoße der Natur nicht voll entlassen und haben darum »sich in einer Ecke auf dem Bo-den auf zwei alten Frauenröcken eingerichtet. Es w a r . . . ihr Ehrge iz , . . . möglichst wenig Raum zu brauchen, sie machten in

dieser Hinsicht, immer freilich unter Lispeln und Kichern, ver-schiedene Versuche, verschränkten Arme und Beine, kauerten sich gemeinsam zusammen, in der Dämmerung sah man in ihrer. Ecke nur ein großes Knäuel.« Für sie und ihresgleichen, die Un-fertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da. Was zart unverbindlicher am Walten dieser Boten erkennbar wird, das ist auf lastende und düstere Art Gesetz für diese ganze Welt von Kreaturen. Keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriß: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nach-barn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und den-noch unreif, keine welche nicht tief erschöpft und dennoch erst am Anfang einer langen Dauer wäre. Von Ordnungen und Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht möglich. Die Welt des Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat. Wis-sen wir aber eins, so ist es dies: daß Kafka seiner Lockimg nicht gefolgt ist. Ein anderer Odysseus, ließ er sie »an seinen in die Ferne gerichteten Blicken« abgleiten, »die Sirenen verschwan-den förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.« Unter den Ahnen, die Kafka in der Antike hat, den jüdischen und den chinesischen, auf die wir noch stoßen werden, ist dieser griechi-sche nicht zu vergessen. Odysseus steht ja an der Schwelle, die Mythos und Märchen trennt. Vernunft und List hat Finten in den Mythos eingelegt; seine Gewalten hören auf, unbezwing-lich zu sein. Das Märchen ist die Uberlieferung vom Siege über sie. Und Märchen für Dialektiker schrieb Kafka, wenn er sich Sagen vornahm. Er setzte kleine Tricks in sie hinein; dann las er aus ihnen den Beweis davon, »daß auch unzulängliche, ja kin-dische Mittel zur Rettung dienen können«. Mit diesen Worten leitet er seine Erzählung von dem »Schweigen der Sirenen« ein. Die Sirenen schweigen nämlich bei ihm; sie haben »eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang , . . . ihr Schweigen«. Dieses brachten sie bei Odysseus zur Anwendung. Er aber, überlieferte Kafka, »war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Viel-leicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und

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hat ihnen und den Göttern den« überlieferten »Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.« Bei Kafka schweigen die Sirenen. Vielleicht auch darum, weil die Musik und der Gesang bei ihm ein Ausdruck oder wenigstens ein Pfand des Entrinnens sind. Ein Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen, zu-gleich tröstlichen und albernen Mittelwclt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind. Kafka ist wie der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen. Er ist in Potemkins Palast geraten, zuletzt aber, in dessen Kellerlöchern, auf Josefine, jene singende Maus gestoßen, deren Weise er so beschreibt: »Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munter-keit.«

Ein Kinderbild

Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die »arme kurze Kindheit« ergreifender Bild geworden. Es stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten über-ladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen übermäßig großen Hu t mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht. Der inbrünstige »Wunsch, Indianer zu werden« mag einmal diese große Trauer verzehrt haben: »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen Heß, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das

Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferde-hals und Pferdekopf.« Vieles ist in diesem Wunsche enthalten. Die Erfüllung gibt sein Geheimnis preis. Er findet sie in Ameri-ka. Daß es mit »Amerika« eine besondere Bewandtnis hat, geht aus dem Namen des Helden hervor. Während in den früheren Romanen der Autor sich nie anders als mit dem gemurmelten Initial ansprach, erlebt er hier mit vollem Namen auf dem neuen Erdteil seine ¡Neugeburt. Er erlebt sie auf dem Natur-theater von Oklahoma. »Karl sah an einer Straßenecke ein Pla-kat mit folgender Aufschrift: Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns ! Jeder ist willkommen! Wer Künst-ler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort ! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!« Der Leser dieser Ankündigung ist Karl Roßmann, die dritte und glücklichcre Inkarnation des K., der der Held von Kafkas Romanen ist. Das Glück erwartet ihn auf dem Naturtheater von Oklahoma, das eine wirkliche Rennbahn ist, wie das »Unglücklichsein« ihn einst auf dem schmalen Teppich seines Zimmers befallen hatte, auf dem er »wie in einer Rennbahn« einherlief. Seitdem Kafka seine Betrachtungen »zum Nachdenken für Herrenreiter« geschrie-ben hatte, den »neuen Advokaten« »hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt« die Gerichtstrep-pen hatte hinaufsteigen und seine »Kinder auf der Landstraße« in großen Sätzen mit verschränkten Armen ins Land hatte traben lassen, ist ihm diese Figur vertraut gewesen und in der Tat kann es auch Karl Roßmann geschehen, »zerstreut infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe zeitraubende und nutzlose Sprünge« zu machen. Darum also kann es nur eine Rennbahn sein, auf der er ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Diese Rennbahn ist zugleich ein Theater, und das gibt ein Rätsel auf. Der rätselhafte Ort und die ganz rätsellose durch-

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sichtige und lautere Figur des Karl Roßmann gehören aber zu sammen. Durchsichtig, lauter, geradezu charakterlos ist Karl Roßmann in dem Sinne nämlich, in dem Franz Rosenzweig in seinem »Stern der Erlösung« sagt, in China sei der innere Mensch »geradezu charakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klas-sisch . . . Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Be-sonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charak-terlose, nämlich der Durchschnittsmensch. . . Etwas ganz andres als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls.« Wie immer man es gedanklich vermitteln mag - vielleicht ist diese Reinheit des Gefühls eine ganz besonders feine Waagschale des gestischen Verhaltens - in jedem Fall weist das Naturtheater von Okla-homa auf das chinesische Theater zurück, welches ein gestisches ist. Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehens in das Gestische. Ja man darf weitergehen und sagen, eine ganze Anzahl der kleineren Studien und Geschichten Kafkas treten erst in ibr volles Licht, indem man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Okla-homa versetzt. Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbo-lische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen. In einem unveröffentlichten Kommentar zum »Brudermord« hat Werner Kraft scharfblickend das Ge-schehen dieser kleinen Gcschichte als ein szenisches durchschaut. »Das Spiel kann beginnen, und es wird wirklich durch ein Glockenzeichen angekündigt. Dieses entsteht auf die natürlich-ste Weise, indem Wese das Haus verläßt, in welchem sein Büro liegt. Aber diese Türglocke, heißt es ausdrücklich, ist >zu laut für eine Türglocke<, sie tönt »über die Stadt hin zum Himmel auf<.« Wie diese Glocke, für eine Türglocke zu laut, zum Him-mel auftönt, so sind die Gesten Kafkascher Figuren zu durch-schlagend für die gewohnte Umwelt und brechen in eine ge-räumigere ein. Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto öfter verzichtete er darauf, diese Gebärden üblichen Situationen anzupassen, sie zu erklären. » >Es ist auch eine sonderbare Art,«*

heißt es in der »Verwandlung«, »»sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe her-antreten muß.<« Solche Begründungen hat schon der »Prozeß« weit hinter sich gelassen. »Bei den ersten Bänken« macht K., im vorletzten Kapitel, »halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehn.« Wenn Max Brod sagt: »Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen«, so war für Kafka sicher am unabsehbarsten der Gestus. Jeder ist ein Vorgang, ja man könnte sagen ein Drama, für sich. Die Bühne, auf der dieses Drama sich abspielt, ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem eigenen Gesetz ihn zu durchforschen, hieße den gemalten Hin-tergrund der Bühne gerahmt in eine Bildergalerie hängen. Kafka reißt hinter jeder Gebärde - wie Greco - den Himmel auf; aber wie bei Greco - der der Schutzpatron der Expressionisten war - bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde, Gebückt vor Schrecken gehen die Leute, die den Schlag ans Hoftor vernommen haben. So würde ein chinesischer Schau-spieler den Schreck darstellen, aber niemand zusammenfahren. An anderer Stelle spielt K. selbst Theater. Halb ohne es zu wissen, nahm er »langsam . . . mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen . . . vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hiebei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertigge-stellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte.« Die größte Rätsel-haftigkeit mit größter Schlichtheit verbindet dieser Gestus als tierischer. Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann auf den Namen des Geschöpfs — der Affen, des Hundes oder des Maulwurfs — so blickt man erschrocken auf und sieht, daß man vom Konti-

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tient des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen. Sie nehmen aber sonderbarerweise auch dann kein Ende, wenn sie von Kafkas Sinngeschichten ausgehen. Man denke an die Parabel »Vor dem Gesetz«. Der Leser, der ihr im »Landarzt« begegnete, stieß vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. Aber hätte er die nichtendenwoUende Reihe von Erwägungen angestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka seine Auslegung unternimmt? Das geschieht durch den Geist-lichen im »Prozeß« - und zwar an einer so ausgezeichneten Stelle, daß man vermuten könnte, der Roman sei nichts als die entfaltete Parabel. Das Wort »entfaltet« ist aber doppelsinnig. Entfaltet sich die Knospe zur Blüte, so entfaltet sich das aus Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beibringt, zum glatten Blatt. Und diese zweite Art »Entfaltung« ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glät-ten, so daß ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne; nämlich wie die Knospe zur Blüte wird. Darum ist ihr Produkt der Dichtung ähnlich. Das hindert nicht, daß seine Stücke nicht gänzlich in die Prosaformen des Abendlandes eingehen und zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur Halacha stehen. Sie sind nicht Gleichnisse und wollen doch auch nicht für sich genommen sein; sie sind derart beschaffen, daß man sie zitieren, zur Erläuterung erzäh-len kann. Besitzen wir die Lehre aber, die von Kafkas Gleichnis-sen begleitet und in den Gesten K.'s und den Gebärden seiner Tiere erläutert wird? Sie ist nicht da; wir können höchstens sagen, daß dies und jenes auf sie anspielt. Kafka hätte vielleicht gesagt: als ihr Relikt sie überliefert; wir aber können ebensowohl sagen: sie als ihr Vorläufer vorbereitet. In jedem Falle handelt es sich dabei um die Frage der Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft. Diese hat К afka um so stetiger beschäftigt, als sie ihm undurchschaubar geworden ist. Wenn im berühmten Erfurter Gespräch mit Goethe Napoleon an die Stelle des Fatums die Politik gesetzt hat, so hätte Kafka - dieses Wort variierend - die Organisation als Schicksal defi-nieren können. Und nicht nur in den ausgebreiteten Bcamten-

hierarchien des »Prozesses« und des »Schlosses« steht sie ihm vor Augen, sondern greifbarer noch in den schwierigen und unübersehbaren Bauvorhaben, deren ehrwürdiges Modell er im »Bau der Chinesischen Mauer« behandelt hat. »Die Mauer sollte zum Schutz für die Jahrhunderte werden; sorgfältigster Bau, Benutzung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verant-wortung der Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraus-setzung für die Arbeit. Zu den niederen Arbeiten konnten zwar

> unwissende Taglöhner aus dem Volke, Männer, Frauen, Kinder, wer sich für gutes Geld anbot, verwendet werden; aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger, im Bau-fach gebildeter Mann nötig . . . . Wir - ich rede hier wohl im Na-men vieler - haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der

i Anordnungen der obersten Führerschaft uns selbst kennenge-lernt und gefunden, daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.« Diese Organisation ähnelt dem Fatum. Metschnikoff, der in sei-nem berühmten Buch »Die Zivilisation und die großen histori-

1 sehen Flüsse« ihr Schema gezeichnet hat, tut dies mit Wendun-J gen, die von Kafka sein könnten, »Die Kanäle des Jangtse-Kiang ; und die Dämme des Hoang-ho«, schreibt er, »sind aller Wahr-

scheinlichkeit nach ein Resultat kunstvoll organisierter gemein-samer Arbeit von . . . Generationen . , . Die kleinste Unachtsam-keit beim Stechen dieses oder jenes Grabens oder beim Stützen irgendeines Dammes, die geringste Nachlässigkeit, ein egoistisches Auftreten seitens eines Menschen oder einer Gruppe von Men-schen in der Sache der Erhaltung des gemeinsamen Wasserreich-tums, wird unter so ungewöhnlichen Verhältnissen die Quelle sozialer Übel und weitreichenden gesellschaftlichen Unglücks. Demnach fordert ein Fluß-Ernährer mit Todesdrohen eine enge und dauernde Solidarität zwischen jenen Massen der Be-völkerung, welche oft einander fremd, ja feindlich sind; er verurteilt Jedermann zu solchen Arbeiten, deren gemeinsame Nützlichkeit sich erst mit der Zeit offenbart, und deren Plan sehr oft einem gewöhnlichen Menschen ganz unverständlich bleibt.« Kafka wollte sich zu den gewöhnlichen Menschen gerechnet

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wissen. Die Grenze des Verstehens hat sich ihm auf Schritt und Tritt aufgedrängt. Und gern drängt er sie andern auf. Er scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis Großinquisitor zu sagen: »So haben wir denn ein Mysterium vor uns, das wir nicht begreifen können. Und eben weil es ein Rätsel ist, so hatten wir das Recht, es zu predigen, den Menschen zu lehren, daß das, woran gelegen ist, weder die Freiheit, noch die Liebe, sondern das Rätsel, das Geheimnis, das Mysterium ist, dem sie sich unterwerfen müssen - ohne Nachdenken und auch gegen ihr Gewissen.« Den Versuchungen des Mystizismus ist Kafka nicht immer aus dem Wege gegangen. Von seiner Begegnung mit Rudolf Steiner haben wir eine Tagebuchnotiz, die mindestens in der Gestalt, in der sie publiziert ist, die Stellungnahme Kaf-kas nicht enthält. Hat er sich ihr entzogen? Sein Verfahren den eigenen Texten gegenüber läßt das keinesfalls als unmöglich erscheinen. Kafka verfügte über eine seltene Kraft, sich Gleich-nisse zu schaffen. Trotzdem erschöpft er sich in dem, was deut-bar ist, niemals, hat vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen. Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Mißtrauen muß man in ihrem Innern sich vorwärtstasten. Man muß sich Kafkas Eigenart zu lesen vor Augen halten, wie er sie in der Auslegung der genannten Pa-rabel handhabt- Man darf auch an sein Testament erinnern. Die Vorschrift, mit der er die Vernichtung einer Hinterlassenschaft anbefahl, ist den näheren Umständen nach ebenso schwer er-gründlich, ebenso sorgfältig abzuwägen, wie die Antworten des Türhüters vor dem Gesetz. Vielleicht wollte Kafka, den jeder Tag seines Lebens vor unenträtselbare Verhaltungsweisen und undeutliche Verlautbarungen gestellt hat, im Tode wenigstens seiner Mitwelt mit gleicher Münze heimzahlen. Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Und die Probe auf des Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. Nach wclchen Maßstäben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu enträtseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das aber auch so ausdrücken: den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich zu spielen. Daß sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Möglich-

keit aus. Mit ihren Rollen suchen die Personen ein Unterkom-men im Naturtheater wie die sechs Pirandelloschen einen Autor. Beiden ist dieser Or t die letzte Zuflucht; und das schließt nicht aus, daß er die Erlösung ist. Die Erlösung ist keine Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, wie Kafka sagt, »sein eigener Stirnknochen . . , den Weg« verlegt. Und das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz ent-halten, den der »Bericht für eine Akademie« enthält: » . . . ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.« K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung von diesen Dingen aufzugehen. Er wendet sich plötzlich den beiden Herren im Zylinder zu, welche ihn abholen und fragt: »>An welchem Theater spielen Sie.< >Theater?< fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem wider-spenstigen Organismus kämpft.« Sie beantworten die Frage nicht, aber manches deutet darauf hin, daß sie von ihr betroffen werden. An einer langen Bank, die man mit einem weißen Tuch bedeckt hat, werden alle, welche von nun ab am Naturtheater sind, be-wirtet. »Alle waren fröhlich und aufgeregt«. Engel werden zur Feier von den Statisten gestellt. Sie stehen auf hohen Postamen-ten, die von wallenden Gewändern überdeckt in ihrem Innern eine Treppe haben. Die Zurüstungen einer ländlichen Kirmes, vielleicht auch eines Kinderfests, bei dem der eingeschnürte, aufgeputzte Knabe, von dem wir sprachen, die Traurigkeit seines Blicks verloren hätte. - Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel vielleicht echte. Sie haben ihre Vor-läufer bei Kafka. Der Impresario gehört zu ihnen, der zu dem vom »ersten Leid« befallenen Trapezkünstler ins Gepäcknetz steigt, ihn streichelt und sein Gesicht an das eigene drückt, »so daß er auch von desTrapezkünstlers Tränen überflössen wurde.« Ein anderer, ein Schutz-Engel oder Schutz-Mann nimmt sich nach dem »Brudermorde« des Mörders Schmar an, der »den Mund an die Schulter des Schutzmannes gedrückt« leichtfüßig von ihm davongeführt wird. - In die ländlichen Zeremonien von Okla-homa klingt der letzte Roman Kafkas aus. »Bei Kafka - hat Soma Morgenstern gesagt - herrscht Dorfluft wie bei allen großen Religionsstiftern.« Hier darf man um so mehr an die

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Darstellung der Frömmigkeit durch Laotse erinnern, als Kafka in dem »nächsten Dorfe« ihr die vollkommenste Umschreibung gewidmet hat: »Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, I Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: I Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, 1 Ohne hin und her gereist zu sein.« Soweit Laotse. Kafka war auch ein Paraboliker, aber ein Religionsstifter war er nicht. Betrachten wir das Dorf , das am Fuße des Schloßbergs liegt, von dem aus K.s vorgebliche Berufung als Landvermesscr so rätselhaft und unerwartet bestätigt wird. Brod hat, im Nach-wort zu diesem Roman, erwähnt, daß Kafka bei diesem Dorf am Fuße des Schloßbergs eine bestimmte Siedlung, Ziirau im Erzgebirge, vorgeschwebt habe. Wir dürfen aber noch ein ande-res Dorf in ihm erkennen. Es ist das einer talmudischen Legende, die der Rabbi als Antwort auf die Frage erzählt, warum der Jude am Freitagabend ein Festmahl rüstet. Sie berichtet von einer Prinzessin, die in der Verbannung, von ihren Landsleutcn fern, und in einem Dorf, dessen Sprache sie nicht verstehe, schmachte. Zu dieser Prinzessin kommt eines Tages ein Brief, ihr Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. - Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der M essias, > die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in das sie verbannt ist, | der Körper. Und weil sie dem Dorf, das ihre Sprache nicht kennt, i anders von ihrer Freude nichts mitteilen kann, rüstet sie ihm ein Mahl. - Mit diesem Dorf des Talmud sind wir mitten in Kafkas Welt. Denn so wie K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper; er entgleitet ihm, ist ihm feindlich. Es kann geschehen, daß der Mensch eines Morgens erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde -seine Fremde - ist seiner Herr geworden. Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka, und darum ist er nicht in Versuchung gekommen, Religionsstifter zu werden. Zu diesem Dorf gehört auch der Schweinestall, aus dem die Pferde für den Landarzt hervorkommen, das stickige Hinterzimmer, in welchem Klamm, die Virginia im Munde, vor einem Glas Bier sitzt, und das Hoftor , an das zu schlagen den Untergang mit sich bringt. Die Luft in diesem Dorf ist nicht rein voll all dem Ungewor-denen und Uberreifen, das so verderbt sich ineinandermischt. Kafka hat sie sein Lebtag atmen müssen. Er war kein Man-

tiker und auch kein Religionsstifter. Wie hat er es in ihr ausge-halten?

Das bucklicht Männlein

Knut Hamsun, so erfuhr man vor längerer Zeit, habe die Ge-pflogenheit, hin und wieder den Briefkasten des Lokalblatts der kleinen Stadt, in deren Nähe er wohnt, mit seinen Ansichten zu beschicken. Es fand vor Jahren in dieser Stadt ein Schwurge-richtsprozeß gegen eine Magd statt, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte. Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bald darauf erschien im Lokalblatt eine Meinungsäußerung von Hamsun. Er sagt an, er werde einer Stadt den Rücken kehren, welche für eme Mutter, die ihr Neugeborenes töte, eine andere Strafe kenne als die schwerste; wenn schon nicht den Galgen, dann das lebenslängliche Zuchthaus. Es vergingen einige Jahre. »Segen der Erde« erschien und darinnen die Geschichte einer Dienstmagd, die das gleiche Verbrechen begeht, die gleiche Strafe erleidet und, wie der Leser deutlich erkennt, gewiß keine schwerere verdient hatte. Die nachgelassenen Reflexionen Kafkas, die im »Bau der Chine-sischen Mauer« enthalten sind, geben Anlaß, sich dieses Hergangs zu erinnern. Denn kaum war dieser Nachlaßband erschienen, als sich, gestützt auf seine Reflexionen, eine Deutung Kafkas hervortat, die sich in deren Auslegung gefiel, um mit seinen eigentlichen Werken desto weniger Umstände zu machen. Zwei Wege gibt es, Kafkas Schriften grundsätzlich zu verfehlen. Die natürliche Auslegung ist der eine, die übernatürliche ist der andere; am Wesentlichen gehen beide - die psychoanalytische wie die theologische - in gleicher Weise vorbei. Die erste ist vertreten von Hellmuth Kaiser; die zweite von nun schon zahl-reichen Autoren, wie H. J. Schoeps, Bernhard Rang, Groethuy-sen. Zu ihnen ist auch Willy Haas zu rechnen, der freilich in ferneren Zusammenhängen, auf die wir noch stoßen werden, Aufschlußreiches über Kafka bemerkt hat. Das hat ihn nicht davor bewahren können, das Gesamtwerk im Sinne einer theo-logischen Schablone auszudeuten. »Die obere Macht,« so schreibt er über Kafka, »den Bereich der Gnade, hat er dargesteht in seinem großen Roman >Das Schloß«, die untere, den Bereich des

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Gerichts und der Verdammnis, in seinem ebenso großen Roman >Der Prozeß«. Die Erde zwischen be iden , . . . das irdische Schick-sal und seine schwierigen Forderungen hat er in strenger Stili-sierung zu geben versucht in einem dritten Roman »Amerika«.« Das erste Drittel dieser Interpretation kann man, seit Brod, wohl als Gemeingut der Kafka-Interpretation betrachten, In die-sem Sinne schreibt z.B. Bernhard Rang: »Sofern man das Schloß als den Sitz der Gnade ansehen darf, so bedeutet, theologisch gesprochen, eben dieses vergebliche Bemühen und Versuchen, daß sich die Gnade Gottes nicht willkürlich und willentlich vom Menschen herbeiführen und erzwingen läßt. Die Un-ruhe und Ungeduld verhindert und verwirrt nur die erhabene Stille des Göttlichen.« Bequem ist diese Deutung; daß sie unhalt-bar ist, erscheint, je weiter sie sich vorwagt, desto klarer. Am klarsten daher vielleicht bei Willy Haas, wenn er erklärt: »Kaf-ka k o m m t . . . von Kierkegaard wie von Pascal, man kann ihn wohl den einzigen legitimen Enkel Kierkegaards und Pas-cals nennen. Alle drei haben das harte, blutig harte religiöse Grundmotiv: daß der Mensch immer im Unrecht ist vor Gott.« Kafkas »Oberwelt, sein sogenanntes »Schloß« mit seinem unab-sehbaren, kleinlichen verzwickten und recht lüsternen Beamten-stab, sein merkwürdiger Himmel treibt ein fürchterliches Spiel mit den Menschen. .. ; und doch ist der Mensch ganz tief im Unrecht sogar vor diesem Gott.« Diese Theologie fällt weit hin-ter die Rechtfertigungslehre Anselms von Canterbury in bar-barische Spekulationen zurück, die im übrigen nicht einmal mit dem Wortlaut des Kafkaschen Textes vereinbar erscheinen. » »Kann denn« «, heißt es gerade im »Schloß«, » »ein einzelner Be-amterverzeihen? Das könnte doch höchstens Sache der Gesamt-bchörde sein, aber selbst diese kann wahrscheinlich nicht verzei-hen, sondern nur richten.« « Der Weg, der so beschritten worden ist, hat sich schnell totgelaufen. »Das alles«, sagt Denis de Rouge-mont, »ist nicht der elende Stand des Menschen, der ohne Gott ist, sondern der Elendsstand des Menschen, der einem Gott ver-haftet ist, den er nicht kennt, weil er Christum nicht kennt.« Es ist leichter, aus der nachgelassen Notizensammlung Kafkas spekulative Schlüsse zu ziehen, als auch nur eines der Motive zu ergründen, die in seinen Geschichten und Romanen auftreten. Aber nur sie geben einigen Aufschluß über die vorweltlichcn

Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wurde; Ge-walten, die man freilich mit gleichem Recht auch als weltliche unserer Tage betrachten kann. Und wer will sagen, unter wel-chem Namen sie Kafka selbst erschienen sind. Fest steht nur dies: er hat in ihnen sich nicht zurechtgefunden. Er hat sie nicht gekannt. Er hat nur in dem Spiegel, den die Vorwclt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft in Gestalt des Gerichtes erscheinen sehen. Wie man sich dieses aber zu denken hat - ist es nicht das Jüngste? macht es nicht aus dem Richter den Angeklagten? ist nicht das Verfahren die Strafe? - dar-auf hat Kafka keine Antwort gegeben. Versprach er sich etwas von ihr? Oder war es ihm nicht vielmehr darum zu tun, sie hintanzuhalten? In den Geschichten, die wir von ihm haben, gewinnt die Epik die Bedeutung wieder, die sie im Mund Sche-hcrazades hat: das Kommende hinauszuschieben. Aufschub ist im »Prozeß« die Hoffnung des Angeklagten - ginge nur das Verfahren nicht allmählich ins Urteil über. Dem Erzvater selbst soll Aufschub zugute kommen, und müßte er seinen Platz in der Tradition dafür hergeben. »Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der - freilich würde er es nicht bis zum Erz-vater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler - der die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustande-brächte, weil er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehr-lich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzu-ordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne daß sein Haus fer-tig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: »er bestellte sein Haus<«. »Bereitwillig wie ein Kellner« erscheint dieser Abraham. Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor. Es ist bekannt, wie er mit ihr zurückhielt. Sein Testament befiehlt sie der Vernichtung an. Dies Testament, das keine Befassung mit Kafka umgehen kann, sagt, daß sie ihren Autor nicht zufrieden stellte; daß er seine Bemühungen als verfehlt ansah; daß er sich selbst zu denen rechnete, die scheitern mußten. Gescheitert ist sein großartiger Versuch, die Dichtung in die I.ehre zu überführen und als Para-

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die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende I erschienen ist. Kein Dichter hat das »Du sollst Dir kein Bildnis machen« so genau befolgt. »F.s war, als sollte die Scham ihn überleben« - das sind die Worte, die den »Prozeß« beschließen. Die Scham, die seiner »elementaren Reinheit des Gefühls« entspricht, ist die stärkste Gebärde Kafkas. Sie hat aber ein doppeltes Gesicht. Die Scham, die eine intime Reaktion des Menschen ist, ist zugleich eine gesellschaftlich anspruchsvolle. Scham ist nicht nur Scham vor den andern, sondern kann auch Scham für sie sein. So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: »Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie . . . Wegen dieser unbekannten Fami l ie . . . kann er nicht entlassen werden.« Wir wissen nicht, wie diese unbekannte Fa-milie - aus Menschen und aus Tieren - sich zusammensetzt. N u r soviel ist klar, daß sie es ist, die Kafka zwingt, Weltalter im Schreiben zu bewegen. Dem Geheiß dieser Familie folgend, wälzt er den Block des geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein. Dabei geschieht es, daß dessen untere Seite ans Licht gerät. Sie ist nicht angenehm zu sehen. Doch Kafka ist imstande, ihren Anblick zu ertragen. »An Fortschritt glauben heißt nicht j glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.« Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uranfänge. Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt, Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hctärische bezeichnet. Daß diese Stufe vergessen ist, besagt nicht, daß sie in die Gegenwart nicht hin-einragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessen-heit. Eine Erfahrung, die tiefer geht als die des Durchschnitts-bürgers, trifft auf sie auf. »Ich habe Erfahrung,« lautet eine der frühesten Aufzeichnungen Kafkas, »und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.« Nicht umsonst erfolgt die erste »Betrachtung« von einer Schaukel aus. Und unerschöpflich ergeht sich Kafka über die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede vermischt sich mit der entgegengesetzten. »Es war im Sommer,« so beginnt der »Schlag ans Hoftor«, »einheißerTag. Ich kam auf

dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hof to r vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht.« Die bloße Möglichkeit des an der dritten Stelle er-wähnten Vorgangs laßt die vorangehenden, die zunächst harmlos erschienen, in ein anderes Licht treten. Es ist der Moorboden solcher Erfahrungen, aus denen die Kafkaschen Frauengestalten aufsteigen. Sie sind Sumpfgeschöpfe wie Leni, die »den Mittel-und Ringfinger ihrer rechten Hand« auseinanderspannt, »zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger« reicht, — »»Schöne Zeiten,<« erinnert die zwei-deutige Frieda sich ihres Vorlebens, »>du hast mich niemals nach meiner Vergangenheit gefragt.«« Diese führt eben in den finsteren Schoß der Tiefe zurück, wo sich jene Paarung vollzieht, »deren regellose Üppigkeit«, um mit Bachofcn zu reden, »den reinen Mächten des himmlischen Lichts verhaßt ist und die Bezeichnung luteae voluptates, deren sich Arnobius bedient, rechtfertigt.« Von hier aus erst läßt sich die Technik, die Kafka als Erzähler hat, begreifen. Wenn andere Romanfiguren dem K. etwas zu sagen haben, so tun sie das ~ mag es das Wichtigste, mag es das Überraschendste sein - beiläufig und auf eine Weise, als müßte er es im Grunde längst gewußt haben. Es ist als wäre da nichts Neues, als ergehe nur unauffällig an den Helden die Auffor-derung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. In diesem Sinne hat Willy Haas mit Recht den Hergang des »Prozesses« verstehen wollen und ausgesprochen, »daß der Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held dieses un-glaublichen Buches, das Vergessen i s t , . . . dessen . . . Haupt-eigenschaft ja ist, daß er sich selbst verg iß t . . . Es ist hier selbst geradezu stumme Gestalt geworden in dieser Figur des Ange-klagten, und zwar Gestalt von großartigster Intensität.« Daß »dieses geheimnisvolle Zentrum . . . der jüdischen Religion« entstammt, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. »Hier spielt das Gedächtnis als Frömmigkeit eine ganz geheimnisvolle Rolle. Es i s t . . . nicht eine, sondern die tiefste Eigenschaft sogar Jehovas, daß er gedenkt, daß er ein untrügliches Gedächtnis »bis ins dritte und vierte Geschlecht*, ja bis ins »hundertste* be-wahrt; der heiligste . . . Akt des . . . Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächtnisses.«

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Das Vergessene - mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer weiteren Schwelle von Kafkas Werk - ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Ver-bindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Verges-senheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischen-wclt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt. »Ihm gilt grade die fü l le der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist muß dinglich, besondert sein, um hier Platz und Daseinsrecht zu be-kommen . . . Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber benannt und dem Namen des Verehrers aufs besonderste verbunden. . . Unbedenklich wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch über fü l l t . . . Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der Geis te r ; . . . immer neue zu den alten, alle eigennamentlich von einander geschieden.« Es ist nun freilich nicht Kafka, von dem hier die Rede ist - es ist China. So be-schreibt Franz Rosenzweig im »Stern der Erlösung« den chinesi-schen Ahnenkult. Unabsehbar wie die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen aber war für Kafka auch die seiner Ahnen und gewiß ist, daß sie, wie die Totembäume der Primitiven, zu den Tieren hinunterführte. Übrigens sind die Tiere nicht allein bei Kafka Behältnisse des Vergessenen. Im tiefsinnigen »Blonden Eckbert« Tiecks steht der vergessene Name eines Hündchens - Strohmian-als Chiffre einer rätselhaften Schuld. So kann man verstehen, daß Kafka nicht müde wurde, den Tieren das Vergessene abzu-lauschen. Sie sind wohl nicht das Ziel; aber ohne sie geht es nicht. Man denke an den »Hungerkiinstler«, der »genau genom-men, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war.« Sieht man das Tier im »Bau« oder den »Riesenmaulwurf« nicht grü-beln, wie man sie wühlen sieht? Und doch ist auf der anderen Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Un-schlüssig schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an allen Ängsten und hat die Flatterhaftigkeit der Verzweiflung. So gibt es denn bei Kafka auch Schmetterlinge; aus dem schuld-beladenen »Jäger Gracchus«, der von seiner Schuld nichts wis-sen will, » >ist ein Schmetterling geworden< «. » >Lachen Sie nichts sagt der Jäger Gracchus.« — Soviel ist sicher: unter allen Ge-schöpfen Kafkas kommen am meisten die Tiere zum Nachden-

ken. Was die Korruption im Recht ist, das ist in ihrem Denken die Angst. Sie vcrpfuscht den Vorgang und ist doch das einzig Hoffnungsvolle in ihm. Weil aber die vergessenste Fremde unser Körper - der eigene Körper - ist, versteht man, wie Kafka den Husten, der aus seinem Innern brach, »das Tier« genannt hat. Er war der vorgeschobenste Posten der großen Herde. Der sonderbarste Bastard, den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat, ist Odradek. »Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirn-stücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.« Odradek »hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Teppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf«. Es bevorzugt also die gleichen Orte wie das Gericht, wel-ches der Schuld nachgeht. Die Böden sind der O r t der ausran-gierten, vergessenen Effekten. Vielleicht ruft der Zwang, vor dem Gericht sich einzufinden, ein ähnliches Gefühl hervor wie der, an jahrelang verschlossene Truhen auf dem Boden heran-zugehen. Gern würde man das Unternehmen bis ans Ende der Tage aufschieben so wie K. seine Verteidigungsschrift geeignet findet, »einmal nach der Pensionierung den kindisch geworde-nen Geist zu beschäftigen«. Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit an-nehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die »Sorge des Haus-vaters«, vor der niemand weiß, was sie ist, entstellt das Unge-ziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätz-chen, für das vielleicht »das Messer des Fleischcrs eine Erlösung« wäre. Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buckligen. Unter den Gebärden Kafkascher Erzählungen be-gegnet keine häufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt. Das ist die Müdigkeit bei den Gerichts-

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herren, der Lärm bei den Portiers in dem Hotel, die niedere Decke bei den Galeriebesuchcrn. In der »Strafkolonie« aber be-dienen sich die Gewalthaber einer altertümlichen Maschinerie, die verschnörkelte Lettern in den Rücken der Schuldigen ein-graviert, die Stiche mehrt, die Ornamente häuft solange, bis der Rücken der Schuldigen hellsehend wird, selber die Schrift entziffern kann, aus deren Lettern er den Namen seiner unbekannten Schuld entnehmen muß. Es ist also der Rücken, dem es aufliegt. Und ihm liegt es bei Kafka seit jeher auf. So in der frühen Tagebuchnotiz: »Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schulter gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat.« Handgreiflich geht hier das Beladen-sein mit dem Vergessen - des Schlafenden - zusammen. Im »Bucklichen Männlein« hat das Volkslied das GIciche versinn-bildlicht. Dies Männlein ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt ver-ändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen

werde. »Geh ich in mein Kämmerlein, I Will mein Bettlein machen; I Steht ein bucklicht Männlcin da, I Fängt als an zu lachen.« Das ist das Lachen Odradeks, von dem es heißt: »Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.« »Wenn ich an mein Bänklein knie, I Will ein bißlein beten; I Steht ein bucklicht Männlein da, I Fängt als an zu reden. I Liebes Kindlein, ach ich bitt, I Bet' für's bucklicht Männlein mit!« So endet das Volks-lied. In seiner Tiefe berührt Kafka den Grund, den weder das »mythische Ahnungswissen« noch die »existentielle Theologie« ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat - was wir nicht wissen - so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche »das natürliche Gebet der Seele« nennt - die Aufmerksam-keit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen.

Sancho Pansa

In einem chassidischen Dorf, so erzählt man, saßen eines Abends zu Sabbath-Ausgang in einer ärmlichen Wirtschaft die Juden. Ansässige waren es, bis auf einen, den keiner kannte, einen ganz ärmlichen, zerlumpten, der im Hintergrund im Dunkeln einer Ecke kauerte. H in und her waren die Gespräche gegangen. Da brachte einer auf, was sich wohl jeder zu wünschen dächte, wenn er einen Wunsch frei hätte. Der eine wollte Geld, der andere einen Schwiegersohn, der dritte eine neue Hobelbank, und so ging es die Runde herum. Als jeder zu Worte gekommen war, blieb noch der Bettler in der dunklen Ecke. Widerwillig und zögernd gab er den Fragern nach: »Ich wollte, ich wäre ein großmächtiger König und herrschte in einem weiten Lande und läge nachts und schliefe in meinem Palast und von der Grenze bräche der Feind herein und ehe es dämmerte wären die Berittenen bis vor mein Schloß gedrungen und keinen Wider-stand gäbe es und aus dem Schlaf geschreckt, nicht Zeit mich auch nur zu bekleiden, und im Hemd, hätte ich meine Flucht antreten müssen und sei durch Berg und Tal und über Wald und Hügel und ohne Ruhe Tag und Nacht gejagt, bis ich hier auf der Bank in eurer Ecke gerettet angekommen wäre. Das wünsche ich mir.« Verständnislos sahen die andern einander an. - »Und was hättest du von diesem Wunsch?« fragte einer. -»Ein Hemd« war die Antwort. Diese Geschichte führt tief in den Haushalt von Kafkas Welt. Niemand sagt ja, die Entstellungen, die der Messias zurechtzu-rücken einst erscheinen werde, seien nur solche unseres Raums. Sie sind gewiß auch solche unserer Zeit. Bestimmt hat das Kafka gedacht. Und aus solcher Gewißheit seinen Großvater sagen las-sen: »>Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum be-greife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zu-fällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glück-lich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.«« Ein Bruder dieses Alten ist der Bettler, der in seinem »gewöhnlichen, glücklich ablaufenden« Leben nicht ein-mal Zeit zu einem Wunsche findet, dem ungewöhnlichen, un-

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glücklichen der Flucht aber, in die er sich mit seiner Geschichte hineinbegibt, dieses Wunsches überhoben ist und ihn für die Er-füllung eintauscht. Es gibt nun unter den Geschöpfen Kafkas eine Sippe, die auf eigentümliche Weise mit der Kürze des Lebens rechnet. Sie stammt aus der »Stadt im Süden . . v o n der es . . . hieß: ->Dorc sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!< - >Und warum denn nicht?< - >Weil sie nicht müde werden.< - >Und warum denn nicht?« - >Weil sie Narren sind.< - »Werden denn Narren nicht müde?< - »Wie könnten Narren müde werden!*« Man sieht, die Narren sind mit den nimmermüden Gehilfen verwandt. Es geht aber mit dieser Sippe noch höher hinaus. Bei-läufig hörte man von den Gesichtern der Gehilfen, sie ließen »>auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schließen««. Und in der Tat sind die Studenten, die bei Kafka an den sonderbarsten Stellen zum Vorschein kommen, die Wortführer und Regenten dieses Geschlechts. »>Abcr wann schlafen Sie?< fragte Karl und sah den Studenten verwundert an. - >Ja, schlafen!« sagte der Student. »Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.«« Man muß an die Kinder denken: wie ungern gehen sie zu Bett! während sie schlafen, könnte doch etwas vorkom-men, was sie beansprucht. »Vergiß das Beste nicht!« lautet eine Bemerkung, »die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzäh-lungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.« Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung. »>Der Gedanke, mir helfen zu wol-len,«« sagt ironisch der ruhelos irrende Geist des Jägers Grac-chus, »»ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden,«« - Bei ihren Studien wachen die Studenten, und vielleicht ist es die beste Tugend der Studien, sie wachzuhalten. Der Hungerkünst-ler fastet, der Türhüter schweigt und die Studenten wachen. So versteckt wirken bei Kafka die großen Regeln der Askese. Das Studium ist ihre Krone. Mit Andacht bringt Kafka sie aus den versunkenen Knabenjahren an den Tag. »Nicht viel anders — jetzt war es schon lange her — war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, wäh-rend der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem

Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln ange-ordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen!« Vielleicht sind diese Studien ein Nichts gewesen. Sie stehen aber jenem Nichts sehr nahe, das das Etwas erst brauchbar macht - dem Tao nämlich. Ihm ging Kafka mit seinem Wunsch nach, »einen Tisch mit pein-lich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: >Ihm ist das Hämmern ein Nichts«, sondern >Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.« Und eine so entschlossene, so fana-tische Gebärde haben die Studierenden beim Studium. Sie kann nicht sonderbarer gedacht werden. Die Schreiber, die Studenten sind außer Atem. Sie jagen nur so dahin. »>Oft diktiert der Be-amte so leise, daß der Schreiber es sitzend gar nicht hören kann, dann muß er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder aufspringen und so weiter. Wie merkwürdig das ist! Es ist fast unverständ-lich .<« Vielleicht versteht man es aber besser, wenn man an die Schauspieler des Naturtheaters zurückdenkt. Schauspieler müs-sen blitzschnell auf ihr Stichwort aufpassen. Und sie ähneln diesen Beflissenen auch sonst. Für sie ist in der Tat »»das Häm-mern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«« - wenn es nämlich in ihrer Rolle steht. Diese Rolle studieren sie; der wäre ein schlechter Schauspieler, der ein Wort oder einen Gestus aus ihr vergäße. Für die Glieder der Truppe von Oklahoma aber ist sie ihr früheres Leben. Daher die »Natur« dieses Naturtheaters. Seine Schauspieler sind erlöst. Der Student aber ist es noch nicht, dem Karl nachts auf dem Balkon stumm zusieht, wie er in seinem Buche liest, »die Blätter wendete, hie und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.« Den Gestus derart zu vergegenwärtigen ist Kafka unermüd-

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lich. Aber das geschieht nie anders als mit Staunen. Man hat K. mit Recht dem Schweyk verglichen; den einen wundert alles, den andern nichts. Im Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar ver-mittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden, sind Film und Grammophon erfunden worden. Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stim-me. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das Studium anweist. Vielleicht stößt er dabei auf Fragmente des eigenen Daseins, welche noch im Zusammenhang der Rolle stehen. Er würde den verlorenen Gestus zu fassen bekommen wie Peter Schlemihl seinen verkauften Schatten. Er würde sich verstehen, aber wie riesenhaft wäre die Anstrengung! Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht. So reitet auf der Ofenbank der Bett-ler seiner Vergangenheit entgegen, um in der Gestalt des fliehen-den Königs seiner selbst habhaft zu werden. Dem Leben, das für einen Ritt zu kurz ist, entspricht dieser Ritt, der lang genug für das Leben ist, » . . . bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« So geht die Phantasie vom seligen Reiter in Erfüllung, der der Vergangenheit auf leerer, fröhlicher Reise entgegenbraust und seinem Renner keine Last mehr ist. Unselig aber der Reiter, der an seine Mähre ge-kettet ist, weil er das Zukunftsziel sich vorgesetzt hat - und sei es auch das nächste: der Kohlenkeller. Unselig auch sein Tier, unselig beide: der Kübel und der Reiter. »Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kü-bel auf, prächtig, prächtig; Kamele, niedrig am Boden hinge-lagert, steigen, sich schüttelnd unter dem Stock des Führers, nicht schöner auf.« Hoffnungsloser öffnet sich keine Gegend als »die Regionen der Eisgebirge«, in denen der Kübelreiter sich auf Nimmerwiedersehen verliert. Aus »den untersten Regionen des Todes« bläst der Wind, der ihm günstig ist - derselbe, der bei Kafka so oft aus der Vorwelt weht, und von dem auch der Kahn des Jägers Gracchus sich treiben läßt. »Uberall«, sagt

Plutarch, »wird bei Mysterien und Opfern, sowohl unter Grie-chen als unter Barbaren, gelehrt, . . . daß es zwei besondere Grundwesen und einander entgegengesetzte Kräfte geben müsse, von denen das eine rechter Hand und geradeaus führt, das an-dere aber umlenkt und wieder zurücktreibt.« Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt. Ihr Lehrmeister ist jener Bucephalus, der »neue Advokat«, der ohne den gewaltigen Alexander - und das heißt: des vorwärtsstür-menden Eroberers ledig - den Weg zurück nimmt. »Frei, unbe-drückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die

\ Blätter unserer alten Bücher.« - Diese Geschichte ist vor einiger ! Zeit durch Werner Kraft zum Gegenstand der Deutung gemacht

worden. Nachdem der Interpret mit Sorgfalt jeder Einzelheit des Textes sich gewidmet hat, bemerkt er: »Nirgendwo in der Literatur gibt es eine so gewaltige, so durchschlagende Kritik des Mythos in seinem ganzen Umfang, wie hier.« Das Wort »Ge-rechtigkeit« - so meint der A u s l e g e r b r a u c h t Kafka nicht; trotzdem sei es die Gerechtigkeit, von der aus die Kritik am Mythos statt hat. - Sind wir aber so weit einmal gegangen, so geraten wir in Gefahr, Kafka zu verfehlen, indem wir hier haltmachen. Ist es denn wirklich das Recht, das so, im Namen der Gerechtigkeit, gegen den Mythos aufgeboten werden könn-te? Nein, als Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ur-sprung treu. N u r scheint er - darin dürfte im Sinne Kafkas das Neue für den Bucephalus und für die Advokatur liegen - nicht zu praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit. Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium. Und doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora geschlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam. Nun hält sie nichts mehr auf der »leeren fröhlichen Fahrt«. Kafka aber hat das Gesetz der seinen gefunden; ein einziges Mal zumindest, als es ihm glückte, ihre atemraubende Schnelligkeit einem epi-schen Paßschritt anzugleichen, wie er ihn wohl sein Lebtag ge-sucht hat. Er hat es einer Niederschrift anvertraut, die nicht nur darum seine vollendetste wurde, weil sie eine Auslegung ist.

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»Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch BeistelJung einer Menge Ritter-und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Ta-ten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegen-standes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.« Gesetzter Narr und unbeholfener Gehilfe, hat Sancho Pansa seinen Reiter vorangeschickt. Bucephalus hat den seinigen über-lebt. Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist.

FRANZ KAFKA: BEIM BAU DER CHINESISCHEN MAUER

Ich stelle an den Anfang eine kleine Erzählung, die dem im Titel genannten Werk entnommen ist und die Ihnen zweierlei zeigen wird: die Größe dieses Schriftstellers und die Schwierig-keit, von ihr Zeugnis zu geben. Kafka erzählte angeblich eine chinesische Sage wieder: »Der Kaiser, so heißt es, hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmer-lichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtig-keit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes - alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reiches - vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg ge-macht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende, ö f fne te sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer zwängt er sich noch durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämp-fen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite um-schließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor - aber niemals, niemals kann es geschehen -, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. - Du aber

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sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend

kommt.« Diese Gcschichtc werde ich Ihnen nicht deuten. Denn um zu j erfahren, daß der Angeredete vor allem einmal Kafka selber j ist, dazu brauchen Sie meinen Hinweis nicht. Wer aber war nun Kafka? Er hat alles getan, um der Antwort auf diese Frage den Weg zu verlegen. Unverkennbar, daß im Mittelpunkt semer Romane er selber steht, was ihm aber da zustößt ist von der Art, den unscheinbar zu machen, der es erlebt, ihn zu entrücken, indem es ihn im Her /en der Banalität verbirgt. Und die Chiffre K., mit der die Hauptfigur seines Buches »Das Schloß« gezeichnet ist, sagt denn auch gerade so viel, wie man auf einem j Taschentuch oder dem Innern eines Hutrandes finden kann, ohne daß man darum den Verschwundenen zu rekognoszieren | wüßte. Allenfalls könnte man von diesem Kafka eme Legende i bilden: Er habe sein Leben darüber nachgegrübelt, wie er aus-sähe, ohne je davon zu erfahren, daß es Spiegel gibt. Um aber auf die Geschichte vom Anfang zurückzukommen, möchte ich jedenfalls andeuten, wie man Kafka nicht auslegen soll, weil das leider fast die einzige Art ist, an das, was bisher über ihn gesagt ist, anzuknüpfen. Ein religionsphilosophisches Schema den Büchern Kafkas unterzuschieben, wie man es getan hat, lag freilich nahe genug. Auch ist sehr möglich, daß sogar ein vertrauter Umgang mit dem Dichter wie Max Brod, der verdienstvolle Herausgeber seiner Schriften, ihn hatte, solchen Gedanken erwecken oder bestätigen konnte. Dennoch bedeutet er eine ganz eigentümliche Umgehung, beinahe möchte ich sagen Abfertigung der Welt von Kafka. Gewiß widerlegen läßt sich die Behauptung wohl nicht, Kafka habe in seinem Roman »Das Schloß« die obere Macht und den Bereich der Gnade, in dem »Prozeß« die untere, das Gericht, und in dem letzten großen Werke »Amerika« das irdische Leben - dies alles im theologi-schen Sinn verstanden - darstellen wollen. Nur daß solche Me-thode sehr viel weniger ergibt als die gewiß viel schwierigere einer Deutung des Dichters aus der Mitte seiner Bildwelt. Ein Beispiel: Der Prozeß gegen Josef K. wird mitten im Alltag in Hinterhöfen, Warteräumen usw. an immer anderen, nie zu gewärtigenden Orten verhandelt, in die der Angeklagte sich oft mehr verirrt als begibt. So befindet er sich denn eines Tages

auf einem Dachboden. Die Emporen sind voll von Leuten, die dicht gedrängt der Verhandlung folgen; sie haben sich auf eine lange Sitzung vorbereitet; aber da oben ist es nicht leicht auszu-halten; die Dccke - die bei Kafka beinah immer niedrig ist — drückt und lastet; so haben sie denn Kissen mitgenommen, um den Kopf dagegen zu stemmen. - Das ist nun aber das genaue Bild dessen, was wir als Kapital - als fratzengeschmückten Aufsatz - an den Säulen so vieler mittelalterlicher Kirchen kennen. Natürlich ist keine Rede davon, daß Kafka das nach-bilden wollte. Wenn wir sein Werk aber als eine spiegelnde Scheibe nehmen, so kann ein solches längst vergangenes Kapital sehr wohl als eigentlicher unbewußter Gegenstand solcher Schilderung erscheinen, und die Deutung hätte nun seine Spiege-lung im Gegensinne genauso weit vom Spiegel abgerückt wie das gespiegelte Modell zu suchen. Mit anderen Worten, in der Zukunft . Kafkas Werk ist ein prophetisches. Die überaus präzisen Selt-samkeiten, von denen das Leben, mit dem es zu tun hat, so voll ist, sind für den Leser nur als kleine Zeichen, Anzeichen und Symptome von Verschiebungen zu verstehen, die der Dichter in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt, ohne den neuen Ordnungen sich selber einfügen zu können. So bleibt ihm nichts als mit einem Staunen, in das sich freilich panisches Entsetzen mischt, auf die fast unverständlichen Entstellungen des Daseins zu antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze verraten. Kafka ist davon so erfüllt, daß überhaupt kein Vorgang denk-bar ist, der unter seiner Beschreibung - d.h. hier aber nichts anderes als Untersuchung - sich nicht entstellt. Mit anderen Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selbst. Die Fixierung Kafkas an diesen seinen einen und einzigen Gegenstand, die Entstellung des Daseins, kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen. Im Grunde aber ist dieser Eindruck, ebenso wie der untröstliche Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst nur ein Anzeichen,Ç daß Kafka mit einer rein dichterischen Prosa gebrochen hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall ist sie so beschaffen, daß sie in beweisende Zusammenhänge jederzeit eingestellt werden könnte. Man hat hier an die Form der Haggadah zu erinnern: so heißen bei den Juden Geschieh-

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ten und Anekdoten des rabbinischen Schrifttums, die der Er-klärung und Bestätigung der Lehre - der Halacha - dienen. Wie die haggadischen Teile des Talmud so sind auch diese Bücher Erzählungen, eine Haggadah, die immerfort innehält, in den ausführlichsten Beschreibungen sich verweilt, immer in der Hoffnung und Angst zugleich, die halachische Order und Formel, die Lehre könnte ihr unterwegs zustoßen. Ja, die Verzögerung ist der eigentliche Sinn jener merkwürdigen, oft so frappanten Ausführlichkeit, von der Max Brod gesagt hat, daß sie in dem Wesen von Kafkas Vollkommenheit und seinem Suchen nach dem rechten Wege läge. »Von allen ernst-haft aufgefaßten Lebensdingen«, meint Brod, gelte, was von den rätselhaften Briefen der Behörde ein Mädchen im »Schloß« behauptet: »>Die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben, sind endlos.<« Was sich aber bei Kafka in dieser Endlosig-keit gefällt, ist eben doch die Angst vor dem Ende. Mithin hat seine Ausführlichkeit einen ganz anderen Sinn als etwa den der Episode im Roman. Romane sind sich selbst genug. Kafkas Bücher sind sich das nie, sie sind Erzählungen, die mit einer

— - M o r a l schwanger gehen, ohne sie je zur Welt zu bringen. So hat der Dichter denn auch gelernt - wenn man schon davon reden will - nicht von den großen Romanciers sondern von sehr viel bescheideneren Autoren, von den Erzählern. Der Moralist Hebel und der schwer ergründliche Schweizer Robert Walser sind unter seinen Lieblingsautoren gewesen. - Wir haben vorhin von der bedenklichen religionsphilosophischen Konstruktion gesprochen, die man dem Werk von Kafka untergelegt und in der man den Schloßbcrg zum Sitz der Gnade gemacht hat. Nun, daß sie unvollendet geblieben sind - das ist das eigendiche Walten der Gnade in diesen Büchern. Daß das Gesetz als solches bei Kafka sich nirgends ausspricht, das und nichts anderes ist die gnädige Fügung des Fragments. Wer Zweifel in diese Wahrheit setzt, der mag sie sich von dem bestätigen lassen, was Brod aus freundschaftlichen Unterhal-tungen mit dem Dichter über den geplanten Schluß des Schlosses berichtet. Nach einem langen ruhelosen rechtlosen Leben in jenem Dorf, entkräftet, entkräftet von einem Kampfe, liegt der K. auf dem Sterbebett. Da endlich, endlich erscheint der Bote aus dem Schloß, der die entscheidende Nachricht bringt: dieser

Mensch habe zwar keinen Rechtsanspruch, im Dorfe zu wohnen, man wolle ihm aber mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände erlauben, hier zu leben und zu arbeiten. Da stirbt dieser Mensch aber auch schon. - Sie fühlen wie diese Erzählung derselben Ordnung wie die Sage angehört, mit der ich begann. Max Brod hat übrigens mitgeteilt, daß Kafka bei diesem Dorf am Fuß des Schloßberges eine bestimmte Siedelung, Zürau im Erzgebirge vorgeschwebt habe. Ich meinerseits glaube darin das Dorf einer talmudischen Legende wiederzuerkennen. Es ist eine Legende, die ein Rabbi auf die Frage zum Besten gibt, warum am Frei-tagabend der Jude ein Festmahl rüstet. Da erzählt er denn die Geschichte von einer Prinzessin, die in der Verbannung, ferne von ihren Landsleuten und unter einem Volk, dessen Sprache sie nicht verstehe, schmachte. Zu dieser Prinzessin nun kom-me eines Tages ein Brief mit der Nachricht, ihr Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in dem sie verbannt ist, der Körper, und weil sie denen, die ihre Sprache nicht kennen, anders keine Botschaft von ihrer Freude geben kann, rüstet die Seele ein Mahl für den Körper. Eine kleine Akzentverschiebung in dieser Talmudgeschichte, und wir sind mitten in Kafkas Welt. So wie der K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper: ein Frem-der, Ausgestoßener, der nichts von den Gesetzen weiß, die diesen Leib mit höheren weiteren Ordnungen verbinden. Es kann gerade über diese Seite der Sache viel Aufschluß geben, daß Kafka in den Mittelpunkt seiner Erzählungen so oft Tiere stellt. Solchen Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile folgen ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich hier gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann erstmals auf den Namen des Tieres - die Maus oder den Maulwurf - so erwacht man mit einem Chock und merkt mit einem Mal, daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Übrigens ist die Wahl der Tiere, in deren Gedanken Kafka die seinigen ein-hüllt, beziehungsvoll. Es sind immer solche, die im Erdinnern, oder wenigstens wie der Käfer in der »Verwandlung« Tiere, die auf dem Boden verkrochen in seinen Spalten und Ritzen leben. Solche Verkrochenhcit scheint dem Schriftsteller für die

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isolierten gesetzunkundigen Angehörigen seiner Generation und Umwelt allein angemessen. Diese Gesetzlosigkeit aber ist eine gewordene; Kafka wird nicht müde, die Welten, von denen er spricht, auf alle Weise als alt, verrottet, überlebt, verstaubt zu bezeichnen. Die Gelasse, in denen der Prozeß sich abspielt, sind es genau so wie die Verordnungen, nach denen in der Strafkolo-nie verfahren wird, oder wie die geschlechtlichen Gepflogen-heiten der Frauen, welchc K. zur Seite stehen. Aber nicht nur in den Fraüengestalten, die alle einer schrankenlosen Promiskui-tät leben, ist die Verkommenheit dieser Welt mit Pfänden zu greifen; genau so schamlos proklamiert in ihrem Tun und Trei-ben sie die obere Macht, von der man sehr richtig erkannt hat, daß sie genau so grausam, katzenhaft mit ihren Opfern spielt wie die untere. »Beide Welten sind ein halbdunkles, staubiges, engbrüstiges, schlecht gelüftetes Labyrinth von Kanzeleien, Büros, Wartezimmern mit einer unabsehbaren Hierarchie von kleinen upd großen und'säur großen und ganz unnahbaren Kanzleibe-amten und Unterbeamten, Bürodienern und Advokaten und Hilfskräften und Laufjungen, die äußerlich geradezu wie eine Parodie auf eine lächerliche und sinnlose Bcamtenwirtschaft wirken.« Man sieht, auch diese Oberen sind so gesetzlos, daß sie auf einer Stufe mit den Untersten erscheinen, und ohne Scheidewände wimmeln die Geschöpfe aller Ordnungen durch-einander, heimlich nur solidarisch in dem einen einzigen Gefühl der Angst. Eine Angst, die nicht Reaktion sondern Organ ist. Es läßt sich auch sehr wohl bestimmen, wofür sie jederzeit die scharfe und untrügliche Witterung hat. Aber ehe ihr Gegenstand erkennbar wird, gibt die merkwürdige Zweisjtändigkeit dieses Organs uns zu denken. Diese Angst - und das mag an das Spiegelgleichnis vom Anfang erinnern - ist gleichzeitig und zu gleichen Teilen Angst vorm Uralten, Unvordenklichen und Angst vorm Nächsten, dringend Bevorstehenden. Sie ist, um es mit einem Wort zu sagen, Angst vor der unbekannten Schuld und vor der Sühne, an welcher nur der eine Segen waltet, daß sie die Schuld bekannt macht. Denn die präziseste Entstellung, die so bezeichnend für Kafkas Welt ist, rührt eben daher, daß sich das große Neue und Be-freiende hier unter der Figur der Sühne darstellt, solange das Gewesene sich nicht durchschaut, bekannt und gänzlich abgetan

hat. Daher hat Willy Haas mit vollkommenem Recht die unbe-kannte Schuld, die den Prozeß gegen den Josef K. heraufbe-schwört, als das Vergessen enträtselt. Von Konfigurationen des Vergessens - stummen Bitten, es uns doch endlich nunmehr ein-fallen zu lassen - ist Kafkas Dichtung gänzlich erfüllt, mag man an die »Sorge des Hausvaters«, die seltsame redende Spule Odradek denken, von der niemand weiß, was es ist, oder den Mistkäfer, den Helden in der »Verwandlung«, von dem wir nur allzu gut wissen, was er war, nämlich Mensch, oder an die »Kreuzung«, das Tier, das halb Kätzchen, halb Lamm ist und für das vielleicht das Messer des Schlächters eine Erlösung wäre.

Will ich in mein Gärtlein gehn, Will mein Blümlein gießen; Steht ein bucklicht Männlein da, Fängt als an zu niesen

heißt es in einem unergründlichen Volkslied. Das ist auch so ein Vergessenes, das bucklige Männlein, das wir einmal gewußt haben, und da hatte es seinen Frieden, nun aber vertritt es uns den Weg in die Zukunft . Es ist ganz ungemein bezeichnend, daß Kafka die Figur des religiösesten Menschen, des Mannes, der da im Rechten ist, nicht selbst geschaffen wohl aber erkannt hat -und in wem? Nämlich in niemand anderem als Sancho Pansa, der sich aus der Promiskuität mit dem Dämon erlöst hat, indem es ihm gelang, ihm einen anderen Gegenstand als sich selber zu geben, so daß er ein ruhiges Leben führte, in dem er nichts zu vergessen brauchte. »Sancho Pansa«, lautet die ebenso kurze wie großartige Ausle-gung, »gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nacht-stunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbe-stimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten, Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwort-lichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.«

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Wenn die umfassenden Romane des Dichters die wohlbestellten Felder sind, die er hinterließ, so ist der neue Geschichtenband, aus dem auch diese Deutung entnommen ist, die Tasche des Sämanns mit Körnern, die die Kraft der natürlichen haben, von denen wir wissen, daß sie noch nach Jahrtausenden, aus Grä-bern zutage befördert, Frucht treiben.

KAY ALIliRSMOllAL

Je sicherer die Routine den Menschen erlaubt, aalglatt in allem ihrem Tun und Lassen dem harten Zugriff der Wahrheit zu ent-schlüpfen, desto feinsinniger werden sie sich mit konstruierten »Gewissensfragen«, »inneren Konflikten«, »ethischen Maximen« befassen. Das ist selbstverständlich, enthebt einen aber nicht der Aufgabe, diesen widerwärtigen Tatbestand aufzuzeigen, wo er sich breit macht. Und das ist kürzlich wieder sehr ungeniert in einer Kontroverse geschehen, die Ehm Welk über den Kafkaschen Nachlaß mit dessen Flerausgeber, Max Brod, eröffnet hat. Brod hat im Nachwort zum »Prozeß« und zum »Schloß« mitgeteilt, daß Kafka ihm diese Werke zum eigenen Studium und unter der ausdrücklichen Bedingung übergeben habe, sie niemals drucken zu lassen, vielmehr später sie zu vernichten. Diesen Mitteilungen hat er dann die Darstellung der Motive folgen lassen, die ihn ver-anlaßten, sich über Kafkas Willen hinwegzusetzen. Nun waren es freilich nicht nur diese Motive, die es niemandem vor Ehm Welk erlaubten, die bequeme, äußerst naheliegende Anklage auf verletzte Freundespflicht zu erheben, mit deren energischer Zu-rückweisung wir es hier zu tun haben. Denn da stand ja nun einmal dieses erschütternde Kafkasche Werk, öffnete seine großen Augen, in die man blickte, war mit dem Augenblick seines Er-scheinens ein Tatbestand, der die Lage so gründlich veränderte wie die Geburt eines Kindes noch den illegitimsten Beischlaf. Da-her die Achtung, der Respekt, die mit dem Werk, auf das sie sich bezogen, auch dem Verhalten dessen gegolten haben und gelten, durch welchen wir es erst leibhaft besitzen. Daß die absurde Be-schuldigung gegen Brod von keinem, dem das Werk von Kafka irgend nahesteht, erhoben werden konnte (und wie kann denn er selber heut uns nahestehen als durch sein Werk?), das ist ebenso sicher wie dies: daß nun, da sie einmal erhoben, sie sich in ihrer ganzen kümmerlichen Arroganz enthüllt, sowie man sie mit die-sem Werke konfrontiert, Kafkas Werk, in dem es um die dunkel-sten Anliegen des menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich Theologen und selten so wie Kafka es getan hat, Dich-ter angenommen haben), hat seihe dichterische Größe eben daher, daß es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt, nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auftritt.

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So nüchtern ist das ganze Dasein Kafkas und ist auch seine Freund-schaft mit Max Brod gewesen. Nichts weniger als ein Orden und Geheimbund, sondern eine innige und vertraute, doch ganz und gar im Licht des beiderseitigen Schaffens und seiner öffentlichen Geltung stehende Dichterfreundschaft. Die Scheu des Autors vor der Publizierung seines Werks entsprang der Uberzeugung, es sei unvollendet und nicht der Absicht, es geheim zu halten. Daß er von dieser seiner Uberzeugung sich in der eigenen Praxis leiten ließ ist genau so verständlich, wie daß sie für den andern, seinen Freund, nicht galt. Dieser Tatbestand war ohneZweifel für Kafka in den beiden Gliedern deutlich. Er hat nicht nur gewußt: ich habe selbst zugunsten des in mir noch Ungewordenen das was ge-worden ist, zurückzustellen, er wußte auch: der andere wird es retten und mich von der Gewissenslast befreien, dem Werk das Imprimatur selber geben oder es vernichten zu müssen. Hier wird nun Welks Entrüstung keine Grenzen kennen.'Um Brod zu dek-ken, Kafka Jesuitentricks, Kafka eine reservatio mentalis zuzu-muten! Ihm diese tiefste Absicht beizulegen, daß dieses Werk er-scheine und zugleich des Dichters Einspruch gegen dies Erscheinen! Jawohl, nichts anderes sprechen wir hier aus und fügen zu: die echte Treue gegen Kafka war, daß dies geschah. Daß Brod die Werke publizierte und zugleich des Dichters nachgelassenes Ge-heiß, es nicht zu tun. (Ein Geheiß, das Brod durch Hinweise auf Kafkas wechselnde Willensmeinung nicht abzuschwächen brauchte.) Ehm Welk wird hier nicht mehr mitgehen. Wir hoffen, er hat es schon längst aufgegeben. Sein Angriff ist ein Zeugnis für die Ahnungslosigkeit, mit der er allem gegenübersteht, was Kafka angeht. Diesem zweifach stummen Mann gegenüber hat seine Kavaliersmoral nichts zu suchen. Er soll nur machen, daß er vom hohen Pferde herunterkommt.

? MAX BROD: FRANZ KAFKA.

{ Eine Biographie. Prag 1937

Das Buch ist durch den fundamentalen Widerspruch gekenn-I zeichnet, der zwischen der These des Verfassers einerseits, seiner I Haltung andererseits obwaltet. Dabei ist die letztere danach Î angetan, die erstere einigermaßen zu diskreditieren, zu Schwei-f gen von den Bedenken, die sich gegen diese sonst erheben. Die i These ist, daß Kafka sich auf dem Wege zur Heiligkeit befun-j den habe (S. 65). Die Haltung des Biographen ihrerseits ist die I vollendeter bonhommie. Der Mangel an Distanz ist ihre mar-

kanteste Eigentümlichkeit. i Daß sich diese Haltung zu dieser Ansicht des Gegenstandes I finden konnte, beraubt das Buch von vornherein seiner Autori-I tat. Wie sie es tat, das illustriert z.B. die Redewendung, mit

der (S. 127) »unser Franz« dem Leser auf einem Photo vor j Augen geführt wird. Intimität mit den Heiligen hat ihre be-• stimmte religionsgeschichtliche Signatur; nämlich den Pietismus, j Brods Haltung als Biograph ist die pietistische einer ostentati-j ven Intimität; mit anderen Worten die pietätloseste, die sich j denken läßt.

Dieser Unreinlichkeit in der Ökonomie des Werkes kommen i Gepflogenheiten zugute, die der Verfasser sich in seiner Berufs-

tätigkeit hat erwerben mögen. Jedenfalls ist es kaum möglich, die Spuren journalistischen Schlendrians bis hinein in die For-mulierung seiner These zu übersehen: »Die Kategorie der Hei-ligkeit . . . ist überhaupt die einzig richtige, unter der Kafkas Leben und Schaffen betrachtet werden kann.« (S. 65) Ist es nötig, anzumerken, daß Heiligkeit eine dem Leben vorbehal-tene Ordnung ist, der das Schaffen unter gar keinen Umständen zugehört? und bedarf es des Hinweises darauf, daß das Prädi-kat der Heiligkeit außerhalb einer traditionell begründeten Religionsverfassung einfach eine belletristische Floskel ist? Es fehlt Brod jedes Gefühl für die pragmatische Strenge, die von einer ersten Lebensgeschichte Kafkas zu fordern ist. »Von Luxushotels wußten wir nichts und waren dennoch unbeschwert lustig.« (S. 128) Infolge eines auffallenden Mangels an Takt, an Sinn für Schwellen und Distanzen fließen Feuilletonschablonen in einen Text ein, der durch seinen Gegenstand zu einiger Hai-

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tung verpflichtet wäre. Das ist minder der Grund als ein Zeugnis dafür, wie sehr jede originäre Anschauung von Kafkas Leben Brod versagt geblieben ist. Besondres anstößig wird dieses Unvermögen, der Sache selbst gerecht zu werden, wo Brod (S. 242) auf die berühmte testamentarische Verfügung zu sprechen kommt, in der Kafka ihm die Vernichtung seines Nachlasses auferlegt. Hier wenn irgendwo wäre der Ort ge-wesen, grundsätzliche Aspekte von Kafkas Existenz aufzurollen. (Er war offenbar nicht gewillt, vor der Nachwelt die Verant-wortung für ein Werk zu tragen, um dessen Größe er doch wußte.) Die Frage ist seit Kafkas Tod vielfach erörtert worden; es lag nahe, hier einmal innezuhalten-. Allerdings hätte sie für den Biographen die Einkehr bei sich selbst mit sich geführt. Kafka mußte den Nachlaß wohl dem vertrauen, der ihm den letzten Willen nicht würde tun wollen. Und weder der Testator noch auch sein Biograph würden bei solcher Betrachtung der Dinge zu Schaden kommen. Aber sie verlangt die Fähigkeit, die Spannungen zu ermessen, von denen Kafkas Leben durchzogen war. Daß diese Fähigkeit Brod abgeht, erweisen die Stellen, an denen er unternimmt, Kafkas Werk oder Schreibweise zu erläutern. Es bleibt da bei dilettantischen Ansätzen, Die Sonderbarkeit in Kafkas Wesen und Schreiben ist gewiß nicht, wie Brod meint, eine »scheinbare« und ebenso wenig kommt man den Darstel-lungen Kafkas mit der Erkenntnis bei, daß sie »nichts als wahr« (S. 68) sind. Derartige Exkurse über Kafkas Werk sind danach angetan, Brods Auslegung seiner Weltanschauung von vorne-herein problematisch zu machen. Wenn Brod von Kafka aus-sagt, daß dieser etwa auf der Linie von Buber gestanden habe (S. 241), so heißt das, den Schmetterling in dem Netz zu suchen, über das er im Hin- und Herflattern seinen Schatten wirft. Die »gleichsam realistisch-jüdische Deutung« (S. 229) des »Schlosses« unterschlägt die abstoßenden und die grauenhaften Züge, mit denen die obere Welt bei Kafka ausgestattet ist, zugunsten einer erbaulichen Auslegung, die gerade dem Zionisten suspekt sein müßte. Gelegentlich denunziert sich diese Bequemlichkeit, die ihrem Gegenstande so wenig ansteht, selbst einem Leser, der es nicht

genau nimmt. Es ist Brod vorbehalten geblieben, die vielschich-tige Problematik von Symbol und Allegorie, die ihm für die Auslegung Kafkas erheblich scheint, am Beispiel des »stand-haften Zinnsoldaten« zu illustrieren, der ein vollgültiges Sym-bol darum vorstelle, weil er nicht nur »vie l . . . in die Unend-lichkeit Verlaufendes ausdrückt«, sondern »uns auch mit seinem persönlich detaillierten Schicksal als Zinnsoldat« (S. 237) nahe-kommt. Man möchte wohl wissen, wie sich das Davidsschild im Lichte einer solchen Symboltheorie ausnimmt. Ein Gefühl für die Schwäche seiner eigenen Kafka-Interpreta-tion macht Brod gegen die von andern empfindlich. Daß er das nicht so törichte Interesse der Surrealisten an Kafka wie die teilweise bedeutenden Auslegungen der kleinen Prosa durch Werner Kraft mit einer Handbewegung beiseiteschiebt, wirkt nicht angenehm. Darüber hinaus sieht man ihn bemüht, auch die künftige Kafka-Literatur zu entwerten. »So könnte man erklären und erklären (man wird es auch noch tun), doch not-wendigerweise ohne Ende.« (S. 69) Der Akzent, der auf der Klammer liegt, fällt ins Ohr. Daß die »vielen privaten akziden-tellen Mängel und Leiden Kafkas« zum Verständnis seines Wer-kes mehr beitragen als »theologische Konstruktionen« (S. 213), hört man von dem jedenfalls nicht gern, der Entschlossenheit genug besitzt, seine eigene Darstellung Kafkas unter dem Be-griff der Heiligkeit vorzunehmen. Die gleiche wegwerfende Gebärde gilt allem, was Brod bei seinem Zusammensein mit Kafka störend vorkommt — der Psychoanalyse ebenso wie der dialektischen Theologie, Sie erlaubt es ihm, Kafkas Schreibweise der »erlogene[n] Exaktheit« Balzacs (S. 69) zu konfrontieren (wobei er nichts anderes als jene durchsichtigen Rodomontaden im Sinn hat, die von Balzacs Werk und seiner Größe gar nicht zu trennen sind). Das alles stammt nicht aus Kafkas Sinn. Brod verfehlt allzu oft die Fassung, die Gelassenheit, die diesem eigen war. Es gibt keinen Menschen, sagt Joseph de Maistre, den man nicht mit einer maßvollen Meinung für sich gewinnen kann. Brods Buch wirkt nicht gewinnend. Es überschreitet das Maß sowohl in der Art, in welcher er Kafka huldigt, als in der Vertrautheit, mit der dieser von ihm behandelt wird. Beides hat wohLin dem Ro-man sein Vorspiel, dem seine Freundschaft zu Kafka als Vor-

50 51

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wiir f d i en te , I h m Z i t a t e e n t n o m m e n z u h a b e n , s tel l t u n t e r d e n

M i ß g r i f f e n dieser L e b e n s b e s c h r e i b u n g ke ineswegs d e n ger ings ten

d a r . D a ß in d i e s e m R o m a n - » Z a u b e r r e i c h d e r L i e b e « - F e r n e r -

s t e h e n d e e ine V e r l e t z u n g d e r P i e t ä t gegen d e n V e r s t o r b e n e n

s e h e n k o n n t e n , w u n d e r t d e n Ver f a s se r , w i e e r ge s t eh t . »Wie

alles m i ß v e r s t a n d e n w i r d , s o a u c h d i e s . . . M a n e n t s a n n s ich

n i c h t , d a ß P i a t o n s ich auf ä h n l i c h e , a l l e rd ings w e i t u m f a s s e n d e r e

A r t sein ganzes L e b e n l ang s e inen L e h r e r u n d F r e u n d Sok ra t e s

als l e b e n d i g w e i t e r w i r k e n d , als m i t l e b e n d e n , m i t d e n k e n d e n

W e g b e g l e i t e r d e m T o d e a b g e t r o t z t h a t t e , i n d e m e r i h n z u m H e l -

d e n fas t aller D i a l o g e m a c h t e , d i e e r nach d e s S o k r a t e s T o d

s c h r i e b . « (S. 82)

E s is t w e n i g A u s s i c h t , d a ß B r o d s » K a f k a « e i n m a l u n t e r d e n g r o -

ß e n g r ü n d e n d e n D i c h t e r b i o g r a p h i e n , i n d e r R e i h e des S c h w a b -

s c h e n H ö l d e r l i n , de s F r a n z o s ' s c h e n B ü c h n e r , des B ä c h t o l d s c h e n

K e l l e r , w i r d g e n a n n t w e r d e n k ö n n e n . D e s t o d e n k w ü r d i g e r ist

sie als Z e u g n i s e ine r F r e u n d s c h a f t , d i e n i c h t z u d e n k l e in s t en

R ä t s e l n i n K a f k a s L e b e n g e h ö r e n d ü r f t e .

Nachweise

9 - 3 8 Franz Kafka.

Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Der im Mai und Juni 1934 entstandene, in den darauffolgenden Monaten bearbeitete Essay erschien erstmals als Teilabdruck zweier der vier Ab-schnitte unter dem Titel Franz Kafka. Eine Würdigung in: Jüdische Rundschau, 21.12.1934 (Jg. 39, N r . 102/103), S. 8 (Potemkin) und28 .12 . 1934 (Jg> 39, N r . 104), S. 6 (Das buckliebt Männlein). De r erste vollstän-dige Abdruck erfolgte in: Walter Benjamin, Schriften, hg. von Th. W. Adorno und Gretei Adorno, Band II, Frankfur t am Main 1955, S. 196-228. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II , hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfur t am Main 1977, S. 409-438 Zi ta tnachweise : 1 10 , j Schuwalkin . . . ] Benjamins Nacherzählung einer Puschkinschen Anekdote; s. Alexander Puschkin, Anekdoten und Tischgespräche, hg. , übertragen und mit dem Vorwort versehen von Jo-hannes Guenther . Mit Illustrationen von Nicolai Saretzkij, München 1924, 42 ([Nr.] 24: »Potjomkin litt häufig [ . . . ] « ) ; bei Puschkin »Pe-tuschkow« statt Schuwalkin. — Die Nacherzählung wurde von Benjamin in ähnlicher Form unter dem Titel Die Unterschrift (s. Gesammelte Schriften, Bd. 4, 758 f.) 1934 dreimal veröffentlicht (davon einmal in dä-nischer Übersetzung; s. а. а. O., 1081); zum Blochschen Gegenstück »Potemkins Unterschrift« s. а. а. O., 1082 »Nachweise« -10 ,25 Augen«] Franz Kafka, Das Schloß. Roman, München 1926,11 - 1 0 , 3 0 Beamten-stube.Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzäh-lungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod und Hans Joa-chim Schoeps, Berlin 1931,231 (»Betrachtungen über Sünde, Leid, H o f f -nung und den wahren Weg«, Aph. 34) - 1 0 , 3 3 haben] s. Georg Lukács, zit. in: Erns tBloch, Geist der Utopie, München, Le ipz ig l9 i8 ,22 -10 ,38 Dampfhämmer«] Kafka, Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München, Leizigigig, 35 (»Auf der Galerie«)-11,17 Mensch h*] Kafka, Das Urteil . Eine Geschichte (Bücherei »Der jüngste Tag«, Bd. 34), Leipzig 1916,22, 23 ,24 ,28-11 ,21 Ertrinkens] s. а. а. O., 28-1.1,27unsauber] s. а. а. O., 20 -iL,^gewesen«] Kafka, Das Schloß, a . a . O . , 4 6 2 - 1 2 , 8 Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 218 (»Er«) - 1 2 , 2 3 ivirdt«] Kafka, D e r Prozeß. Roman, Berlin 1925, 85 (Drittes Kapi-

1 Die Ziffer vor dem Komma bezeichnet die Seitenzahl, die dahinter dît: ZeiJenzaM der betreffenden Seite im vorliegenden Band

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tel ; im folgenden in römischen Ziffern) -12,33 scheinen. * ] Hermann Co-hen, Ethik des reinen Willens, 2. rev. Aufl., Berlin 1907, 362 - 1 3 , 7 ha-ben.«!] Kafka, Das Schloß, а. а. O., 332-13,24verirren.*] a. a. O., 79L - 13,33 anhaftet.<*] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 322f. (VIII) - 14,11 uns.«] Max Brod, Der Dichter Franz Kafka, in: Die Neue Rundschau 1921 (Jg. 11), 1213: »Gesprächs«, »vomheurigen«, »Gnosis: Gott«, »Oh, Hoffnung [ . . . ] uns« gesperrt - 14,18 Ungeziefer] s. Kafka, Die Ver-wandlung (Bücherei »Der jüngste Tag«, Bd. 22/23), Leipzig 1915, 3 -14,19 Besitz] 5. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a . a .O . , 54 (»Eine Kreuzung«) -14 ,20 Hausvaters] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a .O. , 95 (»Die Sorge des Hausvaters«) -14 ,24wird] s. Kafka, Betrachtung, 2. Ausg., Leipzig o. J. [1915], 17-26 (»Entlarvung eines Bauernfängers«) -14.26 kommt] s. Kafka, Amerika. Roman, München 1927, 343 (VII) -14.27 werden] s. Kafka, Betrachtung, a . a . O . , 15f. (»Kinder auf der Landstraße«) -14 ,30 Gehülfet] s. Robert Walser, Der Gehülfe, Berlin 1908-14,36Bote] s. Kafka, Das Schloß, a. a. 0 . , 4 i , ĄKnauel.«] а. а. О., 84 -15,21 ihnen.t) Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а, O., 40 (»Das Schweigcn der Sirenen«) - 15,31 können* ] a. a. O- , 3 9 -15,34Schweigen*] а. а. О.-i6,^entgegengehalten.«] а. а. О., 41-16,15 f. Munterkeit, t] Kafka, Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten, Berlin 1924,73 (»Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse«) - i6 , l8-3 i£s bis hineinhorcht.] s. den ähnlich lautenden Passus in: Ges. Sehr., Bd. 2, 375,25-38 - 17,2 Pferdekopf.«] Kafka, Betrachtung, a . a . O . , 77f. (»Wunsch, Indianer zu werden«) - 17,21 Clayton!«] Kafka, Amerika, a.a. O . , 357 (VIII) -17,27Rennbahn«] Kafka, Betrachtung, а. а. O., 80 (»Unglücklichsein«) - 17,28 Herrenreiter*] s. a . a . O . , 70-74 (»Zum Nachdenken für Herrenreiter«) - 17,30 Schritt*] Kafka, Ein Landarzt, а.а. O., 2 (»Der neue Advokat«) -17 ,33 lassen] s. Kafka, Betrachtung, a . a . O . , 12f. (»Kinder auf der Landstraße«) - 17,36 Sprünge«] Kafka, Amerika, а. а. O., 287 (VII) -18,10 Gefühls.*] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1921, 96 (Teil l, Buch 3) - 18,34 auf.*] Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt a. M. 1968,24 (»Der Mensch ohne Schuld. Ein Brudermord«; Neufassung gegenüber der von Benjamin zitierten mit den Varianten »als« statt indem, »in dem« statt in welchem, »sich befindet« statt liegt und der Streichung von heißt es ausdrücklich)-, Zitat im Zitat: Kafka, Ein Landarzt, a . a . O . , 128 (»Ein Brudermord«) - 1 9 , 4 muß.f»] Kafka, Die Verwandlung, а. а. О., 5 -19,11 sehn. *] Kafka, Der Prozeß, а. а, О 3 6 9 (JX)-19,24 haben] s. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 19,33 sollte.«] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 226f. (VII) - 20,7 Gesetz«] s. Kafka, Ein Landarzt, a . a . O . , 49-56 und Der Prozeß, a.a. O. , 375-378 (IX)-20,12 Prozeß«] s. Kafka, Der Prozess, а. а. О., 378-388 (IX) - 20,37 hat] s. Gespräch mit F. v.

Müller, 2.10.1808; zit. in: Goethes Gespräche, Gesamtausgabe, neu hg. von Flodoard Frhr. von Biedermann. Bd. 1, Leipzig 1909,539 (Nr. 1098) -21,18 hätte.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O- , lof . , 16 (»Beim Bau der Chinesischen Mauer«) - 21,38 bleibt.*] Léon Metch-nikoff, La civilisation et les grands fleuves historiques. Avec une préface de M. Elisée Reclus, Paris 1889,189 (VII, Territoire des civilisations fleu-viales)- 22,10 Gewissen.«] F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, Roman, übertragen von E . K . Rasìn, München о. J., 470 (Buch 5, Kapi-tel 5) — 22,12 Tagebuchnotiz] s. Kafka, Tagebücher. 1910-1923, New York, Frankfurt a. M, 1951, 54-58 (26. 3. i g i i ) -22 ,25 anbefahl] s. [Max Brod,] Nachwort, in: Der Prozeß, а. а. О., 403 f. und 404 f. -23,6 Weg*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 213 (»Er«) - 23,10 Grund.«] Kafka, Ein Landarzt, а. а. O., 182 (»Ein Bericht für eine Aka-demie«) - 23,16 kämpft.«] Kafka, Der Prozeß, а. а. O., 393 (X) - 23,21 aufgeregt«] Kafka, Amerika, a . a . O . , 382 (VIII) - 23,24 haben] s. a.a. O . , 359f., 362 (VIII)-23,26sprachen] s. Text, 16 -23 ,32 wurde.«] Kafka, Ein Hungerkünstler, a . a . O . , 13 (»Erstes Leid«) - 23,35 ge-drückt«] Kafka, Ein Landarzt, а. а. O., 134 (»Ein Brudermord«) —23,39 Rehgionsstiftern.«] Gespräch mit Benjamin; s. Benjamin-Archiv, Ms 334: Soma Morgenstern bat — im Gespräch mit mir — die schöne Bemer-kung gemacht, in Kafkas Büchern weht Dorfluft wie bei allen Religions-stiftern. - 24,2Dorfe«] s. Kafka, Ein Landarzt, а. а. O., 88 f. (»Das näch-ste Dorf«)-24,6s'e¡n. » I Laotse,Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Lehen, aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1911, 85 (»80. Selbständigkeit«, v. 16—19); möglicherweise hat Benjamin hier aus dem Gedächtnis zitiert. Da die Modifikationen des Zitats fü r den Textzusammenhang nicht unerheblich sein dürften, wer-den sie hier genannt: Benjamin schrieb in der Ferne für »gegenseitig«, sol-len für »sollten«, Menschen für »Leute« und weit fü r »hin und her«. Die Verstrennungszeichen setzte der Herausgeber. - 24,13 habe] Brods Er-wähnung findet sich nicht im Nachwort zum »Schloß«, sondern mitge-teilt bei Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930,183 f. (Drei Dichter. Franz Kafka) — 24,25 Mahl] Das Symbol der Braut, die für die Seele, die Kirche oder die Unerlosten steht, ist in den Midraschim der späteren Haggadah und den Legenden der jüdischen Folklore verbreitet. Aus die-ser dürfte das Gleichnis Soma Morgenstern geläufig gewesen und, durch die Gespräche mit ihm, Benjamin, der es hier nacherzählt, bekannt ge-worden sein. -24,34hervorkommen] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a. O- , 8, 10 (»Ein Landarzt«) - 24,35 sitzt] s. Kafka, Das Schloß, a . a . O . , 69 -24,36 bringt] s. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 25,20 sind] s, »Er« und Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, in: а. а. O., 212-224 und 225—249 — 25,29Kaiser] s. Hellmuth Kaiser, Franz Kafkas Inferno. Psy-

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chologische Deutung seiner Strafphantasie, Wien 1931 - 25,30 Schoeps] s. [Hans Joachim Schoeps,] Nachwort, in: Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a .O. , 250-2Ć6 (zus. mit Max Brod); ders., Unveröffentlichtes aus Franz Kafkas Nachlaß, in: Der Morgen. Berlin, 2 .5 .1934 (Jg. 10) -25,30 Rang] s. Bernhard Rang, Franz Kafka, in: Die Schildgenossen. Augsburg 1934 (Jg. 12, Hef t 2/3) - 25,3of. Groethuysen] s. Bernard Groethuysen, A propos de Kafka, in: La Nouvelle Revue Française. 1933 (Neue Serie 40, Hef t 4) - 26,4 Amerika'.*} Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930,175 (Drei Dichter. Franz Kafka) - 26,13 Göttlichen. « ] Bernhard Rang, Franz Kafka, a. a. O, - 26,19 Goa.»] Willy Haas, Ge-stalten der Zeit, a.a. O . , 176-26,24 Gott.»:] a . a . O . —26,25 Canterbury] s. Anselm von Canterbury, Cur deus homo ?, in : Opera. Patrologia« cur-sus, vol. CLV - 26,31 richten.«:] Kafka, Das Schloß, a. a. O . , 414 - 26,35 kennt, t]Denis de Rougemont, Le Procès, par Franz Kafka [ - - • ] , in: La NouvelleRevueFrançaise.Maii934(Jg.22),869:»[. . . , ] toutcela[ , .]« - 27,28 Haus<«] Kafka, Briefe. 1902-1924, New York, Frankfurt a.M. 1958,333 (Juni 1921, an Robert Klopstock)-27,37mußten] s. Nachweis zu 22,25 - 28,3 machen«] Die Bibel, 2 Mose 20. 4. - 28,4 überleben«] Kafka, Der Prozeß, a . a .O . , 401 (X) - 28,6 Gefühls«] s. Nachweis zu 18,10 - 28,16 werden. «] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. О., 217E (»Er«) - 28,25 Glauben.*] а. а. О., 234 (»Betrachtungen [ . . . ] « , Aph. 48)-28,35ist .«] Kafka, in: Hyperion. 1909 (Jg. 2, H e f t i ) — 28,36 aus] s. Kafka, Betrachtung, 2 (»Kinder auf der Landstraße«) - 29,4 nicht.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a . a . O . , 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 29,11 Finger*] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 190f. (VI)-29,13 gefragt ] Kafka, Das Schloß, a . a . O . , 479 - 29,17 rechtfer-tigt. « ] Johann Jakob Bachofen, Urreligion und antike Symbole. Syste-matisch angeordnete Auswahl aus seinen Werken in drei Bänden, hg. von Carl Albrecht Bernoulli, Bd. 1, Leipzig 1926, 386 (»Versuch über die Gräbersymbolik der Alten«) - 29,31 Intensität. « ] Willy Haas, Gestalten derZeit , a . a . O . , ig6f. -29,32Religion*] a .a .О., 195-29,39 Gedächt-nisses.*] а.а.О. - 30,16geschieden.«] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, а. а. O., 76f. (1,2)-30,29war."] Kafka, EinHungerkiinsder, a. a. O-, 47 (»Ein Hungerkünstler«) - 30,30 Bau*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 77-130 (»Der Bau«) - 30,30 Riesenmaulwurf*] a. a. O . , 131-153 (»Der Riesenmaulwurf«)-30,37geworden«:.] a . a . O . , 47 (»Der Jäger Gracchus«) — 30,38 Gracchus.*] a . a . O . — 31,5 Tier*] s. a. a. O . , 121 f. (»Der Bau«); dazu s. Nachwort, 261, Anm. 17 - 31,18 ste-hen.*] Kafka, Ein Landarzt, 96 f. (»Die Sorge des Hausvaters«) - 31,20 auf«] а. а. O., 99 - 31,28 beschäftigen*] Kafka, Der Prozeß, а. а. O., 222 (VII) - 31,34 Erlösung*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 56 (»Eine Kreuzung«) - 31,39-32,1 Gerichtsherren] s. Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , etwa208, 288-32 ,1 Hotel] s. Kafka, Amerika, a . a . O . , 193-196

(V) —32,2 Galeriebesuchern] s. Kafka, Der Prozeß, а. а. O., 65 (II)-32,8 muß] s. Kafka, In der Strafkolonie, Leipzig 1919, 28f. -32 ,13 Soldat.«] Kafka, Tagebücher. 1910-1923, a . a . O . , 76 (3. 10. 191t) - 32,18 Rabbi] dazu s. Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt am Main 1980,154 (Nr. 57) und 156 (Anm. 2)-уг,23.1асЬеп.*] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L[ud-wig] A[chim] v. Arnim und Clemens Brentano, Bd. 3, Heidelberg 1808 (= Neudruck der Heidelberger Originalausgabe, hg. von Oskar Weitz-mann, Meersburg 1928), 297 (»Das buckliche Männlein«, Kinderlieder, 29. Stück, v. 25-28) - 32,24 Blättern. « ] Kafka, Ein Landarzt, a. a. O . , 100 (»Die Sorge des Hausvaters«) —32,27mit!*] Des Knaben Wunderhorn, а. а. O, (v. 29-34} - 3

a

,2

9 Ahnungswissen«] [Hans Joachim Schoeps und Max Brod,] Nachwort, in: Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a . O . , 255-y>,,2ĄAntwort] Die Geschichte war als jüdischer Witz geläufig; s. in jüdischen Witzbüchern um 1900. Benjamin könnte sie von Ernst Bloch gehört haben, vielleicht auch dieser von jenem; beide haben ihre Version veröffentlicht, Bloch eine >metaphysizierte< (s. Ges. Sehr., Bd. 4, 1082 »Nachweise«), Benjamin eine mit der des Essays fast gleichlautende un-ter dem TitelDer "Wunsch (s. a. a. 0,,y^t)f.).-^,jbhinrekht.<«] Kafka, Ein Landarzt, a . a . O . , 88f. (»Das nächste Dorf«) - 34,10 werden!**] Kafka, Betrachtung, а. а. О., 15 f. (»Kinder auf der Landstraße«) - 34,14 schließen«r] Kafka, Das Schloß, а. а. О., 270—34,20bin.<*] Kafka, Ame-rika, а. а. O., 350 (VII) - 34,24 vorkommt.*] Kafka, Beim Bau der Chi-nesischen Mauer, а. а. О , 248 (»Betrachtungen [ , . , ] « , Aph. 108)—34,28 werden.'«] а. а. O., 50 (»Der Jäger Gracchus«)-35,5gekommen!*] Kaf-ka, Amerika, a . a .О , 345 (VII) - 35,15 wäre.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a . a .O . , 216 (»Er«) - 35,22f, unverständlich.'«] Kafka, Das Schloß, а. а. O., 342 — 35,27Nichts<«] s. Nachweis zu35,15 — 35,38senkte.*] Kafka, Amerika, а. а. O., 344 (VII) -36,23 Pferdekopf.«] s. Nachweis zu 17,2 - 36,34 auf.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a.a. 0 . , 6 з (»DerKübelreiter«)-36,35Eisgebirge*] a . a . 0 . , 6 5 -36,37 Todes*] а. а. О., 50 (»Der Jäger Gracchus«) —37,5 zurücktreibt «] Plutarch, De Is. et Os. , zit. in: Johann Jakob Bachofen, Urreligion und antike Symbole, a .a . p . , Bd. 1, а. а. O., 253-37,12 Kafka, Ein Landarzt, a.a.O., 4!. (»Der neue Advokat«) - 37,20 hat] s. Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, a . a . O . , 13ff. (»Mythos und Gerechtigkeit. Der neue Advokat« ; völlig veränderte Fas-sung gegenüber der von Benjamin zitierten)—37,34 Fahrt«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. а. О., 233 (»Betrachtungen [ . . . ] « , Aph. 45) — 38,11 Ende.«] a. a . O . , 38 (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«)

Ti.

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39~4^ Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer

Die etwa Juni 1931 niedergeschriebene Anzeige des Kafkaseben Nachlaß-bandes hielt Benjamin als Rundfunkvortrag am 3.7.1931. Die Erstveröf-fentlichung des Textes erfolgte in: Walter Benjamin, Über Literatur, Frankfurt am Main 19Ć9, S. 186-193. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, hg. von Rolf Tiedetnann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt am Main 1977, S. 676-^83 Zitatnachweise: 39,1 Mauer] s. Franz Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps, Berlin 1931 - 40,2 kommt."] a. a. O. , 22 f. (»Beim Bau der Chinesischen Mauer«) ; s. auch Eine kaiser-liche Botschaft, in: Kafka, Ein Landarz t. Kleine Erzählungen, München, Leipzigi9ï9,90-94 - 40,15-1 "/Allenfalls bis gibt. ] s.u., die Aufzeichnung Ms 213, 5. Stück, S. 121 - 40,21-35 Ein bis Bildwelt.] s.o., den Passus 32,14-35 - 40,33 wollen] s.o.,Nachweis zu 26,4 -41 ,6 stemmen] s. Kaf-ka, Der Prozeß. Roman, Berlin 1925, 67 (II) und u., die Aufzeichnung Ms 213, vorletztes Stück, S. 1 2 2 - p r o p h e t i s c h e s ] s.u., die Aufzeich-nung »Tagebuch« Mai—Juni 1931, S. 130; im folgenden wird auf die dar-aus in den Vortrag übernommenen Passagen nicht mehr im einzelnen verwiesen. Sie finden sich dort verzeichnet; s.S. I3if . - 42,15 endlos,«-[ Max Brod, Nachwort, in: Kafka, Das Schloß. Roman, München 192Ć, 503 - 42,19 Erzählungen] s.u., die Aufzeichnung Ms 213, 6. Stück, S. 121 - 42,24 t, und bis gewesen] s.o., den Passus 14,28-31 - 42,30 Büchern] s.u., die Aufzeichnung Ms 213,13. Stück, S. 122 - 43,3 arbeiten] s. Brod, Nachwort а. а. O., 493 - 43,8 habe] s.o., Nachweis zu 24,13 - 43,8-26 Ich bisverbinden.] s.o., den Passus 24,13-30 -43,21 Körper] s.o., Nach-weis zu 24,25 - 43,29-34 Solchen bis ist.] s.o., den Passus 19,35-20,1 -43Î37 »Verwandlung*] s.o., Nachweis zu 14,18 - 44,21 -wirken.*] Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930,176 - 44,25-29 Eine bis denken. ] s.u., die Aufzeichnung Ms 213,1. Stück, S. 120 - 45,3 enträtselt] s. o., Nachweis zu 29,31 -45,6Hausvaters«] s.o., Nachweis zu 14,20-45,66, »Sorge biswt.J s.o., den Passus31,29-35 -45,11 Erlösung] s.o., Nachweis zu 31,34 - 45,12-21 Will bis hat -] s.o., den Passus 32,14-35 - 45,15 nie-sen] Des Knaben Wunderhorn, s.o., Nachweis zu32,22 (v. 1-4); »Zwie-beln« und »nießen« statt Blümlein und niesen - 45,19-38 Es bis Ende. « ] s.o., den Passus 37,29-38,11 - 45,38 Ende.*] s.o., Nachweis zu 38,11

47-48 Kavaliersmoral

Die - wohl 1929 entstandene - Polemik gegen Ehm Wel k, der Max Brod wegen Nichtbeachtung gewisser Kafka'scher Testamentsvorscbnften an-gegriffen hatte, erschien erstmals in: Die literarische Welt, 25. 10, 1929 (Jg- 5> Nr . 43), S. 1. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1972, S. 466-468 Zitatnachweise: 47,11 »Prozeß«] s. Franz Kafka, Der Prozeß, Roman, Berlin 1925 (Nachwort) - 47,11 »Schloß*] ders., Das Schloß. Roman, München 1926 (Nachwort)

49-52 Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Prag 1937

Die auf Bitte Gershom Scholems etwa Anfang Juni 1938 verfaßte Kritik des Brodschen Buches, einer-dubiosen - Biographie von Kafka (Scholem wollte sie dem Verleger Salman Schocken zugänglich machen, um von diesem für Benjamin den Auftrag zu einem Kafka-Buch zu erwirken, den Schocken aber nicht erteilte) wurde erstmals veröffentlicht in: Walter Benjamin, Briefe, hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Band 2, Frankfurt am Main 19Ć6, S. 756-7Й0 (Nr. 299,12. 6,1938). Ein gleichzeitiges Angebot Benjamins an Ferdinand Lion zur Veröffentlichung der Kritik in der Zeitschrift »Maß und Wert« war ohne Erfolg geblieben. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band III, hg. von Hella Tiedemann-Barteis, Frankfurt am Main 1972, S. 526-529 Zitatnachweise: 49,1 Prag 1937] vollständiger Titel: Max Brod, Franz Kafka. Eine Biographie. Erinnerungen und Dokumente, Prag 1937 -51,14 Werner Kraft] Werner Krafts Arbeiten über Kafka, die seit den dreißiger Jahren in Zeitschriften und Zeitungen erschienen, wurden zu-sammengefaßt in: Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Ge-heimnis, Frankfurt am Main 1968 - 52,3 »7,¿¡überreich der Liebe*] s .Max Brod, Zauberreich der Liebe. Roman, Berlin 1928

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Briefzeugnisse

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Aus der Korrespondenz mit Gershom Scholem

i. Benjamin an Scholem. Berlin, 21. 7, 1925 fi. Briefe, 3971)

Einige nachgelassne Sachen von Kafka ließ ich mir zur Rezension geben. Seine kurze Geschichte »Vor dem Gesetz« [in: Ein Land-arzt. Kleine Erzählungen, München, Leipzig 1919] gilt mir heute wie vor zehn [sie] Jahren für eine der besten, die es im Deutschen gibt.

2. Benjamin an Scholem. [Berlin,] November 1927 (s. Freundschaft, 1812)

Als Krankenengel habe ich an meinem Lager Kafka. Ich lese den »Prozeß«.

3. Benjamin an Scholem. Berlin, 20. 6. 1931 (s. Briefe, 535)

Zur Zeit versuche ich mich an einer Anzeige des Kafkaschen Nachlaßbandes die ungemein schwierig ist. Ich habe fast sein ganzes Werk letzthin - teils zum zweiten, teils zum ersten Male -gelesen. Da beneide ich Dich um Deine jerusalemitischen Zaube-rer; das wäre ein Punkt über den sie zu befragen mir lohnend

X Briefzeugnisse, die durch die Sigle Briefe nachgewiesen werden, finden sich in: Walter Benjamin, Briefe i (und ±)t hg. und mit Anmerkungen versehen von Gers-hom Scholem und Theodor W. Adorno, Prankfurt am Main 1978

2 Briefzeugnisse, die durch die Sigle Freundschaft nachgewiesen werden, finden sich in: Gershom Schòlem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975

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scheint. Vielleicht winkst Du mir mit einer Andeutung herüber. Auch wirst Du Dir ja schon gelegentlich Separatgedanken über Kafka gemacht haben.

4. Scholem an Benjamin. [Jerusalem,] 1. 8. 1931 (s. Freundschaft, 212f.)

Ich nehme an, du wirst den ersten Band deiner gesammelten kri-tischen Betrachtungen [er kam nicht zustande] dem Andenken von Gundolf widmen. Jedenfalls aber solltest du deine Anzeige über Kafka, welche du vorhast, so abfassen daß sie in dem Buch Platz findet, denn es ist eigentlich moralisch undenkbar, daß du ein Buch kritischen Inhalts herausgibst, das Kafka nicht in seinen Umkreis schließt. Da du von mir eine »Andeutung« zur Sache verlangst, kann ich nur sagen, daß ich den Nachlaßband noch nicht besitze, und nur zwei Stücke von höchster Vollkommen-heit daraus kenne. Aber »Separatgedanken« über Kafka habe ich mir selbstverständlich auch schon gemacht, die aber freilich nicht Kafkas Stellung in dem Kontinuum des deutschen (in dem er kei-nerlei Stellung hat, worüber er selbst sich übrigens nicht im min-desten zweifelhaft war; er war wie du wohl weißt Zionist), son-dern des jüdischen Schrifttums betreffen. Ich würde auch dir ra-ten, jede Untersuchung über Kafka vom Buche Hiob aus zu be-ginnen oder zum mindesten von einer Erörterung über die Mög-lichkeit des Gottesurteils, welches ich als den einzigen Gegen-stand der Kafkaschen Produktion ansehe, in einer Dichtung zu behandeln[!]. Dies nämlich sind meiner Meinung nach auch die Punkte, von denen aus die Sprachwelt Kafkas beschrieben wer-den kann, die ja wohl in ihrer Affinität an die Sprache des jüng-sten Gerichtes das Prosaische in seiner kanonischsten Form dar-stellt. Die Gedanken, die ich vor vielen Jahren in meinen Thesen über Gerechtigkeit die du kennst ausgesprochen habe, würden sich in ihrer Beziehung zur Sprache mir als der Leitfaden meiner Betrachtungen über Kafka ergeben. Wie du als Kritiker es anstel-len wolltest, ohne die Lehre, bei Kafka Gesetz genannt, ins Zen-trum zu stellen, etwas über die Welt dieses Mannes zu sagen, wäre mir ein Rätsel. So muß ja wohl, wenn sie möglich war e (das freilich ist die Hypothesis der Vermessenheit.1!), die moralische

Reflexion eines Halachisten aussehen, der die sprachliche Pa-raphrase eines Gottesurteils versuchen wollte. Hier ist einmal die Welt zur Sprache gebracht, in der Erlösung nicht vorwegge-nommen werden kann - geh hin und mache das den Gojim klar! Ich glaube, an diesem Punkt wird deine Kritik ebenso esoterisch werden wie ihr Gegenstand: so gnadenlos wie hier brannte noch nie das Licht der Offenbarung. Das ist das theologische Geheim-nis der vollkommenen Prosa. Jener überwältigende Satz, daß es sich beim jüngsten Gericht eher um ein Standrecht handle, stammt ja, wenn ich nicht irre, von Kafka selbst.

5. Benjamin an Scholem. o.D. [3. 10. 1931] (s. Briefe, 539)

Es geht mir ein, was Du von Kafka schreibst. Eng mit Deinen korrespondierende Gedanken sind mir in den Wochen, in denen ich der Sache nähertrat, ebenfalls gekommen. Eine provisorische Zusammenfassung habe ich ihnen in einer kurzen Notiz zu geben gesucht, dann aber die Sache, weil ihr meine Kräfte im Augen-blick nicht entsprechen, beiseite gelegt [möglicherweise handelt es sich um die Aufzeichnung Ms 212; s.u., S. 116f.]. Inzwischen bin ich mir klar darüber geworden, daß ich den entscheidenden Anstoß vermutlich von dem ersten und schlechten Buch über Kafka, das ein gewisser Johannes [Joachim] Schoeps aus dem Kreise Brods vorbereiten soll [es ist nicht erschienen], erhalten werde. Ein Buch würde mir gewiß meine Klarstellungen erleich-tern; je schlechter es ist, desto besser. Überrascht hat mich in ei-nigen Gesprächen, die in besagte Wochen fallen, Brechts überaus positive Stellung zu Kafkas Werk. Er schien den Nachlaßband sogar zu verschlingen, während Einzelnes aus ihm mir bis heute Widerstand geleistet hat, so groß war mir die physische Qual beim Lesen.

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6. Benjamin an Scholem. Berlin, [28. 2.1933] (s. Briefe, 563 f f . )

Ohne die Arbeit von Schoeps zu kennen, glaube ich doch den Horizont deiner Betrachtungen etwa absehen zu können und kann aus tiefster Uberzeugung bestätigen, daß nichts notwendi-ger ist, als den gräßlichen Schrittmachern protestantischer Theo-logumena innerhalb des Judentums den Garaus zu machen. Aber das heißt noch wenig verglichen mit den Bestimmungen der Of-fenbarung, die da bei dir gegeben und bei mir in hohen Ehren werden gehalten werden. »Ist doch das Absolut-Konkrete das Unvollziehbare schlechthin« - diese Worte sagen (von der theo-logischen Perspektive abgesehen) über Kafka natürlich mehr aus als dieser Schoeps bis an das Ende seiner Tage zu verstehen im Stande sein wird. Genau so wenig kann das Max Brod verstehen und ich habe hier einen der Sätze gefunden, die am frühesten und tiefsten in deinen Überlegungen angelegt gewesen sein mögen, [ " " i Also mein Kafkaaufsatz [seil, der Essay von 1934] ist noch unge-schrieben und zwar aus zwei Gründen. Erstens lag - und liegt -mir durchaus daran, ehe ich an diese Arbeit gehe, den angekün-digten Versuch von Schoeps zu lesen. Ich verspreche mir von ihm eine Kodifikation aller Irrmeinungen, die aus der eigentlich pra-ger Interpretation von Kafka zu entnehmen sind, und du weißt, daß solche Bücher von jeher inspirierend auf mich gewirkt ha-ben. Aber auch aus dem zweiten Grunde ist das Erscheinen die-ses Buches mir nicht unwichtig. Denn es versteht sich von selbst, daß ich die Arbeit an einem solchen Essay nur auf Grund eines Auftrages würde unternehmen können. Und woher sollte der aus heiterem Himmel kommen. Es sei denn, du verschaffst mir einen palästinensischen. In Deutschland wird sich so etwas noch am ehesten in der Gestalt einer Rezension von Schoeps vorbrin-gen lassen. Nur weiß ich nicht, ob [mit] dem Erscheinen des Bu-ches zu rechnen ist.

7. Scholeman Benjamin. Jerusalem, [ca. 20. 3.1933] (s. Briefwechsel, 46

г

)

In Punkto К afka möchte ich bemerken, daß Du nach meinem Dafürhalten nicht damit rechnen kannst das von Dir erwartete Buch des Herrn Schoeps zu erleben. Der junge Mann [. . . ] ist vielzusehr damit beschäftigt, auf allen Wegen den Anschluß an den deutschen Faschismus zu gewinnen und zwar sans phrase als daß er wohl in absehbarer Zeit zu einer andern Beschäftigung Zeit finden könnte. Zur Zeit liegt ein unvorstellbares Buch vor [seil. »Streit um Israel«], dessen Lektüre nicht uneben ist, ein Briefwechsel zwischen besagtem Schoepsen und dem altbekann-ten [Hans] Blüher, in dem jener sich als preußischer Konservati-ver jüdischen Glaubens gegen die Ideologie des gebildeteren An-tijudaismus zu behaupten sucht; es ist ein verächtliches Schau-spiel [ . . . ] . Dies Schauspiel hätte man sich, offen gestanden, von dem Nachlaßherausgeber Kafkas nicht versehen, auch wenn es ein Bursche von 23 Jahren ist, den der Tote sich keineswegs aus-gesucht hat.

8. Benjamin an Scholem. San Antonio, Ibiza, 19. 4. 1933 (s. Briefwechsel, 57J

Uberaus wertvoll war mir [ . . . ] deine Mitteilung über Schoeps und Blüher. Nun erwarte ich dessen Buch über Kafka unter die-sen Umständen mit verdoppelter Ungeduld. Denn was sähe dem F.ngel, der den vernichteten Teil von Kafkas Werken betreut, ähnlicher, als ihren Schlüssel unter einem Misthaufen zu verstek-ken? Ob man sich ähnliche Aufklärungen von dem neuesten Es-say über Kafka [» A propos de Kafka«] versprechen darf, weiß ich nicht. Er steht im Aprilheft der Nouvelle Revue Française und stammt von Bernhard Groethuysen.

1 Briefzeugnisse, die durch die Sigle Briefwechsel nachgewiesen werden, finden sich in: Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt am Main 1980

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£). Benjamin an Scholem. Paris, 18.1.1934 (s. Briefe, $97f)

Du weißt, mit welchem außerordentlichen Anteil ich alles lese, was mir von [Samuel Joseph] Agnon zugänglich ist. [ . . . ] Schö-neres habe ich nicht [ . . . ] gefunden als »die große Synagoge«, die ich als ein gewaltiges Musterstück ansehe. [ . . . ] Musterhaft ist Agnon in jedem Stück und wenn ich »ein Lehrer in Israel« ge-worden wäre - aber ebenso leicht hätte ich wohl ein Ameisen-löwe werden können - so hätte ich mir eine Rede über Agnon und Kafka nicht nehmen lassen. [ . . . ] Kafkas Name veranlaßt mich, Dir zu schreiben, daß ich hier ei-nen Umgang mit Werner Kraft aufgenommen habe. [. . .] Ich war überrascht, von ihm einige Arbeiten zu lesen, denen ich we-der Zustimmung noch Respekt versagen kann. Zwei von ihnen sind Kommentar-Versuche zu kurzen Kafkaschen Stücken, zu-rückhaltende und keineswegs einsichtslose [dazu s.o., S. 18 und 37]. Kein Zweifel, daß er sehr viel mehr als Max Brod von der Sa-che verstanden hat.

10. Scholem an Benjamin. [Jerusalem,J19. 4. 1934 (i. Briefwechsel, 134)

Ich beeile mich Dir [ . . . ] Mitteilung von verschiedenen Schritten zu machen, die ich unternommen habe. Erstens habe ich Dr. Robert Weltsch, den mir gesinnungsmäßig einigermaßen nahestehenden Chefredakteur der [Berliner] »Jü-dischen Rundschau«, der in den letzten Wochen in Jerusalem war, intensiv auf Dich hingewiesen [ . . . ] . Die einzige konkrete Anregung, die ich ihm für Dich geben konnte, war: von Dir und niemand anderem einen Artikel zum zehnten Todestag von Franz Kafka zu fordern [ . . . ] , Er (W.) versicherte mir, er würde Dir nach seiner Rückkehr nach Berlin schreiben. [ . . . ] Er sagte, er würde Dich drucken, wenn er nicht direkt ein Verbot vorge-legt bekäme, woran er aber, Deines esoterischen Stils halber, nicht glaubt, solange Du nicht etwa ausdrücklich als Mitarbeiter an politischen Emigrantenzeitschriften und Zeitungen abge-stempelt bist. [ . . . ] Viel größer ist, im Ernstfall, die Schwierig-

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keit des Themas, da die »Rundschau« [von der Zensur] an jüdi-sche Themen gebunden ist. Ich möchte glauben, daß Dir ein wirklich schönes Essay über Kafka dort sehr nützen könnte. Du wirst dabei aber einer auch expliziten und formulierten Bezie-hung aufs Judentum Dich nicht gut entziehen können.

и. Benjamin an Scholem. Paris, 6. 5. 1934 (s. Briefwechsel, 140f.)

Du zwingst mich, es auszusprechen, daß [. . . ] Alternativen, die offenkundig deiner Besorgnis zu Grunde hegen [Alternativen zwischen metaphysischem Denken und kommunistischer Poli-tik; dazu s. die Briefe 48, 49,50, Briefwechsel, S. 133-142, in ih-rem Zusammenhang, insbes. auch Anm. 7, S. 137], für mich nicht einen Schatten von Lebenskraft besitzen. Diese Alternati-ven mögen im Schwange gehen - ich leugne nicht das Recht einer Partei, sie kund[zu]geben - es kann mich aber nichts bewegen, sie anzuerkennen. Wenn vielmehr etwas die Bedeutung kennzeichnet die das Werk von Brecht - auf das du anspielst, zu dem du aber, soviel ich weiß, dich zu mir nie geäußert hast - für mich besitzt, so ist es eben dies: daß es nicht eine jener Alternativen aufstellt, die mich nicht kümmern. Und wenn die nicht geringere Bedeutung des Werkes von Kafka für mich feststeht, so ist es nicht zum wenig-sten, weil nicht eine der Positionen, die der Kommunismus mit Recht bekämpft, von ihm eingenommen wird. [ . . . ] Und hier liegt nun der U bergang zu j enen Anregungen dei-nes Briefes nahe, für die ich dir vielen Dank sage. Wie viel mir an einem Auftrag, Kafka zu behandeln, gelegen wäre, brauche ich nicht zu sagen. Müßte ich seine Position im Judentum explizit behandeln, so wären mir dafür Fingerzeige von anderer Seite freilich unentbehrlich. Ich kann meine Unwissenheit da nicht zu Improvisationen ermutigen.

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12. Benjamin an Scholem. Paris, 15.5.1934 (s. Briefwechsel, 143)

[H]eute in Eile nur wenige Zeilen. Und zwar, um Dir zu sagen, daß die erwartete Aufforderung von Weltsch gekommen ist. Ich habe ihm meine große Bereitwilligkeit erklärt, die Arbeit über Kafka zu übernehmen. Aber ich schrieb ihm [s.u., N r . 12.a], daß ich es für loyal und zweckmäßig halte, ihm zu sagen, daß meine Interpretation Kafkas von derjenigen Brods abweicht. Ich tat das, weil ich es für richtig hielt, in diesem Punkt Klarheit zu schaffen, um zu vermeiden daß eine Arbeit, an die ich in jedem Falle meine ganze Kraft zu wenden habe, etwa aus Gründen, die in meiner Sache liegen, abgewiesen wird. [ . . . ] deine besonderen, aus den jüdischen Einsichten hervorge- í henden Anschauungen über Kafka [wären] mir bei diesem Un- 1 ternchmen von größter Bedeutung - um nicht zu sagen nahezu unentbehrlich. Kannst du mir von ihnen einen Begriff geben?

12.a Benjamin an Weltsch• Paris, 9. 5. 3934 (s. Briefe, 607f.)

Für Ihre Aufforderung bin ich Ihnen sehr dankbar, insbesondere aber verpflichtet für die Anregung, mich über Kafka zu äußern. Ich kann mir ein erwünschteres Thema nicht vorstellen; aller-dings verkenne ich auch nicht die besonderen Schwierigkeiten, die in diesem Falle zu berücksichtigen sind. Ich halte es für loyal und zweckmäßig, auf diese kurz hinzuweisen. Die erste und gewichtigste ist sachlicher Natur. Als Max Brod vor Jahren von Ehm Welk wegen Nichtbeachtung gewisser Kaf-ka'scher Testamentsvorschriften angegriffen wurde, habe ich Max Brod in der »Literarischen Welt« verteidigt [s.o., »Kava-liersmoral«, S. 47Í.]. Das hindert mich aber nicht, zu der Frage der Interpretation Kafkas ganz anders zu stehen als Max Brod. Insbesondere vermag ich methodisch mir in keiner Weise die gradlinige theologische Auslegung Kafkas (die, wie ich wohl weiß, nahe genug liegt) mir zueigen zu machen. Gewiß denke ich nicht im entferntesten daran, den von Ihnen vorgeschlagenen Ar-tikel mit polemischen Ausfuhrungen zu belasten. Auf der ande-

ren Seite aber glaube ich, Sie darauf hinweisen zu müssen, daß mein Versuch, mich Kafka zu nähern - ein Versuch, der nicht von heute und gestern ist - mich Wege geführt hat, die von seiner gewissermaßen »offiziellen« Reception verschieden sind. [ - • - ]

Mitglied der Reichsschrifttumskammer bin ich nicht. Ebenso-wenig bin ich aus den betreffenden Listen gestrichen worden: Ich bin nämlich überhaupt niemals Mitglied irgendeiner Schriftstel-lervereinigung gewesen.

13. Scholem an Benjamin. Jerusalem,] 20. 6. 1934 (s. Briefwechsel, 146)

Daß Du die Arbeit über Kafka übernommen hast, freut mich sehr, aber mich selbst zur Sache zu äußern, sehe ich in diesen Wochen keine Möglichkeit. Du wirst Deine Linie ja zweifellos am besten ohne die mystischen Vorurteile, welche allein ich aus-zustreuen imstande bin, verfolgen, und kannst noch dazu auf große Resonanz bei dem Publikum der »Rundschau« rechnen.

14. Benjamin an Scholem. [Skovhostrandper Svendborg,] 9. 7. 1934 (s. Briefwechsel, 151)

[ich scheue mich nicht], dir die Bitte, Einiges über deine Refle-xionen zu Kafka mir mitzuteilen, trotz deiner letzten Abweisung zu wiederholen. Sie ist um so fundierter, als meine eignen Uber-legungen zu diesem Gegenstande dir ja nun vorliegen [seil. in Ge-stalt der ersten Fassung des Essays]. Wenn sie in ihren Hauptzü-gen auch dargelegt sind, so haben sie, seit meiner Ankunft in Dä-nemark, mich weiter beschäftigt und wenn ich mich nicht irre wird die Arbeit an ihnen noch für eine Weile aktuell bleiben. Mit-telbar ist diese Arbeit durch dich veranlaßt; ich sehe keinen Ge-genstand, in dem unsere Kommunikation näher liegend wäre. Und mir scheint, daß du meine Bitte nicht abschlagen kannst.

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15. Scholem an Benjamin. [Jerusalem, сл. 10.-12. 7.1934] ('s. Briefwechsel, 154

1

j

[ . . . ] mir sehr problematisch, problematisch in jenen letzten Punkten, die hier mit entscheidend sind. Zu 98%, möchte ich sa-gen, leuchtet sie ein, aber das Sigel fehlt, und Du hast es gespürt, denn Du hast mit der Interpretation der Scham (und da hast Du ins Schwärzeste des Schwarzen getroffen) und des Gesetzes (da bist Du ins Gedränge geraten!) jene Ebene verlassen. Die Exi-stenz des geheimen Gesetzes macht Deine Interpretation kaputt: es dürfte in einer vormythischen Welt chimärischer Vermischung nicht dasein, ganz zu schweigen von der so besonderen Art, in der es seine Existenz noch gar ankündigt. Da bist Du mit der Ausschaltung der Theologie viel zu weit gegangen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aber das müßte noch erörtert werden. Heute nur dies in Eile und um Dir meinen innigen Dank zu sagen. Und eine Frage: von wem stammen nun eigentlich diese vielen Erzählungen: hat Ernst Bloch sie von Dir oder Du von ihm? Der auch bei Bloch [s. Briefwechsel, S. 156, Anm. 2] erscheinende große Rabbi mit dem tiefen Diktum über das messi anische Reich bin ich selber; so kommt man noch zu Ehren ! ! Es war eine meiner ersten Ideen über die Kabbala.

15. a Beilage zum Brieffragment 15 (s. Briefwechsel, 1 5 4 f f . )

Mit einem Exemplar von Kafkas »Prozeß«

Sind wir ganz von dir geschieden? Ist uns, Gott, in solcher Nacht nicht ein Hauch von deinem Frieden, deiner Botschaft zugedacht?

1 Dazu s. Anm. l, S. 156: »Es ist besonders bedauerlich, daß gerade das erste Blatt [ . . . ] dieses Briefes verlorengegangen oder bisher im Benjamin-Archiv der Ostber-liner Akademie der Künste noch nicht wieder aufgefunden ist. [ . . . ] er [enthielt] die Bestätigung [des Erhalts] des Manuskripts über Kafka sowie meine erste Stellung-nahme dazu.«

Kann dein Wort denn so verklungen in der Leere Zions sein -oder gar nicht eingedrungen in dies Zauberreich aus Schein?

Schier vollendet bis zum Dache ist der große Weltbetrug. Gib denn, Gott, daß der erwache, den dein Nichts durchschlug.

So allein strahlt Offenbarung in die Zeit, die dich verwarf. Nur dein Nichts ist die Erfahrung, die sie von dir haben darf.

So allein tritt ins Gedächtnis Lehre, die den Schein durchbricht: das gewisseste Vermächtnis vom verborgenen Gericht,

Haargenau auf Hiobs Waage ward gemessen unser Stand, trostlos wie am jüngsten Tage sind wir durch und durch erkannt.

In unendlichen Instanzen reflektiert sich, was wir sind. Niemand kennt den Weg im ganzen, jedes Stück schon macht uns blind.

Keinem kann Erlösung frommen, dieser Stern steht viel zu hoch, wärst du auch dort angekommen, stündet du selbst im Weg dir noch.

Preisgegeben an Gewalten, die Beschwörung nicht mehr zwingt, kann kein Leben sich entfalten, das nicht in sich selbst versinkt.

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Aus dem Zentrum der Vernichtung bricht zu Zeiten wohl ein Strahl, aber keiner weist die Richtung, die uns das Gesetz befahl.

Seit dies trauervolle Wissen unantastbar vor uns steht, ist ein Schleier jäh zerrissen, Gott, vor deiner Majestät.

Dein Prozeß begann auf Erden; endet er vor deinem Thron? Du kannst nicht verteidigt werden, hier gilt keine Illusion.

Wer ist hier der Angeklagte? Du oder die Kreatur? Wenn dich einer drum befragte, du versänkst in Schweigen nur.

Kann solch Frage sich erheben? Ist die Anwort unbestimmt? Ach, wir müssen dennoch leben, bis uns dein Gericht vernimmt.

16. Scholem an Benjamin. {Jerusalem,] 17. 7. 1934 (s. Briefwechsel, 157/J

Als ich aus Tel Aviv zurückkehrte, fand ich Deinen Brief, der sich mit dem meinen in Sachen Kafka gekreuzt hat. Du wirst in-zwischen schon gesehen haben, daß Dein Vorschlag, bevor er mir noch zu Ohren kam, von mir aufgegriffen war, und ich kann heute die Linie, die ich in jenen ersten Bemerkungen hielt, nur bekräftigen. Die Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, frei-lich in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird. Deiner Leugnung dieses Aspektes - wenn ich es wirklich als eine Leugnung ansehen soll und es nicht nur ein Mißverständ-nis ist, welches durch Deine Polemik gegen Schoepsen und Bro-

der hervorgerufen wird - kann ich mich keineswegs anschließen. Die Unvollziehbarkeit des Geoffenbarten ist der Punkt, an dem aufs Allergenaueste eine richtig verstandene Theologie (wie ich sie mir, in meine Kabbala versunken, denke und Du ihren Aus-druck ja gerade in jenem offenen Brief gegen Schoeps fs. Brief-wechsel, S. 27, Anm. 2], den Du kennst, einigermaßen verant-wortlich gegeben finden kannst) und das was den Schlüssel zu Kafkas Welt gibt, ineinanderfallen. Nicht, lieber Walter, ihre Abwesenheit in einer präanimistischen Welt, ihre Unvollzieh-barkeit ist ihr Problem. Hierüber werden wir uns zu verständi-gen haben. Nicht so sehr Schüler, denen die Schrift abbanden ge-kommen ist — obwohl auch das schon keine sehr Bachofensche Welt ist, in der das passieren kann! - als Schüler, die sie nicht ent-rätseln können, sind jene Studenten, von denen Du am Ende sprichst [s.o., S. 37]. Und daß eine Welt, in der die Dinge so un-heimlich konkret und jeder Schritt so unvollziehbar wird, einen verworfenen Anblick und keineswegs einen idyllischen bieten wird (was Du unverständlicherweise für einen Einwand gegen die »theologische« Deutung zu halten scheinst, da Du erstaunt fragst, seit wann ein Gericht der höhern »Ordnung« je so sich präsentiert habe wie das auf den Dachböden tagende), das freilich scheint mir überaus zwingend. Andererseits hast Du natürlich in sehr weitem Maß recht in Deiner Analyse der Gestalten, die in solcher Weise sich allein behaupten können; ich bin durchaus nicht bereit, das zu bestreiten, es ist etwas von der »hetärischen« Schicht darin und Du hast das ganz unglaublich meisterhaft her-ausgeholt. Einiges habe ich nicht verstanden - was Du von К raft zitierst, schon gar nicht, Aber ich hoffe vielleicht auf einzelnes in dem Essay, wenn Du mir das Manuskript läßt, noch einzugehen, speziell auch was das »Jüdische« hier angeht, das Du mit Haas in Ecken suchst, wo es doch in dem Hauptpunkt so sichtbar und ohne Umschweife sich erhebt, daß man Dein Schweigen darüber als rätselhaft empfindet: in der Terminologie des Gesetzes, die Du so hartnäckig nur von ihrer profansten Seite aus zu betrachten Dich versteifst. Und dazu war kein Haas nötig! Die moralische Welt der Halacha und deren Abgründe und Dialektik lagen Dir dort doch unmittelbar vor Augen [seil, in Kafkas »Prozeß«], Ich schließe heute, weil dies abgehen soll.

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i7. Benjamin an Scholem. SkovbostrandperSvendborg, 20. 7. 1934 (s. Briefwechsel, 159ff)

[G]estem каш nun die lange erwartete Bestätigung meines »Kaf-ka« von dir. Sie war mir vor allem durch das sie begleitende Ge-dicht höchst wertvoll. Seit Jahren habe ich die Grenzen, die uns zurZeit durch die aufs Schriftliche beschränkte Kommunikation auferlegt sind, nicht mit so großem Ungenügen empfunden wie hier. Ich bin sichcr, daß du dieses Ungenügen verstehst und nicht annimmst, ich könnte dir unter Verzicht auf die mannichfachen Experimente der Formulierung, die nur das Gespräch ermög-licht, etwas Entscheidendes über das Gedicht sagen. Verhältnis-mäßig einfach liegt nur die Frage nach der »theologischen Inter-pretation«. Ich erkenne nicht nur an diesem Gedicht die theolo-gische Möglichkeit als solche unumwunden an sondern behaup-te, daß auch meine Arbeit ihre breite - freilich beschattete - theo-logische Seite hat. Gewandt habe ich mich gegen den unerträgli-chen Gestus des theologischen professional, der - wie du nicht bestreiten wirst - die bisherige Kafka-Interpretation auf der gan-zen Linie beherrscht und uns seine süffisantesten Manifestatio-nen noch zugedacht hat. Um meine Stellung zu deinem Gedicht - das sprachlich dem von mir so hoch gestellten auf den Angelus Novus [s. Briefe, S. 269] nichts nachgibt - wenigstens noch etwas eingehender anzudeu-ten, will ich dir nur die Strophen nennen, die ich mir ohne Vor-behalt zu eigen mache. Das sind 7 bis 13. Vorher einige. Die letzte wirft das Problem auf, wie man im Sinne Kafkas die Projektion des jüngsten Gerichts in den Weltlauf sich zu denken habe. Macht diese Projektion aus dem Richter den Angeklagten? aus dem Verfahren die Strafe? Ist es der Hebung oder dem Verschar-ren des Gesetzes gewidmet? Auf diese Fragen hat Kafka, so meine ich, keine Antwort gehabt. Die Form aber, in der sie sich ihm stellten und die ich durch meine Ausführungen über die Rolle des Szenischen und Gestischen in seinen Büchern zu be-stimmen suchte, enthält Hinweise auf einen Weltzustand, in dem diese Fragen keine Stelle mehr haben, weil ihre Antworten, weit entfernt, Bescheid auf sie zu geben, sie wegheben. Die Struktur dieser, die Frage weghebenden Antwort ist es, die Kafka gesucht und manchmal wie im Fluge oder im Traum erhascht hat. Jeden-

falls kann man nicht sagen, er hat sie gefunden. Und darum scheint mir die Einsicht in seine Produktion unter anderem an die schlichte Erkenntnis gebunden, daß er gescheitert ist. »Niemand kennt den Weg im Ganzen / jedes Stück schon macht uns blind.« Wenn du aber schreibst: »Nur dein Nichts ist die Erfahrung, die sie von dir haben darf«, so darf ich meinen Interpretationsver-such gerade an dieser Stelle mit den Worten anschließen : ich habe versucht zu zeigen, wie Kafka auf der Kehrseite dieses »Nichts«, in seinem Futter, wenn ich so sagen darf, die Erlösung zu ertasten gesucht hat. Dazu gehört, daß jede Art von Uberwindung dieses Nichts wie die theologischen Ausleger um Brod sie verstehen, ihm ein Gräuel [sie] gewesen wäre. Ich glaube, dir geschrieben zu haben, daß diese Arbeit noch eine Weile mir aktuell zu bleiben verspricht [ . . D a s in deinen Händen befindliche [Manuskript] ist schon jetzt an wichtigen Stellen überholt [ . . . ] [D]ie Herkunft der Geschichte aus dem »Kafka« [s.o., Nachweis zu S. 10,7] bleibt mein Geheimnis, das zu lüften dir nur bei per-sönlicher Anwesenheit gelingen würde, wo ich dir dann aller-dings noch eine ganze Anzahl gleich schöner versprechen könn-te.

18. Benjamin an Scholem. o.D. [и. 8. 1934] (s. Briefwechsel, 166ff. ; dazu s.u., die Aufzeichnungen

Ms 249 und 252, S. i54f.)

[D] en Augenblick, da ich die - nun wohl endgültig letzte - Hand an den »Kafka« [seil, der zweiten Fassung; Benjamin setzte die Revisionsarbeit noch auf längere Zeit fort] lege, benutze ich, um explizit auf einige deiner Einwendungen zurückzukommen, auch Fragen, deinen Standort betreffend, anzuschließen. Ich sage »explizit« - denn implizit geschieht dies in einigen Hin-sichten durch die neue Fassung. Ihre Veränderungen sind erheb-lich [dazu s. das Lesartenverzeichnis in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1266-1271]. [ . . . ] Nun die paar Hauptpunkte: 1) Das Verhältnis meiner Arbeit zu deinem Gedicht möchte ich versuchsweise so fassen: du gehst vom »Nichts der Offenba-

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rung« aus (vgl. unten 7), von der heilsgeschichtlichen Perspek-tive des anberaumten Prozeßverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen Hoffnung, sowie den Kreaturen denen einerseits diese Hoffnung gilt, in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus. 2) Wenn ich als stärkste Reaktion Kafkas die Scham bezeichne, so widerspricht das meiner sonstigen Interpretation in keiner Wei-se. Vielmehr ist die Vorwelt - Kafkas geheime Gegenwart - der geschichtsphilosophische Index, der diese Reaktion aus dem Be-reich der Privatverfassung heraushebt. Das Werk der Thora nämlich ist - wenn wir uns an Kafkas Darstellung halten - ver-eitelt worden. 3) Hiermit hängt die Frage der Schrift zusammen. Ob sie den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das gleiche hinaus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist sondern I.ebcn. Leben wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird. In dem Versuch der Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich den Sinn der »Umkehr«, auf welche zahlreiche Gleichnisse Kafkas -von denen ich »das nächste Dorf« und den »Kübelrciter« heraus-gegriffen habe, hindrängen, Sancho Pansas Dasein ist muster-haft, weil es eigentlich im Nachlesen des eignen wenn auch närri-schen und donquichotesken besteht. 4) Daß die Schüler - »denen die Schrift abhanden gekommen ist« - nicht der hetärischen Welt angehören, ist von mir anfangs be-tont worden, indem ich sie gleich den Gehilfen zu denjenigen Kreaturen stellte, für die, nach Kafkas Wort, »unendlich viel Hoffnung« vorhanden ist. 5) Daß ich den Aspekt der Offenbarung für Kafkas Werk nicht leugne geht schon daraus hervor, daß ich - indem ich sie für »ent-stellt« erkläre - den messianischen für sie anerkenne. Kafkas messianische Kategorie ist die »Umkehr« oder das »Studium«. Richtig vermutest du, daß ich der theologischen Interpretation an sich nicht den Weg verlegen will - praktiziere ich sie doch selbst - sondern nur der frechen und leichtfertigen aus Prag. Die auf das Benehmen der Richter gestützte Argumentation habe ich als unhaltbar zurückgezogen (sogar noch ehe deine Vorstellun-gen eintrafen) [dazu s. Briefwechsel, 168, Anm. 1]. 6) Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz halte ich für den toten

Punkt seines Werkes, womit ich nur sagen will, daß es gerade von ihm aus interpretativ mir nicht zu bewegen scheint. Mit diesem Begriff will ich mich in der Tat explizit nicht einlassen. 7) Ich bitte dich um Erläuterung deiner Umschreibung, Kafka stelle »die Welt der Offenbarung in jener Perspektive dar, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird«, Soviel für heute.

ig. Scholem an Benjamin. [Jerusalem,] 14. 8. 1934 (s. Briefwechsel, 168f.)

Ich möchte fast vermuten, daß [Robert Weltsch] abwarten will, ob er nicht Deinen Essay als Beitrag nach dem Erscheinen der neuen Kafka-Ausgabe des Schocken Verlages bringen kann [diese begann 1935 zu erscheinen, worauf im redaktionellen Vorwort zum Benjaminschen Text - s. Jüdische Rundschau, 21. 12.1934 (Jg. 39, N r . 102/103), S. 8-hingewiesen wurde]. Ob er es ungekürzt bringen kann, scheint auch mir sehr unsicher. Je-denfalls habe ich ihm dazu geraten. Freilich müßtest Du dann wohl an einigen Stellen Dich deutlicher explizieren, ich glaube, im zweiten Kapitel besonders, aber auch z .T. im dritten, ist der Vortrag so summarisch, daß er m.E. zu Mißverständnis oder Unverständnis fast herausfordert, Das erste Kapitel ist, dem Vortrag nach, unbedingt das beste und geradezu durchschla-gend, später ist z.T. zu viel Zitat, z.T. auch zu wenig Interpreta-tion. Uberragend ist das Stück über das Naturtheater [s.o., S. 17-23]. Völlig unverständlich dagegen für alle, die Deine Pro-duktion auch in ihren verborgeneren Teilen nicht kennen, die Andeutungen über das Gestische. Das mußt Du mir glauben, so viel Abbreviatur ist aufreizend. Zu erwägen wäre, den Essay zu etwa doppeltem Umfang auszu-arbeiten. Die Auseinandersetzungen mit andern Auffassungen und die Zitate noch etwas deutlicher zu gestalten, und das Ganze etwa als besondere kleine Schrift dem Verlag Schocken anzubie-ten. Freilich dürfte da ein Kapitel über die halachische und tal-mudische Reflexion wie sie in dem »Thürhüter vor dem Gesetz« so zwingend hervortritt, nicht fehlen. Die Berufungen auf Kraft sind übrigens leider ganz unverständlich, und nicht förderlich,

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sie wären cs vielleicht, wenn Du näher auf sie eingehen wür-dest. Übrigens berichten alle, die Kafka persönlich gekannt haben, daß in der Tat sein Vater eine Figur war wie die im »Urteil«. Er soll ein besonders grausiger und auf seiner Familie unsagbar la-stender Mensch gewesen sein. Vielleicht interessiert dich das.

20. Benjamin an Scholem. [Skovbostrand per Svendborg,] 15. 9. 1934 (s. Briefwechsel, ryif.)

Wenn ich dir [ . , . ] mitteile, daß Weltsch geglaubt hat, mir für den fragmentarischen - und um die Hälfte zu kürzenden - Ab-druck des Kafka ein Honorar von 60 Mk aussetzen zu sollen, so wirst du verstehen, daß die eingehende Beschäftigung mit Ge-genständen der reinen Literatur für mich in Gestalt der Kafka-Arbeit zunächst ihren Abschluß gefunden haben dürfte. Damit soll nicht gesagt sein, daß ihn der Kafka selber gefunden hat. Vielmehr gedenke ich ihn weiter aus einer Reihe von Be-trachtungen zu speisen, die ich inzwischen fortgesponnen habe -und in denen mir eine bemerkenswerte Formulierung in deinem [Offenen] Brief an Schoeps weiteres Licht zu geben verspricht. Sie heißt: »nichts . . . ist, auf historische Zeit bezogen, mehr einer Konkretisation bedürftig a l s . . . d i e . . . >absolute Konkretheit* des Offenbarungswortes. Ist doch das absolut Konkrete das Un-vollziehbare schlechthin.« Damit ist gewiß eine Kafka unbedingt betreffende Wahrheit ausgesprochen, gerade damit auch wohl eine Perspektive eröffnet, in der der geschichtliche Aspekt seines Scheiterns am ersten sinnfällig wird. Bis aber diese und anschlie-ßende Überlegungen eine Gestalt finden, die sie definitiv tnitteil-bar macht, wird wohl noch einige Zeit hingehen. Und dir wird das um so verständlicher sein, als die wiederholte Lektüre meiner Arbeit wir auch meine brieflichen Glossen zu ihr, dir greifbar gemacht haben werden, daß gerade dieser Gegenstand alle Eig-nung hat, sich als Kreuzweg der Wege meines Denkens heraus-zustellen. Bei seiner gründlicheren Markierung werde ich übri-gens auf den Aufsatz von [Chajim Nachmanj Bialik [»Hagadah und Halacha« in: Der Jude, IV (1919), S. 61-77] bestimmt nicht verzichten können. [. . . ]

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Um noch einen Augenblick bei äußeren Fragen zu verweilen [ . . . ] so habe ich nichts anderes tun können als Weltsch - selbst auf dieser Honorarbasis ! - den Abdruck zuzugestehen. Ich habe ihn aber, in der höflichsten Form, gebeten, seinen Honorarent-scheid zu revidieren.

21. Scholem an Benjamin. Jerusalem, ] 20. 9. 1934 (s. Briefwechsel, 174f)

Inzwischen habe ich [ . . . ] das umgearbeitete Manuskript Deines »Kafka« [bekommen] [ . . . ] Ich selbst habe seit Monaten nichts von Weltsch gehört, und weiß nicht, wie die Angelegenheit Dei-ner Arbeit nun steht. [ . . . ] (Man sagt mir [ . . . ] , daß die J ü d i -sche] R[undschau] sich in politisch außerordentlich heikler Lage gegenüber dem Regime befindet und unter den größten Schwie-rigkeiten manövriert, aber ich weiß nicht, ob das der Grund für Weltschs Schreibunlust ist.) Die Umarbeitung hat mich sehr be-schäftigt, ich wünschte in der Tat, sie läge nun der öffentlichen Diskussion vor [der Teilabdruck erfolgte erst im Dezemberi934; s.o., S. 53 (Nachweise)]. Ich habe in diesen Wochen den Aufsatz von Rang junior über Kafka [s.o., S. 56, Nachweis zu 25,30] ge-lesen, den Kraft mir geliehen hat, und fand mich bei der Lektüre derart entrüstet und empört, daß ich es gar nicht schildern kann. Solcher Art der Interpretation, die für mich genau so viel Inter-esse hat wie eine jesuitische Untersuchung darüber hätte wie Laotse sich zur Welt des Dogmas der Kirche verhält, und sol-chem stumpfen Geschwätz gegenüber ist freilich schon die Ehre der Erwähnung des Guten zu viel. Ich hatte bei der Lektüre ein Gefühl des Neides auf die verachtete Zeit des verständlichen Feuilletons, das jetzt durch so hochtrabende Nichtigkeiten abge-löst ist. Deine Interpretation wird zum Eckstein einer vernünfti-gen Diskussion werden, wenn solche überhaupt möglich ist. Ich f i n i mich in vielem wirklich davon erhellt und belehrt, in der Unmöglichkeit freilich, mit ihr den jüdischen Zentralnerv dieses Werkes so wesentlich abschwächen zu können, mich bestärkt. Du kommst nicht ohne flagrante Gewaltsamkeiten durch, Du mußt andauernd gegen Kafkas Zeugnisse interpretieren, nicht nur in der Sache des Gesetzes, worüber ich Dir schon schrieb,

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sondern auch etwa in der der Frauen, deren Funktion Du so großartig, aber völlig einseitig und gegen die offenbarsten Zeug-nisse, aus dem Bachofenschen Aspekt allein bestimmst, während sie doch noch andere Sigel an sich tragen, mit denen Du Dich zu wenig aufhältst. Das Schloß oder die Behörde, mit der sie in so grauenhaft undefinierbarer aber doch genauer Verbindung ste-hen, ist eben nicht nur (wenn überhaupt) Deine Vorwelt-welch Rätsel hätte denn dann um jene Beziehung der Frauen zu ihr zu sein brauchen, es wäre ja alles klar, während es doch gerade das Gegenteil ist und ihr Verhältnis zu einer Behörde höchst aufre-gend, die (durch den Mund des Kaplans etwa) ja noch dazu vor ihnen warnt! - sondern etwas, worauf die »Vorwelt« erst bezo-gen werden muß. Du fragst, was ich unter dem »Nichts der Offenbarung« verstän-de? Ich verstehe darunter einen Stand, in dem sie bedeutungsleer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in dem si e gilt, aber nicht bedeutet. Wo der Reichtum der Bedeutung wegfällt und das Erscheinende, wie auf einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, dennoch nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas Erscheinendes), da tritt sein Nichts hervor. Es versteht sich, daß im Sinn der Religion dies ein Grenzfall ist, von dem sehr fraglich bleibt, ob er realiter vollziehbar ist. Deine Meinung, daß es eines sei, ob die »Schrift« den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, kann ich gar nicht tei-len, und sehe darin mit den größten Irrtum, der Dir begegnen konnte. Eben die Differenz dieser beiden Stände ist es, die ich mit meiner Äußerung vom Nichts der Offenbarung treffen will.

22. Benjamin an Scholem. Skovbostrand per Svendborg, 17. 10. 1934 (s. Briefwechsel, 177)

[M]it Kafka geht es immer weiter, und ich bin dir darum dankbar für deine neuen Bemerkungen. Ob ich den Bogen jemals so werde spannen können, daß der Pfeil abschnellt, ist natürlich da-hingestellt. Während aber meine sonstigen Arbeiten recht bald den Terminus gefunden hatten, an dem ich von ihnen schied, werde ich es mit dieser länger zu tun haben. Warum, deutet das Bild vom Bogen an: hier habe ich es mit zwei Enden zugleich zu

tun, nämlich dem politischen und dem mystischen. Das soll üb-rigens nicht heißen, daß ich mich in den letzten Wochen mit der Sache befaßt hätte. Vielmehr wird die in deinem Besitz befindli-che Fassung für eine Weile unverändert ihre Geltung behalten. Ich habe mich darauf beschränkt, zur späteren Reflexion einiges bereitzustellen. Von Weltsch habe ich weiterhin nichts gehört; ihm zu schreiben scheint mir bei der gegenwärtigen Lage seines Unternehmens nicht ersprießlich.

23. Benjamin an Scholem. San Remo, 26. 12. 1934 (s. Briefwechsel, 184)

In diesen Tagen ist, wie Du gewiß gesehen hast, der erste Teil des »Kafka« [seil. »Potemkin«] erschienen und was lange gewährt hat, ist nun leidlich geworden. Mir wird diese Publikation ein Anstoß sein, demnächst das Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen zu öffnen, das ich mir - ein in meiner Praxis durchaus neuer Fall - zu dieser Arbeit angelegt habe [s.u., »Dos-sier . . . « , S. 156-165].

24. Benjamin an Scholem. Paris, 14. 4. 1938 (s. Briefwechsel, 261 f.)

Wirklich hat [der Verleger Heinrich] Mercy auf meine Bitte Brods Kafka-Biographie [Prag 1937] und dazu den Band ge-schickt, der mit der »Beschreibung eines Kampfes« beginnt [seil. Band 5 der Gesammelten Schriften, Prag 1936]. [ . . . ] Ich komme [ . . . ] auf Kafka an dieser Stelle, weil besagte Biogra-phie in ihrer Verwebung Kafkaschen Nichtwissens mit Brod'schen Weisheiten einen Distrikt der Geisterwelt zu eröff-nen scheint, wo weiße Magie und fauler Zauber aufs erbaulichste ineinander spielen. Ich habe übrigens noch nicht sehr viel darin lesen können, mir aber alsbald die Kafkasche Formulierung des kategorischen Imperativs »handle so, daß die Engel zu tun be-kommen« [der Satz stammt von Kierkegaard] daraus zugeeignet.

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25 • Scholem an Benjamin. New York, 6. 5.1938 (s. Briefwechsel, 264)

Ich möchte Dich an unser Gespräch über Kafka [in Paris, Fe-bruar 1938] erinnern und daran, daß Du mir einen eventuell prä-sentablen Brief gelegentlich der Brodschen Biographie schreiben wolltest. Lege das nicht zu sehr aufs Eis, es ist möglich, daß ich in Europa mit Schocken zusammenkomme und es brauchen kann. Wenn Du kannst, schreibe drei bis vier Seiten, die eine Art Pro-gramm umschreiben und nicht zu harmlos klingen.

26. Benjamin an Scholem. Paris, 12. 6. 1938 (1. Teil; s. Briefwechsel, 266-273)

[A]uf deine Bitte schreibe ich dir ziemlich ausführlich, was ich von Brods »Kafka« halte; einige eigene Reflexionen über Kafka findest du anschließend. [Absatz! Du mußt von vornherein wis-sen, daß dieser Brief ganz allein diesem uns beiden gleich sehr am Herzen liegenden Gegenstande vorbehalten sein wird[.] [Es folgt die Brod-Kritik; s.o., S. 49-52.] Du siehst aus dem Vorstehenden, [ . . . J warum Brods Biographie mir ungeeignet scheint, mein Bild von Kafka - wäre es auch nur auf polemische Weise - in der Befassung mit ihr durchblicken zu lassen. Ob es den folgenden Notizen gelingt, dieses Bild zu skiz-zieren, lasse ich natürlich dahingestellt. Auf jeden Fall werden sie dir einen neuen, von meinen früheren Reflektionen mehr oder minder unabhängigen Aspekt darauf nahelegen. Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren weit aneinanderliegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition [i.S. von »Kabbala«] ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmcnschen anderer-seits, bestimmt sind. Wenn ich von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen rede, so begreife ich in sie verschiedenes ein. Ich spreche einerseits vom modernen Staatsbürger, der sich einer unübersehbaren Beamtenapparatur ausgeliefert weiß, deren Funktion von Instanzen gesteuert wird, die den ausführenden Organen selber, geschweige dem von ihnen behandelten unge-nau bleiben. (Es ist bekannt, daß eine Bedeutungsschicht der

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Romane, insbesondere des »Prozesses«, hierin beschlossen liegt.) Unter den modernen Großstadtmenschen spreche ich an-dererseits ebensowohl den Zeitgenossen der heutigen Physiker an. Liest man die folgende Stelle aus [A. S.] Eddingtons »Welt-bild der Physik« [Braunschweig 1931, S. 334 f.], so glaubt man Kafka zu hören. »Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriffe, mein Zimmer zu be-treten. Das ist ein kompliziertes Unternehmen. Erstens muß ich gegen die Atmosphäre ankämpfen, die mit einer Kraft von x Ki-logramm auf jedes Quadratzentimeter meines Körpers drückt. Ferner muß ich auf einem Brett zu landen versuchen, das mit ei-ner Geschwindigkeit von 30 Kilometer in der Sekunde um die Sonne fliegt; nur den Bruchteil einer Sekunde Verspätung, und das Brett ist bereits meilenweit entfernt. Und dieses Kunststück muß fertiggcbracht werden, während ich an einem kugelförmi-gen Planeten hänge, mit dem Kopf nach außen in den Raum hin-ein, und ein Ätherwind von Gott weiß welcher Geschwindigkeit durch alle Poren meines Körpers bläst. Auch hat das Brett keine feste Substanz. Darauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm tre-ten. Werde ich nicht hindurchfallen? Nein, denn wenn ich es wage und darauf trete, so trifft mich eine der Fliegen und gibt mir einen Stoß nach oben; ich falle wieder und werde von einer ande-ren Fliege nach oben geworfen, und so geht es fort. Ich darf also hoffen, das Gesamtresultat werde sein, daß ich dauernd ungefähr auf gleicher Höhe bleibe. Sollte ich aber unglücklicherweise trotzdem durch den Fußboden hindurchfallen oder so heftig em-porgestoßen werden, daß ich bis zur Decke fliege, so würde die-ser Unfall keine Verletzung der Naturgesetze sondern nur ein außerordentlich unwahrscheinliches Zusammentreffen von Zu-fällen sein . . . W ahrlich, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe denn daß ein Physiker eine Türschwelle über-schreite. Handle es sich um ein Scheunentor oder einen Kirch-turm, vielleicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hindurch, an-statt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich gelöst haben, die mit einem wissenschaftlich einwandfreien Eintritt verbunden sind.« Ich kenne in der Literatur keine Stelle, die im gleichen Grade den Kafkaschcn Gestus aufweist. Man könnte ohne Mühe fast jede

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Stelle dieser physikalischen Aporie mit Sätzen aus Kafkas Prosa-stücken begleiten, und es spricht nicht wenig dafür, daß dabei viele von den »unverständlichsten« unterkämen. Sagt man also, wie ich das eben getan habe, daß die entsprechenden Erfahrun-gen Kafkas in einer gewaltigen Spannung zu seinen mystischen standen, so sagt man nur eine halbe Wahrheit, Es ist das eigent-lich und im präzisen Sinne Tolle an Kafka, daß diese aller] iingste Erfahrungswelt ihm gerade durch die mystische Tradition zuge-tragen wurde. Das ist natürlich nicht ohne verheerende Vorgänge (auf die ich sogleich komme), innerhalb dieser Tradition möglich gewesen. Das Kurze und Lange von der Sache ist, daß offenbar an nichts Geringeres als an die Kräfte dieser Tradition appelliert werden mußte, sollte ein Einzelner (der Franz Kafka hieß) mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, die sich als die unsrige theoretisch z.B. in der modernen Physik, praktisch in der Kriegstechnik projiziert. Ich will sagen, daß diese Wirklichkeit für den Einzelnen kaum m ehr erfahrbar, und daß Kafkas vielfach so heitere und von Engeln durchwirkte Welt das genaue Kom-plement seiner Epoche ist, die sich anschickt, die Bewohner die-ses Planeten in erheblichen Massen abzuschaffen. Die Erfah-rung, die der des Privatmanns Kafka entspricht, dürfte von gro-ßen Massen wohl erst gelegentlich dieser ihrer Abschaffung zu erwarten sein. Kafka lebt in einer komplementären Welt. (Darin ist er genau mit Klee verwandt, dessen Werk in der Malerei ebenso wesenhaft vereinzelt dasteht wie das von Kafka in der Literatur.) Kafka ge-wahrte das Komplement, ohne das zu gewahren, was ihn umgab. Sagt man, er gewahrte das Kommende, ohne das zu gewahren, was heute ist, so gewahrt er es doch wesentlich als der Einzelne von ihm betroffene. Seinen Gebärden des Schreckens kommt der herrliche Spielraum zu gute, den die Katastrophe nicht kennen wird. Seiner Erfahrung lag aber die Überlieferung, an die sich Kafka hingab, allein zugrunde; keinerlei Weitblick, auch keine »Sehergabe«. Kafka lauschte der Tradition, und wer angestrengt lauscht, der sieht nicht. Angestrengt ist dieses Lauschen vor allem darum, weil nur Un-deutlichstes zum Lauscher dringt. Da ist keine Lehre, die man lernen, und kein Wissen, das man bewahren könnte. Was im Fluge erhascht sein will, das sind Dinge, die für kein Ohr be-

stimmt sind. Dies beinhaltet einen Tatbestand, welcher Kafkas Werk nach der negativen Seite streng kennzeichnet. (Seine nega-tive Charakteristik wird wohl durchweg chancenreicher sein als die positive.) Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Tradition dar. Man hat die Weisheit gelegentlich als die epische Seite der Wahrheit definieren wollen [Selbstzitat Benjamins; s. Ges. Sehr., Bd. 2, S. 442 (Der Erzähler, IV)]. Damit ist die Weisheit als ein Traditionsgut gekennzeichnet; sie ist die Wahrheit in ihrer haga-dischen Konsistenz. Diese Konsistenz der Wahrheit ist es, die verloren gegangen ist. Kafka war weit entfernt, der erste zu sein, der sich dieser Tatsa-che gegenüber sah. Viele hatten sich mit ihr eingerichtet, festhal-tend an der Wahrheit oder an dem, was sie jeweils dafür gehalten haben; schweren oder auch leichteren Herzens verzichtleistend auf ihre Tradierbarkeit. Das eigentlich Geniale an Kafka war, daß er etwas ganz neues ausprobiert hat; er gab die Wahrheit preis, um an der Tradierbarkeit, an dem hagadischen Element festzu-halten. Kafkas Dichtungen sind von Hause aus Gleichnisse. Aber das ist ihr Elend und ihre Schönheit, daß sie mehr als Gleichnisse werden mußten. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie. Darum ist bei Kafka von Weisheit nicht mehr die Rede. Es blei-ben nur ihre Zerfallsprodukte. Deren sind zwei: einmal das Ge-rücht von den wahren Dingen (eine Art von theologischer Flü-sterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht); das andere Produkt dieser Diathese ist die Torheit, welche zwar den Gehalt, der der Weisheit zueigen ist, restlos vertan hat, aber da-für das Gefällige und Gelassene wahrt, das dem Gerücht aller-wegs abgeht. Die Torheit ist das Wesen der Kafkaschen Lieblin-ge; vom Don Quijote über die Gehilfen bis zu den Tieren. (Tier-sein hieß ihm wohl nur, aus einer Art von Scham auf die Men-schengestalt und -Weisheit verzichtet haben. So wie ein vorneh-mer Herr, der in eine niedere Kneipe gerät, aus Scham darauf verzichtet, sein Glas auszuwischen.) Soviel stand ohne Frage für Kafka fest: erstens, daß einer, um zu helfen, ein Tor sein muß; zweitens; eines Toren Hilfe allein ist wirklich eine. Unsicher ist nur: verfängt sie am Menschen noch? Sie hilft vielleicht eher den

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Engeln (vergi, die Stelle VII, S, 209 [seil, der Brodschen Kafka-biographie] über die Engel, die etwas zu tun bekommen) für die es auch anders ginge. So ist denn, wie Kafka sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns. Dieser Sat7. enthält wirklich Kafkas Hoffnung. Er ist die Quelle seiner strahlenden Heiterkeit. Ich überliefere dir dieses auf gefährliche Weise perspektivisch verkürzte Bild umso ruhiger, als du es durch die Ansichten ver-deutlichen magst, die von andern Aspekten her meine Kafka-arbeit in der »Jüdischen Rundschau« entwickelt hat. Was mich heute gegen diese am meisten einnimmt, ist der apologetische Grundzug, welcher ihr innewohnte. Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und in ihrer eigentümlichen Schönheit gerecht zu wer-den, darf man das Eine nie aus dem Auge lassen: es ist die von ei-nem Gescheiterten. Die Umstände dieses Schciterns sind man-nigfache. Man möchte sagen: war er des endlichen Mißlingens erst einmal sicher, so gelang ihm unterwegs alles wie im Traum. Nichts denkwürdiger als die Inbrunst, mit der Kafka sein Schei-tern unterstrichen hat. Seine Freundschaft mit Brod ist für mich vor allem ein Fragezeichen, das er an den Rand seiner Tage hat malen wollen. Damit wäre für heute der Kreis geschlossen, und ich setze die herzlichsten Grüße an Dich in seinen Mittelpunkt.

26.a Benjamin an Scholem. Paris, 12. 6. 1938 (2. Teil; s. Briefwechsel, 274.)

[U]m das beiliegende Schreiben [seil, den 1. Teil des Briefes; s.o., N r . 26] präsentabel zu machen, hielt ich es für geraten, es von Persönlichem zu entlasten. [Absatz] Das schließt nicht aus, daß es, als Dank für deine Anregung, zunächst dir persönlichst zuge-dacht ist. Im übrigen kann ich nicht beurteilen, ob du es für zweckmäßig hältst, es tel quel Schocken zu lesen zu geben. Im-merhin glaube ich, mich darin so tief mit dem Komplex Kafka eingelassen zü haben, als es mir im Augenblick überhaupt mög-lich ist.

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27. Benjamin an Scholem. Skovbostrandper Svendborg, 30. 9. 193S (s. Briefwechsel, 280)

[I]ch finde es erstaunlich, daß du von dir nichts vernehmen läßt. [ . . . ] Mein ungemein ausführlicher Brief über Brod und Kafka, mit dem ich unter Zurückstellung anderer Arbeiten deiner dring-lichen Bitte entgegenkam, ließ und läßt mich noch eine andere Antwort erwarten als eine kurze, noch so hoch ihn anerkennende Anmerkung.

28. Scholem an Benjamin. Jemsalem, 6.18. 11. 1938 (s. Briefwechsel, 281-286)

Du hast völlig Recht, wenn Du [ . . . ] wütend bist, daß Du nichts von mir gehört hast. [ . . . ] Da ich Schocken nicht, wie ich gehofft hatte, in der Schweiz (und damit in Ruhe) sprechen konnte - die Weltgeschichte trat un-vermittelt dazwischen - habe ich Deinen Brief über Brod und Kafka bisher seiner diplomatischen Bestimmung noch nicht zu-geführt. Aber sonst brauchst Du nicht über die Aufnahme bei mir Klage zu führen. Mir scheint, daß der Weg der Betrachtung, den Du eingeschlagen hast, überaus wertvoll und aussichtsreich ist. Was Du dabei unter dem von Dir virtuell in den Mittelpunkt Deiner neuen Betrachtungen gestellten fundamentalen Scheitern Kafkas verstehst, möchte ich gern verstehen. Du scheinst doch etwas Unerwartetes und Verblüffendes unter diesem Scheitern zu verstehen, da doch die einfache Wahrheit [ist], daß das Schei-tern der Gegenstand von Bemühungen war, die doch, wenn er-folgreich, natürlich scheitern. Nicht das kannst Du doch gemeint haben. Hat er das, was er sagen wollte, ausgedrückt? Doch ge-wiß. Die Antinomie des Haggadischen, die Du erwähnst, ist keine der Kafkaschen Haggada allein eigene, sie gründet eher in der Natur des Haggadischen selber. Stellt dies Werk wirklich eine »Erkrankung der Tradition« in Deinem Sinn dar? Solche Erkrankung, würde ich sagen, liegt in der Natur der mystischen Tradition selbst angelegt: daß Tradierbarkeit der Tradition allein noch als ihr Lebendiges erhalten bleibt, ist im Verfall der Tradi-tion, in ihren Wellenbergen [gemeint: Wellentälern], nur natür-

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lich. Ich glaube, Dir Ähnliches in Verbindung mit Kafka-Dis-kussionen schon einmal geschrieben zu haben. Ich muß vor ich weiß nicht wie viel Jahren über solche Fragen der bloßen Tra-dierbar&eite« im Zusammenhang meiner Studien Aufzeichnun-gen gemacht haben, die ich gern wieder vorsuchen möchte: im Problemzusammenhang der Frage nach dem »Wesen« des Ge-rechten scheint sie mir aufzutreten, des »Heiligen«typus der ver-fallenden jüdischen Mystik, - Daß Weisheit ein Traditionsgut sei, ist natürlich völlig wahr: sie hat ja die wesentliche IJnkon-struierbarkeit aller Traditionsgüter. Es ist ja die Weisheit, die, wo sie reflektiert, nicht erkennt, sondern kommentiert. Wenn es Dir gelingen würde, den Grcnzfall von Weisheit, den Kafka nun in der Tat darstellt, als die Krise der bloßen Tradierbarkeit der Wahrheit darzustellen, so hättest Du etwas höchst Großartiges vollbracht. Dieser Kommentator hat zwar heilige Schriften, aber sie sind ihm verloren gegangen. Fragt sich also: was kann er kommentieren? Ich nehme an, daß Du imstande wärst, diese Fragen unter den von Dir dargelegten Perspektiven zu beantwor-ten. Warum aber »Scheitern« - wo er doch wirklich kommentiert hat, und sei es das Nichts der Wahrheit oder was immer sich da herausstellen würde. Soweit von Kafka - als dessen treuen Schü-ler ich zu meinem Erstaunen Deinen Freund Brecht entdeckte, im Schlußkapitel des »Dreigroschenromans«, den ich in der Schweiz gelesen habe. Uber Brod: Da kommt Dir beinahe der Kranz für polemische Leistung zu. Das ist so schön und richtig, daß ich nichts zufügen kann. Ich habe Dir ja auch nichts anderes in Aussicht gestellt, nur trifft Deine gewählte Spracht in diesem Fall die Schweinerei so viel besser ins Herz.

29. Benjamin an Scholem. Paris, 4.. 2. 1939 fi. Briefwechsel, 293 f.)

Von [Lew] Schestow ist der Weg zu Kafka für den, der sich ent-schlossen hätte, vom Wesentlichen abzusehen, nicht weit. Als dieses Wesentliche erscheint mir bei Kafka mehr und mehr der Humor. Er war natürlich kein Humorist. Er war vielmehr ein Mann, dessen Los war, überall auf Leute zu stoßen, die aus dem

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Humor eine Profession machten: auf Klowns. Besonders »Ame-rika« ist eine große Klownerie. Und was die Freundschaft mit Brod betrifft, so habe ich das Gefühl, der Wahrheit auf der Spur zu sein, wenn ich sage: Kafka als Laurel fühlte die lästige Ver-pflichtung, sich seinen Hardy zu suchen - und der war Brod. Wie dem nun immer sei - ich denke mir, dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komi-schen Seiten abgewönne. Hat es so einen Mann gegeben? oder wärst du Manns genug, dieser Mann zu sein? [. . .] Was meint dein den Schluß des Dreigroschen romans betreffen-der Hinweis auf Kafka?

30. Benjamin an Scholem. Pańs, 20. 2. 1939 (s. Briefwechsel, 295)

Entre temps habe ich mich wieder einmal der Reflexion über Kafka zugewandt. Ich blätterte auch in altern Papieren und fragte mich, warum du denn meine Kritik des Brodschen Buches Schocken bisher nicht hast zukommen lassen. Oder ist das in-zwischen vor sich gegangen?

31. Scholem an Benjamin. Jerusalem, 2 . 3 . 1939 (s. Briefwechsel, 2 9 7 f f . )

Dein Kafka-Brief: ich war keineswegs faul, habe vielmehr alles getan, um innerhalb gebotener taktischer Rücksichten die Rede auf die Angelegenheit zu bringen. Ohne Erfolg - der Mann [seil. Schocken] hat nämlich, wie sich herausstellt, zu meinem Ärger den Brod selber nicht gelesen, von vornherein nicht, und zeigte sich an der Nachricht von dessen Abschlachtung betont uninter-essiert [dazu s. auch Scholem, Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, a.a.O., S. 270]. [ . . . ] Hast Du was dagegen, daß ich den Brief mal Kraft vorlese? [ . . . ] Wir (meine Frau und ich) finden, daß der Schluß des Dreigro-schenromans [seil. »Das Pfund der Armen. Traum des Soldaten Fewkoombey«] eine materialistische Imitation von dem Kapitel »Im Dom« im Prozess ist. Ist das nicht sehr naheliegend?

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32. Benjamin an Scholem. Paris, 14. 3. 1939 fi. Briefwechsel, 299ff.)

[W]ährend noch mancherlei Gedankenfracht aus meinem letzten Brief ungelöscht bei dir vor Anker liegt, läuft dieser neue Kahn an, der weit über die Ladelinie hinaus mit viel schwererem Gut befrachtet ist - meinem schweren Herzen.

Kannst du irgend etwas bei Schocken bewirken, so darf damit nicht gezögert werden. Die Belege, die du brauchst, um den Kaf-ka-Plan zur Sprache zu bringen, sind ja in deiner Hand. Ich müßte natürlich auch jeden andern Auftrag entgegennehmen, den er im Bereich meiner Arbeitsmöglichkeiten etwa zu vergeben hätte. Zeit zu verlieren ist nicht. [ . . .] PS: Gerade hatte ich meine Unterschrift hierhergesetzt, als dein Brief vom 2. März kam. In dem minimalen Inventar meiner Chancen hatte ich die Schockensche noch für eine der beträchtli-cheren angesehen.

Aus der Korrespondenz mit Werner Kraft

I. Benjamin an Kraft. Svendborg, \Ende Juli 1934?] (s. Briefe, 613f.)

Es wird Sie nicht überraschen zu hören, daß ich - unbeschadet einer anderen Hauptbeschäftigung - noch immer mit Kafka be-faßt bin. Den äußeren Anlaß dazu bietet die Korrespondenz mit Scholem,. der begonnen hat, sich mit mir über diese Arbeit aus-einanderzusetzen. Diese Überlegungen sind allerdings noch zu sehr im Fluß, um ein abschließendes Urteil zu ermöglichen. Im-merhin wird es Sie interessieren, daß er seine Ansicht der Sache in einer Art von theologischem Lehrgedicht niedergelegt hat [s.o., S. 72ff.], das ich Ihnen bestimmt mitteilen werde, falls wir uns in Paris wiedersehen. Auf eine - wie Sie sich denken können - sehr unterschiedene Weise habe ich über den gleichen Gegenstand mich mit Brecht beraten können [s.u., »Gespräche mit Brecht«, S. 149-154], und auch von diesen Besprechungen weist mein Text Niederschläge auf.

2. Benjamin an Kraft. Svendborg, 27. 9. 1934 (s. Briefe, 623)

Sehr dankbar wäre ich Ihnen für Bemerkungen zu meinem Kafka [seil, dem Essay] wie auch für sonstige sprachliche Glossen an meine Adresse, welche Sie mir in Aussicht stellten.

3. Kraft an Benjamin. Jerusalem, 16. 9. 1934 (s. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 2,

S. 1167-1170)

[I]ch habe jetzt Ihren Kafka-Aufsatz dreimal mit Aufmerksam-keit gelesen und möchte Ihnen dazu Folgendes sagen: Mein Ge-samteindruck ist bedeutend. Dies ist sicherlich ein in sich ge-schlossener Versuch der Erklärung, der nicht widerlegt wird

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durch den Nachweis, daß Einzelnes »falsch« sei oder anders gese-hen werden müsse. Wie immer das damit bestellt sei, das Ganze gegen solche Angriffe intakt zu halten, muß Ihre vornehmste Aufgabe sein, fast möchte ich sagen, daß die leitenden Ideen n o c h klarer entwickelt werden müßten - die Sumpf-Welt, der Gestus, das Vergessen, das Bucklige -, damit der Leser sofort weiß, w a s er hier zu erwarten hat und was nicht. In diesem Sinne habe ich unabhängig von m e i n e n Einwänden gewisse Bedenken gegen die Form des Aufsatzes. [Marginalie von Ben-jamins Hand: 1) Darstellungsform] Sie ist mystisch, fast esote-risch. Gerade Brecht, in dessen Nachbarschaft Sic doch im Au-genblick nicht nur zufällig wohnen, müßte Ihnen, wenn anders Sic nicht selber nach ihr strebten, was ich keineswegs leugne, die V e r s t ä n d l i c h k e i t in einem neuen Licht zeigen. Mir we-nigstens würde es als sehr reizvoll erscheinen, den Aufsatz noch einmal als nüchternen Lehrvortrag aller jener Ideen zu schreiben, die wesentlich in ihm enthalten sind und dann auch unter Weg-lassung sämtlicher Gleichnisse wie Potemkin usw. Können und wollen Sie dies nicht, so habe ich auch dafür Verständnis und werde Ihnen nicht mein eigenes Stilideal, das ich ja keineswegs realisiere, aufzudrängen versuchen. - Darüber habe ich aller-dings keinen Zweifel, daß für Sie das Kafka*sehe Werk identisch ist mit einer gleichsam phänomenalen Oberschicht und daß Sie

nur indenSÊ sich's streng versagen, eine tiefere Sinnschicht an-zuerkennen, Ihren eigenen Standpunkt zu halten vermögen. [Marginalie von Benjamins Hand: 2) tiefere Schicht] Dies ist fol-gerichtig. Wenn ich aber Ihrem Standpunkt so weit wie nur mög-lich entgegenzukommen suche, so würde ich sagen müssen, Ihr Standpunkt sei a u с h in dem Werk enthalten, aber nur durch ei-nen künstliche[n] Abstraktionsvorgang sichtbar zu machen, wie dies z.B. in der Phänomenologie vielfach geschieht. Konkret sieht das für mich nun so aus: Alles was Sie über Gestus, Theater usw. sagen, taste ich am wenigsten an. Es wird in Ihrem Verfah-ren überzeugend deutlich. Wenn Sie aber gleich im ersten Kapitel den Zusammenhang zwischen Beamten- und Vatertum im Schmutz erhärten wollen [Marginalie von Benjamins Hand: Va-terproblem] und dafür das Beispiel des Vaters in der Verwand-lung« [lies >Das Urteil<] und seine schmutzige Uniform usw. [s.o., S. 11] heranziehen, so stimmt das eben n u r phänomenal,

nicht aber konkret, und wenn man den psychoanalytischen >Sinn< der Deutung abzieht, so zeigt z.B. [Hellmuth] Kaiser [in: Franz Kafkas Inferno; s.o., Nachweis zu 25,29] sehr überzeu-gend, wie in dem Maße des Falls des Sohnes der Schmutz des Va-ters sich in Sauberkeit verwandelt!! Uberhaupt ist das Vater-Problem dasjenige, wo selbst Sie sehen müßten, daß Ihrem Blickpunkt G r e n z e n gesetzt sind. Selbst wenn ich mich mit Ihrer Auffassung des Vaters in >UrteiI< und >Verwandlung< iden-tifizierte (am ehesten könnte ich es vielleicht mit der in »Odradek« [s.o., S. 31]), so könnte ich schwer glauben, daß S i eden Vater in »Elf Söhne« mit den sonstigen Vätern identifizieren. [Marginalie von Benjamins Hand: Elf Söhne] Dies aber weiter zu verfolgen, würde zu lang sein. Wie dem aber sei, mein Eindruck, daß die Potemkin-Geschichte irgendwie im Sinne der Beweiskraft falsch erzählt sei [s.o., S. gf.], hat sich mir bestätigt. Gerade Potemkins Autorität kommt durch die falschc Unterschrift nicht heraus. Man möchte etwa Potemkins richtige Unterschrift sehen und eine Bemerkung, Schuwalkin sei wegen seiner Frechheit zu ent-lassen, oder ähnlich. - Dann etwas anderes. Die Stelle, wo Sie ge-gen Rang usw. polemisieren [s.o., S. 25], ist l o g i s c h nicht ganz haltbar. [Marginalie von Benjamins Hand: 3) Aphorismen] Sie sagen etwa, diese Auffassung knüpfe an den Nachlaß-Band [seil. Beim Bau der Chinesischen Mauer; s.o., Nachweis zu 10,30] an und überhebe sich so der Notwendigkeit, auf die Werke selbst ein zugehen [s.o., S. 25,21-24 und 26,36-38]. Dieser Nach-laßband steht aber der Sache nach auf der gleichen Stufe der Ille-gitimität wie die sämtlichen illegitimen Romane. - Dann spre-chen Sie von den zwei Möglichkeiten, Kafkas Sinn zu verfehlen und bezeichnen sie als die >natürliche< und die »übernatürliche« [s.o., S. 25,24-27]. Diese ist klar, aber jene setzen Sie gleich mit der psychoanalytischen. [Marginalie von Benjamins Hand: 4.) *natürlich« und »übernatürlich«•] Das erscheint mir unmöglich. Ich möchte glauben, daß Sie hier dem antithetischen Reiz dieser Worte erlegen sind. (Ich füge hinzu, daß die n a t ü r l i c h e Deutung diejenige zu sein scheint, wenigstens mir, die der Wahrheit am nächsten kommt. Darin spüre ich z.B. Brechts große Chance, so sehr freilich auch bei ihm »natürlich« und »übernatürlich« verknüpft sind und durch eine vorgefaßte »Idee«, die zu eliminieren freilich keinem Sterblichen gegeben ist !) - Was

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Sie über Kafkas »Scheitern« sagen im Zusammenhang mit dem Fehlen der erstrebten >Lchre< [s.o., S. 27,36-38], so ist das der Herzpunkt des Ganzen. [Marginalie von Benjamins Hand: 5) Scheitern] Gewiß, man kann es so sehen! Fast möchte ich aber hier sagen, daß Nein und Ja identisch sind. Wer mit solchem Ein-satz geistiger Anstrengung >keine Lehre< erreicht, der hat eben, was ein Einzelner überhaupt erreichen kann: die Ahnung, daß es >Lehre< gibt und daß sie über ihn hinausgeht. - Was Sie über [Ro-bert] Walsers Roman >Dcr Gehülfe< in diesem Zusammenhang sagen [s.o., S. 14], hat mich fasciniert und mein Interesse für den merkwürdigen Mann erneuert. Ich möchte gern seinen Roman wiederlesen. Die Verbindung zwischen Waiserund Kafka bildet wohl Ludwig Hardt? - Die Bedeutung, die Sie dem >Tier< bei Kafka geben, erscheint mir problematisch. [Marginalie von Ben-jamins Hand: 6) Tierund Volk] Mir bilden seine Tiergeschichten in den meisten Fällen nur ein technisches Mittel, das Unüberseh-bare der empirisch-metaphysischen Verhältnisse darzustellen, z.B. in >Josefme< [, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse; s.o., Nachweis zu 16,15 f.] oder in den Aufzeichnungen des Hundes [s. Forschungen eines Flundes], In beiden Fällen wird >Volk< dargestellt. Im »RiesenmaulwurL [s.o., Nachweis zu 30,30] kommt das Tier gar nicht vor. Hier geht es ausschließlich um menschliche, um ethische Verhältnisse. Anders ist es im >Bau< [s.o., Nachweis zu 30,30] und in der »Verwandlung« [s.o., Nachweis zu 14,18], wo Ihre Auffassung stichhaltiger ist. Doch müßte hier vielleicht feiner definiert werden. - Noch eines! Ihre Auffassung der Frau! Sie sind für Sie die typischen Vertreter der Sumpf-Welt [s.o., S. 28 f.]. Aber jede dieser Frauen hat eine B e -z i e h u n g z u m S c h l o ß , die Sie ignorieren, und wenn z.B. Frieda K. vorwirft, er frage sie nie nach ihrer Vergangenheit, so meint sie nicht >Sumpf< [s.o., S. 29,11-17] sondern ihr (früheres) Zusammenleben mit Klamm, Dies führt wieder in den zentralen Gegensatz möglicher Erklärungsweisen. Ich will mich nicht wiederholen. - Ich möchte noch einmal sagen, wie sehr mich Ihr Aufsatz bereichert hat. Nach Lage der Dinge ist eine absolute Klärung des in sich Unklaren wohl kaum zu erwarten. Aber ein Versuch - mit einer reinlichen Methode - ist gemacht, und er muß seine Frucht zeigen, wann immer. - In dem neuen Schok-ken-Almanach sollen Tagebücher Kafkas stehen. Übrigens soll,

nach Scholem, Schoeps jetzt ausgeschifft sein. Hoffentlich kommt man nicht vom Regen in die Traufe.

4. Benjamin an Kraft. San Remo, 12. 11. 1934 (s. Briefe, 627-630)

Ihre letzten Briefe habe ich bei denjenigen Papieren aufbewahrt, die ich im Augenblick, da ich wieder an meinen Kafka gehen werde, wieder vornehme. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schrieb, daß eine eingehende neue Befassung mit dieser Arbeit eigentlich schon im Moment ihres »letzten« Abschlusses bei mir feststand. Es kamen in solcher Überzeugung mehrere Umstände zusammen. An erster Stelle die Erfahrung, daß diese Studie mich an einen carrefour meiner Ge-danken und Überlegungen gebracht hat und gerade die ihr ge-widmeten weiteren Betrachtungen für mich den Wert zu haben versprechen, den auf weglosem Gelände eine Ausrichtung im Kompaß hat. Im übrigen - falls die Meinung einer Bestätigung bedurft hätte, so wäre sie mir in den lebhaften und verschiedenar-tigen Reaktionen geworden, die diese Arbeit bei Freunden her-vorgerufen hat. Die Anschauungen, die Scholem über sie hegt, sind Ihnen bekannt; bemerkenswert war mir, wie treffsicher Sie die Opposition erraten haben, die von Brechts Seite gegen diese Studie zu erwarten war, wenn Sie auch von deren zeitweiliger Heftigkeit kaum eine Vorstellung haben. Die wichtigsten Aus-einandersetzungen über diesen Gegenstand, die der Sommer ge-bracht hat, habe ich seinerzeit schriftlich festgehalten, und Sie werden ihrem Niederschlag wohl früher oder später im Text selbst begegnen. Im übrigen haben Sie sich ja diese Einwände bis zu einem gewissen Grade zu eigen gemacht. In der Tat kann man die Form meiner Arbeit als problematisch empfinden. Aber eine andere gab es für mich in dem Falle nicht; denn ich wollte mir freie Hand lassen; ich wollte nicht abschließen. Es dürfte auch, geschichtlich gesprochen, noch nicht an der Zeit sein, abzu-schließen - am wenigsten dann, wenn man, wie Brecht, Kafka als einen prophetischen Schriftsteller ansieht. Wie Sie wissen, habe ich das Wort nicht gebraucht [dagegen s.o., S, 41], aber es läßt sich viel dafür sagen, und das wird von meiner Seite vielleicht

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noch geschehen. Je mehr freilich meine Arbeit sich dem lehrenden Vortrag nähern würde - ich glaube übrigens, daß das auch in der spätem Fassung nur in bescheidenen Grenzen der Fall sein könnte [- d]esto deut-licher werden in ihr Motive zutage treten, mit denen Sie sich wahrscheinlich weit schwerer befreunden werden als mit ihrer derzeitigen Form. Ich denke vor allem an das Motiv des Geschei-tertseins von Kafka. Dieses hängt aufs engste mit meiner ent-schlossen pragmatischen Interpretation Kafkas zusammen. (Bes-ser gesagt: es war diese Betrachtungsweise ein vorwiegend in-stinktiver Versuch, die falsche Tiefe des unkritischen Kommen-tars zu vermeiden, Beginn einer Deutung, die bei Kafka das Ge-schichtliche mit dem Ungeschichtlichen verbindet. Ersteres kommt in meiner Fassung noch zu kurz.) In der Tat glaube ich, daß jede Interpretation, die - im Gegensatz zu Kafkas eigenem, in diesem Falle unbestechlichen und lauteren, Gefühl - von der Annahme eines durch ihn realisierten mystischen Schrifttums ausginge statt von eben jenem Gefühl des Autors selbst, seiner Richtigkeit und den Gründen des notwendigen Scheiterns - den geschichtlichen Knotenpunkt des ganzen Werkes verfehlen wür-de. Erst an diesem Punkte ist eine Betrachtung möglich, die der legitimen mystischen Auslegung - die nicht als Auslegung seiner Weisheit sondern seiner Torheit zu denken ist - ihr Recht gibt. Das habe ich ihr in der Tat nicht gegeben; aber nicht, weil ich Kafka zu wenig, sondern weil ich ihm zu weit entgegengekom-men bin. Immerhin hat Scholem die Grenzen, über die schon die gegenwärtige Niederschrift sich nicht zu bewegen gewillt ist, sehr deutlich empfunden, wenn er mir zum Vorwurf macht, an Kafkas Begriff der »Gesetze« vorüberzugehen. Ich werde - in ei-nem späteren Zeitpunkt - den Versuch machen, aufzuzeigen, wieso — im Gegensatz zum Begriff der »Lehre« — der Begriff der »Gesetze« bei Kafka einen überwiegend scheinhaften Charakter hat und eigendich eine Attrappe ist. Für den Augenblick mag das genügen. Leid tut mir, daß ich Ih-nen ein Exemplar der gegenwärtigen Fassung nicht zur Verfü-gung stellen kann und dies um so mehr als ja wohl nicht die ge-ringste Aussicht besteht, die Arbeit in dieser oder sonst einer Form gedruckt zu sehen. Sie steht auch in äußerer Hinsicht somit an einem extremen Ort und ist wohl geeignet, mich hin und wie-

der zur Betrachtungsweise des »Essays« zurückzuführen, die ich im übrigen mit ihr abgeschlossen haben möchte. Dank für den Hinweis auf den Aufsatz von Margarete Susman [Das Hiob-Problem bei Franz Kafka, in: Der Morgen, Jg. 5 (1929), Heft 1]. Noch mehr Dank würde ich Ihnen schulden, wenn Sie mir Ihren Kommentar zum »Alten Blatt« [in: Ein Landarzt. Kleine Erzäh-lungen, München, Leipzig 1919] senden.

5. Benjamin an Kraft. San Remo, 9 .1 .1935 (5. Briefe, 643f.)

[Wenig berechtigt] ist die Mutmaßung Ihrer letzten Karte, Ihre brieflichen Bedenken gegen den »Kafka« könnten meine Emp-findlichkeitverletzt haben. Darf ich Sie, ohne das Entsprechende nun Ihnen gegenüber zu riskieren, versichern, daß neben ande-ren Einwendungen, die erhoben worden sind, die Ihren wie ge-fiederte Pfeile unter Granatenwagen erscheinen (womit ich kei-neswegs insinuieren will, daß sie giftig seien). Eben die Kontro-versen aber, die über diese Arbeit sich, wie über keine andere er-hoben haben, bestätigten nur, daß auf ihrem Gelände eine An-zahl der strategischen Punkte heutigen Denkens liegen und meine Mühe, es weiter zu befestigen, keine unnütze ist.

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Aus der Korrespondenz mit Theodor W. Adorno

1. Adorno an Benjamin. Oxford, 5. 12. 1934 (s. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1173)

Sehr gern, brennend gern würde ich die neuen Stücke der [Berli-ner] Kindheit und vor allem den Kafka lesen: sind wir doch alle bisher Kafka das lösende Wort schuldig geblieben, Kracauer am meisten - und wie dringend wäre nicht das Anliegen, ihn aus ei-ner existentialistischen Theologie zu lösen und für die andere zu-zurichten. Da wir immerhin bis zu unserem Wiedersehen mit nicht ganz unerheblichen Zeiträumen rcchnen müssen - wäre es nicht doch möglich, diese Arbeit jetzt einzusehen?

2. Adorno an Benjamin. Berlin, 16. 12. 1934 (s. a.a. O.)

Ich verdanke [Egon] Wissing die Einsicht in Ihren Kafka [seil, in ein Exemplar der revidierten Fassung des Essays] und möchte Ihnen heute nur sagen, daß ich den Motiven dieser Arbeit einen ganz außerordentlichen Eindruck verdanke - den größten, der mir von Ihnen kam, seit der Vollendung des Kraus [seil, des Es-says »KarlKraus«; s. Ges. Sehr., Bd. 2 , S. 3 3 4 - 3 6 7 ] . Ich hoffe, in diesen Tagen zur ausführlicheren Äußerung die Zeit zu finden und nur ein Abschlag darauf soll sein, wenn ich die ungeheure Definition der Aufmerksamkeit als historischer Figur von Ge-bet, am Ende des dritten Kapitels [s.o., S. 32] hervorhebe. Im üb-rigen ist mir unsere Ubereinstimmung im philosophischen Zen-trum nie deutlicher geworden als an dieser Arbeit!

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3. Adorno an Benjamin. Berlin, i j . 12.2934 (s. Theodor W. Adorno, Uber Walter Benjamin, hg.

und mit Anmerkungen versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 103-110 und 177-179)

[L]assen Sie mich in fliegender Hast - denn Felizitas [von Benja-min gebrauchte Anrede für Gretei Adorno] ist im Begriff mir das Exemplar Ihres Kafka abzunehmen, das ich nur zweimal durch-lesen konnte - mein Versprechen einlösen und wenige Worte dazu sagen, mehr um der spontanen ja überwältigenden Dank-barkeit Ausdruck zu geben, die mich davor ergriffen hat, als weil ich mir etwa einbildete, den ungeheuren Torso ganz erraten oder gar »beurteilen« zu können. Nehmen Sie es nicht als unbeschei-den, wenn ich damit beginne, daß mir unsere Übereinstimmung m den philosophischen Zentren noch nie so vollkommen zum Bewußtsein kam wie hier. Führe ich Ihnen meinen ältesten, neun Jahre zurückliegenden [höchstwahrscheinlich ungedruckten und verschollenen] Deutungsversuch zu Kafka an: er sei eine Photo-graphie des irdischen Lebens aus der Perspektive des erlösten, von dem nichts darauf vorkommt als ein Zipfel des schwarzen Tuches, während die grauenvoll verschobene Optik des Bildes keine andere ist als die der schräg gestellten Kamera selber — so bedarf es keiner anderen Worte zur Ubereinstimmung, wie weit auch Ihre Analysen über diese Konzeption hinausdeuten. Das betrifft aber zugleich auch und in einem sehr prinzipiellen Sinn die Stellung zu »Theologie«. Da ich auf eine solche, vorm Ein-gang zu Ihren Passagen, drängte, so scheint es mir doppelt wich-tig, daß das Bild von Theologie, in dem ich gerne unsere Gedan-ken verschwinden sähe, kein anderes ist als das, aus dem hier Ihre Gedanken gespeist werden - es mag wohl »inverse« Theologie heißen. Der Standort gegen naturale und supranaturale Interpre-tation zugleich, der darin erstmals in aller Schärfe formuliert ist, dünkt mir aufs genaueste mein eigener - ja meinem Kierkegaard [seil. »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen«, Tübingen 1933] war es um nichts anderes zu tun als darum und wenn Sie über die Verknüpfung Kafkas mit Pascal und Kierkegaard höh-nen [s.o., S. 26], so darf ich Sie wohl daran erinnern, daß im Kierkegaard von mir derselbe Hohn gegen die Verknüpfung Kierkegaards mit Pascal und Augustin exponiert ist. Wenn ich

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freilich dagegen doch an einer Relation von Kierkegaard und Kafka festhalte, so ist es am letzten die der dialektischen Theolo-gie, deren Anwalt vor Kafka Schoeps heißt. Sie liegt vielmehr ge-nau bei der Stelle der »Schrift«, von der Sie so entscheidend sa-gen, was Kafka etwa als ihr Relikt [s.o., S. 37] vermeint habe, könne besser, nämlich gesellschaftlich, als deren Prolegomenon verstanden werden. Und dies ist in der Tat das Chiffernwesen unserer Theologie, kein anderes — aber freilich auch um kein Zoll weniger. Daß sie aber hier mit so ungeheurer Gewalt durch-bricht, ist mir die schönste Bürgschaft Ihres philosophischen Ge-lingens, seit ich die ersten Bruchstücke der Passagen kennenlern-te. — Zu unserer Übereinstimmung möchte ich zählen zumal noch die Sätze über Musik und die über Grammophon und Pho-tographie [s.o., S. 16 und 36]-e ine etwa ein Jahr alte Arbeit von mir zur Form der Schallplatte [s. Hektor Rottweiler (Pseudo-nym), Die Form der Schallplatte, in: 23. Eine Wiener Musikzeit-schrift, Nr . 17-19 (1934)], die von einer bestimmten Stelle des Ba-rockbuches ausgeht und gleichzeitig die Kategorie der dinglichen Entfremdung und Rückseitigkeit fast in genau dem gleichen Sinne gebraucht, wie ich sie im Kafka nun auch von Ihnen kon-struiert finde, wird Ihnen, wie ich hoffe, in wenigen Wochen zu-gehen; und vor allem die über Schönheit und Hoffnungslosigkeit [s.o., S. 13f.]. Fast möchte ich es bedauern, daß die Nichtigkeit der offiziell theologischen Kafkadeutungen zwar ausgesprochen, aber nicht voll expliziert ist wie etwa die Gundolfs in den Wahl-verwandtschaften [s. Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 1, S. 157-167] (beiläufig gesagt, die Plattitüden des psychoanalytischen Kaiser [s.o., Nachweis zu 25,29] verstellen weniger von der Wahrheit als jener bürgerliche Tiefsinn). Bei Freud gehören Uniform und Vaterimago zusammen. Wenn Sie selbst die Arbeit als »unfertig« bezeichnen, so wäre es freilich ganz konventionell und töricht, wenn ich Ihnen wider-sprechen wollte. Zu genau wissen Sie, wie sehr hier das Bedeu-tende dem Fragmentarischen verschwistert ist. Das schließt aber nicht aus, daß die Stelle der Unfertigkeit sich bezeichnen läßt -eben weil diese Arbeit j a vor den Passagen liegt. Denn dies ist ihre Unfertigkeit. Das Verhältnis von Urgeschichte und Moderne ist noch nicht zum Begriff erhoben und das Gelingen einer Kafkain-terpretation muß in letzter Instanz davon abhängen. Eine erste

Leerstelle ist da im Beginn bei dem Lukácszitat und der Antithese von Zeitalter und Weltalter [s.o., S. 10]. Diese Antithese könnte nicht als bloßer Kontrast sondern selber bloß dialektisch frucht-bar werden. Ich würde sagen: daß für uns der Begriff des Zeital-ters schlechterdings unexistent ist (so wenig wie wir Dekadenz oder Fortschritt im offenen Sinn kennen, den Sie hier ja selber de-struieren), sondern bloß das Weltalter als Extrapolation der ver-steinten Gegenwart. Und ich weiß, daß keiner in der Theorie mir lieber das zugäbe als Sie. Im Kafka aber ist der Begriff des Weltal-ters abstrakt im Hegeischen Sinne geblieben (beiläufig gesagt, es ist erstaunlich und wahrscheinlich Ihnen nicht bewußt, welch dichte Beziehungen diese Arbeit zu Hegel hat. Ich führe an nur: daß die Stelle über Nichts und Etwas [s.o., S. 35] aufs schärfste der ersten Hegeischen Bewegung des Begriffs: Sein - Nichts -Werden, eingepaßt ist und daß das Cohenmotiv vom Umschlag mythischen Rechts in Schuld [s.o., S. 12] von diesem, wenn auch aus der jüdischen Tradition, gewiß ebenso aus der Hegeischen Rechtsphilosophie übernommen ist). Das sagt aber nichts ande-res als daß die Anamnesis - oder das »Vergessen« - der Urge-schichte bei Kafka in Ihrer Arbeit wesentlich im archaischen und nicht durchdialektisierten Sinne gedeutet ist: womit die Arbeit eben an den Eingang der Passagen rückt. Ich habe hier am letzten zu richten, da ich nur zu gut weiß, daß der gleiche Rückfall, die gleiche unzulängliche Artikulation des Begriffs des Mythos mir im Kierkegaard ebenso zuzurechnen ist, wo er zwar als logische Konstruktion, nicht aber konkret aufgehoben wurde. Eben darum darf ich aber diesen Punkt bezeichnen. Es ist kein Zufall, daß von den ausgelegten Anekdoten eine: nämlich Kafkas Kin-derbild, ohne Auslegung bleibt [s.o., S. 16]. Dessen Auslegung wäre aber einer Neutralisierung des Weltalters im Blitzlicht äquivalent. Das meint nun alle möglichen Unstimmigkeiten in concreto - Symptome der archaischen Befangenheit, der Unaus-geführtheit der mythischen Dialektik noch hier. Die wichtigste scheint mir die des Odradek. Denn archaisch allein ist es, ihn aus »Vorwelt und Schuld« [s.o., S. 31] entspringen zu lassen und nicht als eben jenes Prolegomenon wiederzulesen, das Sie vorm Problem der Schrift so eindringlich fixieren. Hat er seinen Or t beim Hausvater-ist er denn nicht eben dessenSorge und Gefahr, ist mit ihm nicht eben die Aufhebung des kreatürlichen Schuld-

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Verhältnisses vorbedeutet - ist nicht die Sorge - wahrhaft ein auf die Füße gestellter Heidegger - die Chiffer, ja das gewisseste Ver-sprechen der Hoffnung, eben in der Aufhebung des Hauses? Gewiß ist Odradek als Rückseite der Dingwelt Zeichen der Ent-stelltheit - als solches aber eben ein Motiv des Transzendierens, nämlich der Grenzwegnahme und Versöhnung des Organischen und Unorganischen oder der Aufhebung des Todes: Odradek »überlebt«. Anders gesagt, bloß dem dinghaft verkehrten Leben ist das Entrinnen aus dem Naturzusammenhang versprochen*. Hier ist mehr als » Wolke« [s .o., S. 20], nämlich Dialektik und die Wolkengestalt gewiß nicht »aufzuklären« aber durchzudialekti-sieren - gewissermaßen die P^abcl regnen zu lassen - das bleibt das innerste Anliegen einer Kafkainterpretation; dasselbe wie die theoretische Durcharlikulation des »dialektischen Bildes«. Nein, so dialektisch ist Odradek, daß von ihm wirklich auch ge-sagt werden kann, »so gut wie nichts hat alles gut gemacht« [Theodor W. Adomo, Der Schatz des Indianer-Joe. Singspiel nach Mark Twain, hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Maini979, S. 95]. - Z u m gleichen Komplex gehört die Stelle von Mythos und Märchen [s.o., S. 15], an der zunächst pragmatisch zu beanstanden wäre, daß das Mär-chen als Überlistung des Mythos auftritt oder dessen Brechung -als ob die attischen Tragiker Märchendichter wären, was sie doch am letzten sind, und als ob nicht die Schlüsselfigur des Märchcns die pormythische, nein die sündelose Welt wäre, wie sie uns dinglich chiffriert erscheint. Es ist höchst seltsam, daß die sachli-chen »Fehler«, die etwa der Arbeit sich vorwerfen ließen, genau hier ansetzen. Denn die Delinquenten der Strafkolonie werden, wenn mich nicht meine Erinnerung aufs grausamste betrügt, nicht bloß auf dem Rücken sondern auf dem ganzen Leib von der Maschine beschrieben [s.o., S. 32], ja es wird sogar von dem Vorgang gesprochen, wo die Maschine sie umwendet (Umwen-dung ist das Herz dieser Erzählung, wie sie auch im Augenblick des Verstehcns gegeben ist; übrigens dürfte gerade bei dieser Er-zählung, die in ihrem Hauptteil eine gewisse idealistische Ab-straktheit hat wie die von Ihnen mit Recht zurückgewiesenen Aphorismen [s.o., S. 25 f.], der disparate Schluß nicht vergessen

* Hier ist der innerste Grund auch meines Widerstrebens gegen die unmittelbare Beziehung auf »Gebrauchswert« in anderen Zusammenhängen,

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werden mit dem Grab des alten Gouverneurs unter dem Café-haustisch). Archaisch scheint mir auch die Deutung des Natur-theaters im Ausdruck »ländliche Kirmes oder Kinderfest« [s.o., S. 23] - das Bild eines großstädtischen Sängerfestes der achtziger Jahre wäre gewiß wahrer, und Morgensterns »Dorfluft« [s. a. a'. O . ] war mir schon immer verdächtig. Ist Kafka kein Reli-gionsstifter [s.o., S. 24] - und wie Recht haben Sie! wie wenig ist er es ! - so ist er gewiß auch und in keinem Sinn, nicht ein Dichter jüdischer Heimat. Hier empfinde ich die Sätze über die Ver-schränkung des Deutschen und Jüdischen [s.o., S. 32] als ganz entscheidend. Die umgebundenen Flügel der Engel sind kein Manko [s.o., S. 23] sondern ihr »Zug« — sie, der obsolete Schein, sind die Hoffnung selber urid keine andere gibt es als diese. Von hier aus, von der Dialektik des Scheins als vorzeitlicher Mo-derne scheint mir die Funktion von Theater und Geste ganz auf-zugehen, die Sie erstmals so in die Mitte gestellt haben [s.o., S. 18 ff.] wie es geziemt. Die Tenore des Prozesses sind ganz von der Art. Wollte man nach dem Grund der Geste suchen, so wäre er vielleicht weniger im chinesischen Theater zu suchen, scheint mir, als in »Moderne«, nämlich dem Absterben der Sprache. In den Kafkaschen Gesten entbindet sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden sind. So erschließt sie sich gewiß, wie Sie es sagen, der tiefen Besinnung oder dem Studium als Gebet - als »Versuchsanordnung« [s.o., S. 18] scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an der Arbeit mate-rialfremd dünkt ist die Hereinnahme von Kategorien des epi-schen Theaters. Denn dies Welttheater, da es ja nur Gott vorge-spielt wird, duldet keinen Standpunkt außerhalb, für den es als Bühne sich zusammenschließen würde; so wenig, wie Sie sagen, der Himmel darin im Bildrahmen an die Wand sich hängen ließe [s.o., S. 19], so wenig gibt es einen Bühnenrahmen für die Szene selbst (es sei denn gerade den Himmel über der Rennbahn) und daher gehört zur Konzeption der Welt als des »Theaters« der Er-lösung, in der sprachlosen Übernahme des Wortes, konstitutiv hinzu, daß Kafkas Kunstform (und freilich von der Kunstform wird sich, nach der Ablehnung der unvermittelten Lehrgestalt, nicht absehen lassen) zur theatralischen in der äußersten Anti-these steht und Roman ist. So scheint mir hier Brod mit der bana-len Erinnerung an den Film etwas weit genaueres getroffen zu

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haben als er ahnen konnte. Kafkas Romane sind nicht Regiebü-cher fürs Experimentiertheater, weil ihnen der Zuschauer prin-zipiell abgeht, der ins Experiment eingreifen könnte. Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stum-men Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand); die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen dem Versinken in Stummheit (mit der Destruktion der Sprache) und dem Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohf das wichtig-ste Stück zur Konstellation Geste - Tier - Musik die Darstellung der stumm musizierenden Hundegruppe aus den Aufzeichnun-gen eines Hundes [seil. »Forschungen eines Hundes«, in: Ge-sammelte Schriften, Bd. V, Prag 1936], die ich nicht zögern möchte dem Sancho Pansa [s.o., S. 38] an die Seite zu stellen. Vielleicht könnte deren Hereinnahme hier vieles klären. Lassen Sie mich zum Fragmentcharakter nur noch das sagen, daß das Verhältnis von Vergessen und Erinnern [s.o., S. 29ff.], gewiß zentral, mir noch nicht offenbar geworden ist und vielleicht ein-deutiger und härter artikuliert werden könnte; lassen Sie mich der Kuriosität halber sagen, zur Stelle über »Charakterlosigkeit« [s.o., S. 18], daß ich im vorigen Jahr ein kleines Stück »Gleich-macherei« geschrieben habe, in dem ich die Auslöschung des in-dividuellen Charakters in der gleichen Weise positiv genommen habe; und lassen Sie als weitere Kuriosität mich Ihnen sagen, daß ich im Frühjahr in London ein Stück über die zahllosen bunten Fahrscheinmodelle der Londoner Autobusse schrieb, das sich aufs seltsamste mit Ihrem Farbenstück aus der Berliner Kindheit [s. Ges. Sehr., Bd. 4, S. 263] berührt, das Felizitas mir zeigte. Vor allem aber lassen Sie mich nochmals unterstreichen die Be-deutung der Stelle von der Aufmerksamkeit als Gebet [s.o., S. 32]. Ich wüßte nichts wichtigeres von Ihnen - nichts auch, was über Ihre innersten Motive genaueren Aufschluß geben könn-

te. Fast will es mir scheinen, als wäre durch Ihren Kafka der Frevel unseres Freundes Ernst [Bloch?] gesühnt.

4. Benjamin an Adorno. San Remo, 7.1.1935 (s. Briefe, 638ff.)

[I]ch vermute Sie zurück und gehe daran, Ihren großen Brief vom i7ten Dezember zu beantworten. Nicht ohne Zögern - er ist so gewichtig und greift derart in die Mitte der Sache ein, daß ich keine Aussicht habe, ihm auf brieflichem Wege gerccht zu wer-den. Um so wichtiger ist, daß ich Sie vor allem andern noch ein-mal der großen Freude versichere, die Ihr lebendiger Anteil in mir erweckt hat. Ich habe Ihren Brief nicht nur gelesen sondern studiert; er verlangt es, Satz für Satz überdacht zu werden. Da Sie meine Intentionen aufs genaueste erfaßt haben, so sind Ihre Fehl-anzeigen von größtem Belang. Das gilt in erster Linie von den Bemerkungen, die Sie über die mangelnde Bewältigung des Ar-chaischen machen; es gilt also in ausgezeichneter Weise von Ih-ren Bedenken zur Frage der Weltalter und des Vergessens. Im übrigen räume ich ohne weiteres Ihren Einwendungen gegen den Terminus »Versuchsanordnung« das Feld und werde mit den sehr bedeutsamen Bemerkungen zu Rate gehen, die Sie über den stummen Film machen. Einen Fingerzeig gab mir der Umstand, daß Sie so besonders nachdrücklich auf die »Aufzeichnungen ei-nes Hundes« hinweisen. Gerade dieses Stück ist mir - wohl als das einzige - noch im Verlauf meiner Arbeit am »Kafka« fortdau-ernd fremd geblieben und ich wußte - habe es auch wohl Felizitas gegenüber ausgesprochen - daß es mir sein eigentliches Wort noch zu sagen hätte. Ihre Bemerkungen lösen diese Erwartung ein. Nachdem nun zwei Tei le-der erste und dritte-erschienen sind, ist der Weg für die Neufassung frei; ob er freilich auf ein Publika-tionsziel hinauslaufen und Schocken die erweiterte Fassung in Buchform herausbringen wird, ist noch fraglich. Die Umarbei-tung wird, soviel ich jetzt sehe, besonders den vierten Teil [seil. »Sancho Pansa«, s.o., S. 33-38] zu betreffen haben, der trotz des großen - oder vielleicht wegen des allzugroßen - Akzents der auf ihm liegt, selbst Leser wie Sie und Scholem nicht zur Stellung-nahme vermocht hat. Im übrigen fehlt unter den Stimmen, die bisher laut geworden sind, auch Brechts nicht; und so hat sich al-les in allem eine Klangfigur um ihn gebildet, der ich noch man-ches abzulauschen habe. Vorläufig habe ich eine Sammlung von

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Reflexionen angelegt, um deren Projektion auf den Urtext ich mich noch nicht kümmere. Sic gruppieren sich um das Vcrhältnis »Gleichnis = Symbol«, in dem ich die Kafkas Werke bestim-mende Antinomie denkgerechter gefaßt zu haben glaube als mit dem Gegensatz »Parabel = Roman«. Die nähere Bestimmung der Romanform bei Kafka, über deren Notwendigkeit ich mit Ihnen einig bin und die bisher fehlt, kann nur auf einem Umweg erreicht werden. Ich w iirde wünschen - und es ist gar nicht so unwahrscheinlich -daß manche dieser Fragen noch offen stehen, wenn wir uns das nächstemal sehen werden.

5. Adorno an Benjamin. Hornberg, 2. 8. 1935 (s. Bńefe, 6y$ f. ; dazu s. Benjamin an Adorno, Briefe,

S. 662—666)

Die Ware als dialektisches Bild verstehen, heißt eben auch sie als Motiv ihres Unterganges und ihrer »Aufhebung« anstatt der blo-ßen Regression aufs Ältere zu verstehen. Ware ist einerseits das Entfremdete, an dem der Gebrauchswert abstirbt, andererseits aber das Überlebende, das fremd geworden die Unmittelbarkeit übersteht. An den Waren und nicht für die Menschen haben wir das Versprechen der Unsterblichkeit und der Fetisch i s t - u m die von Ihnen mit Recht statuierte Beziehung zum Barockbuch wei-terzutreiben — fürs neunzehnte Jahrhundert ein treulos letztes Bild wie nur der Totenkopf. An dieser Stelle scheint mir der ent-scheidende Erkenntnischarakter Kafkas, insbesondere des Odradek als der nutzlos überlebenden Ware zu liegen: in diesem Märchen mag der Surrealismus sein Ende haben wie das Trauer-spiel im Hamlet. Innergesellschaftlich sagt das aber, daß der bloße Begriff des Gebrauchswertes keinesfalls genügt, den Wa-rencharakter zu kritisieren, sondern nur aufs vorarbeitsteilige Stadium zurücklenkt. Das war stets mein eigentlicher Vorbehalt gegen Berta [Deckname für Brecht] und ihr »Kollektiv« sowohl wie ihr unmittelbarer Funktionsbegriff sind mir darum stets su-spekt gewesen, nämlich selber als »Regression«.

6. Benjamin an Adomo. Paris, 19. 6.1938 (s. Waller Benjamin, Gesammelte Schuften, Bd. 2, S. 1183)

Uber meine literarischen Beschäftigungen der letzten Zeit zwei Worte. Einiges habt Ihr [seil. Theodor und Gretei Adorno] wohl inzwischen von Scholem [der zu dieser Zeit in New York war] darüber erfahren, insbesondere meine Befassung mit Brods Kaf-ka-Biographie. Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, selbst einige Notizen über Kafka zu machen, die von einem anderen Standort ausgehen als mein Essay [s.o., Benjamin an Scholem, Nr . 26]. Dabei habe ich wieder mit großem Interesse Teddies [Adornos] Kafkabrief vom 17. Dezember 1934 studiert. Sosehr der stichhält, so fadenscheinig erweist sich der [ungedruckte] Kafka-Aufsatz von [Peter von] Haselberg, den ich ebenfalls bei meinen Papieren fand.

7. Benjamin an Adorno. Paris, 23. 2. 1939 (s. Briefe, 807)

Sie sehen, daß ich Ihnen für Ihre Anregungen über den Typus [dazu s. Adornos Brief vom L 2. 1939 in: Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 1, S. 1107-1113] Dank weiß. Wo ich über sie hinausgegangen bin, geschah es im ursprünglichsten Sinn der »Passagen« selbst. Dabei hebt sich mir Balzac sozusagen weg. Er ist hier nur von an-ekdotischer Wichtigkeit, indem er weder die komische noch die grauenvolle Seite des Typus zur Geltung bringt. (Beides zusam-men hat, glaube ich, im Roman erst Kafka eingelöst; bei ihm ha-ben sich die Balzacschen Typen solide im Schein einlogiert: sie sind zu »den Gehilfen«, »den Beamten«, »den Dorfbewohnern«, »den Advokaten« geworden, denen K. als der einzige Mensch, mithin als ein in all seiner Durchschnittlichkeit atypisches Wesen gegenübergestellt ist.)

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8. Benjamin an Adorno.Paris, 7.5.1940 (s. Briefe, 851f.)

Es bleibt eine Seite an Hofmannsthal unberührt [seil, im Essay über George und Hofmannsthal; s. Adorno, Ges. Sehr., Bd. 10, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 195-237], die mir am Herzen hegt. [ . . . ] Julian, der Mann [im »Turm«], dem nichts als ein winziges Aussetzen des Willens, als ein einzi-ger Moment der Hingabe fehlt, um des Höchsten teilhaft zu werden, ist ein Selbstporträt Hofmannsthals. Julian verrät den Prinzen: Hofmannsthal hat sich von der Aufgabe abgekehrt, die im Chandosbriefe auftaucht. Seine »Sprachlosigkeit« war eine Art von Strafe. Die Sprache, die Hofmannsthal sich entzogen hat, dürfte eben die sein, die um die gleiche Zeit Kafka gegeben wurde. Denn Kafka hat sich der Aufgabe angenommen, an der Hofmannsthal moralisch versagte und darum auch dichterisch.

Aufzeichnungen

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i . Aufzeichnungen

(bis 1928)

a. Notizen zu Kafka »Der Prozeß«

Die Arbeit ist Gerhard Scholem zu widmen Auf den Bodenräumen, wo das Büro ist, wird Wäsche getrock-net. Versuch den Waschtisch von Fri Bürstner in die Mitte des Zim-mers zu rücken. Leute die Kissen zwischen sich und die Decke schieben Die Sinnschicht die höchste: Theologie. Die Erlebnisschicht die tiefste: Traum Kopfhaltung: im Dom, bei der Hinrichtung und sonst Funktion der Geschichte vom Türhüter. Exkurs über den Kom-mentar. Ähnlichkeit dieser Geschichte mit Hebels »Entscheidung« : Hinrichtung als ein Stadium des Prozesses. Die S t i m m e zieht das Resümee Bedeutung der Huren Uber die Luft in den Gerichtsräumen; Hitze bei Toten Die Wendung der traumhaften Schicht in die theologische Schicht entwickelt an der Kommunikation von Wohnräumen und Gerichtsräumen Das »Gewissen« als Verfallsprodukt und als Vorherwissen des Unheils Die Deutung der proletarischen Viertel und der proletarischen Behausungen als Gerichtsquartiere Vergleich mit der »Verwandlung«; zu bemerken, daß im »Pro-zeß« keine Tiere vorkommen Vergleich mit den Märchenkomödien von Robert Walser Das irrtümliche zu-laut-werden im Dom Das Gericht als inquisitorisches und physiologisches Marterin-stitut. Vergleich mit dem Inquisitionsgericht Entzauberung des »okkulten« Begriffs des »Türhüters« im Kommentar zur eingelegten Geschichte Unnennbarkeit dieser Geschichte: titellos. Sie lebt als solche in der Dimension arabischer oder hebräischer Traktattitel

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Vergleich mit Agnon Alle Räume in diesem Roman sind untergeschoben und alle las-sen sich ihm unterschieben: Dom, Gerichtssaal, Kontor, Bor-dell, Treppenflur, Atelier, möbliertes Zimmer, Korridor Sehr -wichtige Frage: warum ist kaum ein Wort auf die Darstel-lung der »Qualen« des Angeklagten verwendet? Auswechselbare Personen? Der Direktor-Stellvertreter, Fräu-lein Biirstner, der Neffe der Wirtin: flüchtig hingemachte Män-ner Die theologische Kategorie des Wartens aus diesem Roman zu konstruieren. So auch die theologische Kategorie des »Auf-schubs«. »Aufschub« in der Gerichtsordnung, deren wichtigstes Moment ist: das Verfahren geht allmählich ins Urteil über. War-ten: dazu ist zunächst zu verfolgen, wann, wo, wie oft die Hauptperson »wartend« dargestellt wird. Straf- und Höllen-Sonntag als Wartetag Die ganze Gerichtsverfassung zusammenstellen Bedeutung der Porträts der Richter. Über den Türrahmen hän-gend als Fallbeil, vergi. Calderon: Eifersucht das größte Scheu-sal Wie ist der Kontrepost von Fräulein Bürstner zu allen andern Personen des Romans zu erklären? [Hier fehlen zwei Zeilen am beschädigten unteren Rand der Sei-te; erhalten lediglich - am Ende der ersten Zeile - : ] Strindberg: Nach Damaskus »récompense ou . . . châtiment, deux formes de l'éternité« Bau-delaire: Les paradis artificiels Paris 1917 p 11 Ekel und Scham. Verhältnis dieser beiden Affekte und ihre Be-deutung bei Kafka

Ms 673, S. 77Í.1

1 Druckvorkge nahezu aller hier abgedruckten Aufzeichnungen ist der Abschnitt »Paralipomenazu Kafka« des Anmerkungs-Apparats in: Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 2, S. 1190-1264; die wenigen Ausnahmen werden gesondert nachgewiesen. Die Si-gnatur »Ms« mit folgender Ziffer bezeichnet die Nummer des jeweiligen Nachlaß-manuskript-Blattes (gelegentlich -Heftes oder -Blocks; in diesem Fall folgt die Sei-tenangabe), unter der es im »Benjamin-Archiv« Frankfurt am Main archiviert ist.

b. Idee eines Mysteriums

Die Geschichte darzustellen als einen Prozeß, in welchem der Mensch zugleich als Sachwalter der siummen Natur Klage führt über die Schöpfung und das Ausbleiben des verheißnen Messias. Der Gerichtshof aber beschließt Zeugen für das Zukünftige zu hören. Es erscheint der Dichter der es fühlt, der Bildner der es sieht [,] der Musiker der es hört und der Philosoph der es weiß. Ihre Zeugnisse stimmen daher nicht überein, wiewohl sie alle für sein Kommen zeugen. Der Gerichtshof wagt seine Unschlüssig-keit nicht einzugestehen. Daher nehmen die neuen Klagen kein Ende, ebensowenig die neuen Zeugen. Es gibt die Folter und das Martyrium. Die Geschwornenbänke sind besetzt von den Le-benden, die den Mensch-Ankläger wie die Zeugen mit gleichem Mißtrauen hören. Die Geschwornenplätze erben sich bei ihren Söhnen fort. Endlich erwacht eine Angst in ihnen, sie könnten von ihren Bänken vertrieben werden. Zuletzt flüchten alle Ge-schwornen, nur der Kläger und die Zeugen bleiben.

Ms 7801

I Diese Aufzeichnung-erstmals von Scholem veröffentlicht-stellt nach dessen Ur-teil »das eme Zeugnis der Wirkung von Kafkas .Prozeß« auf Benjamin« dar; s. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichtc einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 180 f.

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2. Aufzeichnungen

(bis 1931)

a. Aufzeichnungen zu einem ungeschriebenen Essay und zum Vortrag von 19311

Versuch eines Schemas zu Kafka

Kafka nimmt die gesamte Menschheit in eine rückwärtige Stel-lung. Er räumt Jahrtausende der Kulturentwicklung, von der Gegen-wart gar nicht zu reden. Die Welt befindet sich, nach ihrer Naturseite, bei ihm in dem Stadium, das Bachofen das hetärische genannt hat. Kafkas Ro-mane spielen in einer Sumpfwelt. Diese Welt ist es, und nicht die unsrige, die Kafka in seinen Bü-chern mit der gesetzlichen des Judentums konfrontiert. Es ist als wenn Kafka experimentell die sehr viel größere Ange-messenheit der Thora an eine, obzwar in ihr verschollene, prähi-storische Stufe der Menschheit erweisen wollte. Aber ganz verschollen ist diese Stufe auch in der Thora nicht. Die Reinigungs- und Speisegesetze beziehen sich auf eine Vor weit, von der nichts mehr erhalten ist als diese Abwehrmaßnahmen ge-gen sie. Mit andern Worten: nur die Halacha enthält noch Spuren dieser fernsten Daseinsart der Menschheit. Kafkas Bücher enthalten die fehlende Hagada zu dieser Hala-cha. Aufs innigste verschränkt aber mit diesem hagadischen Text ent-halten seine Bücher einen prophetischen. Dem hetärischen Natursein der Menschheit hält das Judentum die Strafe entgegen. Der Prophet sieht die Zukunft unter dem Aspekt der Strafe. Das Kommende ist ihm nicht als Wirkung einer jüngstvergang-

1 Kursiv gesetzte Zwischen- und Untertitel, hier und im folgenden, sind vom Her-ausgeber, normal gesetzte stets von Benjamin formuliert.

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nen Ursache sondern als Strafe einer, unter Umständen längst-vergangnen, Schuld zugeordnet. Die Schuld nun, welcher sich nach Kafka unsere nächste Zukunft als Strafe zuordnet, ist das hetärische Dasein der Menschheit. Diese Prophétie auf eine allernächste Zukunft ist für Kafka weit wichtiger als die jüdischen Theologumena, die man allein in sei-nem Werk hat finden wollen. Die Strafe ist wichtiger als der Stra-fende. Die Prophetie ist wichtiger als Gott. Die Gegenwart, unsere gewohnteste Umwelt, scheidet also für Kafka vollkommen aus. Sein ganzes Interesse gilt in Wirklichkeit dem Neuen, der Strafe, in deren Lichte freilich die Schuld schon zur ersten Stufe der Erlösung wird.

Ms 212

Aufzeichnungen 1

Die Fabel vom Bucephalus, dem Streitroß Alexanders, das Ad-vokat geworden sei, ist keine Allegorie. Es scheint bei Kafka überhaupt keinen Raum als das Gericht für die großen Figu-ren, besser: Mächte der Geschichte mehr zu geben. Das Rechtswesen scheint sie sich alle pflichtig gemacht zu haben. Wie die Menschen nach dem Volksglauben sich nach dem Sterben verwandeln - in Geister oder Gespenster- so scheinen bei Kafka die Menschen nach dem Schuldigwerden sich in Ge-richtspersonen zu verwandeln.

Die Zahlenfiguren bei Kafka zu deuten: zwei Gehilfen, zwei Henker, drei Zimmerherren, drei junge Leute. »Ein Besuch im Bergwerk« - da geben der sechste und siebente eine Vor-stellung davon, was später die Gehilfen sein werden.

Die Livree oder der goldne Knopf am Rock als Emblem des Zu-sammenhanges mit Höherem: der Vater in der »Verwand-lung«, der Diener im »Besuch im Bergwerk«, die Gerichtsdie-ner im »Prozeß«.

Bei Kafka lösen die Lebensbilder, die vielleicht weniger auf Grund der ratio als alter Mythologeme sich gebildet haben, sich auf und es entstehen, transitorisch, neue. Aber gerade die-ses Flüchtige im Sich-Bilden der Mythologeme, die in ihnen schon angelegte Auflösung ist hier entscheidend. Es ist gut

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Page 60: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

und gern das Gegenteil vom »neuen Mythos«, von dem hier die Rede ist. Das »Weben ohne aufzublicken«, das Bachofen an den tres anus textrices kennt, kann man auch an den Hauptpersonen des »Prozesses« und des »Schlosses« erkennen. Demgegenüber die Zerstreutheit der Gehilfen. Das Werk von Kafka: die Erkrankung des gesunden Menschen-verstandes. Auch des Sprichworts.

Ms 209

Aufzeichnungen 2

»Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von rückwärts, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden.« Beim Bau der chinesischen Mauer P 224 Sehr wichtig ist die Notiz: »Er war früher Teil einer monumenta-len Gruppe« (Beim Bau p 217) Denn erstens gehört sie dem Komplex von Bildern der Plastik an, der bestimmt nicht bedeu-tungslos ist (vgl. die Engel von Oklahoma) Zweitens ist in dieser Notiz bemerkt, er sei aus der Gruppe herausgetreten. Das ist wahrscheinlich ein Gegenstück zu dem Eingehen ins Bild, das die chinesischen Märchen haben. Die von Massen bemerkten Worte, Geberden, Geschehnisse sind anders als die von einzelnen bemerkten. In der Ruhe von großen Massen aber ändert sich auch für den einzelnen schon das Merkfeld. Ein Typus wie Schweyk kapituliert zum Beispiel aufs glücklichste vor dem Massendenken. Bei Kafka kommt es viel-leicht zu Konflikten, Vgl. »Er lebt nicht wegen seines persönli-chen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie.« (Beim Bau p 2 1 7 / 1 8 )

»Alles ist ihm erlaubt, nur das Sichvergessen nicht«. (Beim Bau 220) Dem Dunkel des gelebten Augenblicks entrinnt zwar der, der ins Bild eingeht, Kafka entflieht ihm aber nicht sondern durchdringt es. Dazu muß er die Malarialuft des Daseins tief ein-atmen. Revolutionäre Energie und Schwäche sind bei Kafka zwei Seiten ein und desselben Zustands. Seine Schwäche, sein Dilettantis-

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mus, sein Unvorbereitetsein sind revolutionär. (Beim Bau p 2 1 2 / 1 3 )

Kafka sagt, daß er das Nichts schon immer »als sein Element fühlte«. Was meint er damit? Schöpferische Indifferenz? Nirwa-na? (Beim Bau p 216) »Selbst eine Mauerassel braucht eine verhältnismäßig große Rit-ze, um unterzukommen«, für seine Untersuchungen, Betrach-tungen, »Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz nötig, selbst da, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdrin-gend, noch zu Tausenden und Abertausenden leben.« (Beim Bau P 2T5) Anklopfen der Bretterwand mit dem Schädel durch den Affen (Landarzt p 159); »sein eigner Stirnknochen verlegt ihm den Weg« (Beim Bau der chinesischen Mauer p 213); mit der Stirn ge-gen die Erde anrennen (Beim Bau p 82) Für das Motiv der Verwandlung ist es wichtig, daß sie bei Kafka von beiden Seiten her vollzogen wird: der Affe wird Mensch; Gregor Samsa wird Tier. Bericht an eine Akademie: hier erscheint Menschsein als Aus-weg, Gründlicher kann es wohl nicht in Frage gestellt werden. »In der Geschlossenheit ihres Symbolgehalts Märchen und My-then vergleichbar« sagt [Hellmuth] Kaiser [Franz Kafkas Infer-no, Wien 1931] (p 3) von Kafkas Schriften mit Recht. Wenn bei Julien Green das eigentliche, alle Figuren beherr-schende Laster die Ungeduld ist, so ist es bei Kafka die Faulheit. Die Menschen bewegen sich wie in feuchter von schwülem Bro-dem erfüllter Luft. Nichts liegt ihnen ferner als Geistesgegen-wart. Besonders ist es in den Frauengestalten deutlich, daß ein Zusammenhang zwischen ihrer Bereitschaft zum Geschlechts-verkehr und ihrer Faulheit besteht.

Ms 2 1 0

Im Folgenden eine Reihe wichtiger Korrespondenzen der »Betrachtung« zu späteren Werken von Kafka.

»Die andern mit Tierblick anschaun« p 34 das erscheint hier als Ausdruck für »die letzte grabmäßige Ruhe«

{Kleider, die »Staub bekommen, der, dick in der Verzierung, nicht mehr zu entfernen ist« p 64 Schließlich auch das Gesicht

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»verstaubt, von allen schon gesehn und kaum mehr tragbar.«

PÔ5}1

Der Kaufmann erklärt, er »gehe wie auf Wellen, klappere mit den Fingern beider Hände und mir entgegenkommenden Kindern fahre ich über das Haar. « p 46 Kinderengel : »Flieget weg« p 48 Auch sonst hier Spuren von »Amerika«.

»Gänzlich aus deiner Familie ausgetreten« p 30 Unmittelbar da-nach klingt es, als vollziehe sich die Verwandlung des Reden-den in ein Pferd.

{»Unglücklichsein«: der Schreibende läuft über den schmalen Teppich seines Zimmers »Wie in einer Rennbahn« p 80} Dann erscheint als die Hauptfigur dieser Betrachtung das gespensti-sche Kind. - Der Mann, der den Kopf »unter einer Wölbung des Treppenhauses vorbeugen« muß. p 98

In der »Abweisung« ist die Frau altmodisch angezogen, p 68 Altmodische Autobewegung p 67 Die Pferde reißen mit ihrem Lärm dem müden Mami den Kopf abwärts, p 76

»Zum Nachdenken für Herrenreiter« betont wieder die Renn-bahn, scheint aber sie und die Pferde gegen diese ganze Art des Betriebes in Schutz nehmen zu wollen.

»Versteht sich, daß alle im Frack sind« p 37 - die Niemande näm-lich. So auch die »Scharfrichter« im »Prozeß«.

{ »Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen«

P 54} {»Entlarvung eines Bauernfängers« — Vorstudie zu den Gehil-

fen,} {Nachbarländer mögen in Sehweite liegen.} [s.o., Nachweis zu

24,6] [ . . . ] Ms 211

Aufzeichnungen 3

{Doppelgesichtigkeit der Kafkaschen Angst: wie [Willy] Haas sie interpretiert und wie es durch uns geschieht. Die Angst ist nicht - wie die Furcht - eine Reaktion sondern ein Organ.}

1 Geschweifte Klammern bezeichnen, hier unti im folgenden, Stellen und Passagen in den Manuskripten Benjamins, die vor ihm - in der Regel zum Zeichen ihrer Be-rücksichtigung in abgeschlossenen Texten oder in fortgeschritteneren Textentwür-fen - gestrichen wurden.

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{»Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsa-chen.«} Die Namen bei Kafka als Verdichtungen seiner Gedächtnisin-halte. Gegenteil der assoziativen Schreibweise. Namen in volkstümlicher Literatur - die Bedeutung des Josef K. Kafkas »Faustdichtung«. Der Unterschied in der Zielsetzung; der Unterschied in dem Erlösenden. Und so bleibt denn schließ-lich vom Fausthaften nicht viel übrig. Auch diese Dichtung ist vielmehr die eines Mißlingens wie alle Kafkaschen. »Wie mans macht, ist es falsch.« Aber in diesem Mißlingen bereitet sich freilich ganz im Bodensatze und in der untersten Schicht der Kreatur, bei den Ratten, Mistkäfern und Maulwürfen die neue Verfassung der Menschheit, das neue Ohr für die neuen Gesetze und der neue Blick für die neuen Verhältnisse vor. {Vor einigen Wochen ist von Franz Kafka der Band »Beim Bau der chinesischen Mauer« erschienen. Ich glaube nicht, daß damit die Reihe der Werke erschöpft ist, in denen das Schaffen dieses Mannes - fast durchaus in der Gestalt des Nachlasses -unter die Lebenden tritt. Noch haben wir zumindest die Fülle der Varianten und Studien zu den halb vollendeten großen Werken, vor allem zum Schloß zu erwarten. Wer Kafka war, das hat weder er selbst deutlich sagen wollen - man könnte von ihm die Legende bilden, er sei ein Mensch gewesen, der unun-terbrochen mit seiner Selbsterforschung beschäftigt gewesen sei aber nicht einmal in einen Spiegel geblickt habe - weder er selbst hat es sagen wollen, weder er selbst hat sich anders als halblaut, scheu und flüchtig mit dem gemurmelten K. seines Namens, das in den großen Romanen der des Helden ist, an-gesprochen noch wissen wir selbst es. Sie werden es also auch hier von mir nicht erfahren.} [s.o., S. 40,3-17] {Wäre es der Augenblick, bei den Formfragen zu verweilen, so hätten wir mancherlei Aufschluß von dem Beweise des Satzes zu erwarten, daß seine großen Werke nicht Romane sondern Erzählungen sind.} {Ich glaube übrigens in diesem Dorf, das zu Füßen des Schloßbergs liegt, das Dorf einer talmudischen Legende wie-derzuerkennen.} [s.o., S. 43,8f.] {Der Nachruhm und wie er zum sekreten Charakter der Kaf-kaschen Schriften steht.}

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{Die Deutung der »Schuld« im »Prozeß«: das Vergessen.} {Auf der andern Seite schcint es aber bisweilen auch die trost-lose Aufgabe oberer Mächte zu sein, dem Menschen seine Schuld zu beweisen. Und dann ist deren Lage für sie, trotzdem sie zum äußersten entschlossen sind (Schloß p 498) ebenso hoffnungslos wie die des Menschen in der Defensive.} {Die drei Romane der Einsamkeit: wenn man will. Diese Ein-samkeit ist aber nicht von Romantischer Art. Es ist die von au-ßen aufgezwungne, nicht die innere, seclische Einsamkeit, die seine Helden kennzeichnet.} Wie tief die Oberen gesunken sind, daß sie nun ganz auf einer Stufe mit den Untersten stehen, die Menschen mitten unter ihnen. Es herrscht eine heimliche Solidarität der Angst hier zwischen den Wesen aller Stufenordnungen der Kafkaschen Hierarchie. Und mit welcher Erlösung Kafka Sancho Pansa begrüßt, der den menschlichen Ausweg aus dieser Promiskui-tät sich gebahnt hat. (Vgl, dazu die Flaubert-Anekdote »ils sont dans le vrai« [zit. bei Max Brod, Nachwort, in: Das Schloß, München 1926, 485]). {Das Unvollendetscin der Fragmente ist das eigentliche Wal-ten der Gnade in diesen Büchern.} {»Eine alltägliche Verwirrung« - das ist wahrscheinlich ein Stück auf dem Naturtheater von Oklahoma. Im übrigen ist diese Erzählung ein Beispiel für die Entstellungen der Zeit ge-nau wie »Das nächste Dorf«.} In vielen Räumen zwingt die niedrige Decke die Leute in eine gcbückte Haltung. Es ist als wenn sie eine Last trügen und die ist sicher ihre Schuld. Andererseits verfügen sie gelegentlich über Kissen, die sie zwischen sich und die Decke legen, Das heißt sie wissen sichs mit ihrer Schuld behaglich einzurichten, [s.o., S. 40,39-41,6] Wenn sie an Gerichtsstelle erscheinen so haben sie es sehr warm ; etwas zu warm gewiß, aber vor allem brauchen sie nicht zu frieren und genießen doch auch hier eben eine Art von Behaglichkeit. Daß damit alle Behaglichkeit überhaupt in eine recht zweideutige Beleuchtung tritt, ist im Sinne von Kafka. Vgl. Verwandlung: das Ungeziefer kann den Kopf unterm Ka-napee nicht heben.

Die Ritze in den Brettern des Affenkäfigs und in der Brettertür T i t o r e U i s - Ms 213

Aufzeichnungen 4

t . . . obere Ecke abgerissen] Kafka

[ . . . w.o.] nützlich sein, vor der Abfassung Blätter von Hiero-nymus Bosch zu studieren, dessen Monstren [ . . . w.o.Jicht mit denen Kafkas Verwandtschaft haben.

[ . . . w.o.] von Georg Scherer »Betrachtung«

{Wie die Werke von Kafka gewachsen sind. Der »Prozeß« aus dem »Urteil« (oder aus dem »Gesetz« - auch der »Schlag ans Hoftor« gehört hierher) »Amerika« aus dem »Heizer«.}

{Die Namen der Leute mit [ein Wort nicht mehr zu entziffern] Nüchternheit besiegeln den Anspruch dessen, was er ge-schrieben hat, buchstäblich genommen zu werden.}

Einen wirklichen Schlüssel zur Deutung Kafkas hält Chaplin in Händen. Wie Chaplin Situationen gibt, in denen sich auf ein-malige Art das Ausgestoßen- und Enterbtsein, ewiges Men-schenweh, mit den besondersten Umständen heutigen Da-seins, dem Geldwesen, der Großstadt, der Polizei u.s.w. ver-bindet, ist auch bei Kafka jede Begebenheit janushaft, ganz unvordenklich, geschichtslos und dann auch wieder von letz-ter, journalistischer Aktualität. Von theologischen Zusam-menhängen zu reden hätte allenfalls der ein Recht, der dieser Doppelheit nachginge; gewiß nicht, wer nur ans erste dieser beiden Elemente anschließt. Im übrigen setzt sich diese Zwci-stöckigkeit genau so in seiner schriftstellerischen Haltung durch, die im Stile des Volkskalenders mit einer ans Kunstlose grenzenden Schlichtheit epische Figuren verfolgt wie nur der Expressionismus sie finden konnte.

{Die beiden grundsätzlichen Irrtümer im Versuch, der Welt Kafkas nahezukommen sind die unmittelbar natürliche und die unmittelbar historische Deutung: die eine vertreten durch die Psychoanalyse, die andere durch Brod,}

{Diese Umschreibung des Tao als »das, was dadurch, daß es >nicbts< ist, das Etwas'brauchbar« macht«, trifft den Ton vieler Aussagen und Worte bei Kafka. (Sancho Pansa als Taoist)} [s.o., S. 35,6f, j

{»Ihm gilt gerade die Fülle der Welt als das allein Wirkliche. Al-ler Geist muß dinglich, besondert sein, um hier Platz und Da-

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Page 63: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

seinsrecht zu bekommen . . . Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber benannt und dem Na-men des Verehrers aufs besonderste verbunden: die Geister seiner Ahnen. . . . Unbedenklich wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch überfüllt. . . . Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der Geister; jeder unsterblich für sich, immer neue zu den alten, alle eigennamlich von einander geschie-den . « Es ist nicht etwa К afka, von dem hier die Rede ist - es ist China. So beschreibt Rosenzweig den chinesischen Ahnen-kult (Stern der Erlösung Frankfurt a/M 1921 p 76/77) und die überraschende Ähnlichkeit, die Kafkas Welt in solchem Lichte mit der des chinesischen Kults erhält, legt es nahe, hin-ter der Vatersvorstellung vielmehr die der Ahnen in Kafkas Werken zu suchen: wie auch freilich ihr Gegenbild: die der Abkömmlinge.}

{Oskar Baum spricht in einem Aufsatz in der »Literarischen Welt« vom Konflikt irgend welchcr Pflichten, die der Mensch Kafkas in sich austrage. So schablonenhaft diese Vorstellung ist, so schlagend ist was Baum im unmittelbaren Anschluß an diese Darlegung meint: »Die Tragik der Unvereinbarkeit die-ser Pflichten ist mit einer fast lächelnden Grausamkeit immer als Schuld des Helden empfunden, eine Schuld, die aber doch wieder etwas sehr Begreifliches, fast Selbstverständliches hat.« Es gibt in der Tat weniges so Bezeichnende für Kafka wie der scheele Blick, der immer von ihm aufs Schlechte, Störende, Verworfene wie auf etwas lästig- aber altgewohntes geworfen wird.}

Es ist an Kafkas Helden überdeutlich eine Erscheinung wahrzu-nehmen, die man als den Verfall der Muße bezeichnen kann.Muße und Einsamkeit gehören zusammen. Nun aber ist die Einsamkeit in Gärung übergegangen. Man muß ihr aus dem Weg gehen.

Ms 214

Aufzeichnungen 5

{»Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die

Schultern gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat.« Kafka, Tagebuch vom 3. Oktober 1911}

»Zeit zu befehlen« oder vielmehr »nicht Zeit zu befehlen« haben - eine sehr aufschlußreiche Wendung aus dem Tagebuch. Eine höchste moralische Aufgabe des Menschen: die Zeit auf seine Seite zu bringen. Das könnnte ein gracianscher Begriff sein. Dahin kommen, daß die Zeit für einen arbeitet, wie das die Probe auf die Richtigkeit jeder Situation ist indem sie ebenso-viel von der Dauer wie bei einem plötzlichen Wechsel zu ge-winnen hat. Eine ausgezeichnete Vorstellung, daß der Befeh-lende gewissermaßen in der Zeit ausholen muß, um den Zweck seines Befehls zu erreichen.

{In China ist der innere Mensch »geradezu charakterlos; der Be-griff des Weisen, wie ihn klassisch . . . Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hin-weg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durch-schnittsmensch. . . . Etwas ganz anderes als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz ele-mentare Reinheit des Gefühls. . . . Keine Lyrik irgend eines Volks ist so reiner Spiegel der sichtbaren Welt und des unper-sönlichen, aus dem Ich des Dichters entlassenen, ja geradezu aus ihm abgetropften Gefühls.« Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung p 96}

{Schein und Wesen - es charakterisiert die Dichter am tiefsten, welche Beziehung diese beiden zu einander haben. Bei Kafka ist das sehr merkwürdig; der Schein deckt hier das Wesen nicht sondern er kompromittiert es, indem gerade das Wesen bei Kafka zum Scheinenden wird. So die Statisten von Oklahoma, die gewiß Engel sind, indem sie aber sich als solche anziehen ihr Wesen, das der Engel, kompromittieren.}

{Ähnlich die Gerechtigkeit: unerforschlich sind ihre Ratschlüs-se. Eben das bringt das Prozeßverfahren bei Kafka zum Aus-druck. Aber in der Gestalt der Korruption.}

{Daß der Begriff der Entstellung in der Darstellung Kafkas eine doppelte Funktion hat, und welche zeigt jene jüdische Über-lieferung, nach der die Welt durch die Ankunft des Messias nicht etwa durch und durch verändert sondern nur in allem »ein klein wenig« anders werden soll als sie war. Wir verhalten uns, als lebten wir im 1000jährigen Reich.}

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Page 64: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

{Zum »Prozeß«: wie hier das Recht und das Gericht alle Fu-gen des sozialen Daseins durchdringt, das ist die Kehrseite der Gesetzlosigkeit in unsern gesellschaftlichen Verhältnis-sen.}

Entstellung - »dérangement de l'axc« sagt Bertaus. Über das Gesetz und seinen Wächter: »Le gardien c'est la société

humaine. Elle ne comprend pas, elle ne connaît pas la Loi que néanmoins elle garde. La connaissance qu'elle feint d'en avoir est réservée au gage supérieur, inaccessible.« Félix Bertaux: Panorama de la littérature allemande contemporaine Paris 1928 p 235

Die ganze maßlose Verschlagenheit hat Kafka schon in der Er-zählung »Auf der Galerie« dargestellt. Die Gesetzlosigkeit -kommt sie daher, daß die Unerbittlichkeit des Gesetzes selbst seinen Hüter blendet?

Es ist das Verhältnis dreier Dinge: Gesetz - Erinnerung - Tradi-tion zu klären. Wahrscheinlich baut sich Kafkas Werk auf die-sen dreien auf.

Aufzeichnungen 6

»Der neue Advokat« [s.o., Nachweis zu 17,30]: Text zu einem Picassobilde.

{»Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen« -nicht etwa weil er ein universalistisch gerichteter Geist son-dern weil er ein Monoman war.}

Im Bodensatze der Kreatur, bei den Ratten, Mistkäfern, Maul-würfen bereitet sich die neue Verfassung der Menschen, das neue Ohr für die neuen Gesetze, der neue Blick für die neuen Verhältnisse vor.

{Die Entstellung wird sich selber aufheben, indem sie sich bis in die Erlösung hinein durchsetzt. Diese Asenverschiebung in der Erlösung manifestiert sich darin, daß sie Spiel wird (»Na-turtheater von Oklahoma«), Das findet auf einer Rennbahn statt, weil auch diesem antiken Spiel eine sakrale Bedeutung einwohnt.}

Ein Beispiel für kurzfristiges Vergessenwordensein: der Kanz-leidirektor im Krankenzimmer von Huld. Man kann aus dem Hinweis auf die »Hände, die er wie kurze Flügel bewegte« an-

nehmen, daß hier der Verwandlungsprozeß bereits begonnen hat. (Prozeß p 180)

Die Leute fallen wie Ermüdete in Schlaf so jeden Augenblick in ihre Einsamkeit zurück; der Onkel, der die Kerze auf seinem Schenkel balanziert. (Prozeß p 182)

{Die Welt der Monstra: Leni und ihre Schwimmhaut (Prozeß p 190/191) Vielleicht eine Andeutung auf ihren Sumpf- oder Wasser-Ursprung.}

Zur Verkommenheit dieser Welt: »alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind in Wirklichkeit nur Winkelad-vokaten.« (Prozeß p 199) Es ist hier auf ein Motiv meiner Ar-beit über Green [s. Ges. Sehr., Bd. 2, S. 328-334] zu verwei-sen: der älteste und der jüngste Abschaum decken sich. In die-ser Phase des Kapitalismus werden gewisse Elementarverhält-nisse aus Bachofens Sumpfzeit wieder aktuell. {Die Kafkasche Logik als Sumpflogik. Auf weite Strecken hin erstrecken sich die Darlegungen seiner Figuren wie ein Asphalt übers Moor.}

Ms 215

Aufzeichnungen 7

Zum Naturtheater von Oklahoma: im neuen Advokaten be-trachtet ein ganz einfältiger »Gerichtsdiener mit dem Fach-blick des kleinen Stammgastes der Wettrennen den Advoka-ten.«

Die niedrige Decke - die auch das Advokatenzimmer hat -drückt die Bewohner möglichst an die Erde.

{Bei Kafka ist die Neigung sehr bemerkenswert, den Vorfällen gewissermaßen den Sinn abzuzapfen. Siehe den Gerichts-beamten, der eine Stunde lang die Advokaten die Treppe hinunterwirft. Es bleibt hier nichts weiter als der Gestus üb-rig, der aus allen affektiven Zusammenhängen herausgelöst ist.}

{Erinnern als Aufgabe, die Schwierigkeit der Eingabe »weil in Unkenntnis der vorhandnen Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft werden mußte. Und wie traurig war eine solche Arbeit überdies. Sie war vielleicht geeignet,

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Page 65: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

einmal nach der Pensionierung den kindisch gewordnen Geist zu beschäftigen.« (Prozeß p 222)}

{K. nimmt das Papier auf die flache Hand und hebt es allmählich, während er selbst aufsteht, zu den Herren hinauf (Prozeß p 226)}

Vergleich zwischen Kafka und Pirandello. Das expressionisti-sche Element bei beiden. Jede Situation geht von Ewigkeit her zu Ewigkeit hin.

{»Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen« schreibt Max Brod. Und man wird annehmen dürfen, daß vie-le, wenn nicht die meisten von ihnen in ganz schlichten oder mińdestens knappen Geberden bestanden haben, deren Hin-tergrund oder Existenzraum er in seinen Romanen zeigt.}

Kafkas Konditionalsätze sind Treppenstufen, die immer tiefer und tiefer führen, bis das Denken zuletzt in die Schicht gesun-ken ist, in der seine Figuren leben.

{Die Gerichte sind auf den Dachböden. Vielleicht nähert man sich ihrem Verständnis, erinnert man sich, daß Böden der Ort der gänzlich ausrangierten, vergessnen Effekten sind. Viel-leicht ruft die Notwendigkeit, diesen Gerichten sich stellen zu müssen, ähnliche Gefühle hervor, wie der Zwang an jahrelang verschlossene Truhen oder Koffer mit Effekten auf dem Dachboden heran zu gehen.}

{Für das Verhältnis von Schein und Wesen in dieser Welt sind die Porträts der Richter von Wichtigkeit und vor allem ist da der Satz des Titorelli bezeichnend: »Wenn ich hier alle Richter ne-beneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht.« Vgl. den Begriff der »schein-baren Freisprechung«.}

»Es gehört ja alles zum Gericht«. (Prozeß p 262) {»Es gibt bei Gericht kein Vergessen.« (Prozeß p 277)} {Während der »Prozeß« mehr die Defensive des Angeklagten

zeigt, gewinnt es im »Schloß« bisweilen den Anschein, als sei es die trostlose Aufgabe oberer Mächte, dem Menschen seine Schuld zu beweisen. Und dann ist deren Lage, trotzdem sie zum äußersten entschlossen sind (Schloß p 498) ebenso hoff-nungslos wie die des Menschen in der Verteidigung,}

{»Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen öderes sein.

Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat.« China hält es mit dem zweiten, Kafka mit dem er-sten. (Beim Bau p 244)}

Bei Kafka erscheint die Welt in einer Krisis; bei währendem Schnee und Regen wird sie von einem Zustand in den andern übergeführt. Uber das Verhältnis dieser beiden Zustände gibt es Andeutungen: »Nur hier ist Leiden Leiden, Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt Leiden heißt, in einer andern Weh, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.« (Beim Bau p 245)

Dialektische Gegensätze der Situationen: Vergleich eines Men-schen mit einem Billard, das erst zerstört, dann verwüstet wird (Beim Bau p 248) oder: »Was tätig zerstört werden soll, muß vorher ganz fest gehalten worden sein.« (Beim Bau p 244)

Eines der wichtigen Bilder das von den vielen Kindern, die im »Jäger Gracchus« und bei dem Maler Titorelli vorkommen.

Versuch, die Episode mit den Heidebildern zu deuten: in derZeit der Hölle ist das Neue (Pendant) immer das ewig selbe.

»Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst und entläßt dich, wenn du gehst.« (Prozeß p 391) Mit diesen letzten Worten, die K. erfährt, ist eigentlich ausgespro-chen, daß sich das Gericht von jeder beliebigen Situation gar-nicht unterscheide. Denn das gilt von jeder Situation, aller-dings unter der einen Voraussetzung, daß man sie nicht durch K. sich entwickelnd] sondern [als] ihm äußerlich und gleich-sam auf ihn wartend auffasse. Und gerade das geschieht mit besonderm Nachdruck im neunten Kapitel, von dem die zi-tierten die Schlußworte sind. So sind woht auch im Traum die Situationen, in die wir geratenf,] wie Hohlformen, aus denen unser Wesen gegossen wird in den Stoff der Angst, der Schuld oder wie man es netmen mag.

{Schönheit ist bei Kafka nie auf Seiten jener hurenhaften Frauen, dafür an sehr unvermutbaren Stellen wie bei den Angeklag-ten.}

Ms 216

128

Page 66: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Aufzeichnungen 8

Kafka räumt ganze ungeheure Areale, die von der Menschheit besetzt waren, nimmt sozusagen einen strategischen Rückzug vor; er nimmt die Menschheit auf die Linie des Sumpfes zu-rück. Es kommt ihm darauf an, die Gegenwart durchaus zu eliminie-ren. Er kennt nur Vergangenheit und Zukunft , die Vergangen-heit als das Sumpfdasein der Menschheit in gänzlicher Promis-kuität mit allen Wesen, als Schuld, die Zukunft als Strafe, Sühne, vielmehr: von der Schuld her stellt sich die Zukunft als Strafe dar, von der Erlösung her stellt sich die Vergangenheit als die Lehre, die Weisheit dar. Der Prophet sieht die Zukunft unter dem Aspekt der Strafe. Kafka revidiert die Geschichte: Das Wissen fordert die Strafe heraus und die Schuld die Erlö-sung[.] Es geht ein Sprung durch die Namen seiner Personen: teils gehö-ren sie der verschuldeten Welt und teils der erlösten an. Diese Spannung ist auch wohl Grund derübermäßigen Bestimmtheit in seinen Angaben.

Ts 249 (Rückseite)1

b. Aufzeichnung im Tagebuch Mai-Juni 19312

6. Juni. Brecht sieht in Kafka einen prophetischen Schriftsteller [s.o., S. 41,17]. Er erklärt von ihm, er verstehe ihn wie seine eigne Tasche. Wie er das aber meint, ist nicht so lcicht zu ermitteln. Fest steht jedenfalls, daß Kafka nur ein einziges Thema hat, daß der Reichtum des Schriftstellers Kafka genau der Varianten-reichtum von seinem Thema sei. Dies Thema ist, im Sinne Brechts, aufs allgemeinste als das Staunen zu bezeichnen. Das 1 Die Signatur »Ts« mit folgender Ziffer bezeichnet die Nummer des jeweiligen Nachlaßtyposkript-Blattes, unter der es im »Benjamin-Archiv* Frankfurt am Main archiviert ist. 2 Druckvorlage der folgenden Aufzeichnung ist das Buch : Walter Benjamin, Versu-che über Brecht, hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. Neu durchgesehene und erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1978, S. 145 f. (Gespräche mit Brecht, Tagebuchauf Zeichnungen. Le Levandou 1931)

Staunen von einem Menschen, der ungeheure Verschiebungen in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt ohne den neuen Ord-nungen sich selber einfügen zu können. Denn diese neuen Ord-nungen - so glaube ich Brecht richtig verstanden zu haben - sind durch die dialektischen Gesetze bestimmt, die das Dasein der Massen sich selber und dem einzelnen diktiert. Der Einzelne aber, als solcher, muß mit einem Staunen, in das sich freilich pa-nisches Entsetzen mischt, auf die fast unverständlichen Entstel-lungen des Daseins antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze verrät. - Kafka, scheint mir, ist davon so beherrscht, daß er überhaupt keinen Vorgang in unserm Sinn tinentstellt darstel-len kann. Mit andern Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selber. Der dauernden vi-sionären Gegenwart der entstellten Dinge erwidert der untröstli-che Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst [s.o., S. 41,20-34]. Dieser Haltung wegen will Brecht ihn als den einzig echten bolschewistischen Schriftsteller gelten lassen. Die Fixierung Kafkas an sein eines und einziges Thema kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen. Im Grunde ist dieser Eindruck aber nur ein Anzeichen davon, daß Kafka mit einer rein erzählenden Prosa gebrochen hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall ist sie so beschaffen, daß sie in beweisende Zusammenhänge jederzeit eingestellt werden kann. Man könnte an die Form der Hagada erinnern: so nennen die Ju-den Geschichten und Anekdoten des Talmud, die der Erklärung und Bestätigung der Lehre - der Halacha, dienen [s.o., S. 41,35-42,2]. [Sigle] Die Lehre als solche ist freilich bei Kafka nir-gends ausgesprochen. Man kann nur versuchen, sie aus dem er-staunlichen, aus Furcht gebornen oder furchterweckenden Ver-halten der Leute abzulesen. Es könnte über Kafka einigen Aufschluß geben, daß er die ihn am meisten interessierenden Verhaltungsweisen oft Tieren beilegt. Solche Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile lesen ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich hier gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann erstmals auf den Namen des Tiers - die Maus oder den Maulwurf - so wacht man, wie mit ei-nem Chock mit einmal auf und sieht: daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. So weit, wie eine künftige Gesellschaft von ihm entfernt sein wird. Übrigens ist die Welt

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Page 67: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

der Tiere, in deren Gedanken Kafka die seinigen einhüllt, bezic-hungsvoll. Es sind immer solche die im Erdinnern, wie Ratten und Maulwürfe, oder wenigstens, wie der Käfer in der »Ver-wandlung« Tiere, die auf dem Boden, verkrochen in seine Spal-ten und Ritzen leben. Solche Verkrochenheit scheint dem Schriftsteller für die isolierten, gesetzunkundigen Angehörigen seiner Generation und seiner Umwelt allein angemessen [s.o.,

S- 43,29-44,2]. [Sigle] Brecht stellt den Kafka - die Figur des K. - dem Schweyk gegen-über: der, welchen alles und der, den nichts wundert [s.o., S. 36,1-3]. Schweyk macht die Probe auf die Ungeheuerlichkeit des Daseins, in welches er gestellt ist, indem ihm garnichts unmög-lich scheint. Er hat die Zustände als derart gesetzlos kennen ge-lernt, daß er ihnen längst nirgends mehr mit der Erwartung von Gesetzen entgegentritt. Kafka dagegen stößt schon allenthalben auf das Gesetz; ja man kann sagen, daß er sich die Stirn an ihm blutig stößt (s. den Maulwurf vgl. auch [Beim Bau der Chinesi-schen Mauer,] p 213) aber es ist nirgends mehr das Gesetz der Dingwelt, in der er lebt, und überhaupt keiner Dingwelt. Es ist das Gesetz einer neuen Ordnung, zu der alle Dinge, in denen es sich ausprägt, windschief stehen, das alle Dinge, alle Menschen entstellt, an denen es in Erscheinung tritt.

Besitz Stefan Brecht, New York

3. Aufzeichnungen (bis Juni 1934)

a. Motive und Disposition zum Essay von 1934

Zentren

{Dorfluft} - »Das nächste Dorf« - Stubenluft bei dem alten Ehe-paar, bei Klamm, der im Wirtshaus sitzt - neunzehntes Jahrhun-dert - {Spruch des Laotse} -{Das Kinderbild - »Wunsch, Indianer zu werden« - elementare Reinheit des Gefühls) - Amerika als Befreiung -Die Potemkin-Geschichte - das Verhältnis von uns zu den Obe-ren und das Umgekehrte - {»Ein altes Blatt« - Wesen der Feind-schaft} -{Die Monstra - das bucklicht Männlein - Gestalt der Dinge in der Vergessenheit - der bepackte Soldat -} Lesebuchsiii — Primat des Gestus - Seine Unverständlichkeit -Das Testament: eine (unlösbare) Aufgabe - Gestus der Tiere -Vorsicht des Schreibenden - das Stadtwappen - Geschmack [Ge-schenk?] des Apfe ls - [am Rand:] {Romancier und Erzähler-} {Das Talmuddorf - Der Körper des Tieres in uns - Die Vorwelt des Sumpfes — Müdigkeit -} {Das Tao - China - Das Geisteraufgebot} - Don Qui chote, ein unruhiger Geist -Das Ungeheure als Gewährleistung des Alltäglichen - Die die-nenden Titanen - Die Tiere aus dem Erdinnern - Unendlich viel Hoffnung da (für diese) -

Ms 224

Motive

»Der Schlag ans Hoftor« (Bau) 1) »Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Tü-

ren« (Betrachtung) Der Schreibende läuft über den schmalen Teppich seines Zimmers »wie in einer Rennbahn«. (Betrachtung)

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Page 68: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Die Rennbahn in dem Roman »Amerika« 2) Zum Nachdenken für Herrenreiter (Betrachtung)

Ein gespentisches Kind in »Unglücklichsein« (Betrachtung) 3) Die Kinder bei Titorelli (Prozeß) bei Gracchus (Bau)

»Die andern mit Tierblick anschauen« - ein Ausdruck für »letzte grabmäßige Ruhe«. (Betrachtung)

4) Die Ritzen in den Brettern des Affenkäfigs [Bericht f. eine

Ak.] 5) Die Ritze in der Tür Titorellis (Prozeß)

Das Ungeziefer kann den Kopf unter dem Kanapee nicht he-ben (Verwandlung)

6) Die Galericbesucher stoßen mit dem Kopf an die Decke (Prozeß) Die Kreuzung aus Lamm und Kätzchen (Bau)

7) Die Spule Odradek (Landarzt) Leni mit ihrer Schwimmhaut (Prozeß) Der Kaufmann erklärt, er »gehe wie auf Wellen, klappere mit den Fingern beider Hände«. (Betrachtung)

8) Beim kranken Huld verweist der Autor auf die »Hände, die er wie kurze Flügel bewegte.« (Prozeß) Die beiden Gehilfen, die zum Fenster hereinsehen (Schloß)

9) Die beiden Pferde, die es tun (Landarzt) Die Krähen, die gegen den Himmel angehen (Bau)

10) Die Krähen, welche ums Schloß fliegen (Schloß) Ms 225

h Spaßhafte Raubmörder

Motive

Naturtheater von Oklahoma Bucklicht Männlein Sumpfwelt Zeitverschränkung Dorfluft Studium Kinderbild Vergessen Kierkegaard und Pascal Potcmkin Schlemihl

Leitmotive

Pferdsein Das Jüdische

Kinderbild Naturtheater Spaßhafte Raubmörder

Rese rve Die vielen Kinder Nahrung, Fasten, Wachen Der Bau Der Schlemihl Die Musik {Folie d'interpretati on} Lesebuchstil {Das Testament} Das Schweigen Der Schein

Dorfluft Kierkegaard und Pascal Sumpfwelt Vergessen Entstellung

Ms 231

M o t i v e Bestandteil eines Monuments Erbsünde Taoismus und Hämmern

Ms 230

Letzte und vollständigste Disposition zum Essay

Kafkas Gestaltenreich und Welttheater

Potemkingeschichte Herold

Die Ermüdeten / Die Väter / Die Strafenden Die Parasiten Unrecht und Erbsunde / Der immerwährende Prozeß Die Entscheidungen und die jungen Mädchen / K. und Schu-balkin

Monstra im Schöße der Familie: Das Ungeziefer / Odradek / Das Lämmchen Tiere / Hunde / Pferde / Maulwürfe / Mäuse Die unfertigen Wesen / Bauernfänger / Kinder / Gehilfen / Zwischen Leben und Nichts Promiskuität im Reich dieser Gestalten / Die Botengeister / Musik / die einschläfert Unendlich viel Hoffnung / nur nicht für uns

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Page 69: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

[Kinderphotographie] Die arme kurze Kindheit Trostlosigkeit / Das Kinderbild Wunsch / Indianer zu werden Amerika / Die Rennbahn Roßmann charakterlos Der Weise Chinas Das gestische Theater / Ein altes Blatt / Erfahrung der Po-grome Die Gesten / Ihr Inventar / Ihre Unabsehbarkeit / Ihre Inter-pretierbarkeit Entwicklung der Geste / Verzicht auf ihre Rationalisierung / Das Testament Schauspieler / die sich selbst spielen / Pirandello Parallelen Die Erlösten / Die Engel / Bankett der Seligen Dorfluft / Laotse Das Talmuddorf / Das Körperdorf Kafkas Ernährungsweise / Der Husten Finsternis des Dorfes

Ms 262

Hamsungeschichte

Theologische Auslegung Kafkas Kierkegaard und Pascal /

Trilogie des Werks

Haas / Rang / Rougemont / Groethuysen / Schoeps / »Nicht-

Sein« Gottes Nachgelassene Notizen / Die Motive Kafkas Preis Der Sieg über das Paradox / Schamlosigkeit der Theologie /

Die Scham (Kein Gott / keine Juden / keine Liebe} Der Zweifel / Dasein auf einer Schaukel / Moorboden der Er-fahrung Historische Entsprechung / Regression auf die Sumpfwelt / Leni / Brunelda / Olga Abgesunkene Natur / Verstaubte Menschenwelt / Die Vor-welt und das Neue Das Vergessen als Schuld

Vergessen und Tiere / Der blonde Eckbert Das Denken der Tiere / Ihre Angst Vergessen als Behältnis der Gcisterwelt Form der Dinge in der Vergessenheit / O d r a d e k / Entstel-lung Das gesenkte H a u p t / D a s b u c k l i c h t M ä n n l e i n / A u f m e r k -samkeit das natürliche Gebet Je n'ai rien négligé

В cttler geschichte

Entstellung in der Zeit / Ritt ins n ä c h s t e D o r f / Legende vom Messias Das kurze Leben / Die Kinder / Die Nimmermüden / Die Stadt im Süden Studenten und Gehilfen / Fasten / Nichtschlafen / Schweigen Studium im Elternhaus Das Tao Magie im Studium / Schnelligkeit / Der Ritt Leere fröhliche Fahrt / Karl Roßmann / Seliger Reiter Der neue Advokat und sein Studium / Auslegung Die W a h r h e i t ü b e r S a n c h o P a n s a

M s 2 6 1

b. Diverse Aufzeichnungen zum Essay

Wollte man, was Kafka hin und wieder im Verlaufe seiner Erzäh-lungen unvermerkt und wie etwas Selbstverständliches ein-streut, auf wenigen Seiten zusammenstellen, so ergäbe sich die unerhörte und befremdliche Ansicht einer Welt,

{in der die Menschen vor Schrecken gcbückt gehen (Hof-tor)} Bettler Kaffeesatz als Almosen zu trinken bekommen (Kü-belreiter) {Bittsteller auf der flachen Hand ihr Papier zur Behörde heraufheben, während sie langsam von ihrem Sitze aufstehn (Prozeß)}

г37

Page 70: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

{die Menschen die Arme auf der Brust gekreuzt} oder die Finger gespreizt im Haar [tragen] {in der es der höchste Ausdruck der Liebe ist, wenn ein Be-amter über die Deichsei springt}

Ms 219

Der Bereich der Theologie gilt Kafka als unanständig (Potcm-

kin) Kafkas Werk: das Kräftefeld zwischen Thora und Tao Einer von den sechsunddreißig Gerechten war der Schlemihl Die Gehilfen sind unfertige Wesen, die, eben darum, dem Mut-

tcrschoß der Natur besonders nahe stehen Die Männer Kafkas: Narren oder Greise - Unfertige oder Über-

reife Die Tiere (Monstra) sind im Familienschoß ausgebrütet Dem Schlemihl (wie dem Gehilfen) fehlt etwas, um fertig zu sein

- und sei es auch nur ein Schatten Das moralische Zwielicht über ihrem Dasein erinnert an das, was

Robert Walser - Verfasser des Romans »Der Gehülfe«, ein Lieblingsautor von Kafka - in seinen kleinen Stücken - man denke an »Schneewittchen« - zu verbreiten pflegte

Die Gehilfen sind dem weiblichen Schoß noch nicht ganz ent-wachsen; sie haben sich »in einer Ecke auf dem Boden auf zwei alten Frauenröcken eingerichtet.« (Schloß p 84)

[Rückseite:] Stammbaum der Kafkaschen Figuren

Die Väter; Klamm; Zeitung lesend, Virginia rauchend, in Uniform, hinfällig,

fast verblödet, Die Gehilfen; der Bauernfänger; Barnabas; Die Monstra; der Mistkäfer; Odradek; die Kreuzung; die

Tiere

Die Frauen; Bruneida; Frieda; Olga; Antonia; Fräulein Bürst-

ner; Ms 332

Herkunft des »Er« aus der Allegorie. Bau p 217 [s. den Aphoris-mus »Er war früher Teil einer monumentalen G r u p p e . . . « ] Versuchen: dies auf den Schriftsteller zu beziehen

138

Bezüglich der dämonischen Natur des Rechts, die Kafka ständig vor sich hat, und die wohl der Grund seiner Behutsamkeit ist, ist die »Kritik der Gewalt« zu vergleichen [s. Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 2, S. 179-203]

Zu vergleichen: Haas • Gestalten der Zeit Beziehung des Denkens zum Traum Bau p 214 Das Schriftstellerische bei Kafka im Gegensatz zum »Dichteri-

schen« »Er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens« Bau p 217 Trost fürs bucklicht Männlein »Kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht« Bau p 219

»Der Frieder und das Katherlieschen« »Merkwürdiger aber auch tröstlicher Weise war er darauf am

wenigsten vorbereitet« Bau 212 - Tröstlich, weil das Elend kein Gegenstand der Angst ist.

»Die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander« Bau p 213 Kafka gibt sich in eine Welt hinein, um sie zu sehen, wie sie sich selbst sehen müßte.

»unfähig historisch zu werden« Bau p 212 Die Masse, der Na-menlose

»»Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an mei-ner Seele.«« Bau p 220 Über den Toten: »Es wird sichtbar, ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr gescha-det hat, im letzten Fall war er ein großer Mann.« Bau p 221

»Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Kor-ridor, m dem die Lampe noch nicht brannte, und blieb auf den Fußspitzen stehn, auf einem unmerklich schaukelnden Fuß-bodenbalken.« Betrachtung p 82

Ms 232

Widerlegung der Interpretation des »Schlosses« [s.o., S. 26] Den ersten Teil dieser Konstruktion kann man als Gemeingut der

Kafka-Interpretation ansprechen. - Brod -Jedes seiner Werke ein Sieg der Scham über die theologische Fra-

gestellung Schamlosigkeit der Sumpfwelt. Ihre Macht liegt in ihrer Verges-

senheit

Die Weltalter bewegende Erinnerung. Der von ihr umfaßte Er-fahrungskreis. Die Sumpflogik

539

Page 71: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Das Vergessen und die Technik des Erzählers Das Eingedenken bei den Juden Die Tiere und ihr Denken. Warum soviel von der Deutung ihres

Gestus abhängt Der blonde Eckbert Odradek und die Form der Dinge in der Vergessenheit Die schwerc Last. Das bucklicht Männlein.

Ms 217

[ . . . beide oberen Ecken abgerissen]: Mythologische Gestalten und Tiere, Allegorien und Fabelwesen

{ [ . . . ] eine Deutung Kafkas zu gehen, ehe man langen Umgang mit jedem [ . . . ] Motive gepflogen hat.}

{ [ . . . ] das Tier, die Rennbahn, der gebücktc Kopf, der Schlag gegen die Tür, der Frack, Gehilfen [ . . . ] Diener}

[ . . . ] Auseinandersetzung mit Kafkas Werk ist noch fast nichts geschehen. Es hieße einen unstatthaften Kalen[der]glauben verraten, anzunehmen, daß die zehnte Wiederkehr seines To-destages diesen Sachverhalt mit einem Schlag ändern könnte.

{Auf die Verbindung seiner gestischen Interessen mit der Dar-stellung von Tieren ist hinzuweisen.}

In Kafkas Schriften kommt das Wort » Gott« nicht vor. Sie unge-brochen theologisch auszulegen, ist nicht viel statthafter als eine Kleistsche Novelle, um sie den Lesern näherzubringen, in Reime zu übertragen.

Ms 233

Studie zu Odradek Das Vergessene—wird uns »überleben« ; es ist nicht auf uns an-

gewiesen; sein Wohnsitz ist »unbestimmt«. Es ist ein Haufe von welken Blättern — wenn es in ihnen ra-

schelt, so tönt ein Sichverstecken und Gesuchtwerden zugleich heraus. Beides zusammen ergibt dieses »Lachen«.

Das Vergessen ist »außerordentlich beweglich und nicht zu fangen«.

Ms 964

{Übrigens hat diese Vorwelt Stimmen. Unter den Sätzen Kafkas ist vielleicht keiner ergreifender als der sie beschreibende. Odradek lacht. »Es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Ra-scheln in gefallenen Blättern.«}

»Die Sorge des Hausvaters« ist das Mütterliche, das ihn überle-ben wird.

Odradek hält sich auf dem Dachboden auf. Die Pferde des Landarztes Vorläufer der Gehilfen. Die Falten auf der Stirn Sortinis, die strähnenartig sich zur Na-

senwurzel hinziehen. Wenn man nun aber fragt, wie die Überraschungen in diesen Ge-

schichten auftreten, so wird man finden, daß wie sie uns oder auch den Helden überraschen nicht eigentlich den Überra-schungen ähnlich sieht, die das Leben mit seinen Ereignissen sondern die Erinnerung mit ihren Einfällen zuwege bringt, de-ren tiefste ja meist an unscheinbaren, wenn nicht unpassenden Stellen zum Vorschein kommen.

Auch die Müdigkeit ist ein Hinweis auf das Verbrauchte der Welt. Aber auch auf ihre Versumpftheit. »Wie liebte ich sie immer, wenn sie so müde war«, sagt Olga von Amalie.

Die Beamten tun viel »in Gedanken«; so hat wohl auch Sortini den anstößigen Brief an Amalie geschrieben.

»Unglückliche Beamtenliebe gibt es nicht.« Ms 220

{Keine Aussage, die wir über die »obere Welt« bei Kafka besit-zen, ist als ein Schlüssel zu der unsrigen anzusehen. Denn diese obere kommt überhaupt nicht zu sich. Sie ist an die un-tere gebunden, wie ein Mann, der sein Dasein damit verbräch-te, durchs Schlüsselloch ins Zimmer seines Nachbarn zu star-ren, von dem er nichts weiß und den er nicht versteht. Dieses Zimmer ist unsere Welt.}

{Das Recht hat in dem Werke К afkas den Charakter eines mythi-schen Gebildes. Aber dieser gnadenlosen Gewalt des Rechts gibt er ein Korrektiv bei. Jene Welt des Rechts ist korrupt im Innersten. Und vielleicht ist die Korruption das Sinnbild der Gnade.}

{»Es ist unendlich viel Hoffnung da, nur nicht für uns.« Für wen

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dann? Für das Geschlecht der Türhüter und der Gehilfen, der Hunde und Maulwürfe, der Titorelli und Odradek, der Kü-belreiter und Gerichtsschreiber.}

{Es gibt eine kleine Anekdote von Potemkin, die wie ein um Jahrhunderte verfrühter {Bote} Herold des Kafkaschen Wer-kes ist.} [s.o., Nachweis zu 10,7]

{Unter allen Geschöpfen Kafkas kommen zum Nachdenken ei-gentlich nur die Tiere. Was die Korruption im Recht ist, das ist im Denken die Angst. Sie verpfuscht den Vorgang tmd doch ist sie das einzig Hoffnungsvolle und Erhebliche daran.}

{Flaubert und Kafka: Kellerluft und Dorfluft.} {»Worüber ich einen jeden treffe, darüber will ich ihn richten.« -

»Das jüngste Gericht ist ein Standrecht.« Von diesem gnosti-schen Einschlag bei Kafka seine Stellung zur Geschichte be-stimmen.}

Die Haltung Kafkas: Haltung des Mannes, der das Hoffnungs-lose zu sagen hat. Dies ist die besondere Lage, in die das Er-zählen durch ihn gerät.

Ms 221

{Otto Stoessl hat Kafka mit Pirandello verglichen. (Zeitwende

H.7) Klassifizierung der Elemente, aus denen sich die Erzählungen

des letzten Bandes aufbauen: Tiere, allegorische Gegenstände (die chinesische Mauer, das Stadtwappen, die Gesetze), my-thologische Figuren.

Ausführlich zu berücksichtigen das Resümee von Kraft über die »Chinesische Mauer«.

Kafkas Schriftwerk war Umkehr. Er fühlte wieder das große An-sinnen, das der Hörer an den Erzähler stellt: Rat zu wissen. Aber er wußte den Rat nicht, [s. Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 2, S. 442,11] Höchstens, wie etwa heutzutage ein Rat aussieht, wußte er. Und daß man, um ihn zu erteilen, sich abzuwenden hat von der Kunst, der Entwicklung, der Psychologie.

»Ein altes Blatt«, Nicht ein einziges Mal ist hier von den »Fein-den« die Rede, »obwohl es sich doch um nichts anderes han-delt . . . nicht unsere Soldaten« heißen sie, aber die »Noma-den«. Eher brächte er es fertig, sie »die Dohlen« zu nennen als Feinde. Und auch Feindseligkeiten schreibt er ihnen nicht zu.

Die Gefahr, von ihren »Peitschen verfolgt zu werden«, ist ihm nicht bekannt. Er sagt aber nicht, daß sie nach uns zielen. Und noch viel weniger sagt er ihnen Gewalttaten nach. »Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles.« Sein Bericht ist ein Spiegel, der die Untat auf-fängt. Rechts und links sind [in] ihrem Bilde vertauscht. Man könnte es für das der Friedfertigkeit selbst halten. Auch brandschatzen die Nomaden nicht: die Unterworfenen sind es, die die Angst des Flcischcrs verstehen und Geld zusam-menschießen, um ihn zu »unterstützen«. Und welcher Um-stand ist an dem allen Schuld? Nicht die Raublust der Noma-den. Etwas ganz anderes; nicht einmal ein Umstand. Ein Ge-genstand: »Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben.«}

Ms 222

»Die Wahrheit über Sancho Pansa« [s.o., Nachweis zu 38,11] -Verwandtschaft dieser Geschichte mit der chassidischen von dem Bettler. Das Ungeheure als Gewährleistung des Alltägli-chen. Es ist eine Weltalisicht, der das Gemeinschaftsleben der Ratten leichter verständlich ist als das der Menschen, Sehen rätselhafter als Hellsehen und ein Menschenalter unüberseh-barer als ein Weltalter. Daß es aber das Ungeheuere ist, wel-ches das Alltägliche gewährleistet, das ist die eigentliche Ein-sicht des Humors, der zuhause in jener unteren Titanenwelt der unscheinbaren und der abgeschmackten Vorgänge und Geschöpfe ist, die wir erst spät - vielleicht erst in der Todes-stunde - entdecken wie Karl den Heizer, als er schon im Be-griffe steht, in Amerika auszusteigen.

{Das chassidische Bettlermärchen [s.o., S. 33] aber führt nicht nur in den moralischen Haushalt von Kafkas Werk ein son-dern ebenso in seinen zeitlichen, der so innig mit jenem zu-sammenhängt. Dem Großvater des »Landarztes«, deres kaum begreifen kann, »wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächstc Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß . . . schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Le-bens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht« - die-sem Großvater gleicht der Bettler, der im gewöhnlichen,

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glücklich ablaufenden Leben nicht einmal die Stelle für einen Wunsch findet - für den Wunsch nach einem Hemd - in dem unseligen, ungewöhnlichen der Flucht aber, auf die er sich in seiner Geschichte hineinbegibt, diesen Wunsch wirklich spart - gegen die Erfüllung ihn eintauscht. Nichts ist Franz Kafka inniger angelegen als die Umgehungsstrategie dieses chassidi-schen Bettlers. Er bringt seine Wünsche an das wirkliche Da-sein nicht vor; damit aber deren winzigster in Erfüllung gehe, bietet er die Titanenwclt des Gedichteten auf - wie Sancho Pansa - nur um Ruhe zu haben - die Heldentaten des Don Quichote.}

Ms 223

»Im übrigen glaube ich, daß Kafkas Wert [Werk?] überhaupt verschlossen ist und daß jede Erklärung seine, Kafkas, In-tentionen verfehlen muß. Den Schlüssel hat er mit sich ge-nommen, ja vielleicht nicht einmal das, wir wissen es nicht.« Kraft

Die »Wahrheit über Sancho Pansa« kommt auf das »Bleiben im Üblichen« hinaus, dessen Natur Kafka doppelt bestimmt: einmal, indem man nicht einmal im Irdischen nach dem Guten strebt; zum andern, indem man das Böse, in diesem Fall, we-nigstens dem Anschein nach, nicht betrügt. [Bau p 235f.]

(Kraft stellt einige Stücke zusammen, die Kafkas Auseinander-setzung mit dem Zeitverlauf kennzeichnen: Kleine Fabel, Der Ritt ins nächste Dorf, Jüngstes Gericht als Standrecht.}

Kafka: »Ein altes Blatt« zu vergleichen mit Goethes »Groß ist die Diana der Epheser«.

{»Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. « Kafka 1909 Hyperion II 1}

{»Ich entsinne mich eines Gesprächs mit Kafka, das vom heuti-gen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. >Wir sind<, so sagte er, nihilistische Gedanken, Selbstmordgedan-ken, die in Gottes Kopf aufsteigen.« Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis. - Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. >0 nein«, meinte er, >unscre Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.< - >So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen,

Hoffnung?« - Er lächelte: >Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns.«« Max Brod: Der Dichter Franz Kafka (Neue Rundschau 1921)}

Nüchtern wie Kafkas Sprache muß der Apfel vom Baum der Er-kenntnis geschmeckt haben.

Ms 227

Erwartung des zweiten Nachlaßbandes [= Franz Kafka, Vor dem Gesetz, Berlin 1934]

{Redewendungen aus dem Nachwort zum »Bau« [= Beim Bau der Chinesischen Mauer, Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. mit einem Nachwort von Max Brod und Hans Joachim Schoeps]: die unleidliche Behaup-tung, »daß dieser Typus, dessen Dascinsintention kraft seiner Erschütterungsfähigkeit durch Grenzerlebnisse eine tragische ist, je nach der geschichtlichen Situation, in der er sich vorfin-det, eine stärkere oder schwächere Ahnung davon hat, daß es auch für die tragische Grundkonstellation seines Daseins noch eme Heilsmöglichkeit gibt.« [p 254 f.] - »Im übrigen hat Kafka auch in der für ihn charakteristischen Form des mythischen Ahnungswissens um die Schicksalhaftigkeit der geschichtli-chen Zusammenhänge gewußt.« [РЯ55] Manchmal kommt die Sprache der Herausgeber in bedenkliche Nähe zu der der Exi-stentialphilosophie .}

Zu der »Dorfluft« bei Kafka - zu der Überlieferung, welche ihm zunächst liegt - zu Sancho Pansa: »>Dann aber kehrte er zu seiner Arbeit zurück, so wie wenn nichts gesehen wäre.« Das ist eine Bemerkung, die uns aus einer unklaren Fülle alter Er-zählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vor-kommt.« [Bau p 248]

{Die Stube des alten Ehepaars, in der die Totenerweckung vor sich geht, der Keller des Kohlenhändlers, die Wirtsstube, in welcher Klamm sitzt - Dorfluft draußen, dicke, stickige Luft im Innern: beides vereinigt sich zur dörflichen Lokalfarbe.}

{»Wunsch, Indianer zu werden« - im Abschnitt über das Kin-derbild zu zitieren,}

{Dialektik des Vergessens. Sind wir's, die vergessen haben? Oder sind wir nicht vielmehr vergessen worden? Kafka ent-scheidet darüber nie. Die Oberen sind vielleicht nur darum so

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Page 74: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

verkommen, weil wir uns um sie nicht gekümmert haben? Aber vielleicht sind sie auch nur verkommen, weil sie noch nie auf uns gekommen sind.}

{Sancho Pansa hat seinen Reiter vorangeschickt, Bucephalus den seinigen überlebt; und nun sind sie beide gut dran. Ob Mensch ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur der Reiter besei-tigt ist.}

Ms 228

{Es wurde darauf hingewiesen, daß im ganzen Werke Kafkas der Name »Gott« nicht vorkommt. Und nichts ist müßiger als in seiner Erläuterung ihn einzuführen. Wer nicht versteht, was Kafka den Gebrauch dieses Namens verbietet, versteht von ihm keine Zeile.}

Werner Kraft zitiert zu »Die Wahrheit über Sancho Pansa« Gide »Suivant Montaigne« NRF Juni 1929. »Montaigne mourut (1592) avant d'avoir pu lire Don Quichotte (1605), quel dom-mage! Le livre était écrit pour lui . . . C'est le propre de ce grand livre . . . de se jouer en chacun de nous; en aucun plus éloquemment qu'en Montaigne. C'est au dépens de Don Qui-chotte que, peu à peu, grandit en lui Sancho Pansa.«

Kraft sieht nicht unrichtig, daß Kafka von Brod in seinem Testa-ment mit Bewußtsein das Unmögliche gefordert hat.

{Keine menschliche Kunst erscheint bei Kafka so tief kompro-mittiert wie die Baukunst. Keine ist lebenswichtiger und vor keiner macht die Ratlosigkeit sich vernehmbarer. (Beim Bau der Chinesischen Mauer, Das Stadtwappen, Der Bau)}

Kraft hat in seiner Auslegung des »Kübelreiters« ein Bild gefun-den, das nachdrücklich den Or t des Göttlichen in Kafkas Welt festlegt. »Die Auffahrt«, sagt er von der Fahrt des Kübelrei-ters, ist »ein Gehobenwerden, wie das der einen Wagschale, wenn das volle Gewicht auf der andern liegt.« Das volle Ge-wicht der Gerechtigkeit ist es, das alles Göttliche so erniedrigt.

{Zahllose Beispiele bietet Kafka für diesen Vorgang: einer will nun endlich, aller Anfechtung sich erwehrend, in einer Uber-zeugung, einer Situation sich zurechtsetzen. Da geht sie ihm aus den Fugen. Eines für diese zahllosen: »Es war im Sommer, ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie

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aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht.«}

Ms 229

Kafka und Brod - Laurel der seinen Hardy, Pat der seinen Pata-chon suchte. Daß er dem lieben Gott dieses Divertissement gab, machte Kafka für sein Werk frei, um das sich nun Gott nicht mehr zu kümmern hatte. Kafka gab aber in dieser Freundschaft wahrscheinlich gerade seinem Teufel den Spiel-raum frei. Er hat vielleicht zu Brod und dessen tiefen jüdischen Philosophemen so gestanden wie Sancho Pansa zu Don Qui-chote und dessen tiefsinniger Chimäre vom Rittertum. Kafka hatte ziemlich stattliche Teufeleien im eignen Leibe wohnen und er konnte froh sein, sie in Gestalt von Unziemlichkeiten, faux pas und unappetitlichen Situationen vor sich tummeln zu sehen. Er hat sich wahrscheinlich für Brod mindestens ebenso verantwortlich gefühlt wie für sich selbst - ja mehr.

Ob alle Komik dem Grauen d[.]i[.] dem Mythos abgewonnen ist - und ob die griechische Komödie den ersten Gegenstand des Gelächters am Grauen gefunden hat? - Daß alles Grauen eine komische Seite haben kann, n i c h t n o t w e n d i g auch alle Komik eine grauenhafte. Die erste zu entdecken, entwertet das Grauen, nicht so die zweite zu entdecken die Komik; de-ren Primat. Höchste Disponibilität: beide Seiten erfassen zu können.

In der Geschichte nicht leben wie in der Wohnfung], Ms 963

Indem Kafkas Sprachc in den Romanen sich der Sprache der volkstümlichen Erzählung zum Verwechseln ähnlich macht, er-scheint die Kluft, die den Roman von der Erzählung trennt, nur umso unüberbrückbarer. Das »Individuum, das selber unbera-ten ist und keinen Rat geben kann«, hat bei Kafka, so wie noch nie vorher, die Farblosigkcit, die Banalität und die glasige Trans-parenz des Durchschnittsmenschen. Bis auf Kafka hatte man glauben mögen, die Ratlosigkeit des Romanhclden sei eine Aus-geburt seiner besondern innern Beschaffenheit, seiner Subtilität oder seiner komplexen Beschaffenheit. Erst Kafka macht zum Mittelpunkt des Romans eben den Menschen, an den sich die

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Page 75: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Weisheit der Völker richtet, den schlichtgearteten, gutgesinnten, den Mann, den das Sprichwort mit seinem Rat versieht und den der Zuspruch der alten Leute mit Trost versieht. Wenn es nun dieser wohlbeschaffene Mann ist, der aus einer Verlegenheit in die andre fällt, so kann nicht seine Natur daran schuldig sein. Es muß wohl an der Welt liegen, in die er geschickt wurde, daß er sich so ungeschickt in ihr anstellt.

Ms 250

Proust und Kafka Es gibt etwas, das Kafka mit Proust gemeinsam ist, und wer

weiß, ob dieses etwas sich irgendwo sonst findet. Es handelt sich um ihren Gebrauch des »Ich«. Wenn Proust in seiner recherche du temps perdu, Kafka in seinen Tagebüchern Ich sagt, so ist das bei beiden ein gleich transparentes, ein gläsernes. Seine Kam-mern haben keine Lokalfarbe; jeder Leser kann sie heute bewoh-nen und morgen ausziehen. Ausschau von ihnen halten und sich in ihnen auskennen ohne im mindesten an ihnen hängen zu müs-sen. In diesen Schriftstellern nimmt das Subjekt die Schutzfär-bung des Planeten an, der in den kommenden Katastrophen er-grauen wird.

Ms 251

4. Aufzeichnungen (bis August 1934)

a. Gespräche mit Brecht1

6. Juli. Brecht, im Lauf des gestrigen Gesprächs: »Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. >Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst?« Ich müßte dann anerkennen: Ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artisti-sches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage ver-neint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung an-schließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.« Freilich ist das schon eine spätere Formulierung im Gesprächsgang. Begon-nen hatte Brecht nicht mit dem Zweifel an der Statthaftigkeit, wohl aber an der Durchschlagskraft seines Verfahrens. Mit dem Satze, der von einigen Bemerkungen ausging, die ich über Ger-hart Hauptmann gemacht hatte: »Manchmal frage ich mich, ob das nicht eben doch die einzigen Dichter sind, die es wirklich zu etwas bringen: di t Substanz-Dichter, meine ich.« Darunter ver-steht Brecht Dichter, denen es ganz ernst ist. Und zur Erläute-rung dieser Vorstellung geht er von der Fiktion aus, Konfuzius habe eine Tragödie oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden, so erklärt er, und als ein ihrer nicht würdiges Verhalten, [»]Nehmen wir an, Sie lesen einen ausgezeichneten politischen Roman und erfahren nachher, daß er von Lenin ist, Sie würden Ihre Meinung über beide än-dern, und zuungunsten beider, Konfuzius dürfte auch kein Stück von Euripides schreiben, man hätte das als unwürdig angesehen. Nicht aber sind das seine Gleichnisse.« Kurz, all dies läuft auf die Unterscheidung zweier literarischer Typen hinaus: des Visio-näre, welchem es ernst ist, auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht ganz ernst ist, auf der andern Seite. Hier werfe ich nun die Frage nach Kafka auf. Welcher von beiden Gruppen ge-1 Druckvorlage der folgenden drei Aufzeichnungen ist das Buch: Walter Benjamin, Versuche über Brecht, a.a.O., S. 154 f. und 156-160 (Gespräche mit Brecht, Tage-buchaufzeichnungen. Svendborg 1934 I)

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hört er an? Ich weiß: die Frage läßt sich nicht entscheiden. Und eben ihre Unentscheidbarkeit ist für Brecht das Anzeichen, daß Kafka, den er für einen großen Schriftsteller hält, wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Gescheiterter ist. Sein Ausgangspunkt ist wirklich die Parabel, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verantwortet und dem es deshalb, was seinen Wortlaut angeht, nicht ganz ernst sein kann. Aber diese Parabel unterliegt dann doch der Gestaltung. Sie wächst sich zu einem Roman aus. Und einen Keim zu ihm trug sie, genau betrachtet, von Haus aus in sich. Sie war niemals ganz transparent. Übrigens ist Brecht davon überzeugt, daß Kafka seine eigene Form nicht ohne den Großin-quisitor von Dostojewski und jene andere parabolische Stelle in den »Brüdern Karamasoff« gefunden hätte, wo der Leichnam des heiligen Staretz zu stinken anfängt. Bei Kafka also liegt das Para-bolische mit dem Visionären im Streit. Als Visionär aber hat Kaf-ka, wie Brecht sagt, das Kommende gesehen, ohne das zu sehen was ist. Er betont, wie schon früher in Le Lavandou [s.o., S. 130] lind mir deutlicher, die prophetische Seite an seinem Werk. Kafka habe ein, nur ein einziges Problem gehabt, und das sei das der Organisation, Was ihn gepackt habe, das sei die Angst vor dem Ameisenstaat gewesen: wie sich die Menschen durch die Formen ihres Zusammenlebens sich selbst entfremden. Und ge-wisse Formen dieser Entfremdung habe er vorhergesehen, wie z.B. das Verfahren der GPU. Eine Lösung aber habe er nicht ge-funden und sei aus seinem Angsttraum nicht aufgewacht. Von der Genauigkeit Kafkas sagt Brecht, sie sei die eines Ungenauen, Träumenden. 5. August. Vor drei Wochen hatte ich B. meinen Aufsatz über Kafka [seil, den Essay von 1934] gegeben. Er hatte ihn wohl gele-sen, war aber von sich aus nie darauf zu sprechen gekommen und hatte die beiden Male, da ich die Sprache darauf gebracht hatte, ausweichend geantwortet. Ich hatte das Manuscript schließlich stillschweigend wieder an mich genommen. Gestern abend kam er plötzlich auf diesen Aufsatz zurück. Den, etwas unvermittel-ten und halsbrecherischen Übergang bildete eine Bemerkung, auch ich sei nicht ganz freizusprechen vom Vorwurf einer tage-buchartigen Schriftstellerei im Stil Nietzsches. Mein Kafkaauf-satz zum Beispiel - er beschäftigte sich mit Kafka lediglich von der phänomenalen Seite - nehme das Werk als etwas für sich Ge-

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wachsenes - den Mann auch - löse es aus allen Zusammenhängen - ja sogar aus dem mit dem Verfasser. Es sei eben immer wieder die Frage nach dem Wesen, auf die es bei mir herauskomme. Wie dagegen so eine Sache wohl anzufassen wäre: An Kafka müsse man mit der Frage herantreten: was tut er? wie verhält er sich? Und da vor allem zunächst mehr auf das Allgemeine sehen als das Besondere. Dann stellt sich heraus: er hat in Prag in einem schlechten Milieu von Journalisten, von wichtigtuerischen Lite-raten gelebt, in dieser Welt war die Literatur die Hauptrealität, wenn nicht die einzige; mit dieser Auffassungs weise hängen Kaf-kas Stärken und Schwächen zusammen; sein artistischer Wert, aber auch seine vielfache Nichtsnutzigkeit, Er ist ein Judenjunge - wie man auch den Begriff eines Arierjungen prägen könnte - ein dürftiges, unerfreuliches Geschöpf, eine Blase zunächst auf dem schillernden Sumpf der Kultur von Prag, sonst nichts. Aber dann gäbe es doch eben bestimmte, sehr interessante Seiten. Man könnte sie zum Vorschein bringen; man müsse sich ein Gespräch von Laotse mit dem Schüler Kafka vorstellen.Laotse sagt: »Also, Schüler Kafka, dir sind die Organisationen, Rechts- und Wirt-schaftsformen, in denen du lebst, unheimlich geworden? - Ja. -Du findest dich in ihnen nicht mehr zurecht. - N e i n . - Eine Aktie ist dir unheimlich? - Ja. - Und nun verlangst du nach einem Füh-rer, an den du dich halten kannst, Schüler Kafka.« Das ist natür-lich verwerflich, sagt Brecht. Ich lehne ja Kafka ab. Und er kommt auf das Gleichnis eines chinesischen Philosophen über »die Leiden der Brauchbarkeit«. [»]Im Walde gibt es verschie-denartige Stämme, Aus den dicksten werden Schiffsbalken ge-schnitten; aus den weniger soliden aber immer noch ansehnli-chen Stämmen macht man Kistendeckel und Sargwände; die ganz dünnen verwendet man zu Ruten; aus den verkrüppelten aber wird nichts - die entgehen den Leiden der Brauchbarkeit. In dem, was Kafka geschrieben hat, muß man sich umsehen wie in solchem Wald. Man wird dann eine Anzahl sehr brauchbarer Sa-chen finden. Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist eben Geheimnis-krämerei. Der ist Unfug. Man muß ihn beiseite lassen. Mit der Tiefe kommt man nicht vorwärts. Die Tiefe ist eine Dimension für sich, eben Tiefe - worin dann gar nichts zum Vorschein kommt.« Ich erkläre B. abschließend, in die Tiefe zu dringen, sei meine Art und Weise, mich zu den Antipoden zu begeben. In

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meiner Arbeit über Kraus [s. Ges. Sehr., Bd. 2, S. 334-367] sei ich in der Tat dort herausgekommen. Ich wisse, daß die über Kafka nicht im gleichen Grad geglückt sei: den Vorwurf, so zu einer tagebuchartigcn Aufzeichnung gekommen zu sein, könnte ich nicht abwehren. In der Tat sei die Auseinandersetzung in dem Grenzraum, den Kraus und den auf andere Weise Kafka be-zeichne, mir angelegen. Abschließend habe ich diesen Raum, im Falle Kafka, noch nicht erkundet. Daß da viel Schutt und Abfall stecke, viel wirkliche Geheimniskrämerei - das sei mir klar. Aber entscheidend sei doch wohl anderes und einiges davon habe meine Arbeit berührt. B.s Fragestellung müsse sich doch an der Interpretation des Einzelnen bewähren. Ich schlage »Das nächste Dorf« [in: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München, Leip-zig, 1919, S. 88 f.] auf. Sogleich konnte ich den Konflikt beobach-ten, in den B. durch diesen Vorschlag versetzt wurde. [Hanns] Eislers Feststellung, diese Geschichte sei »wertlos«, lehnte er mit Entschiedenheit ab. Auf der andern Seite aber wollte ihm eben-sowenig glücken, ihren Wert kenndich zu machen. »Man müßte sie genau studieren« meinte er. Dann brach das Gespräch ab; es war zehn Uhr geworden und die Radionachrichten aus Wien kamen.

31. August. Vorgestern eine lange und erregte Debatte über mei-nen Kafka. Ihr Fundament: die Anschuldigung, daß er dem jüdi-schen Faszismus Vorschub leiste. Er vermehre und breite das Dunkel um diese Figur aus statt es zu zerteilen. Demgegenüber komme alles darauf an, Kafka zu lichten, das heißt, die praktika-beln Vorschläge zu formulieren, welche sich seinen Geschichten entnehmen ließen. Daß Vorschläge ihnen entnehmbar seien, das wäre zu vermuten und sei es nur der überlegenen Ruhe wegen, die die Haltung dieser Erzählungen ausmacht. Diese Vorschläge müsse man jedoch in der Richtung der großen allgemeinen Übel-stände suchen, die der heutigen Menschheit zusetzten. Deren Abdruck in Kafkas Werk sucht Brecht aufzuweisen. Er hält sich vorwiegend an den »Prozeß«. Vor allem steckt da, wie er meint, die Angst vor dem nicht enden wollenden und unaufhaltsamen Wachstum der großen Städte. Aus eigenster Erfahrung will er den Albdruck kennen, den diese Vorstellung dem Menschen aufwälzt. Die unübersehbaren Vermittelungen, Abhängigkei-

ten, Verschachtelungen, in die die Menschen durch ihre heutigen Daseinsformen hineingeraten, finden in diesen Städten ihren Ausdruck. Sie finde[n] auf der andern Seite ihren Ausdruck in dem Verlangen nach dem »Führer« - der nämlich für den Klein-bürger den darstellt, den er - in einer Welt wo einer auf den an-dern verweisen kann und jeder sich ihm entzieht - haftbar für all sein Mißgeschick machen kann. Brecht nennt den »Prozeß« ein prophetisches Buch. »Was aus der Tscheka werden kann, sieht man an der Gestapo.« -Kafkas Perspektive: die des Mannes, der unter die Räder gekommen ist. Dafür ist bezeichnend Odradek: die Sorge des Hausvaters deutet Brecht als den Hausbesorger. Dem Kleinbürger muß es schief gehen. Seine Situation ist die Kafkas. Während nun aber der heutige geläufige Typ des Klein-bürgers - der Faszist also - beschließt, angesichts dieser Lage sei-nen eisernen, unbezwinglichen Willen einzusetzen, widersetzt sich Kafka ihr kaum; er ist weise. Wo der Faszist mit Heroismus einsetzt, setzt er mit Fragen ein. Er fragt nach Garantien für seine Lage. Diese aber ist so beschaffen, daß die Garantien über jedes vernünftige Maß hinausgehen müssen. Es ist eine Kafkasche Iro-nie, daß der Mann Versicherungsbeamter war, der von nichts überzeugter erscheint als von der Hinfälligkeit sämtlicher Garan-tien. Übrigens ist sein uneingeschränkter Pessimismus frei von jedem tragischen Schicksalsgefühl. Denn nicht nur ist ihm die Erwartung des Mißgeschicks nicht anders als empirisch unter-mauert - da allerdings vollendet - sondern das Kriterium des Enderfolges legt er in unbelehrbarer Naivität an die belanglose-sten und alltäglichsten Unternehmungen: den Besuch eines Ge-schäftsreisenden oder eine Anfrage bei der Behörde. - Das Ge-spräch konzentrierte sich streckenweise auf die Geschichte »Das nächste Dorf«. Brecht erklärt: sie ist ein Gegenstück zu der Ge-schichte von Achill und der Schildkröte, Zum nächsten Dorf kommt einer nie, wenn er den Ritt aus seinen kleinsten Teilen -die Zwischenfälle nicht gerechnet - zusammensetzt. Dann ist das Leben für diesen Ritt zu kurz. Aber der Fehler steckt hier im »ei-ner« . Denn wie der Ritt zerlegt wird, so auch der Reitende. Und wie nun die Einheit des Lebens dahin ist, so ist es auch seine Kür-ze. Mag es so kurz sein, wie es will. Das macht nichts, weil ein anderer als der, der ausritt, im Dorfe ankommt. - Ich für mein Teil gebe folgende Auslegung: das wahre Maß des Lebens ist die

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Erinnerung. Sie durchläuft, rückschauend, das Leben blitzartig. So schnell wie man ein paar Seiten zurückblättert, ist sie vom nächsten Dor fe an die Stelle gelangt, an der der Reiter den Ent-schluß zum Aufbruch faßte. Wem sich das Leben in Schrift ver-wandelt hat, wie die Alten, die mögen diese Schrift nur rückwärts lesen. N u r so begegnen sie sich selbst, und nur so - auf der Flucht vor der Gegenwart - können sie es verstehen.

b. Notizen г и dem Brief vom 11. 8. 1934 an Scholem (s.o. » Brief Zeugnisse«, Nr. 18)

1} Was ist »die Welt der Offenbarung in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird« ?

2) Ich leugne den Aspekt der Offenbarung für Kafkas Welt nicht, erkenne ihn vielmehr an, indem ich sie für »entstellt« erkläre.

3) Ich halte Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz, von welchem nie etwas verlautbart, fü r den toten Punkt seines Werkes, fü r die Schublade des Geheimniskrämers. Gerade mit diesem Begriff will ich mich nicht einlassen. Sollte e r in Kafkas Werk dennoch eine Funktion haben - was ich dahingestellt sein lasse - so wird auch eine Interpretation die von Bildern aus-geht - wie die meinige - auf sie führen.

4) Bitte um den offenen Brief an Schoeps, dem der Begriff einer richtig verstandenen Theologie zu entnehmen.

5) Daß eben die Schüler - »denen die Schrift abhanden gekom-men ist« [s.o., S. 37,33] - nicht der hetärischen Welt angehö-ren, ist von Beginn an von mir betont worden, indem ich ge-rade sie an die Spitze derjenigen Kreaturen stellte, fü r die, nach Kafkas Wort , »unendlich viel Hoffnung« vorhanden ist.

6) Ob die Schrift den Schülern abhanden gekommen ist, oder ob sie sie nur nicht enträtseln können, kommt darum auf das Gleiche heraus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist, sondern Leben. In dem Ver-such einer unmittelbaren Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich den Sinn der »Umkehr«, auf welche Kafkas Gleich-nisse, wie ich am »nächsten Dorf« und am »Kübelreitcr« ge-

zeigt habe [s.o., S. 33L und36f . ] , hindrängen. Sancho Pan-sas Dasein ist musterhaft, weil es eigentlich im Nachlesen des Don Quichotisehen besteht. Dabei »liest« manchmal das Pferd besser als der Mensch.

7) Die auf das Benehmen der Richter gestützte Argumentation habe ich fallen lassen. Im übrigen war auch sie nicht gegen die Möglichkeit einer theologischen Interpretation überhaupt, sondern nur gegen deren freche Handhabung durch die Pra-ger gerichtet.

8) {Bitte um Bialiks Aufsatz »Hagadah und Halacha«.} 9) Das Verhältnis meiner Arbeit zu Deinem Gedicht [seil. »Mit

einem Exemplar von Kafkas >Prozeß<«; s.o., »Briefzcugnis-se«, N r . 15.a] möchte ich versuchsweise so fassen: Du gehst vom Nichts der Offenbarung aus, von der heilsgeschichtli-chen Perspektive des anberaumten Prozeßverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen Hof fnung und von der ihrem Widersinn entsprechenden Gestal tenfülle-sowie auch den ihren Widersinn anklagenden Gestalten - in Kafkas Werk aus.

10) Wenn ich als stärkste Reaktion von Kafka die Scham be-zeichne [s.o., S. 28], so widerspricht das meiner Interpreta-tion in keiner Weise, Vielmehr ist die Vorwelt - Kafkas ge-heime Gegenwart - eben der geschichtsphilosophische In-dex, der diese Reaktion aus dem Bereich der Privatverfassung heraushebt. Das Werk der Thora nämlich ist - wenn wir uns an Kafkas Darstellungen halten-vereitel t worden. U n d alles, was einst von Moses geleistet wurde, wäre in unserm Welt-zeitalter nachzuholen.

Ms 249

Zur kontemplativen Existenz »Betrachten Sie mich als Ihren Traum« Don Quichote - der von Sancho Pansa Geträumte Auch Kafka ein Geträumter; die ihn träumen sind die

Massen Kafkas Aufzeichnungen stehen zur geschichtlichen Erfah-

rung wie die nichteuklidische Geometrie zur empirischen. Z u m K a f k a b r i e f a n S c h o l e m

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5- Aufzeichnungen (ab September 1934)

a. Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen

Zur »Kafka«-Revision [Blatt] 1

1) Die Analyse der Vatervorstellung im ersten Teil hat die »Elf Söhne« zu berücksichtigen. Dazu sind heranzuziehen das Stück selbst, Krafts Kommentar dazu und die Schrift von Kaiser, [s. Krafts Brief, »Briefzeugnisse«, Nr. 2]

2) Krafts Einwand gegen die Stelle zurückzuweisen, an der ich die Bezugnahme auf die nachgelassenen Aphorismen als ille-gitim darstelle [s.o., S. 25,19-26,38]. Kraft: »Dieser Nach-laßband steht . . . der Sache nach auf der gleichen Stufe der Il-legitimität wie die sämtlichen illegitimen Romane.« Aller-dings, was seine Publikation, nicht aber seine Substanz be-trifft. Diese hat Kafka in Berichten und Gleichnissen geben wollen, zu denen die Reflexionen nur Parerga und Paralipo-mena - und zwar solche eigentümlichster Art - darstellen.

3) Kraft verwahrt sich dagegen, die psychoanalytische Ausle-gung Kafkas als »natürliche« bezeichnet zu sehen. Er will diesen Namen einer anderen vorbehalten wissen, die der Darstellung von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Kaf-kas Werk nahe steht - das will überlegt sein.

4) Wichtige Notiz zu den Tiergeschichten, von Kraft: »Mir bil-den seine Tiergeschichten in den meisten Fällen nur ein tech-nisches Mittel, das Unübersehbare der empirisch-metaphy-sischen Verhältnisse darzustellen, z.B. in >Josefine< oder in den Aufzeichnungen des Hundes. In beiden Fällen wird >Volk< dargestellt.« Das ist richtig; zu zeigen ist, wie es mit meiner Deutung der Tierwelt bei Kafka zusammenhängt. -Für die »Forschungen eines Hundes« ist vielmehr Brechts »Traum des Soldaten Fewkoombey« [s. Drei Groschen Ro-man, Amsterdam 1934 (Epilog)] heranzuziehen, der unter Hunden das letzte halbe Jahr seines Lebens verbracht hat.

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5) Kraft: »Jede dieser Frauen hat eine Beziehung zum Schloß, die Sie ignorieren, und wenn z.B. Frieda K. vorwirft, er frage sie nie nach ihrer Vergangenheit, so meint sie nicht >Sumpf< sondern ihr früheres Zusammenleben mit Klamm.«

6) Krafts Kommentar zu »Ein altes Blatt« einfordern. 7) Der Vergleich mit dem Schweyk [s.o., S. 36,1-3] ist vielleicht

wirklich, wie Kraft behauptet, nicht akzeptabel - nämlich in dieser Kürze. Sollte man ihn nicht in eine Darlegung von Kafkas Herkunft aus Prag einsetzen?

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[Blatt] 2

8) Kraft meint, Kafkas Verhältnis zur Theosophie - wie die Ta-gebuchnotiz über Steiner [s.o., S. 22,11-14] es erkennen lasse -se i eine Instanz gegen meine Auffassung. Ich kann nur fin-den, daß ihr Kontest einen Einblick in die Gründe gibt, aus denen Kafka scheitern mußte.

9) [Margarete] Susmans »Das Hiob-Problem bei Franz Kafka« [in: Der Morgen, Jg. 5, Berlin 1929, Heft l, p 31-49] heran-zuziehen. Darin der Satz: »Kafka hat - nach einem eigenen Wort — zum erstenmal die bisher immer wenigstens zu ah-nende Musik der Welt bis in alle Tiefen hinunter abgebro-chen.«

10) Aus Krafts Kommentar zum »Brudermord«, das »dünne blaue Kleid« betreffend: »Blau ist sowohl die Farbe des male-rischen wie des dichterischen Expressionismus. Es genügt, für die Malerei auf Franz Marc und für die Dichtung auf Ge-org Trakl hinzuweisen.«

11) Den Funken zwischen Prag und dem Kosmos uberspringen lassen; so das Zitat aus [A. S.] Eddington einsetzen [Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung, Braunschweig 1931, p 334/35; s.o., »Briefzeugnis-se«, Nr. 26]

12) »Ganz nahe dieser symbolischen . . . Diesseitigkeit steht die stille, große Erscheinung Kafkas; hier fand eine versunkene Welt oder bisher jenseitige am Leben in dieser die unheimli-che Wiederkehr: sie reflektiert alte Verbote, Gesetze und Ordnungsdämonen im Grundwasser präisraelitischer Sün-den und Träume, wie es im Zerfall wieder vordringt.« Ernst

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Bloch: Erbschaft dieser Zeit Zürich 1935 p 182 13) Zu ermitteln, was ich brieflich, Kraft gegenüber, über Weis-

heit und Torheil bei Kafka bemerkt habe, [s.o., »Briefzeug-nisse«, Nr . 4]

14) Die Stellen, an denen Kafka sich »Zur Frage der Gesetze« äu-ßert, sind zu vergleichen. Auch ist dabei zu ermitteln, ob es angängig ist, einen Unterschied /wischen »dem« Gesetz und den Gesetzen zu machen, wie Kraft das behauptet. Ob die Gesetze den toten Punkt bei Kafka darstellen?

15) Das Kapitel »Kafka als prophetischer Schriftsteller« ist vor-zunehmen. [s.o., S. i3off.]

16) Zwei Briefe von Kafka an Brod in der Festschrift zu Brods 50stcm Geburtstag (Prag).

17) Näheres über Kafkas Scheitern in der Begründung eines pa-rabolischen Schrifttums. An welchen Umständen ist er ge-scheitert?

18) Literatur: Festschrift zu Brods 50stem Geburtstag / [Ed-mond] Jaloux: Über den »Prozeß« in den Nouvelles Littérai-res [1934] / [Werner] Kraft: Ein altes Blatt / Zweifel und Glauben / Aufsatz gegen Brod / [Chajim Nachman] Bialik: Hagadah und Halacha (Der Jude [IV (1919) p 61-77])

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[Blatt] 3 19) Alter Deutungsversuch Wiesengrunds: Kafka »eine Photo-

graphie des irdischen Lebens aus der Perspektive des erlö-sten, von dem nichts darauf vorkommt als ein Zipfel des schwarzen Tuches, während die grauenvoll verschobene Optik des Bildes keine andere ist als die der schräg gestellten Kamera.« [Adornos] Brief [vom 17, 12. 1934; s.o., »Brief-zeugnisse«, Nr. 3])

20) »Das Verhältnis von Urgeschichte und Moderne ist noch nicht zum Begriff erhoben . . . Eine erste Leerstelle ist da . . . bei dem Lukácszitat und der Antithese von Zeitalter und Weltalter. Diese Antithese könnte nicht als bloßer Kontrast sondern selber bloß dialektisch fruchtbar werden. Ich würde sagen: daß für uns der Begriff des Zeitalters schlechterdings unexistent ist . . . sondern bloß das Weltalter als Extrapola-tion der versteinten Gegenwart . . . Im Kafka . . . ist der Be-

griff des Weltalters abstrakt im Hegeischen Sinne geblieben . . . Das sagt aber nichts anderes als daß die Anamnesis - oder

das »Vergessen« - der Urgeschichte bei Kafka in Ihrer Arbeit wesentlich im archaischen und nicht durchdialektisierten Sinne gedeutet ist . . . Es ist kein Zufall, daß von den . . . An-ekdoten eine: nämlich Kafkas Kinderbild, o h n e Auslegung bleibt. Dessen Auslegung wäre aber einer Neutralisierung des Weltalters im Blitzlicht äquivalent. Das meint nun alle möglichen Unstimmigkeiten . . . Symptome der archaischen Befangenheit . . . Die wichtigste scheint mir die des Odra-dek. Denn archaisch allein ist es, ihn aus >Vorwell und Schuld« entspringen zu lassen . . . ist mit ihm nicht eben die Aufhebung des kreatürlichen Schuldverhältnisses vorbedeu-t e t - i s t nicht die Sorge , . . die Chiffre, ja das gewisseste Ver-sprechen der Hoffnung, eben in der Aufhebung des Hauses? . . . so dialektisch ist Odradek, daß von ihm wirklich auch

gesagt werden kann, >so gut wie nichts hat alles gut gemacht*. / Zum gleichen Komplex gehört die Stelle von Mythos und Märchen, an der . . . zu beanstanden wäre, daß das Märchen als Überlistung des Mythos auftritt oder dessen Brechung-als ob die attischen Tragiker Märchendichter wären . . . und als ob nicht die Schlüsselfigur des Märchens die v o r mythi-sche, nein die sündelose Welt wäre . . . Ì Archaisch scheint mir auch die Deutung des Naturtheaters im Ausdruck >länd-liche Kirmes oder Kinderfest« - das Bild eines großstädti-schen Sängerfestes der achtziger Jahre wäre gewiß wahrer, und Morgensterns >Dorfluft< war mir schon immer verdäch-tig. Ist Kafka kein Religionsstifter . . . so ist er gewiß auch, und in keinem Sinn, nicht ein Dichter jüdischer Heimat. Hier empfinde ich die Sätze über die Verschränkung des Deutschen und Jüdischen als ganz entscheidend.« (Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.])

21) »Die Delinquenten der Strafkolonie werden . . . nicht bloß auf dem Rücken sondern auf dem ganzen Leib von der Ma-schine beschrieben, ja es wird sogar von dem Vorgang ge-sprochen, wo die Maschine sie umwendet (Umwendung ist das Herz dieser Erz ählung . . . ; übrigens dürfte gerade bei dieser Erzählung, die . . . eine gewisse idealistische Ab-straktheit hat . . . , der disparate Schluß nicht vergessen wer-

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den mit dem Grab des alten Gouverneurs unter dem Café-haustisch),« Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.])

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[Blatt] 4

22) »Die umgebundenen Flügel der Engel sind kein Manko son-dern ihr >Zug< - sie, der obsolete Schein, sind die Hoffnung selber . . . Von hier aus, von der Dialektik des Scheins als vorzeitlicher Moderne scheint mir die Funktion von Theater und Geste ganz aufzugehen . . . Wollte man nach dem Grund der Geste suchen, so wäre er . . . zu suchen . . . in >Moderne<, nämlich dem Absterben der Sprache . . . So erschließt sie sich gewiß . . . dem Studium als G e b e t - als >Versuchsanordnung< scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an der Arbeit materialfremd dünkt, ist die Hereinnähme von Kategorien des epischen Theaters . . . Kafkas Romane sind nicht Regiebücher fürs Experimentiertheater . . . Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand); die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen dem Versinken in Stummheit . . . und dem Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohl das wichtigste Stück zur Konstellation Geste - Tier - Musik die Darstellung der stumm musizierenden Hundegruppe . . . , die ich nicht zögern möchte, dem Sancho Pansa an die Seite zu stellen.« (Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.])

23) »Daher gehört zur Konzeption der Welt als des >Theaters< der Erlösung, in der sprachlosen Übernahme des Wortes, konstitutiv hinzu, daß Kafkas Kunstform . . . zur theatrali-schen in der äußersten Antithese steht und Roman ist.« (Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.])

24) Im »Prozeß« steckt vor allem, wie Brecht meint, die Angst vor dem nicbtendenwollenden und unaufhaltsamen Wachs-tum der großen Städte. Aus eigenster Erfahrung will er den Albdruck kennen, den diese Vorstellung dem Menschen aufwälzt. Die unübersehbaren Vermittelungen, Abhängig-keiten, Verschachtlungen, in die die Menschen hineingeraten sind, finden in diesen Städten ihren Ausdruck. So findet aber auch die Reaktion auf sie den Ausdruck - in dem Verlangen

nach dem »Führer« nämlich, der für den Kleinbürger den darstellt, den er in einer Welt, wo jeder auf den andern ver-weisen und der Verantwortung sich entziehen kann, haftbar für ail sem Mißgeschick macht. Kafka, sagt Brecht, habe ein, und nur ein, Problem gehabt: das sei das der Organisation gewesen. Was ihn gepackt habe, das sei die Angst vor dem Ameisenstaat: wie sich die Menschen durch die Formen ihres Zusammenlebens sich selbst entfremden. Gewisse Formen dieser Entfremdung habe er vorhergesehen, wie z.B. das Verfahren der GPU. Daher sei der »Prozeß« ein propheti-sches Buch, [s.o., »Gespräche mit Brecht« 6. Juli und 31. August)]

25) »Das nächste Dorf«. Brecht: Diese Geschichte ist ein Gegen-stück zu der von Achill und der Schildkröte. Zum nächsten Dorf kommt einer nie, wenn er den Ritt aus seinen kleinsten Teilen - die Zwischenfälle nicht gerechnet - zusammensetzt. Dann ist das Leben für diesen Ritt zu kurz. Aber der Fehler steckt im »einer«, Denn wie der Ritt zerlegt wird, so auch der Reitende. Und wie nun die Einheit des Lebens dahin ist, so ist es auch seine Kürze. Mag es so kurz sein, wie es will, das macht nichts, weil ein anderer als der, der ausritt, im Dorfe ankommt, [s. a.a.O. (31. August)]

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[Blatt] 5

26) Brecht geht von der Fiktion aus, Konfizius habe eine Tragö-die oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden, erklärt er, und als ein ihrer nicht würdiges Verhalten. »Nehmen Sie an, Sie lesen einen ausgezeichneten politischen Roman und erfahren nachher, daß er von Lenin ist; Sie werden Ihre Meinung über beide än-dern, und zu ungunsten beider. Konfuzius hätte auch kein Stück von Euripides schreiben dürfen - man hätte das als unwürdig angesehen. Nicht aber sind das seine Gleichnisse.« Kurz, dies läuft auf eine Unterscheidung zweier literarischer Typen hinaus: des {Visionare} [darüber: Begeisterten], wel-chem es ernst ist [darüber: dem die Würde (?)], auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht ganz ernst ist, auf der an-deren Seite. Welchem von beiden Typen gehört Kafka zu?

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Die Frage läßt sich nicht entscheiden. Und ihre Unent-scheidbarkeit ist das Anzeichen, daß Kafka wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Gescheiterter ist. Sein Ausgangs-punkt ist die Parabel, das Gleichnis, das sich vor der Ver-nunft verantwortet und dem es deshalb, was seine Ge-schichte angeht, nicht ganz ernst sein kann. Aber diese Para-bel unterliegt dann doch der Gestaltung. Sie wächst sich zu einem Roman aus. Und einen Keim dazu trug sie, genau be-sehen, von Haus aus in sich. Sie war niemals ganz transpa-rent. Übrigens ist Brecht überzeugt, daß Kafka seine eigene Form nicht ohne den »Großinquisitor« und jene andere pa-rabolische Stelle in den »Brüdern Karamasoff« gefunden hät-te, wo der Leichnam des Staretz zu stinken anfängt. Bei Kafka also liegt das Parabolische mit dem Visionären in Streit. Als Visionär aber hat Kafka, wie Brecht sagt, das Kommende gesehen, ohne das zu sehen, was ist. [s. a.a.O. (6. Juli)]

27) Brecht: An Kafka müsse man mit der Frage herantreten: was tut er? wie verhält er sich? Und da vor allem zunächst mehr auf das Allgemeine sehen als das Besondere, dann stellt sich heraus : er hat in Prag in einem schlechten Milieu von J ourna-Iisten, von wichtigtuerischen Literaten gelebt; in dieser Welt war die Literatur die Hauptrealität, wenn nicht die einzige. Damit hängen Kafkas Stärken und Schwächen zusammen: sein artistischer Wert, aber auch seine vielfache Nichtsnut-zigkeit. Er ist ein Judenjunge - man könnte auch den Begriff eines Arierjungen prägen — ein dürftiges unerfreuliches Ge-schöpf, eine Blase - zunächst - auf dem schillernden Sumpf der Kultur von Prag. Aber dann gäbe es doch bestimmte, sehr interessante Seiten. Alles komme darauf an, Kafka zu lichten, das heißt, die praktikablen Vorschläge zu formulie-ren, welche sich seinen Geschichten entnehmen lassen. Daß Vorschläge ihnen zu entnehmen seien, sei zu vermuten, und sei es nur der überlegnen Ruhe wegen, die die Haltung dieser Erzählungen ausmacht. Diese Vorschläge müsse man in der Richtung der großen, allgemeinen Ubelstände suchen, die der heutigen Menschheit zusetzten, [s. a.a.O. (5. August)]

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[Blatt] 6 28) Brecht: Man müsse sich ein Gcspräch von Laotse mit dem

Schüler Kafka vorstellen. Laotse: Also, Schüler Kafka, dir sind die großen Organisations- und Wirtschaftsformen, in denen du lebst, unheimlich geworden? - Kafka: Ja. - Laotse: Du findest dich in ihnen nicht mehr zurecht? - Kafka: Nein. - Laotse: Eine Aktie ist dir unheimlich? - Kafka: Ja. - Lao-tse: Und nun verlangst du nach einem Führer, an den du dich halten kannst, Schüler Kafka. - Brecht, fortfahrend: »Das ist natürlich verwerflich. Ich lehne ja Kafka ab. Die Bilder sind gut. Der Rest ist aber Geheimniskrämerei. Der ist Unfug. Man muß ihn beiseite lassen.« [s. a.a.O.]

29) »Das nächste Dorf« Meine Auslegung: Das wahre Maß des Lebens ist die Erinnerung. Sie durchläuft, rückschauend, das Leben blitzartig. So schnell wie man ein paar Seiten zurück-blättert, ist sie vom nächsten Dorf an die Stelle gelangt, von der der Reiter den Entschluß zum Aufbruch faßte. Wem sich das Leben in Schrift verwandelt hat, wie den Alten, die mö-gen diese Schrift nur rückwärts lesen. Nur so begegnen sie sich selbst und nur so - auf der Flucht vor der Gegenwart -können sie es verstehen, [s. a.a.O. (31. August)]

30) An welcher Stelle handelt Freud von dem Zusammenhang zwischen Reiten und Vaterimago?

3t) Brecht: Kafkas Genauigkeit sei die eines Ungenauen, Träu-menden. [s. a.a.O. (6, Juli)]

32) »Die Sorge des Hausvaters«, Odradek, deutet Brecht als den Hausbesorger, [s. a.a.O. (31. August)]

33) Die Lage Kafkas ist die hoffnungslose des Kleinbürgers. Während aber der geläufige Typ des Kleinbürgers - der Fa-schist - beschließt, angesichts dieser Lage seinen eisernen, unbezwinglichen Willen einzusetzen, widersetzt sich Kafka ihr nicht. Er ist weise. Wo der Faschist den Heroismus ein-setzt, setzt Kafka mit Fragen ein. Er fragt nach den Garantien für seine Existenz. Diese aber ist so beschaffen, daß deren Garantien über jedes erdenkliche Maß hinausgehen müßten. Es ist eine Kafkasche Ironie, daß de r Mann Versicherungs-beamter war, der von nichts überzeugter erscheint als von der Hinfälligkeit sämtlicher Garantien. - Die Hinfälligkeit der eigenen Lage bedingt für Kafka die seiner sämtlichen At-

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tribute, einschließlich des Menschsems. Wie ist dem Kanzli-sten zu helfen? Das ist der Ausgangspunkt von Kafkas Frage. Die Antwort aber lautet nach einem Umweg über die Frag-würdigkeit des Daseins überhaupt: dem Kanzlisten ist nicht zu helfen, weil er ein Mensch ist. [s. a.a.O.]

34) Während der Lehrgehalt von Kafkas Stücken in der Form der Parabel zum Vorschein kommt, bekundet ihr symbolischer Gehalt sich im Gestus. Die eigentliche Antinomie von Kaf-kas Werk liegt im Verhältnis von Gleichnis und Symbol be-schlossen.

35) Das Verhältnis von Vergessen und Erinnern ist in der Tat -wie Wiesengrund sagt [s. Adornos Brief, »Briefzeugnisse«, Nr . 3] - zentral und bedarf der Behandlung. Sie ist in beson-derer Rücksicht auf »Jenseits des Lustprinzips«, vielleicht auch auf [Bergsons] »Matière et mémoire« durchzuführen. Die dialektische Aufklärung Kafkas müßte an ihr einen, be-sonderen Stützpunkt haben. (Die Erwähnung von Haas ließe sich so vermeiden [?])

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[Blau] 7

36) Es sind drei grundlegende Schemata einzuführen: Archaik und Moderne - Symbol und Gleichnis - Erinnern und Ver-gessen.

37) In einer Tagebuchnotiz denkt Hebbel sich einen Mann, der das Geschick hat, sich nichtsahnend und immer wieder als Zeuge auf dem Schauplatze von Katastrophen einzufinden. Er wird ihrer aber nicht unmittelbar gewahr sondern trifft nur auf ihre Folgen: eine gestörte Tischgesellschaft, unge-machte Betten, Zugluft im Treppenhause u.s.w. Und immer nimmt er ernsten Anstoß an diesen Zwischenfällen ohne ihre Ursachen im entferntesten zu ahnen. Kafka gliche nun einem Mann, für welchen diese Zwischenfälle selbst die Katastro-phen wären. Eine Niedergeschlagenheit, die es mit der des Predigers Salomo aufnehmen könnte, kommt bei ihm auf der Basis der Pedanterie zustande.

38) Der Tonfilm als Grenze für die Welt Kafkas und Chap-lins.

39) Was Kafka als »Relikt« der Schrift angesehen haben würde, 164

bezeichne ich (p 15 [seil, der zweiten Essay-Fassung; s.o., S. 20,13f.]) als ihren »Vorläufer«; was Kafka als »vorweltliche Gewalten« betrachtet haben mag, bezeichne ich (p 23 [seil. a.a.O.; s.o., S. 26,39-27,3]) ab »weltliche unserer Tage«.

40) Kafkas Romanform als Zerfallsprodukt von Erzählung. 41) Der »Prozeß« ist selbstverständlich ein mißglücktes Werk.

Er stellt die ungeheuerliche Mischung zwischen einem my-stischen und einem satirischen Buch dar. So tief nun die Ent-sprechungen dieser beiden Elemente sein können - der mächtige Strom von Blasphemie, der durch das Mittelalter geht, beweist es - so dürften sie sich noch nie in einem Werke vereinigt haben, das den Stempel seines Mißlingens nicht auf der Stirn trägt.

42) Schematisch gesprochen stellt Kafkas Werk eines der sehr wenigen Verbindungsglieder zwischen Expressionismus und Surrealismus dar,

43) Im »Odradek« das Haus als Gefängnis. 44) Für die Parabel ist der Stoff nur Ballast, den sie abwirft, um in

die Höhe der Betrachtung zu steigen.

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b. Entwürfe, Einschübe, Notizen zu einer Umarbeitung des Essays

Probedispositionen zur Umarbeitung

{Anschließend an das Zitat aus dem Großinquisitor [s.o., S. 22,10] der letzte Absatz des zweiten Kapitels [s.o., S. 24,8-25,2]}

{Den zweiten Teil der Darstellung des Naturtheaters von Okla-homa [s.o., S. 22,31-23,28] unmittelbar an den ersten an-schließen [s.o., S, 17,9-39]}

Anschließend an die Hypothese vom »Prozeß« als einer »entfal-teten Parabel« [s.o., S. 20,14]: »Nun hat der >Prozeß< in der Tat eine Seite, die sich an das Parabolische anschließt, nämlich seine satirische.«

Anschließend an die Stelle über »die Motive der klassischen Sa-tire auf die Justiz« [s.u., Ms 243]: »Es treten nun freilich zu

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diesen Motiven bei Kafka andere - Motive, bei denen, wie m an mit vielem Recht sagen kann - der Scherz, und sei es der bitter-ste - für ihn aufhört.« Das ist der Alb der großen Städte, das Preisgegebensein des Individuums in der heutigen Gesell-schaft - kurz »die Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft.« [s.o., S. 20,33f.]

{Anschließend an das Metschnikoffzitat »deren Plan sehr oft ei-nem gewöhnlichen Menschen unverständlich bleibt« [s.o., S. 21,38]: »Er war es bestimmt für Kafka und dieser Unverständ-lichkeit hat er auf ungeheuer nachdrückliche Weise in seinem Werk Ausdruck gegeben. Es gibt eine ganze große Provinz sei-nes Werkes, deren Vorhandensein nur so zu erklären, wenn auch damit allein noch nicht hinreichend zu deuten ist. Diese Provinz ist der Gestus.« »Kafkas ganzes Werk stellt nämlich ei-nen Kodex von Gesten dar.«} [am Rand:] er hat das Rätselhafte und Unverständliche forciert und scheint manchmal nicht fern, mit dem Großinquisitor zu sagen: [s.o., S. 22,2-10] MS241

Der stumme Film war eine ganz kurze Atempause in diesem Pro-zeß. Indem er die menschliche Sprache auf ihre geläufigste Di-mension zu verzichten zwang, konnte er mit ihr in der des Aus-drucks eine ungeheure Verdichtung vornehmen. Von dieser Möglichkeit hat niemand mehr als Chaplin Gebrauch gemacht; auch konnte es ihm niemand nachtun, der nicht die Selbstent-fremdung des Menschen in diesem Zeitalter so tief empfand, daß ihm der stumme Film, zu dem man sich den Verbindungstext noch selber ausdenken darf, als eine Gnadenfrist erschienen wäre. Diese Gnadenfrist hat auch Kafka benutzt, der zu gleicher Zeit wie der stumme Film von der Szene abtrat und dessen Prosa man in der Tat die letzten Verbindungstexte zum stummen Film nennen kann, [s.o., » D o s s i e r . . N r . 22) und 38)]

Parabel Märchen für Dialektiker Parabel Befreiungsmotiv im Odradek • Märchen und Erlösung Die Erlösung und die Weltalter Märchen Satire Das schwebende Märchen und die Erlösung

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In die Nachbarschaft dieses |P]arabolischcn gehört das, was man als das satirische Element bei Kafka bezeichnen könnte. Denn es ist ein Satiriker an Kafka verloren gegangen. U n d es wäre auch schwer vorstellbar, daß ein Autor so sehr wie Kafka sich mit der Bürokratie befaßt hätte, ohne auf die Seiten seines Gegenstandes zu geraten, die die Satire herausfordern. In » Amerika« stößt man auf ganz andere Motive, die einer satirischen Behandlung, ob-wohl sie sie weniger nahelegen, nicht fern stehen. Man denke an die groteske Darstellung der Hörigkeit, in der sich . , . [Dela-marche] von Bruneida befindet. So gewiß es nun ein ungeheuerli-ches Mißverständnis wäre Kafka als einen Satiriker darzustellen [ . . . ] , so unangebracht ist es, aus einer metaphysischen Affekta-tion an den satirischen Motiven vorüberzugehen, wo sie [sich] so häufen wie im »Prozeß«. In diesem Buchc ist eine Satire gleich-sam erstickt worden. Der schleppende Gang dieser Rechtspflege, die Bestechlichkeit ihrer Diener, die weltfremde Art ihrer Frage-stellung, die Unverständlichkeit ihrer Urteile, die Unsicherheit der Exekutive - das sind Motive im »Prozeß«, es sind aber auch die Motive der klassischen Satire auf die Justiz von . . . bis Dik-kens. {Bei Kafka kommt diese Satire nicht zum Durchbruch, denn so wie in der Parabel - die vom Türhüter zeigt es klar - die wolkige Stelle steckt, die dem Gleichnis seinen Gleichnischarak-tcr nimmt, um es zum Symbol zu erheben, so steckt in der Satirc die Mystik. Der Prozeß ist in der Tat ein Zwitter aus Satire und Mystik. So tief nun die Entsprechungen dieser beiden Elemente sein können - so haben sie wohl nur eine vollkommene Form der Vereinigung und das ist die Blasphemie. Das letzte Kapitel des Buches hat auch wirklich etwas von ihrem Geruch. Aber weder konnte noch sollte sie die Grundlage dieses Romans abgeben, dem sein Mißlingen an der Stirn geschrieben stand.} Dies ist vielleicht die blasphem[isch]e Pointe des Prozesses: Gott selbst, der am Menschen durch das Leben, das er ihm zuweist, seine Vergeßlichkeit straft, hindert ihn durch diesen Strafprozeß, sich zu erinnern.

Das denkwürdigste Aber eben damit Zeugnis dieses Mißimgens war dieses Buch an ist der Prozeß: ein Zwitter seine Grenze gelangt, aus Satire und Mystik. ohne seinen Abschluß

gefunden zu haben.

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[Rückseite:] Die Anstrengung des Träumenden, der seinen klei-nen Finger bewegen will und der wirklich, wenn ihm dies gelän-ge, erwachen würde.

Ms 243 Geplante Einschübe

[im Text des Hssays anzuschließen an Paraboliker, s.o.,

S. 24,7:] Aber er war nicht nur das. / Man nehme an, I,aotse habe eine Tragödie geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfin-den und als ein seiner nicht ganz würdiges Verhalten. Der Pre-diger Salomo hätte auch keinen Roman schreiben dür fen-man hätte das als unziemlich angesehen. Dies läuft auf die Unter-scheidung zweier literarischer Typen heraus: des Begeisterten, dem es mit seinen Gesichten ernst ist, und des Besonnenen, dem es mit seinen Gleichnissen nicht ganz ernst ist. Welchem von beiden Typen gehört Kafka an? Die Frage läßt sich nicht klar entscheiden. Und ihre Unentscheidbarkeit deutet an, daß Kafka, wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Unvollende-ter bleiben mußte. Sein Ausgangspunkt ist die Parabel gewe-sen, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verantwortet, und das deshalb, was seine Fabel betrifft, nicht ganz ernst sein kann. Aber was geht mit dieser Parabel vor? [s.o., Ms 238,26)] Man denke an die berühmte »Vor dem Gesetz«. Der Leser, der ihr im »Landarzt« . . . [fortzusetzen im Essay S. 20,7]

[im Essay anzuschließen a n « / . « , s.o., S. 31,20:] Man hat den Hausbesorger in ihm sehen wollen. Das trifft so schlecht, aber doch auch so gut wie der Hinweis auf die satiri-schen Momente aus dem »Prozeß«. Vielleicht erscheint jener dem Mieter wirklich »sinnlos, aber in seiner Art abgeschlos-sen«. Vielleicht hat der letztere auch wirklich, wenn er »aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, . . . Lust, ihn anzusprechen«. Aber dann will doch auch be-

dacht sein, daß Odradek die gleichen Orte bevorzugt, wie das Gericht, das doch bekanntlich in den Bodenkammern die Sit-zungen abhält, in denen es sich mit der Schuld befaßt. Die Bö-den sind der Ort der ausrangierten. . . [fortzusetzen

S. 31,22]

[Rückseite: Variante zum vorletzten Einschub; s.o.] {Aber er war nicht nur das. / Man nehme an, Laotse habe einen Roman oder Konfuzius eine Tragödie geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden und als ein ihrer nicht ganz würdiges Verhalten. Cäsar hätte auch keinen Roman schreiben dürfen}

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[im Essay anzuschließen anist., s.o., S. 28,2:] Das denkwürdigste Zeugnis dieses Mißlingens ist der »Pro-zeß«, ein Zwitter aus Satire und Mystik, So tief nun die Ent-sprechungen dieser beiden Elemente sein können, so haben sie wohl nur eine vollkommene Form der Vereinigung, und das ist die Blasphemie. Das letzte Kapitel des Buches steht in der Tat in ihrem Geruch. Aber eben damit war es an seine Grenze ge-langt, ohne seinen Abschluß gefunden zu haben. / »Es war als sollte die Scham . . . [fortzusetzen S. 28,4]

[im Essay anzuschließen an werden., s.o., S. 23,18:] betroffen werden. / Eine entfaltete Parabel nannten wir den »Prozeß«. Das Wort »entfaltet« . . . [fortzusetzen S. 20,14 bis S. 20 ,22] . . . Dichtung ähnlich. Sie sind Gleichnisse und sie sind doch mehr. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Fü-ßen, wie die Hagadah sich der Halacha zu Füßen legt. Sie bäumen sich und heben unversehens eine gewichtige Tatze ge-gen sie. Kafka scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Do-stojewskis . , . [fortzusetzen S. 22,3 bis S. 22,10] . . . ihr Ge-wissen.« So steht Kafkas gesamtes Werk im Zeichen des Ge-gensatzes zwischen dem Mystiker und dem Paraboliker, der Geberdensprache und der Sprache der Unterweisung, dem Vi-sionär und dem Weisen. Eines Gegensatzes, der eine Ver-schränkung ist. Kafka hat sie empfunden und in einem seiner merkwürdigsten, aber auch schwierigsten Stücke zu vertreten gesucht. Es heißt »Von den Gleichnissen« und beginnt mit ei-nem Vorwurf gegen »die Worte der Weisen«, die »immer wie-der nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben«. »Wenn der Weise sagt: >Gehe hinüber«, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, . . . sondern er meint ir-

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gendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann.« Ein anderer aber nimmt sich der Sache der Weisen an und fragt: »Warum wehrt ihr euch? Wür-det ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleich-nisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.« Damit ist die kleine Untersuchung im Grunde beendet, und die anschließende Kontroverse hält den Leser zunächst nur ab, in den zitierten Hauptsatz sich zu vertiefen, ohne den er sie nicht verstehen kann. Dieser Hauptsatz mag am zutreffend-sten aus der Anschauungswelt der Chinesen erläutert werden. Sie erzählen neben manchen andern Geschichten zur Magic der Malerei auch die folgende, von einem großen Maler: Er bat seine Freunde in die Kammer, an deren Wand das letzte Bild seiner Hand, die Vollendung langen Bemühens und der Male-rei überhaupt hing. Die Freunde, die das Bild bewunderten, wandten sich, um ihn zu beglückwünschen, nach dem Meister um. Den fanden sie nicht, wie sie sich aber nochmals dem Bilde zuwandten, da winkte ihnen daraus der Meister zurück, der eben im Begriffe stand, in der Tür eines gemalten Pavillons zu verschwinden. Er war, um mit Kafka zu reden, selbst Gleich-nis geworden. Eben damit aber hatte sein Bild magischen Cha-rakter erlangt und war keins mehr. Sein Schicksal teilt Kafkas Welt. / Betrachten wir das Dorf, das am Fuße . . . [fortzuset-zen S. 24,8]

Ms 245

[im Essay anzuschließen an sehn.*, s.o., S. 19,11:] Es gibt im Traum eine bestimmte Zone, in der der Alb beginnt. An der Schwelle dieser Zone führt der Träumende alle seine körperlichen Innervationen in den Kampf, um dem Alb zu entgehen. Es entscheidet sich aber erst im Kampfe, ob diese Innervationen zu seiner Befreiung ausschlagen oder im Gegen-teil den Alb noch drückender machen. Im letzten Fall sind sie dann nicht Reflex der Befreiung sondern der Unterwerfung. Es gibt keine Geberde bei Kafka, die nicht von dieser Zwei-deutigkeit vor der Entscheidung betroffen würde. / Wenn Max Brod sagt . . . [fortzusetzen S. 19,12]

170 \

[im Essay anzuschließen an nehmen,, s.o., S. 20,4:] Solche Gesten stellen einen Versuch dar, durch Nachahmung die Unvcrständlichkeit des Weltlaufs gegenstandslos oder seine Gegenstandslosigkeit verständlich zu machen. Die Tiere waren für Kafka da vorbildlich. Man kann seine Geschichten von ihnen auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahr-zunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Viel-leicht hieß ihm Tiersein nur, aus einer Art von Scham auf das Menschsein verzichtet haben - so wie ein vornehmer Herr, der in eine Kneipe gerät, aus Scham darauf verzichtet, sein Glas auszuwischen. / »Ich ahmte nach,« sagt in seinem »Bericht für eine Akademie« der Affe, »weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem andern Grund.« Dieser Satz enthält aber auch den Schlüssel für den Stand der Schauspieler auf dem Naturtheater. »Gleich hier« sind sie zu beglückwünschen, denn sie dürfen s ich spielen, sie sind befreit von der Nachahmung. Wenn es bei Kafka etwas wie einen Gegensatz zwischen Verdammnis und Seligkeit gibt, so hat man ihn nicht in einer Entsprechung verschiedner Werke zu suchen - wie man es hinsichtlich des »Prozesses« und des »Schlosses« getan hat - sondern allein in dem Gegensatz zwischen Welt- und Naturtheater. K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung . . . [fortzusetzen S. 23,10]

[im Essay anzuschließen an Kafka, s.o., S. 24,31:] Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka; in ihr haben seine Menschen geatmet; ihre Geberden sprechen den versunkenen Dialekt dieser Gegend, der bei Kafka genau zu der gleichen Zeit zum Vorschein gekommen ist wie die ihr so überaus ähn-lichen bayrischen Glasbilder, die die Expressionisten damals im Erzgebirge und rundum entdeckt haben. Zu diesem Dorf gehört . . . [fortzusetzen S. 24,32]

Ms 246

[im Essay anzuschließen an Gefühls.«, s.o., S. 18,10:] An diese Reinheit des Gefühls appelliert Oklahoma. Der Name »Naturtheater« versteckt nämlich einen Doppclsinn. Sein geheimer besagt: auf diesem Theater treten die Leute ihrer Natur nach auf. Die schauspielerische Eignung, an die man

171

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zuerst denken sollte, spielt nämlich gar keine Rolle. Man kann das aber auch so . . . [fortzusetzen S. 22,37 bis S. 22,39^] . . . Möglichkeit aus. Und hier erinnern wir uns jener verspielte-sten Figuren Kafkas, die in der bürgerlichen Gesellschaft gar nichts Seriöses vorstellen wollen und für die unendlich viel Hoffnung vorhanden ist. Das sind die Gehilfen. Solche, nicht mehr als sie, sind wir alle auf dem Naturtheater: Gehilfen eines Spiels, welches freilich auf eine merkwürdige und von Kafka nur ganz unbestimmt behandelte Art an den Vorgang einer Entscheidung gebunden ist. Findet er doch auf einer Renn-bahn statt. Vieles scheint darauf hinzudeuten, daß es sich bei diesem Spiel um die Erlösung handelt. / An einer langen . . . [fortzusetzen S. 23,19]

[im Essay anzuschließen an Fatum., s.o., S. 21,19:] Sie ist die wolkige Stelle in seinem Weltbild; die Stelle, wo es aufhört, durchsichtig zu sein. Mctschnikoff, der . . . [fortzu-setzen S. 21,19]

[im Essay anzuschließen an auf., s.o., S. 22,2:] Er hat sie auf ungeheuer nachdrückliche Weise in seinem Werk zu ihrem Recht kommen lassen. Er hat das Rätselhafte und Unverständliche darin forciert und scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis Großinquisitor zu sagen: »So haben wir . . . [fortzusetzen S. 22,4 bis S. 22,10] . .. Gewis-sen.« Eine gewisse, sehr wichtige Perspektive von Kafkas Werk tut sich überhaupt nur von diesem Gesichtspunkt aus auf, wenn er auch keineswegs ausreicht, sie zu ergründen. Es ist die Perspektive des Gestus. Eine große Anzahl der Ge-schichten und Romanepisoden erhalten erst in ihr das gebüh-rende Licht. Freilich hat es mit diesem Gestus seine ganz be-sondere Bewandtnis. Er entstammt nämlich Träumen. Es gibt im Traum . . . (1 [s.o., Einschub Ms 246, 1. Stück]) . . . die nicht von dieser Zweideutigkeit vor der Entscheidung betrof-fen würde. Sie erhält dadurch etwas ungeheuer Dramatisches. In einem unveröffentlichten Kommentar zum »Brudermord« hat Werner Kraft diesen dramatischen Charakter zu klarem Ausdruck gebracht. »Das Spiel . . . [fortzusetzen S. 18,29]

[Rückseite:]

Man kann förmlich erklären: das Verfahren der Odyssee ist das Urbild der Mythenbehandlung Kafkas. In der Gestalt des vielbewanderten und verschlagnen, nie um Rat verlegnen Odysseus meldet, im Angesicht des Mythos, die naive schuld-und sündlose Kreatur ihr Recht auf die Wirklichkeit wieder an. Ein Anrecht, das im Märchen verbrieft und ursprünglicher ist als die mythische »Rechtsordnung«, mögen auch seine lite-rarischen Zeugnisse jünger sein. Was die Rolle der Griechen im Abendland unvergleichlich macht, das ist die Auseinandersetzung mit dem Mythos, die sie auf sich genommen haben. Diese aber vollzog sich zwiefach. Während den Heroen der Tragiker am Ende ihrer Passion die Erlösung aufging, ist doch gerade der göttliche Dulder der Epik - Odysseus - mehr noch als im Erleiden ein Muster in dem Vereiteln des Tragischen. Und er ist ein Lehrmeister Kaf-kas gerade in dieser letzten Rolle gewesen, wie die Geschichte von den Sirenen zeigt.

Ms 247

[im Essay anzuschließen an darstellt, s.o., S. 18,21:] von Gesten darstellt, die immer wieder neu vom Verfasser in-szeniert und beschriftet werden, ohne ihren symbolischen Gehalt einer bestimmten Stelle auszuliefern, (ań den Begriff der Beschriftung ist später bei Bezugnahme auf den stummen Film anzuschließen)

[im Essay anzuschließen an Gefühls.«-, s.o., S, 18,10:] vielleicht ist diese Reinheit des Gefühls am unverwechselbar-sten in Geberden

[im Essay anzuschließen an solcher, s.o., S. 18,25:] solcher Veranstaltungen [dazu s.o., Brief von Adorno vom 17. 12. 1934, S. 105]

[im Essay anzuschließen an echte., s.o., S. 23,28:] vielleicht echtc. Man möchte sagen: es ist Kafka eben, mit die-sem Kunstgriff, noch geglückt, das zu verhüten. Echte Engel auf seinem Bild der Erlösung hätten es zu einem falschen gc-

172 173

Page 88: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

mach t , (vgl. W i e s e n g r u n d : »Die u m g e b u n d e n e n Flüge l de r

Enge l s ind kein M a n k o s o n d e r n ih r >Zug< - sie, de r obsole te

Schein, s ind die H o f f n u n g selber u n d ke ine ande re gibt es als

diese.« [ s .o . , Brief von A d o r n o , a . a . O . ] )

M s 248

Z u r Ana lyse de r e igentüml ichen H u m a n i t ä t Kafkas ist de r Ver-

gleich zwischen L a u t r é a m o n t u n d K a f k a h e r a n z u z i e h e n , den

G a s t o n Bachelard : L a u t r é a m o n t Paris 1939 p 14/22 d u r c h f ü h r t .

»Le mieux est de c o m p a r e r L a u t r é a m o n t à un au t eu r c o m m e

K a f k a , qui vit dans un t e m p s qu i m e u r t . C h e z l ' au t eu r a l l emand i l

semble que l a m é t a m o r p h o s e soit t o u j o u r s u n m a l h e u r . . u n

enla idissement . . . . A n o t r e avis K a f k a s o u f f r e d ' u n complexe de

L a u t r é a m o n t négatif , n o c t u r n e , no i r . E t ce qu i p r o u v e peu t -ê t re

l ' in térê t de nos recherches sur l a vitesse p o é t i q u e . . . c ' es t q u e la

m é t a m o r p h o s e d e K a f k a appara î t n e t t e m e n t c o m m e u n étrange

ra lent issement de la vie et de l 'ac t ion.« p 15/16

D i e gesamte A u s f ü h r u n g ist zu be rücks ich t igen .

M s 254

Editorische Notiz

Dieser Band dokumentiert die über ein Jahrzehnt sich erstreckende Be-fassung Benjamins mit Kafka in ihren Facetten. Er versammelt die abge-schlossenen Texte, die brieflichen Äußerungen und einen erheblichen Teil aus Hunderten von Aufzeichnungen, in denen solche Befassung Ge-stalt annahm. Der Rang dieser Zeugnisse - Ausdruck subtiler, die säku-lare Bedeutung des Dichters erspürender Auslegung - ist, heute wie ehe-dem, unbestreitbar. Das allei ri rechtfertigt die Zusammenfassung der pu-blikatorisch verstreuten Manifestationen Benjaimnscher Kafka-Interpre-tation, die Winfried Menninghaus initiierte und deren Anordnung er mitentwarf. Der Band stellt - e r s t e n s - die abgeschlossenen Texte nach Gewicht und Anlaß zusammen: voran den großen Essay von 1934 und den Vortrag von 1931, dahinter die Kafka mittelbar betreffenden Arbeiten zu Brod, die kleine Polemik von 1929 und die Kritik von 1938, Die abgedruckten Texte sind die von Hella Tiedemann-Bartels, Tülman Rexroth und vom Herausgeber für die Gesammelten Schriften seinerzeit kritisch revidier-ten; die Einzelnachweise finden sich im Anhang zum Textteil (s.o., S. 53 ff.), wo ferner knappe Hinweise auf Entstchungszeiten und Erstveröf-fentlichungen erfolgen sowie die Fundstellen der Benjaminschen Zitate verzeichnet werden. Die Prinzipien der Textherstellung und -revision sind dargelegt im »Editorischen Bericht« der Ausgabe Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (s. Band I, Frankfurt a.M. 1974, S. 749ft ). Die hier zugrundegelegten textkritischen Apparate, Daten zur Entstehungsge-schichte und - wo vorhanden - Paralipomena zu den einzelnen Arbeiten finden sich in den Bänden II (zu Franz Kafka. Zttr zehnten Wiederkehr seines Todestages : S. 1153 ff. ; zu Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Matter : S. i458ff.), IV (zu Kavaliersmoral-. S. 1032) und III (zu Max Brod: Eine Biographie. Prag 1937: S. 686ff.) dieser Ausgabe. Es folgt - z w e i t e n s - d i e Zusammenstellung der brieflichen Äußerun-gen Benjamins über Kafka in der derzeit erreichbaren Vollständigkeit und nach ausschließlich oder überwiegend inhaltlichen Gesichtspunk-ten; Briefe mit Stellen allein entstehungs- und publikationsgeschichtli-chen Interesses wurden nicht zitiert, diese Stellen jedoch dann nicht un-terdrückt, wenn sie mit inhaltlichen Äußerungen in aufschlußreichen Zusam menhängen stehen. Soweit die Quellenlage es zuläßt, sind die kor-respondierenden Äußerungen aus Briefen Benjaminscher Briefpartner den jeweiligen Stellen zugeordnet. Erhalten - und inzwischen publiziert

175

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— ist die nahezu vollständige Korrespondenz Benjamins mit Scholem aus den dreißiger Jahren; sie bildet die Hauptvorlage für den ersten Ab-schnitt der Briefzeugnisse. Vorlage für den zweiten und dritten Ab-schnitt ist die - wahrscheinlich vollständige, möglicherweise um das eine oder andere noch sich findende Stück zu ergänzende — Korrespondenz Benjamins mit Werner Kraft und Theodor W. Adorno. In allen drei Ab-schnitten sind die Briefstücke chronologisch angeordnet. Dabei ist im Auge zu behalten, daß der Transport der Briefe, die in der Regel über weite geographische Strecken liefen, hin und wieder sich verzögerte, eine Antwort also noch unterwegs sein konnte, als ein neuer Brief schon abge-sandt war. Die Quellen, nach denen der Abdruck erfolgte, sind jeweils an Or t und Stelle verzeichnet. Hinzufügungen oder Weglassungen des Her-ausgebers sind durchweg in eckige Klammern gesetzt; bei den Hinzufii-gungen sind Anmerkungen derrespektiven Briefeditoren stillschweigend genutzt. Den Beschluß bildet — d r i t t e n s — der Abdruck Benjaminscher Auf-zeichnungen, Entwürfe und Notizen zu Kafka. Hier handelt es sich um ein überaus vielfältiges und reiches (Nachlaß-)Materiai, das den über lange Jahre währenden Umgang Benjamins mit den Schriften des Dich-ters eindrucksvoll bezeugt. Es setzt sich zusammen aus: ersten Aufzeich-nungen zum »Prozeß«-Roman; extensiven Notizen und Überlegungen zu einem — nicht zustandegekommenen — Essay über den »Prozeß« und zu dem Vortrag von 1931; Aufzeichnungen, Dispositionen und Exzerp-ten zum Essay von 1934 samt einer ersten Montage-Fassung des Essays; schließlich Überlegungen, Neu- und Umformulierungen zum Zwecke einer durchgreifenden Umarbeitung des Essays zusamt einem minutiö-sen Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen - überwie-gend kommentierten Brief- und Gesprächsexzerpten aus der Diskussion mit Scholem, Kraft, Adorno und Brecht, die eine Art Leitfaden der Revi-sionsarbeit abgaben und weiterhin hatten abgeben sollen. Das Buch über Kafka, das einen Fluchtpunkt dieser Revisionsarbeit bildete, haben poli-tische und persönliche Umstände Benjamin zu schreiben drastisch ver-hindert. Das allein verleiht den hinterlassenen Paralipomena ihr Ge-wicht. Sie wurden seinerzeit im Anmerkungsteil des Bandes II der Ge-sammelten Schriften, nach streckenweise mühseliger Entzifferung und Rekonstruktion, vollständig publiziert (s. dort, S. 1188ff.). Im vorlie-genden Band werden davon etwa zwei Drittel abgedruckt; ausgeschieden wurden - vorab wegen des hier vorwaltenden Interesses an den unausge-führten Arbeiten Benjamins zu Kafka - die Montage-Fassung des Essays (s. a.a.O., S. J-222ÍÍ.), biographische Materialien u.a., hinzugefügt die Notizen über die Gespräche mit Brecht sowie das frühe Stück/¿¿с emes Mysteriums. Die Übersicht über die abgedruckten Paralipomena ist dem detaillierten Inhaltsverzeichnis am Anfang des Bandes zu entnehmen.

176

Dort - wie im Text - sind die kursiv gesetzten Untertitel vom Herausge-ber, die übrigen von Benjamin selbst formuliert; die Zwischentitel struk-turieren das Aufzeichnungsmaterial, soweit eruierbar, chronologisch. Die Quellen sind wiederum an Or t und Stelle nachgewiesen. Zusätze des Herausgebers - hier in der Regel Rückverweise auf die abgeschlossenen Texte, Verweise auf andere Aufzeichnungen, Briefe und Literatur - ste-hen in eckigen Klammern; der Gebrauch geschweifter Klammern ist an-läßlich des ersten Vorkommens im Text erläutert.

An dieser Stelle gedenkt der Herausgeber, zusammen mit Roif Tiede-mann, Tillman Rexroths, eines der Mitherausgeber der Gesammelten Schriften, der im Dezember 1979 seinem Leben ein Ende setzte.

März 1980

Der Herausgeber

Page 90: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Walter Benjamin im Suhrkamp Verlag

Gesammelte Scbrißen Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-penhäuser In Zusammenarbeit mit Tillman Rexroth und Hella Tiede-mann-Bartels Band I: Abhandlungen. 3 Teilbände. Herausgegeben von

Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäu-ser. 1974. 1275 Seiten

Band Iis Aufsätze. Essays. Vorträge. 3 Teilbände. Mit beigegebenem 7oseitigem vorläufigen Inhalts-verzeichnis der Bände I-IV. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäu-ser. 1977. 1528 Seiten

Band III: Kritiken und Rezensionen. Herausgegeben von Hella Tiedemann-Bartels. 1972. 727 Seiten

Band IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, 2 Teil-bände. 1972. Herausgegeben von Tillman Rex-roth. 1148 Seiten

edition suhrkamp Briefe. 2 Bände Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Theo-dor W. Adorno und Gershom Scholem es 930. 1978. 884 Seiten Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-zierbarkeit es 28. 1963. 158 Seiten Uber Kinder, Jugend, Erziehung Mit Abbildungen von Kinderbüchern und Spielzeug aus der Sammlung Benjamin es 391. 1969. 128 Seiten Versuche über Brecht Herausgegeben und Nachwort von Rolf Tiedemann es 172. 1966. 168 Seiten Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze Mit einem Nachwort versehen von Herbert Marcuse es 103. 1965. 109 Seiten

Page 91: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Bibliothek Suhrkamp Berliner Chronik Nachwort von Gershom Scholem BS 2 j i . 1970. 136 Seiten Berliner Kindheit um 1900 BS 2. 1950. 184 Seiten Denkbilder BS 407. 1974. 144 Seiten Deutsche Menschen Eine Folge von Briefen. Auswahl und Einleitung von Wal-ter Benjamin. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno BS 547. 1977. 134 Seiten Einbahnstraße. Aphorismen BS 27. 1955. 130 Seiten Uber Literatur BS 232. 1969. 208 Seiten

suhrkamp taschenbücber Der Stratege im Literaturkampf Zur Literaturwissenschaft st 176. 1974. 146 Seiten I l luminat ionen. Ausgewählte Schriften Herausgegeben von Siegfried Unseld st 345. 1977. 414 Seiten Uber Haschisch Novellistisches, Berichte, Materialien. Herausgegeben von Tillman Rexroth. Einleitung von Hermann Schweppenhäuser st 21. 1972. 160 Seiten

suhrkamp taschenbücber Wissenschaft Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hoch-kapitalismus. Zwei Fragmente Herausgegeben und mit einem Nachwort und Rolf Tiede-mann stw 47. 1974. 196 Seiten Der Begriff der Kunstkrit ik in der deutschen Romant ik Herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser stw 4. 1973. 120 Seiten Ursprung des deutschen Trauerspiels Herausgegeben von Rolf Tiedemann stw 22 5. 1977. 240 Seiten

Ernst Tugendhat Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie stw 4j. JJ4 Seiten

Gegenüber der Vorstellung, die analytische Philosophie habe die Perspektiven der zentralen Themen der traditionellen Philosophie verloren, möchte Tugendhat zeigen, daß eine »erste Philosophie« - in der Antike die Ontologie, in der Neuzeit die Transzendentalphilosophie - sich nur auf einer sprachanalytischen Basis erneuern läßt . Es sind die t radi-tionellen Leitbegriffe selbst - die Begriffe des Apriori , des Seins, des Gegenstandes, der Wahrheit , der Vernunft -, die in diese Richtung weisen, sobald man versucht, sie schar-fer zu klären, als es mit den traditionellen Mitteln möglich war. Auf diesem Weg, der von den traditionellen Grund-positionen zur analytischen Philosophie führ t , soll zugleich die analytische Philosophie ihrerseits in einen Reflexions-prozeß über ihre Grundf ragen und Methoden gebracht wer-den.

Ernst Tugendhat Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung Sprachanalytische Interpretationen stw 221. 364 Seiten

Tugendhat will die philosophische Relevanz der Selbstbe-ziehung reaktualisieren, häl t aber die strukturellen Mo-delle, an denen sich die traditionelle Selbstbewußtseins-theorie orientiert, f ü r inadäquat . Im Mittelpunkt seiner sprachanalytischen Interpretat ionen stehen deswegen drei Philosophen, die diese Modelle in Frage stellen und sich dabei gegenseitig ergänzen: Wittgenstein, der der Vorstel-lung von einem Ich die Verwendung des Wortes »ich« ent-gegenhält; Heidegger, der den Selbstbezug statt als Refle-xion als ein Verhalten zur Existenz versteht; und G. H. Mead, dem zufolge man sich zu sich nur verhalten kann, indem man mit sich redet, und dies nur, indem man mit anderen redet. Die Auffassung des Zusammenhangs von Selbstbeziehung, Freiheit und Vernunft, die sich heraus-stellt, f üh r t am Ende des Buchs zu einer schroffen Kon-frontat ion mit Hegel.

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Alphabetisches Verzeichnis der suhrkamp taschenbücher Wissenschaft

Adorno, Äscher Luche Theorie 2 - Drei Studien zu Hegel iso - Einleitung in die Musiksoziologie 14z - Kierkegaard 7 - Negative Dialektik 113 - Philosophie der D <n Musik 2.39 - Philosophische Terminologie Bd. 123 - Philosophische Terminologie Bd. я yo - Prismen 178 - Soziologische Schriften I 30É Materialien auf ästhetischen Theorie Th. W. Adornos 122

Apel, Der Denkweg von Chifles S. Peìrce 141 - Transformation der Philosophicj Bd. i J64 - Transformation der Philosophie, Bd. 2 i<¡f Annaszus, Spieltheorie und Nutzenbegriff ¡¡1 Ashby, Einführung in die Kybernetik 54 Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates ią6 Bachelard, Die Philosophie des Nein 32J Bachofm, Das Mutten edit 135 Materialien zu Badiofens >Das Mntterredit< 136 Barth, Wahrheit und Ideologie 68 Becker, Grundlagen, der Mathematik 114 Benjamin, Charles Baudelaire 47 - Der Begriff der Kunstkritik 4 - Trauerspiel 2.2 j Materialien zu Benjamins Thesen >Über den Begriff der Geschichte« tu

Bernfeld, Sisyphos 37 Bili, Studien über Angst und Schmerz 44 - Wie frei ist der Mensch? 17 Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3 - Geist der Utopie 3 j - Naturredit 250 - Philosophie d. Renaissance 152 - Subjekt/Objekt iyi - Tübinger Einleitung ijj Materialien zu Blochs >Fricizip Hoffnung' rn Blumenberg, Aspekte der Epexhenschwelle: Cusaner und Nolan er 174

- Der Prozeß der theoretischen Neugierde 24 - Säkularisierung und Selbstbehauptung 79 - Sdiiffbruch mit Zuschauer 285 Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit 163 Böhme/van deu Daele/Krohn, Experimentelle Philosophie zoj;

Böhme/y, Engelhardt (Hrsg.), Entfremdete Wissen-schaft ¿78

Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Prasis 231 - Zur Soziologie der symbolischen Formen 107 Broué/T¿mime, Revolution und Krieg in Spanien.

2 Bd«- "8 Butharin/Deborinv Kontroversen 64 Blither, Vermiedung - Rezeption — Funktion 2$ A - Tradition und Subjektivität 326 Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte 2S6 Chiide, Soziale Evolution 115 Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie 42 - Reflexionen über die Sprache tSy - Sprache und Geist 19 Cicourel, Methode und Messung in der Soziologie 99 Ciaessens, Kapitalismus als Kultur 275 Cnndorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes 175

Cremerius, Psychosomat. Medizin zyf van den Daele, Krohn, Weingart (Hrsg-)» Geplante Forschung *251

Danto, Analytische Geschithtsphilosophie 328 Deborin/Budiarin, Kontroversen 64 Dileuze/Guattari, Anti-Ödipus 114 Denninger (Hrsg.). Freiheitliche demokratische Grundordnung. л Bde. ijo

Denninger/Lviderssen, Póliza und Strafprozeß »28 Derrida, Die Schrift und die Differenz 177 Dreeben, Was wir in der Sdiule lernen 294 Dubiel, Wissenschaftsorganisation 258 Durkheim, Soziologie und Philosophie 176 Ecks ta e dt/K Iii wer (Hrsg.), Zeit allein heilt keine Wunden 308

Eco, Das offene Kunstwerk 222 Eder, Die Entstehung Staad. organisierter Gesell-schaften 332

Ehlieh (Hrsg.), Erzählen im Alltag 323 Einführung in deal Strukturalismus 10 Eliade. Schamanhmus 12Í Elias, Ober den Prozeß der Zivilisation, BcL t 158 - Ober den Prozeß der Zivilisation, Bd, z r у 9 Materialien zu Elias' ZivjlisationStheorie 133 Erikson, Der junge Mann Luther 117 - Dimensionen einer neuen Identität ioo - Gandhis Wahrheit ítíj - Identität unti Lebenszyklus ií Erlich, Russischer Formalismus IX Ethnomethodologie (hrsg. v. Weingarten/Sach/ Schenhein) 71

Euch ner, Naturrecht und Politik hei John Locke zSo

Fetschei, Rousseaus politische Philosophie 143 Ficht«, Politische Schriften (hrsg. v. Batsdia/Saage)

101

Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissen-schaftlichen Tatsache 311

Foucault (Hrsg.), Der Fall Rivière 128 - Die Ordnung def Dinge - Überwachen und Strafen 184 - Wahnsinn und Gesellschaft 39 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare 317 Friedensutopien, Kant/Fich*-e/S<hlegel/GÖires (hrsg. V- Batsdia/Saage) 2Í7

Fulda u. a.> Kritische Darstellung der Metaphysik 3TS

Furth* Intelligenz und Erkennen 160 Goffman, Rahmen-Analyse 32g - Stigma 40 Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd 237 Goudsblom, Soziologie auf der Waagschale 223 Grewendorf (Hrsg.)» Sprechakttheorie und Semantik 276

Griewank, Der neuzeitliche Revolutions!«griff fz Groethuysen, Die Entstehung <fer bürgerlichen Welt-und Lebensanschauung in Frankreich 2 Bde. ij6

Guattari/Deleuze, Anri-Ödipus 2*4 Habermas, Erkenntnis und Interesse t - Theorie und Praxis 145 - Zur Rekonstruktion des Historischen Materialis-mus ij4

Materialien fcu Habermas' .»Erkenntnis und Interesse«

49 Hegel, Grundlinien der Philosoph Tis des Rechts 14J - Phänomenologie des Geistes 8 Materialien zu Hegels Phänomenologie des

Gristede 9 > Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 188 Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd, г 89

Helfer/K empe, Das geschlagene Kind 247 Heller, u. a., Die Seele und das Leben 83 Henie, Sprache, Denken, Kultur 120 Höffe, Ethik und Politik 266 Höristh (Hcsg.), leb möchte ein soldier weiden wie... 283

Hönnann, Meinen und Verstehen 230 Holbach, System der Natur 2J9 Holcniteirt, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus n£

- Von der Hintergehbarkcit der Sprache Jitf Hymes, Soïiolinguïstik 299 Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß 309 Jseggi, Theoretische Praxis 149 Jaeggi/Honneth (Hrsg.), Theorien des Historischen

Materialismus jij. Jacobson, E. Das Selbst und die Welt der Objekte 24z Jakobson,, R„ Hölderlin, Klee, Brecht ïiSi - Poetik 2Ê2 Kant, Die Metaphysik der Sitten 190 - Kritik der praktischen Vernunft 56 - Kritik der reinen Vernunft 55 - Kririk der Urteilskraft 57 - Sdiriften zur Anthropologie r 192 - Schriften zur Anthropologie 1 Í93 - Schriften zur Metaphysik und Logik 1 iSB - Schriften zur Metaphysik und Logik 2 189 - Schriften zur Naturphilosophie 191 - Vorkritische Schriften bis 1768 1 18 6 - Yorkritische Schriften bis 1768 г 187 Kant zu ehren 61 Materialien zu Kants >Kritik der praktischen Ver-nunft í9

Materialien zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« j8 Materialien zu Kanes »Kritik der Urteilskräfte 60 Materialien zu Kants »Rechtsphilosophie« 171 Kenny, Wittgenstein 69 Keupp/Zaumseil (Hrsg.), Gesellschaftliche Organi-sierung psychischen Leidens 246

Kierkegaard, Philosophische Brocken 147 - Über den Begriff der Ironie 127 Koch (Hrsg.)» Die juristische Methode im Staatsrecht 198

Körner, Erfahrung und Theorie 197 Kohut, Die Zukunft der Psychoanalyse 115 - Introspektion, Empathie und Psychoanalyse 107 - Narzißmus. if7 Kojèye, Hegel. Kommentar zur »Phänomenologie da Geisten 57

К Melleck, Kritik und Krise y6 Kûyrf, Von der geschlossenen Welt Zum unendlichen Universum 320

Kracsuer, Der Detektiv-Roman г.97 - Geschichte ~ Vor den letzten Dingen 11 Kuhn, Die Entstehung des Neuen 236 - Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1J Lacan, Schriften j 137 Lange, Geschichte des Materialismus 70 Laplanche/Poncalis, Das Vokabular der Psychoanalyse 7

Leach, Kultur und.Kommunikation zìi Leclaire, Der psychoanalytische Prozeß ГТ9 Leaneberg, Biologische Grundlagen der Sprach« 217 Leiski, Macbt und Privileg 183 Lepenies, Das Ende d. Naturgeschichte 227 Leiminger, Reflexionen über die Universal-grammatik 282

Uvi-Strauss, Das wilde Denken 14 " Mythologie! I, Das Rohe und das Gekochte

167

- Mythologies TI, Vom Honig zur Asche 163 - Mythologica III, Der Ursprung der Tischsitteö 1Í9

- Mythologica IV, Der nackte Mensch, a Bde. 170 - Strukturale Anthropologie 1 226 - Traurige Tropen 240 Lindner/Lüdke (Hrsg.), Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne 122

Locke, Zwei Abhandlungen 213 Loreiizen, Konstruktive Wissenschaftstheorie 93 - Methodisches Denken 73 Lorenzer, Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis 173

- Spradupiel und Interaktionsformen 81 - Spnuhzerstörung und Rekonstruktion 31 Lüderssen (Hrsg.) Seminar: Abweichendes Verhal-ten IV 87

Lüderssen/Sadc (Hrsg.), Vom Nutzen tind Nachteil der Sozialwissensdhaften für das Strafrecht 327

Lüderssen/Seibert (Hrsg.), Autor und Täter 2.61 Ługowski, Die Form der Individualitat im Roman

1 S T

Luhmann, Theorie, Technik und Moral 206 - Zweckbegriff und Systemrationalität 12 Lukács, DeT junge Hegel 33 Macpherson, Politische Theorie des Bcsitzindividua-lismus 41

Malinowski, Eine wis sens diafclidie Theorie der Kul-tur 104

Mandeville, Die Bienenfabel 300 Markis, Protophilosophie 318 deMause. (Hrsg.), Hört ihr die Kinder weinen 339 Marten« (Hrsg.), Kindliche Kommunikation 471 Marxismus und Ethik 7$ Mead, Geist, Identität und Gesellschaft 28 Mehrteas/Richter (Hrsg.), Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie 303

Menne, Psychoanalyse und Unterschicht 3Ć1 Menningsr, Selbstzerstörung 24? Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik ioj Miliband, Der Staat in der kapitalistischen Gesell-schaft uz

Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus 43 Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft Äa - (Hrsg.), Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln 270

Mommsen, Max Weber jj Moore, Soziale Ursprünge топ Diktatur und Demo-kratie $4

Mortis, Pragmatische Semiotik und Handlungs-theoric 179

Needhaxns Wissenschaftlicher Universalismuá ¿64.

Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus

Nowotny, Kernenergie! Gefahr oder Notwendig-keit Ì9C1

O'Connor, Die Finanzkrise des Staates 83 Oehnüller, Unbefriedigte Aufklärung 2Í3 Oppitz, Notwendige Beziehungen 101 Parin/Morgen thaler, Fürchte deinen Nächsten 135 Parsons, Gesellschaften iaS Parsons/Schütz, Briefwechsel 20z Peukerr, Wissensdiaftstheorie 231 Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde 27 - Die Bildung de« Zeitbegriffs beim Kinde 77 - Einführung in die genetische Erkenntnistheorie 6 Plessner, Die verspätete Nation 66 Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft 295 - Transformation 260

Page 93: Walter Benjamin - Benjamin über Kafka

Pon talis, Nach Freud lot Pontalis/Laplandie, Das Vokabular der Psycho-analyse 7

Propp, Morphologie des Märchens Z31 Quine, Grundzüge der Logik 6 j Rawls, Eine Tbeorie der Gerechtigkeit 271 Redl i eh/ Fr eedm an, Theorie und Praxis der Psychia-trie, 2 Bde. 148

lliceeur, Dit Interpretation 76 Ritter, Metaphysik und Politik 199 v. Savigny, Die Philosophie der normalen Spradie

Schadewal dt, Anfange der Philosophie it8 Schelling, Philosophie der Offenbarung 181 - Uber das Wesen der menschlichen Freiheit 138 Materialien łu Schçllingg philosophischen Anfängen

139

Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik 211 Schilde, Allgemeine Erkenntnialehrs 269 Schiudi ter, Rationalismus der W eltb eh er rsthung 322 - (Hrsg.), "Verhalten, Handeln und System 310 Scholem, Die jüdische Mystik 330 - Von der mystischen Gestalt der Gottheit 209 - Zur Kabbala. und ihrer Symbolik 13 Schütz, Der sinnhafte Aufbau deT sozialen. "Welt 92 - /Lu çkmann, Strukturen der Lebern weit Bd. Ï

284

Schamann, Handel mit Gerechtigkeit 214 Schwemmer, Philosophie der Praxis 331 Seminarr Abweichendes Verhalten I (hrsg, т. Lii der ss e n/Sack) 84

- Abweichendes Verhalten II (hrsg. v. Lüderssen/Sack)

- Abweichendes Verhalten III (hrsg. v. Lüder ss e n/Sack) 86

- Abweichendes Verhalten IV (hrsg. v. Liiderssen/Sack) 87

- Angewandte Sozialforschung (hrsg. v. Badura) 153

- Dialektik 1 (1mg. v. Hotstmann) 234 - Entstehung der antiken K lassengesellschaft (hrsg. v. Kippenberg) 130

- Entstehung von Klassengesellschaften (hrsg. v. Eder) 30

- Familie und Familienredit I (hrsg, v. Simili s/Z e nz) idz

- Familie und Familier.redit II (brag. v. Simitis/Zenz) 103

- Familie und Gesellschafcsstruktur (hrsg. v. Rosenbaum) 144

- Freies Handeln und Determinismus (hrsg. v. Pothast) 257

- Geschichte und Theorie (hrsg. v. Baumgartner/Rüsen) 98

- Gesellschaft und Homosexualität (hrsg. v. Lautmanu) 200

- Hermeneutik und die 'Wissenschaften (hrsg. v. Gadamer/Boehm) 238

- Kommunikation, Interaktion, Identität {hrsg. v. Auwärter/Kirsdi/Sdiröter) xj6

- Literatur- und Kunstsoziologie (hrsg, у, Bürger) ¿4J

- Medizin, Gesellschaft, Geschidite (hrsg. v. Deppe/Regus) 67

- Philosophisch e Hermeneutik (hrsg. v. Gadamer/Boehm) Г44

- Politische Ökonomie (hrsg. v. Vogt) 11 - Regelhegrlff in der praktischen Semantik (htag. v. Heringer) 94

- Religion und gesellschaftliche Entwicklung (hrsg. v. Seyfarth/Sprondel) 38

- Spradie und Ethik (hrsg. v. Grewendorf/Meggle) 91

- Theorien der küns der Ì5 dien Produktivität (hrsg. v. Curtius) 166

Simitis u. ł., Kindeswohl 292 Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien 110 Solla Price, Little Science — Big Science. 48 Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell ja Sprachanalyse und Soziologie (hrsg. v. Wiggernhaus)

"3 Sprache, Denken, Kultur (hrsg. v. Henie) 120 Strauss, Anselm, Spiegel und Masken 109 Strauss, Leo, Naturredit und Geschidite ±16 Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle 90 - Einführung in die literarische Hermeneutik 114 - Poetik und Geschichtsphilosophie I 40 - Poetik und Geschiditsphilosophie II 72 - Schriften i 219 - Schriften 2 220 - Theorie des bürgerlichen Trauerspiels 1 s Témime/Broué, Revolution und Krieg in Spanien. 2 Bde. ii в

Theorietechnik und Moral 206 Theunissen, Sein und Schein 314 Theunissen/Greve (Hrsg.), Materialien zur Philo-sophie Kierkegaards 241

Touraine, Was nützt die Soziologie? 133 Troicwch/Wohlauf (Hrsg.), Technik-Geschichte 319 Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbst-bestimmung m

- Vorlesungen zur Einführung in die spradh-analytische Philosophie 45

UerküU, Theoretische Biologie 20 Ullrich, Technik und Herrschaft xyj Umweltforsdmng - die gesteuerte Wissenschaft 21 j WaîirheitstheoTÏen 210 Waldcnfels, Der Spielraum dei Verhaltens 311 Waldenfelâ/BToekman/Païanin (Hrsg.), Phäno-menologie und Marxismus I 19$

- Phänomenologie und Marxismus II 196 - Phänomenologie und Marxismus III 232 - Phänomenologie und Marxismus IV 273 Watt, Der bürgerliche Roman 78 Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie 204

Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur T5J

Weingarten и. a. (Hrsg.), Ethnomethodologie 71 Weìzenbaitm, Macht der Computer 274 Weizsäcker, Der Gestaltkreis 1$ Wesel, Der Mythos vom Matriardiar 333 Wînch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Ver* hälenis zur Philosophie 9J

Wittgenstein, Das Blaue Büdt. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Bu i) 313

- Philosophische Grammatik J - Philosophische Untersuchungen 203 Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie 172 Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft ij2

Zimmer, Philosophie und Religion Indiens 26

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