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Netzwerke des Marktes Walter Otto Ötsch Stephan Pühringer Katrin Hirte Ordoliberalismus als Politische Ökonomie

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Netzwerke des Marktes

Walter Otto Ötsch Stephan PühringerKatrin Hirte

Ordoliberalismus als Politische Ökonomie

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Netzwerke des Marktes

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Walter Otto Ötsch · Stephan Pühringer Katrin Hirte

Netzwerke des MarktesOrdoliberalismus als Politische Ökonomie

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Walter Otto ÖtschLinz, Österreich

Stephan PühringerLinz, Österreich

Katrin HirteLinz, Österreich

ISBN 978-3-658-19363-8 ISBN 978-3-658-19364-5 (eBook)https://doi.org/10.1007/978-3-658-19364-5

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V

Inhaltsverzeichnis

Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

1 Grundlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Fokus und Kernaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Wissenschaftssoziologischer und wissenschafts historischer Zugang 71.3 Zum polit-ökonomischen Grundkonsens

und seiner Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2 Der „performative Fußabdruck“ der deutschen ÖkonomInnen (1954-1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192.1 Zur Performativität ökonomischen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192.2 Einfl usspotenziale von ÖkonomInnen auf Politik und Gesellschaft . 212.3 Operationalisierung des Performativen Fußabdrucks von Öko-

nomInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422.4 Das Performative Einfl usspotenzial der deutschen ÖkonomInnen . . 51

3 Das Konzept „des Marktes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673.1 Die Krise des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673.2 „Der Markt“ bei Mises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

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VI Inhaltsverzeichnis

3.3 „Der Markt“ bei Hayek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763.4 „Der Markt“ im Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883.5 Die Polysemie „des Marktes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973.6 Planung für „den Markt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023.7 Markt- und Elite-Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033.8 Fazit: Eine nicht refl ektierte „Politische Ökonomie“ . . . . . . . . . . . . 107

4 Ordoliberale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1094.1 Netzwerke bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1094.2 Die Freiburger Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124.3 Länderübergreifende Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1194.4 Eine erste internationale Organisation des Markt fundamentalismus 1244.5 Kontinuitäten von Eliten vor und nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1294.6 Neue internationale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1524.7 Der politische Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1604.8 Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

5 Die kurze Keynesianische Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

6 Die marktfundamentale Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1976.1 Das Ende des Systems von Bretton Woods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1976.2 Neue Theorien „des Marktes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2046.3 Neue marktfundamentale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2196.4 „Das Manifest der Marktwirtschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2296.5 Marktsozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2346.6 Neuere Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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VII

Abbildungen

Abbildung 1 Wissenschaftlicher Produktionskoeffi zient nach Dekaden. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Abbildung 2 Vernetzung von ÖkonomInnen mit einem hohen bzw. mittleren medialen Präsenzkoeffi zient.Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Abbildung 3 Wirtschaftspolitischer Beratungskoeffi zient nach Zeit-dekaden. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Abbildung 4 Vernetzung von ÖkonomInnen mit einem hohen bzw. mittleren wirtschaftspolitischen Beratungskoeffi zienten. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Abbildung 5 Wirtschaftspolitischer Akteurskoeffi zient nach Zeit-dekaden. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Abbildung 6 Vernetzung von ÖkonomInnen mit einem hohen bzw. mittleren wirtschaftspolitischem Akteurskoeffi zienten. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Abbildung 7 Bedeutende VWL-Ausbildungsstandorte bis 1950. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Abbildung 8 Walter Eucken als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Abbildung 9 Die Freiburger Kreise und ihre Mitglieder. Quelle: Nach Goldschmidt (1997, S. 16). . . . . . . . . . . . . . . . . 139

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VIII Abbildungen

Abbildung 10 Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim deut-schen Bundeswirtschaftsministerium bis 1950. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Abbildung 11 Theodor Wessels als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Abbildung 12 Günter Schmölders als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Abbildung 13 Bedeutendste VWL-Ausbildungsstandorte 1950-1969. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Abbildung 14 Müller-Armack als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Abbildung 15 Erich Preiser als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

Abbildung 16 Erich Schneider als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Abbildung 17 Gottfried Bombach als akademischer Lehrer. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Abbildung 18 Herbert Giersch als Knotenpunkt personeller und in-stitutioneller marktfundamentaler Netzwerke. Quelle: Pühringer und Hirte (2014, S. 168). . . . . . . . . . . . . . . 223

Abbildung 19 Deutsche Monetaristen in deutschen marktfundamentalen Netzwerken. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Abbildung 20 Akademischer Stammbaum deutscher Monetaristen. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Abbildung 21 Der Kronberger Kreis als Knotenpunkt marktfundamen-taler Netzwerke bis heute. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . 234

Abbildung 22 Mediale Präsenz von deutschen ÖkonomInnen in der Finanzkrisendebatte. Quelle: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . 244

Abbildung 23 Vernetzung aller ÖkonomInnen mit mindestens mitt-lerem Einfl usspotential in mindestens zwei Koeffi zienten. Quellen: Eigene Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

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IX

Tabellen

Tabelle 1 Kurzbeschreibung von sechs Koeffi zienten eines Performativen Fußabdrucks von ÖkonomInnen. Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Tabelle 2 Wissenschaftlicher Produktionskoeffi zient der ersten 10 deutschen ÖkonomInnen (Sample 1954-1994). Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Tabelle 3 Wissenschaftlicher Reproduktionskoeffi zient (Lehr-bücher) der ersten 10 deutschen ÖkonomInnen (Sample 1954-1994). Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Tabelle 4 Medialer Präsenzkoeffi zient (in %) der ersten 10 deut-schen ÖkonomInnen (Sample 1954-1994). Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Tabelle 5 Wirtschaftspolitischer Beratungskoeffi zient der ersten 10 deutschen Öko nomInnen (Sample 1954-1994). Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Tabelle 6 Wirtschaftspolitischer Akteurskoeffi zient der ersten 10 deutschen ÖkonomInnen (Sample 1954-1994). Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Tabelle 7 Performativer Fußabdruck von (ehemaligen) Mitgliedern des Kronberger Kreises. Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . 232

Tabelle 8 Alle ÖkonomInnen mit mindestens mittlerem Einfl uss-potential in mindestens zwei Koeffi zienten. Quelle: Eigene Erhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

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XI

Vorwort

Spätestens seit der Finanzkrise ab 2007 ist die Rolle von ökonomischen Theorien für die Entwicklung der Wirtschaft zum Thema geworden. Nur wenige Ökono-mInnen haben eine derart umfassende Krise für möglich gehalten. Dies gab An-lass, nach der Relevanz von Theorien zu fragen: Wie war ein derartiges Versäum-nis möglich? Und – so die KritikerInnen: Wieso hat sich nach der Krise dermaßen wenig im Wissenschaftsfeld verändert, auch nicht in der Lehre? Wie ist es mög-lich, dass eine Wissenschaft nach einer derartigen Erschütterung ihres Erkenntnis-bereiches keine tiefgreifen den Änderungen vornimmt? Warum sind große Teile der Ökonomik derart stabil und resistent?

Unser Anliegen war, diese Fragen in einem Projekt, das durch die Hans-Böck-ler-Stiftung gefördert wurde1, nicht (nur) paradigmatisch abzuhandeln, sondern das Feld der Ökonomik als soziales Feld zu analysieren. Die vorliegende Unter-suchung betrifft (West-) Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Dazu wurde eine Datenbank zu allen in Deutschland bzw. Westdeutschland an Universitäten wirkenden ÖkonomInnen aufgebaut, in welcher Informationen zur akademischen Laufbahn mit Daten zu Aktivitäten in der wirtschaftspolitischen Beratung sowie politischen Ämtern verbunden wurden. (Das Sample umfasst die Zeitspanne 1954 bis 1994 mit 782 ProfessorInnen).2

1 Projektlaufzeit: 2012-2014, Projekt-Nr. 2012-575-1.2 Der Frauenanteil unter den deutschsprachigen ProfessorInnen für Volkswirtschafts-

lehre im untersuchten Sample ist sehr gering. Um auf dieses noch immer bestehende krasse Ungleichgewicht in der Geschlechterverteilung und die damit verbundenen

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XII Vorwort

Das Ergebnis liefert einen neuen Blick auf die Entwicklung der Ökonomik in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Ergebnisse, die hier vorgestellt wer-den, fundieren nicht die (meist übliche) Geschichtsschrei bung in der Ökonomik: von „Schulen“ und ihren exponierten VertreterInnen, welche neue „Ideen“ gelie-fert haben, die sich dann – so die oft vertretene Ansicht – deswegen durchgesetzt hätten, weil sie theoretisch überlegen waren. Sondern dieses Buch handelt demge-genüber von der Geschichte eines Sozialkörpers, der sich nach eigenen (nicht nur wissenschaftsinternen) Regeln und Entwicklungsmustern in enger Beziehung zur Entwicklung anderer gesellschaftlicher Bereiche immer wieder transformiert hat.

Dieses Vorgehen führte zu Resultaten, die in gängigen Geschichtsschreibungen zur Ökonomik Deutschlands kaum oder nicht zu fi nden sind. Insbesondere bele-gen wir Kontinuitäten in Netzwerken und Institutionen, die sich über Jahrzehnte aufgebaut und erhalten haben. Die wirkungsmächtigsten dieser Strukturen haben unmittelbar mit dem Ordoliberalismus als deutsche Variante des Neoliberalismus zu tun, der sich bekanntlich in den ersten Jahren des neuen Staates Westdeutsch-land als wichtige Schule etablieren konnte. Sein Einfl uss – und dies wird in diesem Buch im Detail belegt – ist aber nicht sukzessive gesunken oder gar verschwun-den, sondern hat sich institutionalisiert, immer wieder transformiert und besteht nach wie vor. Die Geschichte der Ökonomik in Deutschland zeigt somit, dass der Ordoliberalismus in seiner widersprüchlichen Breite immer noch einen Einfl uss auf das gesamte Feld der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland ausübt und somit für aktuelle Wirtschaftspolitiken (auch und insbesondere in ihrer EU-weiten Bedeutung) immer noch relevant ist. Dies zu zeigen, zu dokumentieren und zu problematisieren ist Anliegen dieser Publikation.

Wir bedanken uns bei der Hans-Böckler-Stiftung, die durch ihre Förderung diese Studie möglich gemacht hat, bei all denen, die uns unterstützt haben und hier insbesondere Günter Sageder und Andreas Reichl, welche zu den Forschungs-ergebnissen entscheidend beitrugen. Wir bedanken uns weiterhin bei unseren Pro-jektpartnerInnen an der Universität Hamburg für die produktive Zusammenarbeit. Sie erforschten im gemeinsamen Projekt die Historie und Situation der hetero-doxen Ökonomie in Deutschland (Heise et al. 2016).

Selektionsmechanismen, (die nicht nur auf die akademische Disziplin der Volkswirt-schaftslehre zutreffen), aufmerksam zu machen, ist der gesamte Text in genderneut-raler Schreibweise verfasst. Gerade der Umstand, dass dies Irritationen bei den Le-serInnen hervorruft, kann als Bestätigung des Selbstverständnisses der dargelegten Unterrepräsentanz von Frauen verstanden werden.

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1Grundlegungen

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 kann als Krise der ökonomischen The-orie verstanden werden. Der fast vollständige Zusammenbruch des Interbanken-marktes und vieler Finanzmärkte und dann der tiefe Einbruch der globalen Real-wirtschaft kollidiert mit der immer noch vorherrschenden Sichtweise, Märkte (und die gesamte Wirtschaft) würden sich im Prinzip selbst stabilisieren und Krisen seien demnach als „außergewöhnliche Ereignisse“ (Pühringer und Hirte 2015) zu interpretieren, die nichts an der grundsätzlichen Verfasstheit des Wirtschaftssys-tems ändern würden. Dies gab Anlass, die Beziehungen von ökonomischen Theo-rien zur Wirtschaft, zur Politik und zur Gesellschaft (u. a. zu den Medien) neu zu hinterfragen.

Dabei ist es notwendig, ÖkonomInnen nicht nur als „objektive“ BetrachterInnen einer von ihnen unabhängigen wirtschaftlichen „Realität“ aufzufassen, sondern als AkteurInnen, die mit vielen gesellschaftlichen Bereichen in starker Wechsel-wirkung stehen. Die universitäre Ökonomie dient nicht nur – wie oft gesagt – der Produktion interessensungebundener „Wahrheiten“. Sie ist auch eine performative Veranstaltung mit direkten Wirkungen auf viele Bereiche der Gesellschaft. Die universitäre Ökonomik formt das gesellschaftliche Wissen über die Wirtschaft (und auch das Nichtwissen) entscheidend mit und liefert die Grundlagen, auf de-nen wichtige Entscheidungen der Wirtschaftspolitik ruhen. Die ökonomische Wis-senschaft in dieser Weise kritisch und netzwerkanalytisch zu hinterfragen, ihre Entwicklung und dazugehörigen Ausrichtungen, ihr Denken, ihre Institutionen und Netzwerke, bedeutet somit, einen wichtigen Einfl ussfaktor gesellschaftlicher Entwicklung zu analysieren.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018W. O. Ötsch et al., Netzwerke des Marktes,https://doi.org/10.1007/978-3-658-19364-5_1

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2 1 Grundlegungen

1.1 Fokus und Kernaussagen

In diesem Buch geht es um die Netzwerke der deutschen Ökonomik im letzten Jahrhundert: ihre Entstehung vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, die Rekrutierungsmuster wichtiger AkteurInnen, wir-kungsmächtige Lehrer-Schüler-Beziehungen, die Schulen bildungen an wichtigen Universitätsstandorten, die institutionellen Verdichtungen in Form von Gremien und Think Tanks und den Einfl uss von ÖkonomInnen auf die Wirtschaftspolitik und auf relevante Medien. Zusätzlich wurden auch die Gesamteinfl üsse einzelner Personen in Form eines „performativen Fußabdrucks“ analysiert und ihre Wir-kungspotenziale über personelle und institutionelle Verbindungen in Netzwerken zusammengefasst und illustriert.

Diese Gesamtschau betrifft die VertreterInnen der kompletten Volkswirt-schaftslehre in (West-)Deutschland 1945-1995, ungeachtet ihrer theoretischen Zuordnung. Der Haupteinfl uss ging aber im Kern von Personen aus, die in Netz-werken verbunden sind, die direkt von führenden Ordoliberalen und ihren Schü-lerInnen gegründet worden sind. In diesem Sinn handelt dieses Buch von einer Geschichte des Ordoliberalismus, der – wie nachstehend gezeigt – als deutsche Variante des Marktfundamentalismus (zu diesem Begriff siehe in Kapitel 3) ver-standen werden kann.

Der Ordoliberalismus kann bekanntlich in mehrere Strömungen unterteilt wer-den. Ptak (2004, S. 17) unterscheidet drei Gruppen, wobei er aber ihre Einheit im Agieren betont:

• die „Freiburger Schule“ mit Walter Eucken (1891-1950), Franz Böhm (1895-1977) und Leonhard Miksch (1901-1950),

• den „soziologischen Flügel“ um Alexander Rüstow (1855-1963) und Wilhelm Röpke (1899-1966) und

• die Gruppe der „Praktiker“ mit Ludwig Erhard (1897-1977) und dem FAZ-Herausgeber Erich Welter (1900-1982).

Alfred Müller-Armack (1901-1978) rechnet Ptak der zweiten und der dritten Grup-pe zu.1 In der Debatte um die Ab- und Eingrenzung des Ordoliberalismus hat seine

1 Bress (1996) teilt den Ordoliberalismus in zwei Richtungen: die Freiburger Schule und den „Neoliberalismus“. Lorch (2013, S. 21) trifft die Einteilung nach „1.) Die Freiburger Schule um Eucken und Böhm , 2.) der sog. Sozialhumanismus um Rüstow und Röpke sowie 3.) die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft um Müller-Armack . […] Diese drei Strömungen können als ordoliberal im weiteren Sinne benannt werden, während sich der Ordoliberalismus im engeren Sinne nur auf die Freiburger Schule

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31.1 Fokus und Kernaussagen

Beziehung zu anderen Schulen und Gruppen eine wichtige Rolle gespielt. Unter anderen wurde debattiert, ob und in welcher Weise der Ordoliberalismus als „neo-liberal“ zu bezeichnen ist.2

Auf der einen Seite waren viele prominente ordoliberale DenkerInnen bemüht, sich vom „Neoliberalismus“ – in diesem Kontext vor allem vom „amerikanischen Neoliberalismus“ nach Chicagoer Prägung – abzugrenzen und den Ordoliberalis-mus als selbständige Strömung zu setzen (z. B. Feld et al. 2015). Andererseits äu-ßerten KritikerInnen, es gäbe gar keinen „Neoliberalismus“. Das sei nur eine leere Worthülse, eine „catch all phrase“ oder ein Strohmann und gleichzeitig negativ konnotiert (Solow 2012; Cahill 2014; Rowlands und Rawolle 2013).

Weiterhin wurde argumentiert, dass selbst, wenn es so etwas wie ein politi-sches Konzept des „Neoliberalismus“ gäbe, dieses Konzept zu heterogen und am-bivalent sei, um für eine wissenschaftliche Analyse seiner Wirkungsgeschichte herangezogen werden zu können, bzw. dessen Einfl uss massiv überschätzt würde (Burns 2014; Brick 2014; Peck 2013). So hieß es von Burns (2014, S. 260) in diesem Kontext:3

“Part of the diffi culty comes from [an] attempt to both distinguish and write about neoliberal thought and neoliberal politics in one account. And part of it comes from the very nomenclature of Neoliberalism itself, an overtheorized term that lacks a historically specifi c constituency and has been applied haphazardly to nearly every feature of the globalized modern world.”

um Eucken bezieht.“ Kolev (2010, S. 4) unterscheidet drei konzentrische Kreise. Im Kern steht die Freiburger Schule (mit Eucken und Böhm ). Gemeinsam mit den Nicht-Freiburgern (Röpke und Rüstow ) bilden sie die Ordoliberalen. Der dritte und äußerste Kreis umfasst auch Müller-Armack und bildet den „Deutschen Neoliberalismus“.

2 Im anglo-amerikanischen Diskurs ist auch der Begriff „German neoliberalism“ ge-bräuchlich. So stellt Henry Oliver (1969, S. 117) im Quarterly Journal of Economics zu diesem Begriff einleitend fest: “Some of the economists (…) have objected to the term ‚neoliberal‘, believing that it does not sufficiently distinguish them from advocates of laissez-faire. Substitute terms such as ‘Ordoliberalism’, however, are less widely used and probably unfamiliar to most American readers.” Ähnlich beschreibt auch Joa-chim Starbatty den Ordoliberalismus mit unmittelbarem Verweis auf die Mont Pélerin Society (vgl. Kapitel 4), deren Mitglied Starbatty auch ist, als „deutsche Variante des Neoliberalismus“ (Starbatty 2001, S. 251).

3 Für eine kondensierte Darstellung der in vielen Facetten vorgetragenen Kritik an den Neoliberalismus-Studien bzw. der Verwendung dieses Konzepts generell siehe Mi-rowski (2014).

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4 1 Grundlegungen

In diesem Buch wird der deutsche Ordoliberalismus als Teil eines globalen „Denk-kollektivs“ interpretiert.4 Wir erachten diesen Begriff sowohl zur Bewältigung der Heterogenität innerhalb des Ordoliberalismus als auch zum Verständnis seiner engen Verbindungen zu anderen Schulen als nützlich. Ludwik Fleck erklärt ihn so:

„Defi nieren wir ‚Denkkollektiv‘ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedanken-austausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissen-bestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils.“ (Fleck 1935 und 1980, S. 54f., kursiv im Original)

Ein Denkkollektiv besitzt eine soziale Struktur und kreist um einen „Kollektiv-gedanken“ (Fleck 1935/1980, S. 58). Um den Begriff Denkkollektiv für den Ordo-liberalismus in seiner Vernetzung zu anderen Schulen Sinn zu geben, haben wir (ab Kapitel 3) zum einen zu zeigen, wie sich eine gemeinsame Gruppe mit diesen bildete, wie und durch welche Kooperationen, Projekte und Netzwerke diese sich entwickelt hat und welche Wirkungen davon ausgegangen sind, – all dies historisch spezifi ziert. Zum anderen muss auch der zentrale Kollektivgedanke thematisiert werden, – es ist dies in der hier vorgeschlagenen Interpretation der Begriff „der Markt“ in sehr spezifi schen Bedeutungen (Kapitel 3). Wenn dieser Begriff mit diesen Bedeutungen verwendet wird, dann sprechen wir von „Marktfundamen-talismus“. Der Ordoliberalismus ist demgemäß ein Teil eines globalen marktfun-damentalen Denkkollektivs.

Mit der hier vorgeschlagenen Sichtweise sollen in der aktuellen Debatte um den Ordoliberalismus neue Akzente gesetzt werden. In dieser Ausein andersetzung fi n-den sich bekanntlich unterschiedliche Einschätzungen, bei denen aber im Kern der Ordoliberalismus als singuläre Schule begriffen wird. Zu dieser Deutung gehören Auffassungen wie:

4 Philip Mirowski u. a. verwenden den Begriff des „neoliberalen Denkkollektivs“ (Mi-rowski und Plehwe 2009; Mirowski 2013, 2014) “…to refer to this multilevel, multi-phase, multisector approach to the building of political capacity to incubate, critique and promulgate ideas.” (Mirowski 2013, S. 44). Im Unterschied zu Mirowski verwen-den wir den Ausdruck Denkkollektiv von Ludwik Fleck und vermeiden ebenso den vieldeutigen Begriff „neoliberal“. Wir sprechen anstelle dessen von „markfundamen-tal“; dieser Begriff wird in Kapitel 3 definiert.

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51.1 Fokus und Kernaussagen

• Beim Ordoliberalismus handele es sich um eine isolierte Schule, die nur auf den deutschen Sprachraum bezogen war und dogmenhistorisch kaum von Be-deutung sei.5

• Der Ordoliberalismus sei (nur) ein „Sammelbegriff“ (z. B. Gonzales 2014, S. 36) für ein derart heterogenes Gebilde, das man nicht von einer einzigen Schule sprechen könne.6

• Der Ordoliberalismus war nur eine begrenzte Zeit einfl ussreich. • In Zusammenhang damit wurde auch eine „Wiederkehr“ des Ordoliberalismus

konstatiert, vor allem in Bezug auf den deutschen Beitrag zur Gründung der EU (Nedergaard 2013; Sawyer 2016) und aber auch in jüngster Zeit zur Hand-habung der so genannten Eurokrise (Bonefeld 2012; Biebricher 2014; Feld et al. 2015; Moszyń ski 2015) bzw. der Krise der Staatschulden in einzelnen Ländern im Euroraum.

• Der Ordoliberalismus sei klar von der Österreichischen Schule der National-ökonomie zu unterscheiden.

• Der Ordoliberalismus stehe im scharfen Gegensatz zum Monetarismus und wurde in Deutschland bald vom letzteren verdrängt.

• Begleitend dazu: Die Ökonomie hätte sich in Deutschland nach 1945 über eine „Amerikanisierung“ zuerst keynesianisch und danach neoklassisch ausgerich-tet (z. B. Hesse 2010, S. 17, hier in Bezug auf die „Semantik“ der Wirtschafts-wissenschaften verstanden).

• Der Ordoliberalismus unterscheide sich fundamental von der herkömmlichen Mikroökonomie, vor allem weil in ordoliberalen Texten fast kein Bezug zur formalen Methode unternommen werde. In dieser Weise unterscheide sich der Ordoliberalismus auch grundsätzlich von Richtungen, die als Sonderformen der Neoklassik bezeichnet werden, wie die Public Choice-Schule und die vielen Richtungen der modernen Finanzmarkttheorie.

Die hier präsentierten Analyseergebnisse führen hingegen zu Schlussfolgerungen, die den meisten angesprochenen Deutungen des Ordoliberalismus widersprechen. Pointiert kann man dazu herausstellen:

5 Im Standardwerk „Geschichte des ökonomischen Denkens“ von Pribram (1992) ist „Ordoliberalismus“ z. B. nicht zu finden. Von Feldmann (1995, S. 42) heißt es: „In der Volkswirtschaftslehre konnte der Ordoliberalismus über die Freiburger Schule hinaus praktisch keine Wirkung entfalten.“

6 Siehe z. B. auch Hesse (2006) und Quaas (2000).

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6 1 Grundlegungen

• Der Ordoliberalismus war nicht isoliert, sondern schon von Beginn an Teil eines internationalen Netzwerks von wirtschaftsliberalen ÖkonomInnen, das dann nach dem 2. Weltkrieg ausgebaut wurde und in seiner Bedeutung gestiegen ist.

• In dieses Netzwerk waren von Anfang an einfl ussreiche Personen und macht-volle Institutionen eingebunden.

• Die VertreterInnen des Ordoliberalismus weisen enge persönliche und institu-tionelle Beziehungen zu Richtungen der Österreichischen Schule der National-ökonomie auf.

• Der Ordoliberalismus stellt (auf der Ebene der kategorialen Gemeinsamkeit des Begriffes „der Markt“) keinen Gegensatz zur traditionellen Mikroökonomie dar.

• Die „monetaristische Wende“ in der deutschen Nationalökonomie ist auf die zu schildernden nationalen und internationalen Netzwerke zurückzuführen.

• Ähnliches gilt für die deutsche „neoliberale Wende“ nach 1982; sie wird hier aus dem Agieren bestehender Netzwerke und Institutionen unter sich geänder-ten Bedingungen verstanden.

• Die durch den Ordoliberalismus in Deutschland verbreiteten Denkweisen – ins-besondere in der wirtschaftspolitischen Leitlinie – sind bis heute wirkungs-mächtig.

• Dies zeigt sich auch in den von Deutschland initiierten EU-Krisenpolitiken nach 2009.

Zusammengefasst ist der Einfl uss des Ordoliberalismus in Deutschland auf drei Ebenen erkennbar:

1. auf der Denkebene: Der Ordoliberalismus war entscheidend daran beteiligt, eine Denkform „des Marktes“ zu entwickeln und durchzusetzen (Kapitel 3), die in Verbindung mit anderen Richtungen innerhalb des Denkkollektivs (Ka-pitel 4) den Keynesianismus (Kapitel 5) als führende Schule nach 1945 ver-drängt hat. Dieser Ansatz enthält ein politisches Anliegen (Kapitel 3.8), das in Deutschland bis heute prominent verfolgt wird (Kapitel 6).

2. auf der Netzwerkebene: Basierend auf einer Datenbank, in der alle Professoren für Ökonomie in (West-)Deutschland von 1954-1995 enthalten sind, können Kontinuitäten in ordoliberalen Netzwerken nachgewiesen werden: in der Schu-lenbildung, in institutionell verankerten Zentrierungen und in politischen Ver-fl echtungen (Kapitel 4 und 6).

3. auf der Wirkungsebene: Der Einfl uss des Ordoliberalismus wird hier hinsicht-lich zweier Aspekte thematisiert: als Potential der Wirkmächtigkeit aller nach 1945 agierenden ÖkonomInnen (empirisch als „performativer Fußabdruck“

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71.2 Wissenschaftssoziologischer und wissenschafts historischer …

umgesetzt, Kapitel 2) sowie als historischer Verlauf mit wichtigen Stationen nach 1945 (Kapitel 4 bis 6).

1.2 Wissenschaftssoziologischer und wissenschafts-historischer Zugang

Das Verständnis, die Vertreter der Ökonomik als gesellschaftliche Akteure zu verstehen, welche nicht als „objektive Analyisten“ außerhalb der Gesellschaft stehen, bedingt einen wissenschaftssoziologischen Zugang. Dieser wird seit den 60er-Jahren debattiert. Hier führte die Einsicht in die Unmöglichkeit eines voraus-setzungsfreien wissenschaftlichen Herangehens zur Theorie der paradigmatischen Wissenschaftsentwicklung (Kuhn 1976; 1978).

Diese besagt im Kern: Ein Fortschreiten in der Wissensentwicklung erfolgt nicht durch permanente Falsifi kation (wie von Popper 1969 aufgefasst), sondern in Phasen: auf eine Phase einer „Normalwissenschaft“, in der am Ausbau einer Theorie gearbeitet wird, folgt eine „revolutionäre Phase“, mit der eine „grund-sätzliche Wandlung des bisher gültigen Regelsystems“ einhergeht (Kuhn 1976, S. 65).

Kuhn argumentierte 1962 im Vorwort von „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ in erster Linie zu einer Revolutionierung der damals gängigen Geschichtsauffassungen (Kuhn 1976, S. 15ff.) sowie der damit verbundenen er-kenntnistheoretischen Position.7 Aber später wurde sein Beitrag vor allem als wissenschaftssoziologischer gesehen.8 Dass diese Verengung problematisch blieb, ist insbesondere daran erkennbar, dass die Paradigmenauffassung im Kern

7 Hier richtete sich Kuhn explizit gegen die Adäquationstheorie der Wahrheit, die dem popperschen Falsifikationstheorie zugrunde liegt und nach der Wissenschaft die Auf-gabe hätte, Theorie und Realität in Übereinstimmung zu bringen: „Aber es gibt einen anderen Schritt oder so etwas wie einen Schritt, den viele Wissenschaftstheoretiker machen wollen und den ich nicht mehr mitmache. Sie möchten nämlich die Theorien als Darstellung der Natur, als Feststellungen darüber, ‚was es da draußen in Wirklich-keit gibt‘, miteinander vergleichen. Sie geben zwar zu, daß, wenn man aus der Ge-schichte zwei Theorien nimmt, keine von diesen wahr ist; aber sie suchen dann doch nach einem solchen ‚Sinn‘, indem die spätere Theorie eine bessere Annäherung an die Wahrheit sein könnte. Ich glaube dagegen, daß kein solcher ‚Sinn‘ gefunden werden kann.“ (Kuhn 1974, S. 256)

8 Typische Benennungen sind z. B.: Beitrag zur Verknüpfung epistemischer mit institu-tionellen Strukturen (Weingart 2003, S. 42) oder: Beitrag, bei dem es um die Beein-flussung „der Inhalte der Wissenschaft selbst durch soziale Faktoren“ geht (Knob-lauch 2005, S. 237).

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8 1 Grundlegungen

weiterhin dem Verständnis von geltenden Theorien als Ideal „bewiesener Wahr-heiten“ widersprach. Insbesondere Lakatos mit dem Vorwurf an Kuhn , dieser hätte mit seiner Paradigmenauffassung eine „nicht rationale“ Wissenschafts-entwicklung postuliert (Lakatos 1974, S. 91), gelang es mit seinem Konzept der Forschungsprogramme nicht, die „Logik der Forschung“ vor dem kuhnschen Postulat wechselnder paradigmatischer Auffassungen zu retten (Lakatos 1978, S. 93). Im Nachgang dieser bis heute offenen Debatten zeigen drei Strömungen, dass die kuhnsche Auffassung fortgeschrieben und dabei weiter problematisiert wird:

Erstens erfolgte ein Wiedererstarken konstruktivistischer und pragmatistischer Auffassungen, mit denen der Ansicht widersprochen werden soll, bestehende Rea-litäten würden wissenschaftsseitig nur aufgefunden und „bewiesen“. Dabei blieb aber problematisch, dass die aktive Rolle der Wissensproduktion an der Gestaltung der Wirklichkeit so stark betont wurde, dass Wirklichkeit nun als „Kon struktion“ verstanden wird9 bzw. Wahrheit gilt als nur wahr, wenn sie nützlich ist.10

Zweitens erfolgte die Institutionalisierung und Entwicklung des Gebietes der Wissenschaftssoziologie, innerhalb derer das Vorhandensein von jeweils dominie-renden Paradigmen problematisiert und als Herausbildung von „Schulenausprä-gungen“ auch empirisch belegt wurde (Münch 2006, 2007; Fröhlich 2002; Peters und Ceci 2004 et al.).

Drittens wurde mit der Etablierung eines performativen Ansatzes versucht, die Überbetonung des Konstruierens in konstruktivistischen Ansätzen zu vermei-den, ohne aber in den alten Theorie/Objekt-Dualismus zurückzufallen. Hier wird Wirklichkeit als konstituiert (statt konstruiert) verstanden, d. h., Wirklichkeitsfor-mung erfolgt als Agencement11 von Akteuren, Natur, Technik, Wissen usw.

Das damit verbundene „Objektivitäts“-Problem gilt nicht nur hinsichtlich der Wissenschaft eines Feldes, sondern auch der Geschichtsschreibung. Auch diese kann nur bedingt „objektiv“ sein – und dies aus mehreren Gründen. Zum einen besteht hier ein quantitatives Problem:

9 Z. B.: „Die Wissenschaft kann nur diejenige Realität kennen, die sie durch eigene Ope-rationen konstruiert.“ (Esposito 2010, S. 136)

10 „Wenn eine solche Wahrheit für eines unserer Erlebnisse bedeutsam wird, … dann wird unser Glaube an sie aktuell. Man kann sagen: ‚sie ist nützlich, weil sie wahr ist‘, oder ‚sie ist wahr, weil sie nützlich ist‘.“ (James 1908, S. 129)

11 “The term agencement is a French word that has no exact English counterpart. In French its meaning is very close to ‘arrangement’ (Ausrichtung) or ‘assemblage’ (Strukturierung). It conveys the idea of a combination of heterogeneous elements that have been carefully adjusted one another.” (Callon 2007, S. 319)

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91.2 Wissenschaftssoziologischer und wissenschafts historischer …

„Die Vergangenheit ist wie jede menschliche Welt eine Totalität aus einer unendli-chen Anzahl von Momenten. Eine solche Totalität, eine solche Unendlichkeit ist für unser Wissen nicht erreichbar, nicht erschöpfbar.“ (Nipperdey 2010, S. 64)

Geschichtsschreibungen beziehen sich zudem nicht auf einen Gegenstandsbereich, der unmittelbar und unabhängig von historisch forschenden Personen gegeben ist. Geschichte ist keine objektiv aufgezeichnete Vergangenheit, die „[…] zeigt, wie es eigentlich gewesen […]“ sei (Ranke 1824). Denn sie kann von den HistorikerInnen nicht getrennt werden, da sie auch ihr Werk ist. Das ranksche Postulat12 kann daher nicht erfüllt werden,

„denn sobald die Vergangenheit erfasst ist, ist sie es als Erkenntnis eines Subjektes und insofern bereits bedingt durch dessen wissenschaftliche und außerwissenschaft-liche Perspektive und die dadurch generierten erkenntnistheoretischen Kategorien.“ (Martens 2010, S. 58)13

Diese jeweilige Perspektive – schon 1752 von dem Historiker Chladenius als so genannte „Sehepunkte“ benannt (Emich 2006, S. 75), von Kuhn (1978, S. 359) später als jeweilige „Brille“ bezeichnet – sind die zweite Ursache für begrenzte Objektivität, woraus sich auch das Offenlegungspostulat von Weber (1922 a, b) ableitet. Ebenso ergibt sich daraus das

„triviale Faktum, dass jede Gegenwart die Geschichte neu schreibt, ihre eigene Ge-schichte schreibt. Und mehr noch: dass es auch in jeder Gegenwart eine Menge von Historikern mit gegensätzlichen Meinungen, die offenbar von ihren verschiedenen Standpunkten abhängen, gibt.“ (Nipperdey 2010, S. 63)

Die vorliegende Publikation reiht sich in diese Auffassungen von Geschichts-schreibung ein. Ihre Differenziertheit gegenüber anderen Publikationen zum Ordoliberalismus speist sich dabei zum Ersten aus dem hier gewählten methodi-schem Zugang, bei dem entsprechende belegende Quellen vor allem datenbank-basiert und netzwerkanalytisch verknüpft wurden. Dieser methodische Zugang

12 Der Historiker Leopold Ranke versuchte sich zu seiner Zeit der damaligen tendenziel-len Geschichtsschreibung zu erwehren, wenn es von ihm hieß: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen. So hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ (Ranke 1824, S. VII)

13 Hier mit Bezug auf: Marrou (1973, S. 51ff.).

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10 1 Grundlegungen

führte auch dazu, vom „Vetorecht“ der Quellen Gebrauch machen zu können14 zu manchen Aussagen, welche Stand, Stellung und Wirkdimension ordoliberaler ÖkonomInnen betreffen.

Hinsichtlich der Geschichtsschreibung wird hier Zweitens noch in einem weiteren Punkt von dem sonst vorherrschenden Vorgehen abgewichen: Wissen-schaftsgeschichte wird üblicherweise als Wissensgeschichte und damit als The-oriegeschichte bzw. Dogmenhistorie wiedergegeben. Die Entwicklung des wis-senschaftlichen Feldes bleibt dabei von der Entwicklung seiner Sozialgeschichte entkoppelt. Im Gegensatz dazu werden hier – dabei u. a. Bruno Latour (1998) folgend – Inhalt (Theoriegeschichte) und Kontext (Sozialgeschichte) der Wissen-schaft von der Wirtschaft in ihrer Verwobenheit verstanden.

Bei diesem Herangehen wird deutlich: In der Geschichte der deutschsprachigen Ökonomik nach 1945 haben sich nicht die „besseren“ Theorien durchgesetzt, son-dern jene, die in jeweils wirkungsmächtigster Resonanz zu anderen Bereichen der Gesellschaft standen. Diese Resonanz spiegelt sich auch in Form von Netzwerken wider, welche die VertreterInnen der universitären Ökonomik mit gesellschaftlich relevanten Feldern verbinden.

Nach Latour (1998) sind bei der Formierung bestimmter Denkschulen fünf Pro-zesse zu unterscheiden:

1. Implementierung wissenschaftlicher Instrumente und Techniken, 2. Aufbau einer eigenen scientifi c community, 3. Errichtung von Allianzen mit außerakademischen Bereichen, vor allem der

Wirtschaft und der Politik sowie 4. entsprechende Medienarbeit.

Für ein längerfristiges Gelingen ist nach den erfolgreichen ersten vier Prozessen dann der fünfte von entscheidender Bedeutung:

5. „Verbindungspfl ege“ und Schaffung von „Bindemitteln“, mit deren Hilfe alle anderen Verbindungen dauerhaft und „fest“ zusammengehalten werden.

Übertragen auf die Entwicklungsgeschichte der Ökonomie in Deutschland führt der Nachvollzug dieser Prozesse zu der These, welche in diesem Buch näher aus-geführt wird: Den Vertretern und Vertreterinnen des Ordoliberalismus ist es in

14 „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.“ (Koselleck 1985, S. 206)

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111.3 Zum polit-ökonomischen Grundkonsens und seiner Fundierung

Deutschland nach 1945 gelungen (und dies vor allem über ihren beständigen Ein-fl uss auf die Politik), dauerhaft ein Institutionen- und Beziehungsnetzwerk zu er-richten, welches sich nachhaltig und konsistent reproduzieren und transformieren konnte. Diese These impliziert auch, den ordoliberalen ÖkonomInnen für die Ent-wicklung des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens in Deutschland ab 1945 viel mehr Einfl uss zuzuschreiben, als dies üblicherweise in der dogmenhistorischen Geschichtsschreibung passiert.

Dabei nehmen wir aber nicht nur auf den Ordoliberalismus im herkömmlichen Verständnis Bezug (bei dem bekanntlich nur auf eine kurze Zeitspanne mit den entsprechenden ausschlaggebenden RepräsentantInnen fokussiert wird), sondern auf das gesamte in diesem Kontext relevante „Denkkollektiv“ und somit auf alle jene Richtungen, mit denen Ordoliberale in einem direkten politischen Anspruch aktiv seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengearbeitet haben. Diese Zusammenarbeit wird nachstehend dokumentiert und thematisiert. Dabei handelt es sich um VertreterInnen auch der Österreichischen und der Chicagoer Schule sowie ab den 50er-Jahren der Varianten der (neuen) Neoklassik, wie der Public Choice-Schule oder dem Monetarismus. Die Gesamtheit dieser Richtungen hat zudem den Keynesianismus in Deutschland schließlich zu einer Randerschei-nung werden lassen. Jede von ihnen hat dazu – in ihrem Bereich – ihren Beitrag geleistet (vgl. ab Kapitel 6.1). Keynesianismus ist so heute zu einem Teilbereich der „heterodoxen“ Ökonomie geworden.

Dass so unterschiedliche Richtungen in gemeinsamen Netzwerken zu fi nden sind (wie im Kapitel 3 und folgend ausführlich gezeigt), widerspricht der gängigen Sichtweise, bei der auf die erheblichen paradigmatischen Differenzen der einzel-nen „Schulen“ abgehoben wird. Das gemeinsame Agieren in gemeinsamen Netz-werken wirft also die Frage auf, wie diese Gemeinsamkeit erklärt werden kann. Mit anderen Worten gefragt: Kann „unterhalb“ der Ebene der bekannten Differen-zierungen (die zumeist im Zentrum gängiger dogmenhistorischer Abhandlungen stehen) ein Konsens aufgezeigt werden, welcher das gemeinsame Agieren in Netz-werken verständlich macht und wenn ja, wie ist dessen Fundierung in Divergenz zum allgemeinen Verständnis zu paradigmatischen Wechseln zu verstehen?

1.3 Zum polit-ökonomischen Grundkonsens und seiner Fundierung

Nachstehend wird die Frage nach einem gemeinsamen Grundkonsens positiv be-antwortet und ist gleichzeitig mit einem Dritten – vom üblichen Vorgehen diver-gierenden – Zugang verknüpft. Denn der gemeinsame Grundkonsens liegt nach

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12 1 Grundlegungen

der hier vertretenen Auffassung nicht auf der Ebene von Theorien oder jeweiliger Paradigmen, sondern auf der Ebene eines „Kollektivgedankens“, den laut Fleck ein „Denkkollektiv“ auszeichnet. Die Differenzierung in „Kollektivgedanken“ und „Denkstil“ – bei Fleck noch zu fi nden – wird bei Kuhn aufgehoben und beide mit „Paradigma“ gleichgesetzt, wodurch diese Differenzierung verlorenging. Sie bleibt aber notwendig, da sich jeweilige Bezüge auf verschiedenen Ebenen be-fi nden: Die Bezugsebene des grundsätzlichen Zusammenwirkens aller am Wirt-schaften beteiligten Entitäten (z. B. im Rahmen einer Mechanik „des Marktes“) liegt unterhalb der Bezugsebene, auf der dann nach Prioritätensetzung von Ein-fl ussgrößen und auch nach spezifi schen Wirtschaftspolitiken gefragt wird (z. B. Geldmengensteuerung oder angebotsseitige Maßnahmen): ein „Kollektivgedanke“ geht also dem „Denkstil“ bzw. Paradigma voraus bzw. fundiert ihn. Auch wenn Kuhn mit Paradigmenwechseln auf grundsätzliche Wechsel im Denkstil fokus-siert, geht mit dem Verlust dieser Differenzierung die Unterscheidung verloren, wie weit jeweilige Paradigmenwechsel reichen und vor allem wie unbewusst die diesen Paradigmenwechseln zugrunde liegenden Ebenen – wie eines „ Kollektiv-gedankens“ – bleiben.15

Dieser „grundsätzliche Kollektivgedanke“ im hier interessierenden Kontext beinhaltet den Grundbegriff – „des Marktes“ (im Singular) – und damit ein spe-

15 Prägnant wird diese Nichtunterscheidung bei Kuhn von Bischof (2013) thematisiert, hier als Nichtunterscheidung der Differenz zwischen „unreflektierten kognitiven Be-zugssystemen“ und bewusst gewordenen. (Das mögliche Ändern grundsätzlicher Be-zugssysteme wird dabei als „Wechseln der Farbe des Hintergrundes“ beschrieben, bei dem dann jeweils aktuell anvisierte Paradigmen als „auffällige Blätter“ erscheinen). „Unser Wahrnehmungsapparat stattet die Objekte unserer phänomenalen Welt mit Ei-genschaften aus, die absolut erscheinen und in Wirklichkeit doch relativ sind. Von dieser Relativität bemerken wir normalerweise nichts. Bezugssysteme sind unschein-bar. Nur wenn sie wechseln, […] werden wir für kurze Zeit auf sie selbst aufmerksam. Danach adaptieren wir wieder rasch und ihre Erscheinungsweise sinkt wieder auf den Nullpunkt unscheinbarer Selbstverständlichkeit. […] Das Bezugssystem verändert also nicht nur das Eigenschaftsprofil, sondern auch die Auffälligkeit der eingebet-teten Objekte. […] Leider verstand Kuhn zu wenig von Wahrnehmungspsychologie, um das Phänomen zu durchschauen. Die Ebene der Bezugssysteme ist ihm zu abs-trakt. Wenn er Paradigmata benennt, dann redet er immer nur von den auffälligen Blättern und nicht von der Farbe des Hintergrundes.“ (Bischof 2013) Eine in diesem Kontxt ebenfalls vorgenommene Differenzierung ist die von Lakatos (1974, S. 89ff.) in „Kern“- und „Hilfsannahmen“, wodurch das Hierarchisierungsproblem ebenfalls thematisiert wird sowie das gleichzeitige Bestehen ähnlicher und doch divergierender Auffassungen nebeneinander besser verstehbar ist, (später als axiomatische Variatio-nen“ thematisiert – Kapeller 2012).

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131.3 Zum polit-ökonomischen Grundkonsens und seiner Fundierung

zifi sches Markt-Verständnis, welches unterschiedlichen Theorien und Paradigmen vorangeht und sie auf diese Weise fundiert.

Die hier vertretene Grundthese lautet: Der Begriff von „dem Markt“ (im Singu-lar) fundiert in der Ökonomie ein Gedankenkollektiv, das die deutschen Ordolibe-ralen mitbegründet haben. „Der Markt“ wird in diesem Kollektiv sehr spezifi sch verwendet. Er steht für einen autonomen Bereich, in dem ein Prozess selbständig abläuft, welcher wie das Agieren eines handelnden „Subjekts“ gedacht wird, dem „wir“ – so der Grundtenor in diesem Gedankenkollektiv – zu folgen hätten (Ötsch 2009; 2013; 2014a). Insofern eine solche Begriffl ichkeit „des“ Marktes verwendet wird, kann man von Marktfundamentalismus sprechen.16

Das Konzept „des Marktes“ wird dabei als eine Tiefenstruktur im Denken ver-standen, welche mit unterschiedlichen Paradigmen und Methoden vereinbar ist.17 Anders formuliert: „Der Markt“ kann auch als Grundbegriff einer Metatheorie der Wirtschaft verstanden werden, die unterschiedliche Paradigmen umspannt.

Das gemeinsame Konzept „des“ Marktes macht es verständlich, warum unter-schiedliche Ansätze – trotz ihrer Divergenzen – sich in gemeinsamen Institutionen organisiert und dabei gleichlautende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ziele verfolgt haben. Ein solches Anliegen wäre nicht (oder weniger) verständlich, wür-de man nur auf die paradigmatischen Unterschiede rekurrieren.

Ein Konzept von „dem Markt“ ist zudem mit keynesianischen Positionen nicht vereinbar, sondern es ist direkt gegen viele Sichtweisen von Keynes gerichtet (Ka-pitel 6.2). Daraus wird verständlich, dass die hier genannten marktfundamentalis-tischen Richtungen gemeinsam den Keynesianismus verdrängt haben, – trotz der

16 Dieser Begriff unterscheidet sich von der Definition von Hudson (2014): “Market fun-damentalism: The belief that the optimum common interest is only achievable through a market equilibrium resulting from individual decisions by market participants see-king to maximize their own private gains. Epitomized by Margaret Thatcher ’s decla-ration that there is no such thing as society, its policy conclusion is that “free markets” should not be distorted by public regulations enacted in the name of the common good. Hence, it has become a synonym for rentier economy, in contrast to progressive economic policy.” Marktfundamentalismus in der hier definierten Weise ist auch nicht mit Neoklassik identisch (vgl. 3.5.). In der Mehrheit z. B. der mikroökonomischen Lehrbücher ist allerdings ein Begriff von „dem“ Markt in einer marktfundamentalen Weise zu finden.

17 Diese „Variationsstärke“ betonte schon Hayek (in „Der Weg zur Knechtschaft“): „Die Grundsätze des Liberalismus enthalten keine Elemente, die ihn zu einem starren Dog-ma machten, und es gibt keine strengen Regeln, die ein für allemal festständen. Das Hauptprinzip, wonach wir uns in allen Stücken so weit wie möglich auf die spontanen Kräfte der Gesellschaft stützen und so wenig wie möglich zu Zwangsmaßnahen grei-fen sollten, kann in der Anwendung unendlich variiert werden.“ (Hayek 2003, S. 36f.)

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14 1 Grundlegungen

vielen Differenzen untereinander, die ÖkonomInnen wohlvertraut sind, die gelernt haben, paradigmatisch zu denken.

Für diesen Prozess waren mehrere Merkmale entscheidend, wie das Konzept „des Marktes“ verwendet worden ist. Diese werden ab Kapitel 3 für die themati-sierten Theorien nachgewiesen:

1. „Der Markt“ wird mit eigenen Gesetzmäßigkeiten ausgestattet (Mechanis-men oder Prozesse), die als optimal (bzw. effi zient) verstanden werden. Er wird auch nicht mehr als Ort, sondern als realer Akteur verstanden (der et-was „macht“) und mit weiteren Bedeutungen (z. B. als Norm oder Utopie) versehen. Seine Setzung erfolgt a priori oder ex cathedra, eine (institutionell sagbare) Operationalisierung ist nicht möglich.

2. „Der Markt“ wird in marktfundamentalistischen Theorien (im Unterschied zur Historischen Schule, zu keynesianischen Ansätzen oder zu Positionen in der „Varieties of Capitalism“-Debatte) wie ein homogener Bereich gedacht und dichotom „der Politik“ gegenübergestellt, die ebenso als homogener Be-reich erscheint. Diese Dualität bildet den Kern der Politiken des Marktfun-damentalismus, ungeachtet ihrer differenten Ausprägungen. Dabei soll „die Politik“ „dem Markt“ folgen bzw. Bedingungen zu seiner Herstellung garan-tieren.18

3. Diese Dualität wird im Marktfundamentalismus mit einem binären (werten-den) Code beschrieben, in welchem „dem Markt“ positive, „der Politik“ (bzw. jener, die gegen „den Markt“ gerichtet sei) negative Eigenschaften zugeschrie-ben werden. Eine besondere Rolle spielt dabei die Rhetorik „der Freiheit“: „Der Markt“ wird verstanden als Hort der Freiheit, Politiken hingegen als unfrei bzw. als Zwang oder Behinderung.

4. „Der Markt“ wird als konstitutiv für die gesamte Gesellschaft gesehen. Daher wird Gesellschaft nicht mehr nur als (gegebener) Hintergrund (oder „Daten-kranz“) betrachtet, sondern als ein Bereich, den es so zu formen gilt, dass „der Markt“ als „natürliches“ Selbstverständnis gesellschaftlicher Interak-tion funktionieren kann.

5. Wissenschaft ist damit für marktfundamentale ÖkonomInnen nicht mehr nur ein Medium der Erkenntnis, sondern auch ein Instrument, um die Gesellschaft

18 Die hier dazugehörige Frage: „Mehr Markt oder mehr Staat?“ ist in die ökonomischen Lehrbücher längst eingezogen und wird dort mit üblicher Konnotation beantwortet: Es würden zwar „Bereichsausnahmen“ gemacht, aber diese könnten „ökonomisch nur in Einzelfällen begründet werden“ (hier in Woll 2014, S. 275). „Normalität“ wäre, das alles dem „Marktwettbewerb“ unterliege.

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151.3 Zum polit-ökonomischen Grundkonsens und seiner Fundierung

so zu beeinfl ussen, dass für „den Markt“ entsprechende Bedingungen ge-schaffen werden.

6. Dazu wird der ökonomischen Theorie ein besonderer Stellenwert unter den Sozialwissenschaften eingeräumt, weil ökonomische Ideen (bzw. die Ideen über die ökonomische Ordnung) für die Entwicklung der Gesellschaft als ebenso konstitutiv angesehen werden wie die Wirtschaft für die Gesellschaft.

7. Die Gesellschaft wird von der Wirtschaft her defi niert (im dualen groben Raster Marktwirtschaft versus Planwirtschaft) und jede Wirtschaftstheorie immer auch im Hinblick auf diese Zuordnung (mit)ge dacht. In dieser binären Zuordnung konnte so der Keynesianismus (als ehemaliger „Mainstream“ nach der Weltwirtschaftskrise) nach der Ausformung eines marktfundamentalen Mainstreams zu einer heterodoxen Strömung werden, der vorgeworfen wird, „gegen“ die Marktwirtschaft zu sein, da in ihm „planwirtschaftliche“ Elemen-te enthalten sind, insbesondere die „Einmischung“ des Staates.

8. Marktfundamentalismus ist damit eine besondere Form von Politischer Ökonomie, – oder, um es in Bezug auf die zu Beginn thematisierten Aus-führungen von Bruno Latour zu sagen: Die von Latour genannten Prozesse sind (wissenschaftssoziologisch betrachtet) nicht nur notwendige Bestandteile jeder wissenschaftlichen Praxis, sondern werden im Marktfundamentalismus bereits theoretisch mitgedacht, weil es immer auch um die Wirkung auf die Gesellschaft geht.

9. Mit der Kategorie „des Marktes“ ist also ein politischer Gestaltungsanspruch verbunden, eine „Planung für den Markt“ (Thomasberger 2009): Es handelt sich nicht nur um „Theorien“, sondern auch dezidiert um Mittel und Wege, um die Gesellschaft zu beeinfl ussen.19

10. Der Marktfundamentalismus beinhaltet demnach auch ein spezifi sches öko-nomisches Denken, das für die Ökonomisierung weiter Bereiche der Gesell-schaft brauchbar wird. Damit rückt auch die Ökonomik in den Rang einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft auf.20

11. Gleichzeitig wird im Denken „des Marktes“ auch für die eigene Position vehe-ment Wissenschaftlichkeit (auch in Abgrenzung zu alternativen Sichtweisen) in Anspruch genommen.

19 Der Gestaltungsanspruch auf der Ebene der Gesellschaft kann mit dem Realitätsan-spruch auf der Ebene „natürlicher Gesetze“ zahlreiche Dilemmata konstituieren, z. B. als Versprechen von „Regelungen im Namen von (zukünftiger) Nichtregelung“; vgl. dazu Kapitel 3.6.

20 Unsere Analyse kann auch als Versuch gedeutet werden, Bausteine einer noch zu ent-wickelnden Theorie einer ökonomisierten Gesellschaft zu liefern.

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16 1 Grundlegungen

12. Damit wird auch ein elitärer Anspruch erhoben, denn VertreterInnen eines Ansatzes von „dem“ Markt wähnen sich im Besitz der „richtigen“ Lehre. Sie denken sich als Elite, abgehoben von einer „Masse“. Damit einher geht bei vielen Vertreterinnen zudem auch die explizite Vorstellung, die Gesellschaft insgesamt müsse von einer Elite gelenkt werden.

Der selbst gestellte politische Auftrag im Marktfundamentalismus, der auf der ge-meinsamen Kategorie „des Marktes“ ruht, begründet auch die Bildung von Netz-werken, die dezidiert auf die Beeinfl ussung der Politik und der Medien gerichtet sind. Dabei können, der theorienübergreifenden Logik „des Marktes“ folgend, WissenschaftlerInnen unterschiedlicher ökonomischer Theorien zusammenarbei-ten und nach „außen“ (den paradigmatischen Unterschieden zum Trotz) ein ein-heitliches Bild abgeben. Um dabei gemeinsam auch Erfolg zu haben, muss nach Latour vor allem der fünfte Prozess (jener der „bindenden“ Reproduktion) gelin-gen, der die ersten vier Prozesse zusammenfasst und „Härte“ als auch Dauer einer bestimmten Ausrichtung garantiert.

Die in dieser Publikation vertretene These lautet, dass es den VertreterInnen des Marktfundamentalismus in Deutschland gelungen ist, die „Instrumente, Kol-legen, Verbündete, Öffentlichkeit und schließlich das, was dies als […] Verbindun-gen“ (Latour 1998, S. 888) zusammenhält, dauerhaft zusammenzubringen. Um dies zu zeigen, werden im Folgenden:

• erstens wissenschaftssoziologisch der performative Gestaltungs anspruch sowie das Gestaltungsvermögen der in Frage kommenden ÖkonomInnen theoretisch expliziert und empirisch aufgezeigt;

• zweitens die theoretischen Gemeinsamkeiten in und um die Kategorie „des Marktes“ bei den Ordoliberalen und bei Mises sowie Hayek (später dann bei Friedman und neoklassischen Theorien) thematisiert und

• drittens ihre gemeinsamen Netzwerke sowie ihre politischen Intentionen be-schrieben.

Der Fokus nachstehender Darstellung liegt damit erstens auf der Entstehungs-zeit sowohl des Konzeptes „des Marktes“ als auch der Netzwerke, die sich in Deutschland nach 1945 gebildet haben. Hier wird jenes Gemenge von Netzwerken thematisiert, das den Ordoliberalismus an die Macht gebracht hat und das später weitergewachsen und mit anderen Theorieteilen gefüllt wurde, die vor allem in den USA entstanden sind.

Zweitens wurde der nachstehend thematisierte performative Zugang analytisch zum Instrument des „performativen Fußabdrucks“ weiterentwickelt. Mit dessen

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171.3 Zum polit-ökonomischen Grundkonsens und seiner Fundierung

Anwendung auf das Sample der 782 VWL-ÖkonomInnen an den (west-)deutschen Universitäten wird hier detailliert gezeigt, inwieweit sich welche ÖkonomInnen in Deutschland 1945-1994 in den wichtigsten Bereichen der Wirtschaft und Gesell-schaft eingebracht haben.

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19

2Der „performative Fußabdruck“ der deut schen ÖkonomInnen (1954-1994)

2.1 Zur Performativität ökonomischen Wissens

Die in den letzten Jahren verstärkt rezipierten Ansätze zur „Performativity of Economics“ (Callon 1998, 2005, 2007; MacKenzie und Millo 2003; MacKen zie et al. 2007) fußen auf dem grundlegendem Verständnis, dass ein Sprechen nicht nur ein Bezeichnen, sondern ein Handeln ist (Austin 1979). Im Bereich der Wissen-schaft geht es dabei nicht nur um ein (theoretisches) Sprechen über die Welt bzw. um das (richtige) Analysieren „unabhängiger“ Realität, sondern um die Erzeugung von Wissen und dessen Dissemination in die Gesellschaft: Wissenschaft formt Gesellschaft.

„In dem Maße, in dem das Erkennen fortschreitet, formt es selbst auch wiederum die Wirklichkeit um.“ (Schäfer und Schnelle 1980, S. XXIII)

Die Durchsetzung und Verstetigung eines bestimmten (hier: ökonomischen) Wis-sens ist dabei ein sozialer Prozess und – wie schon oben ausgeführt – mit den Strategien der Mobilisierung, der Professionalisierung, der Allianzenbildung und mit Inszenierungen (Latour 1998) verbunden. In einem performativen Verständnis werden WissenschaftlerInnen als gesellschaftliche AkteurInnen verstanden, mit potentiellem Einfl uss auf alle Bereiche der Gesellschaft.

Dieser Einfl uss, speziell der von ÖkonomInnen, wurde (abgesehen von den oben genannten Arbeiten von Callon , MacKenzie u. a. zur Entstehung der Finanzmärk-te) bislang wenig erforscht. Jüngere einzelne Arbeiten beschreiben die personellen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018W. O. Ötsch et al., Netzwerke des Marktes,https://doi.org/10.1007/978-3-658-19364-5_2

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20 2 Der „performative Fußabdruck“ der deutschen ÖkonomInnen …

Verfl echtungen von ÖkonomInnen mit der Bankenwirtschaft (Carrick-Hagenbarth und Epstein 2012, Ferguson 2010) oder zu den Medien (Krüger 2013). Eine Ana-lyse bezüglich aller wesentlichen Einfl ussebenen (Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft) für deutschsprachige ÖkonomInnen liegt hingegen bisher nicht vor.

Die nachstehend vorgestellte Methode des „performativen Fußabdrucks“ er-möglicht es, die Ebenen des Einfl usses und damit die potenzielle Wirkmächtigkeit einzelner ÖkonomInnen in einem System aus mehreren Kategorien darzustellen. Sie will damit einen Beitrag für ein besseres Verständnis der Entwicklung domi-nanter ökonomischer Denkrichtungen leisten. Der hier vorgeschlagene performati-ve Fußabdruck von ÖkonomInnen dient also dazu, das ambivalente Verhältnis von ÖkonomInnen und Gesellschaft zu beleuchten und die Einfl ussnahme von ersteren auf letztere darzulegen.

Betrachtet man die Frage nach den Wirkungspotenzialen von Ökonomik und ÖkonomInnen in Deutschland über einen längeren Zeitraum, so ergibt sich in Summe ein sehr heterogenes Bild. Einerseits ist über verschiedene ökonomische Denkschulen hinweg ein divergierendes Selbstverständnis der Rolle der Ökonomik in Politik und Gesellschaft auszumachen. So kritisiert Walter Eucken (1938, S. 77) in „Die Überwindung des Historismus“, dass ÖkonomInnen „die wirtschaftspoli-tischen Geschehnisse nur mit Begleitmusik umrahmen, sich aber nicht zutrauen, sie gestalten zu helfen“, woran der Anspruch des Ordoliberalismus, wirtschaftspo-litisch gestaltend zu wirken, zu erkennen ist. Auch der in der wissenschaftlichen Politikberatung lange Jahre einfl ussreiche Hans-Adalbert (kurz „Bert“) Rürup for-dert vom „wissenschaftlichen Berater“:

„Er muss auch bereit und in der Lage sein, wirtschaftspolitische Empfehlungen oder Entscheidungen in ihren Auswirkungen zu quantifi zieren und in den Niederungen der Prozesspolitik inklusive der institutionellen Umsetzung zu begleiten.“ (Rürup 2009, S. 179)

Besieht man hingegen die aktuell dominierende neoklassische Standardökonomie, wird von der Mehrzahl der ÖkonomInnen die strikte Trennung zwischen Wirt-schaftswissenschaft und Politik betont und hier oft mit Bezug auf das Wertefrei-heitspostulat, was – so z. B. von Rürup (2009, S. 178) auch selbst thematisiert – nicht einhaltbar ist, da WissenschaftlerInnen sprachliche Äußerungen produzieren und damit also eine performative Rolle einnehmen.

Andererseits manifestiert sich in den Wechselwirkungen des heterogenen Pro-zesses des Wirkens bzw. des Einfl usspotenzials von Ökonomik und ÖkonomInnen auf Gesellschaft und Politik und der theoretischen Entwicklung der Ökonomik als Wissenschaft auch die Bedeutung der Ökonomik für das Denken über ökono-