Warenästhetik revisited – Kunstunterricht zwischen...

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Sonderdruck aus BDK INFO 11/2008 Warenästhetik revisited – Kunstunterricht zwischen Kultobjekten und Kulturpolizei Johannes Kirschenmann

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Warenästhetikrevisited –KunstunterrichtzwischenKultobjekten undKulturpolizeiJohannes Kirschenmann

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Der Sommer bot uns optimistische Perspektiven. »Decoratelife!« (Abb. 1) rief der Welt größte Konsumgütermesse undbot mit schicken Anglizismen eine geradezu totalitäre Ästheti-sierung von Leib und Leben an. Dieser Schlachtruf zur Erobe-rung der Oberflächendekoration mit Design ist zeitgemäß undvoll auf der Linie einer Ästhetisierung des Alltages, wie siespätestens mit dem Aufruf der postmodernen Erkenntnishin-weise (z. B. Welsch 1990) die Tiefenästhetisierung allerLebensbereiche beschreibt und interpretiert.Dies ist kein Widerspruch, doch ein gewaltiger Kontrast zuden designkritischen Befunden des Aufklärungskonzeptes der»Warenästhetik« (Haug 1971). Im Zusammenschluss einerDeduktion der satanischen Verse der »Kritischen Theorie«gegenüber der Kulturindustrie (und dort besonders zu denMassenmedien) sowie materialistischer Gesellschaftsanalyseschlug Wolfgang Fritz Haug in seiner »Warenästhetik« mitpointierter Kapitalismuskritik aus asketischer Warte zu. Mitseiner Exegese wurde klar: Die Zeichen überlagern mit ihremSchein die Objekte, und die Dinge konkurrieren mit denZeichen ihrer selbst. Das Konglomerat aus dinglichem Objektund dem aus Werbung und weiterer sozialer Kommunikationgespeistem Mythos produziert Schein und Anschein. Ergänztum billige Bauernfängerei mit doppeltem Becherboden undanderen Blendfassaden war der Trug schon fertig.

Die Kritik der Warenästhetik hat nicht akzeptieren wollen,dass die uns umgebenden Objekte ihren wichtigen Beitrag zurIdentität leisten. In den letzten Dekaden lehrte eine phänome-nologische Sicht, dass das Auge blind ist, wenn es nicht an dieEmpfindungen der Sehenden gekoppelt ist (Schuhmacher-

Chilla 2000, S. 38). Um wie viel hatte es die Kunsterzieherinder 60er Jahre mit den Musterkoffern des Werkbundes ohnewarenkritischen Aufklärungsimpetus besser: Sie führte zumguten Geschmack, sie gab den ästhetischen Normenhorizontweiter (Abb. 2).

Heute ist Design gesellschaftlich wie individuell ein inhärenterBestandteil von Imaginationen, die aus einem Wechselspielvon öffentlich umgebenden und subjektiv generierten Bildernresultieren. Gegenüber den Leitbildern der Spätmoderne mitihrem Primat des Funktionalismus und rationalistischen Form-gebungskonzepten regieren nun in fröhlicher GleichzeitigkeitEmotionalität, sensitive Attraktionen, puristische Attitüdenund ikonische Residuen verschiedener Stile und Epochen dasDesign. Und diese schönen Dinge der Warenwelt schaffen einandauerndes Begehren, das Macht ausübt. Das Begehren willEinzigartiges, das gleichwohl im Gleichschritt mit demModischen Zugehörigkeit zur Gruppe stiftet, das einschließtund doch individuell ist, das einen Rest an Authentizität ver-heißt im Leben der angedienten Simulationen.

Dabei erscheinen heute die frühen Beispiele aus HaugsWarenästhetik, die noch auf dem simplen Mechanismus vonMassenproduktion und Massenkonsum gründeten, angesichtsglobalisierter Marken und Werbekampagnen geradezu alsharmlos. Denn die Informationstechnologie hat den Produ-zenten des schönen Scheins neue, viel effizientere Zirkulations-medien bereitgestellt. Zahllose TV-Kanäle müssen sich überWerbung und Kontrakte zur Werbeindustrie finanzieren; mitdem Internet wurden die einst engen Hohlwege der Kultur-industrie zu breiten Autobahnen, freilich mit individualisiertenAbfahrten, die nach personalisierten Profilen aus Datenspurenangezeigt werden. Es ist deshalb folgerichtig, dass Haug 38Jahre nach der Inauguration seiner Warenästhetik für dasFrühjahr 2009 eine erweiterte Fassung annonciert.

Die persönliche Identität war bis zur Spätmoderne aus denParametern von sozialer Herkunft und mehrschichtigenTraditionen konstruierbar; Individualität und Orientierung

Abb. 1: »Decorate Life« – Motto der diesjährigen Konsumgütermesse inFrankfurt/Main

Abb. 2: Musterkoffer des DeutschenWerkbundes für Schulen in den 1960er Jahren

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wurden mit der Wiege gestiftet, die Sozialisationsbahnenkannten nur wenige Brüche und kaum Abzweigungen. Erst dieUmwälzungen und Forderungen der 68er-Bewegung stiftetenden Antrieb zur individuellen Abgrenzung; mit sozialliberalenPolitikkonzepten schien sich die persönliche Zukunft von derHerkunft ablösen zu lassen. Doch mit der Befreiungsoptionging ein Selbstfindungswettbewerb einher. Die Szenen undGruppen wurden zur Heimstatt; Wohngemeinschaften undClubkulturen spendeten Orientierung und Halt gegen dieGefahr eines atomisierenden, individuellen Vagabundierens inneuen Freiheitsrefugien. Und nicht nur die Gruppe half demEinzelnen auf: Aus der pädagogischen Psychologie verkünde-ten Positionen von Winnicott, Erikson oder Piaget bis hinzu Gardner, dass neben den personalen Beziehungen dieObjektbeziehungen zur Ausbildung von Identität als Sozia-lisationsagenten in den Vordergrund träten. Doch den hoch-aktuellen Begriff vom »Identitätsmanagement« kennen dieseProtagonisten glücklicherweise (noch) nicht!

Identitätsmanagement und LifestyleZugunsten dieses Identitätsmanagements wurde der Lifestyleals stützende Krücke aufgerufen. Im Trend kommen die Life-styleofferten anschmeichelnd daher, und der Trend löst alteBindungen, nötigt aber nicht in neue institutionelle Zwänge.Der Trend begrüßt auch den temporären Lebensabschnitts-begleiter, der seinerseits traditionelle Tugenden verabschiedet.Trends und Szenen konkurrieren miteinander und evozierenpermanente Sinnarbeit. Die Bestsellerlisten sind voll vonRatgebern, »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« vonRichard D. Precht (2007) ist nur eine von vielen Bojen imMeer der Identitätssuche.

Fast vier Dekaden nach der Evokation eines warenästheti-schen statt eines geschmackserziehenden kunstpädagogischenParadigmas sind wir inmitten zweier Wirklichkeiten, in dervertrauten Welt und in der virtuellen Welt, die uns mit einemweltweiten Gespinst ummantelt. Dabei mutiert das eigeneSelbst (nach außen) zu vielen Gesichtern (Abb. 3). Mit derunabweisbaren Frage nach Identität in changierenden Kontex-ten wird das »Ich« zur Designaufgabe. In Kontaktanzeigenwerden Metaphern der Dingwelt aufgerufen, ein Vierzig-jähriger preist sich als »geschliffenen Diamanten« an.

Abb. 3: Das Ich hat die Wahl zwischen vielen Identitäten – Playstation 2004

MedienkarrierenYouTube, Facebook oder auch StudiVZ suggerieren eine naivgedachte Partizipation, sie suggerieren zusammen mit Casting-Shows, als Phönix aus der grauen Asche sozialer Egalitätherauszuragen. Waren Jugendkulturen früher im vordigitalenZeitalter geschützte Räume, so ist heute jede Peinlichkeit,jeder inszenierte Gag öffentlich. Jugendkulturen sind nochimmer und gleichzeitig Instanzen der Individualisierung undPluralisierung; sie existieren wie früher auch noch heutenebeneinander her und stiften noch immer mit symbolischenAbgrenzungen Selbstkonstruktion, mit ästhetischen Attribuie-rungen Selbstvergewisserung und Distinktion zugleich.Bei all dem hat Design die viel wichtiger gewordene Funktion,in sozialer Kommunikation ein identitätsstiftendes Feedbackauszulösen. Es ist nicht neu, aber wirkmächtiger denn je:Einerseits ist die eigene Weltsicht auch Spiegel der umgeben-den Bilder und Oberflächen, andrerseits dient das produzierte»Individual-Design« der Ich-Präsentation in sozialer Kommu-nikation.Doch gerade aus pädagogischer Warte ist zu bedenken, dassdie Kinder und Jugendlichen von sie – psychisch wie materiell– überfordernden Möglichkeiten umstellt sind. Und dieseMöglichkeiten sind nicht allen zugänglich. Immer größereTeile der Bevölkerung werden von materieller Teilhabe ausge-schlossen, sie zehren von billiger Discounterkost und werdenvon marktschreierisch ausgerufenen Chancen bedrängt, dieletztlich nur einen ungedeckten Wechsel auf ihre Zukunft aus-stellen.

Die Instruktionen zum Self-Design greifen weit über dasJugendalter hinaus; viele Medien leiten in Deko-Soaps zu einerhäuslichen Ästhetisierung an: RTL lehrt mit »Einsatz in 4Wänden« das, was RTL2 als »Zuhause im Glück« verheißt.Vox buchstabiert mit »Wohnen nach Wunsch« das ABC einer– vermeintlich – selbst kreierten Heimat in vier Wänden. DieChoreografie aller vermengt ein anschmeichelndes For-you-Pathos mit legerer Duzerei und verweist fortwährend aufKäufliches aus günstiger Massenproduktion, das erst durchdie angeleitete, individuelle Hand dem Do-it-Yourselfer einletztes Gefühl von produktiver Teilhabe mitgibt.

Neben das Objektdesign tritt das personale Design in denMedien: All die Varianten an Casting-Shows haben eine klareBotschaft: Designe dich nach den implizit ausgerufenenNormen des Äußeren, passe deine Sprachdiktion an undmoduliere deine Stimme – dann hast du die Chance, aus demNichts aufzusteigen in eine Welt des Glamour. Das freilich istTrug, und es gilt eher, auf Kommandantin Heidi Klum inihrer Funktion als autoritäre Ansagerin zu achten (Abb. 4).Sie gibt die ästhetischen Normen aus für die Debütantinnen,die brav folgen, »bloß um nachher so zu werden wie HeidiKlum, eine wandelnde Litfasssäule, an die alle paar Tage eineneue Kaufempfehlung angeschlagen wird. Normale Menschenbestehen zu 60% aus Wasser; Heidi Klum besteht zu 60% ausWerbung – Werbung für Haarspray, für Dickmacher, für Sprit-schlucker, für ihren Ehemann, für sich selbst. Mit »Germany’sNext Topmodel« hat sie das wie einen Virus ins Fernsehenübertragen, die perfekte Symbiose aus Programm und Kauf-befehl.« (FAS vom 1 6. 2008 , S. 27)

Abb. 3: »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?«

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In toto gilt: Design steigert den Identifikationsfaktor und ver-heißt ein Stück Individualisierung im großen Meer der egali-sierenden Zeichen aus den produktkulturellen Codes.Personalisierte Produkte bieten im Massenmarkt die Chance,über die notwendige Handarbeit Mehrwert zu schöpfen; dasStigma wird dem massenhaften Industrieprodukt genommen.Personalisierte Produkte verheißen Individualität; schon in den80er Jahren des 20. Jhs. wurden Jeans angeboten, die eineindividualisierte Nummer auf einem Kupferetikett trugen.Die Porzellanmanufaktur Nymphenburg bietet heute Geschirrauch mit Bemalung nach individueller Vorgabe in Kleinstseriean. All dies dient einer Selbstentfaltung, und das Design assis-tiert mit einem Stilmix, der den funktionalistischen Purismuseiner bauhausinfizierten Lehrergeneration weit in das Abseitsgedrängt hat. In den kleinen und großen Unübersichtlichkeitenaus den Objektpluralitäten stiftet Emotional Design (Abb. 5)Gefühlsanker, und Retro-Design will den Sinnsuchenden»Erinnerungsanker« zuwerfen.

Dass die schönen Waren funktionieren, wird heute vorausge-setzt. Für einen Großteil der Bevölkerung und damit der kau-fenden Jugendlichen wird die Ästhetik der Produkte daher einganz entscheidendes Kriterium – und genau dies wird von derIndustrie als Unterscheidungskriterium bei sehr ähnlicher tech-nischer Funktion auch eingesetzt.Die Entscheidung für ein bestimmtes Design entspricht dempersönlichen Selbstbild. Design sorgt heute für die emotionale(und identitätsstiftende) Ausgestaltung des persönlichenLebensentwurfes seiner Nutzer. Der Konsument nutzt Designzur Glücksmaximierung, er findet mit Design Status undAnerkennung, bei denen, die die Zeichen des Designs lesenkönnen. (vgl. zum Aspekt Konsumglück: Grasskamp 2000).Es ist dem Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich zuzu-stimmen, wenn er bilanziert: Die Konsumwelt ist zu einer gro-ßen Fürsorgemaßnahme für das Individuum geworden; dieDinge nehmen die Rolle von Therapeuten, Lehrern, Freundenein – sie werden personalisiert, die Orientierung an den Ob-jekten ersetzt die Orientierung an den Personen (vgl. Ullrich2008, S. 34).

Experience EconomyWarum lässt sich heute eine Tasse Kaffee im Wert von einigenCents für viele Euros verkaufen? Das ist eine Frage, die ausder Erlebnisökonomie herausgestellt wird. Die Antwortkommt ad hoc: weil darüber Lifestyle, Identität, Abgrenzungund Erlebnis vermittelt werden und so ein zusätzlicher Wertentsteht. Ein Wert, den der Käufer dem Verkäufer teuer zubezahlen bereit ist.Was seit einigen Jahren im anglo-amerikanischen Raum als»Experience Economy« mit höchsten Wertschöpfungsratenwirtschaftswissenschaftlich interpretiert wird (Pine/Gilmore1999), hat 1992 der Bamberger Soziologe Gerhard Schulzemit seinem Konzept der Erlebnisgesellschaft vorgestellt. DiesesKonzept sieht in seinem Zentrum sämtliche nichtmateriellenGüter und Erlebnisse, die es uns wert sind, Geld dafür aus-zugeben.Die These der Experience Economy ist rasch vorgetragen. Siegeht von einem Wohlstand aus, in dem die Grundbedürfnissegedeckt sind, mit dem so viel Zeit zur Verfügung steht wie niezuvor. Und diese Zeit soll »sinnvoll« ausgefüllt werden, letzt-lich auch, um Routine, Erstarrung und Fremdbestimmung imgesellschaftlichen Leben etwas entgegenzusetzen.Zu dieser aus dem Erlebnis resultierenden Sinnstiftung gehö-ren u. a. Einmaligkeit, Echtheit, emotionale Berührung, erhöh-te Konzentration und die Einbindung all unserer Sinne, gar-niert mit etwas Nervenkitzel. (Das sind Segmente, die von der(Kunst-)Pädagogik u. a. auch als »ästhetische Erfahrung« defi-niert werden.) Ökonomisch sieht das Konzept in der Gesell-schaft dahinter nicht mehr die Anhäufung von weiterem Besitzals Triebkraft, sondern das Erleben, Vermitteln und Verkaufenvon »Erfahrungen«. Dies wirkt sich auch aus auf das Verhal-ten gegenüber dem Besitz: Nicht mehr das Ansammeln undWegwerfen von Ungenutztem bestimmt das Konsumentenver-halten, sondern das zeitlich begrenzte Nutzen der Produkte,um sie anschließend in einem erneut Erlebnis stiftenden Aktauf einer Plattform zu verkaufen.

Abb. 4: Zeitschriftencover:Heidi Klum diktiert den Debütantinnen die ästhetischen Normen

Abb. 5: nach dem Funktionalismus gilt der Stilpluralismus: Sessel von Ron Arad

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Pluralität und MiniaturisierungNach »form follows function« als lange anhaltender Devise,in Form gesetzt und als Doktrin verkündet durch das Bauhausund seine Nachfahren, folgte in den 80er und 90er Jahren diepostmoderne Devise »form follows fantasy« als Epigone einesfrühen italienischen »Radical Design« – angezüchtet undtransalpin entwichen aus den mutigen DesignschmiedenMailands. So finden wir nach einem Radikalfunktionalismusder Spätmoderne nun im Design einen Radikalpluralismus,der sich jeder Kategorisierung entzieht (Abb. 5). An diesenDesignkonzepten haften nun allseits bekannte und diffuseGeneralismen wie »Nachhaltigkeit« und »Ressourcenschonung«wie der barmende Blick des Verkäufers von Obdachlosen-zeitungen.

Der Funktionalismus gab dem Designer und den bildungsbür-gerlichen Konsumjüngern über ein besseres Design das Credoeiner Vision vom besseren Leben mit. Doch die unausweich-lichen Innovationen in der Informations-, Nano- und Bio-technologie haben zuerst materiale und mit ihr die konstrukti-ven, nachfolgend ästhetischen und folgerichtig die sozialenDimensionen von Design grundlegend geändert. Heute reichtDesign weit unter die Oberfläche hinab in die Materie desMaterials. Und von dort werden wieder die Oberflächen, dieBedingungen des Scheins gespeist. Mit den Designern tretenwir hinter die Hülle, in die Welt des Virtuellen. Das hatLucius Burckhardt mit seinem Diktum »Design ist unsicht-bar« schon vor 30 Jahren gewusst. Doch die neue Funktionvon Design als Gestaltung unseres Lebens über Software undIT war damals noch überhaupt nicht absehbar. Das meintnicht CAD als Hilfsmittel des Entwurfs, es meint die nahezutotalitäre Regentschaft von Programmstrukturen und IT-Technologie in der Aus-Gestaltung (sic!) unseres Alltages.Solch ein Design regiert heute auf der Hinterbühne, an derenMarionettenfäden wir nur scheinbar souverän agieren.

Nur zwei Beispiele mögen dies konturieren und belegen:In diesem WACOM-Tablett (Abb. 6) sind Funktionen für dasSchreiben, Navigieren und Zeichnen vereinigt; ähnliche Kon-glomerate sind uns aus der Entwicklung der Handys bestensvertraut. Der Space-Navigator daneben synthetisiert eineVielzahl an Steuerungsfunktionen. Jedoch musste AUDI schonvor Jahren die Funktionskomplexität des Multi-Media-Drivereduzieren, da die »User« hoffnungslos überfordert waren.

Paul Virilio hat dies schon früh mit seiner Metapher »Ästhe-tik des Verschwindens« belegt (1980); die von ihm diagnosti-zierte Beschleunigung gesellschaftlicher Verhältnisse undKommunikationsformen mündet für ihn letztlich in einemVerschwinden der Gegenstände, in einer Delokalisierung. Im

Design erleben wir dieses Verschwinden auf zweierlei Art:Neben einer Miniaturisierung der Objekte verschmelzen ver-schiedene Funktionen in immer weniger Geräten. MobileGeräte beispielsweise sind heute Schnittstellen zu globalen vir-tuellen Systemen und verknüpfen das Virtuelle immer mehrmit dem Physischen.

Brands und AdvertisingDie Designwelt bietet alles, sie ist zugleich unübersichtlich,unter klassischen gestaltpsychologischen Aspekten einDesaster der Komplexität und Verwirrung, ohne Figur, ohnePrägnanz. Deshalb versuchen Marken kompakte Botschaftenzu bündeln, die Orientierung und Erinnerung stiften. Dabeigilt es, die Botschaften der Marke in eine Motivation mündenzu lassen, die Marke generalisierend für eine durchaus diffe-renzierte Produktgruppe mit den Attributen »Qualität undNachhaltigkeit« zu verknüpfen. Nachdem der »geile Geiz« alsLeitmotiv von einer ökonomisch ins Prekäre gedriftetenMittelschicht verabschiedet wurde, regiert nun der Wunschnach exklusivem Genuss und Individualisierungsobjekten zurMarkierung der »feinen Unterschiede« die Botschaften vonWerbung und Markenphilosophie. Das ist Teil dessen, was derfranzösische Kulturphilosoph Pierre Bourdieu (1996) alsdas »kulturelle Kapital« bezeichnete, jenes Kapital, das dasökonomische ergänzt oder auch ersetzt. Prägnant ist dazu daspointierte Fazit des Kulturwissenschaftlers WolfgangUllrich: »Das Konsumbürgertum hat das Bildungsbürger-tum abgelöst.« (Ullrich 2008, S. 15)Dieses Konsumbürgertum kauft Waren und Dienstleistungen,um seinen finanziellen Status und seine soziale Zugehörigkeitdemonstrativ über die produktkulturellen Codes prestigeträch-tiger Produkte öffentlich zu reklamieren. Für diesen Distink-tionskonsum bieten die Marken Einiges: Terence Conran istbei Tchibo »zu kaufen«, Karl Lagerfeld oder RobertCavalli stehen bei H&M in Diensten. Die klassischen Massen-marken verströmen den schönen Duft eines bezahlbaren Edel-Appeals – jetzt für die bedrohte Mittelschicht. Die Funktionder Marke gegenüber dem Verbraucher ist es in solchenDeutungshöfen des Markenbegriffs Qualitäten und Mythen zuverbinden, deren semantischer Surplus weit über die ersteGebrauchsfunktion hinausweist: »Mit ihnen lassen sich Lebens-gefühle ausdrücken, sie dienen der Selbstvergewisserung, durchsie kann man zu einem markanteren Profil gelangen, sie öffnenHorizonte und machen optimistisch.« (Ullrich 2008, S. 35)Dieses Mittelschichtsmilieu hat je nach Prioritäten Zugang zuzwei Konsumstilen: dem Prestigekonsum als demonstrativemDistinktionskonsum und dem stilorientierten Konsum mitpreiswerteren Gütern, die mit einem markanten Design auf-warten. Die Kleidung ist für beide Konsum- und damitDesignstile die Leitwährung, denn sie markiert das Individu-elle im öffentlichen-kommunikativen Zeichenkomplex (vgl.Grasskamp 2000, S. 14f.).

Kongeniale VerschmelzungenDie kongeniale Verschmelzung eines hedonistisch program-mierten Konsumbürgertums mit warenästhetischen Highlightsist im Film »Sex and the City« zu erleben; während dieProtagonisten nur ihre Rollenklischees aus der Soap fort-schreiben, ist der Film ein Festival der Marken. Wochen vordem Filmstart wurden auf Internetseiten und in Mode-

Abb. 6: Interfaces mit hoher Funktionskomoplexität

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Werbung spiegelt zweifellos mit ihrem Versprechen denZeitgeist und seine Sehnsucht. Aus der Werbung der letztenZeit ragen einige markante, sich wiederholende Stichworteheraus (Abb. 7):Verlangt wird zunehmend Nachhaltigkeit – sie indiziert einebewusstere Konsumkultur, die gleichwohl dem exklusivenGenuss zustrebt. Es ist weiter die Orientierung innerhalb einesMaximums an Entscheidungsfreiheiten, im Pluralismus desMöglichen (und Käuflichen) werden konkrete Anleitungengesucht. Letztlich sucht das atomisierte Individuum dieGemeinschaft und das »Wir«, denn dies stiftet Orientierung.All dies wird prioritär über Bilder vorgetragen, Worte sind seitDekaden auf dem Rückzug. Das Bild ist in seiner Semantikoffener und zugleich komplexer als Sprache, und der Bild-kontext als großer Hof lädt ein, situative Bedeutung zu gene-rieren, den »Halo-Effekt« zugunsten einer Projektionsflächedes Rezipienten für seine Objektfantasien zu nutzen. Dies istnur ein Grund für die Durchschnittlichkeit der Models, die fürviele eine individuelle Projektionsfläche stiften sollen.

Es gehört zu den Paradoxien der Werbung, dass sie sich mitder andauernden Wiederholung ihrer ästhetischen Impulse,mit ihren Gags selbst entwertet. Die Inszenierung und Evoka-tion von ästhetischer Erfahrung als Genuss, als Unterbrechungder Routine und Irritation im Verlassen des breiigen Einerleisführt in Wiederholung und Aufdringlichkeit zum unvermeid-lichen Verlust ihrer ästhetischen Kraft. Was nicht in einer dau-erhaften Marke wie Coca-Cola oder Nivea eingeschlossenwird, findet keinen Eingang in das kollektive Gedächtnis. Soerklärt sich u. a. auch, dass knapp 90 % aller Markenein-führungen scheitern.

NeuromarketingWährend zum Wissensbestand (und zum Instrumentarium)der historischen Warenästhetik u. a. das Tachistoskop gehörte,ist heute vom Neuromarketing die Rede, welches neurowissen-schaftliche Techniken einsetzt, z. B. die funktionelle Magnet-resonanztomografie (vgl. u. a.: Ceranic 2007). Das Ziel desNeuromarketings ist es, die Prozesse der Entscheidung einesKonsumenten für oder gegen ein Produkt zu erforschen undsie in Beziehung zu sichtbarem Verhalten zu setzen. Es wirdvor allem beobachtet, welche Gehirnareale durch verschiedene(Produkt-) Stimuli aktiviert werden. So löst die Darstellungvon Produkten, mit denen sich ein Konsument stark identifi-ziert, eine erhöhte Aktivität im Präfrontalen Cortex aus. Dochdie Gehirnaktivität sagt noch nicht viel über nachfolgendeemotionale Lernprozesse und Kaufentscheidungen. Ein klassi-sches Experiment des Neuromarketings ist die Untersuchungder Wirkung von bekannten Lebensmitteln in Relation zuunbekannten. Wird z. B. Probanden Coca-Cola und Pepsi-Cola ohne deren Kenntnis der Marke (unter gleichenBedingungen) serviert, fällt die Geschmackswertung für Pepsibesser, d. h. bildgebend im neuronalen Belohnungszentrumsignifikanter aus. Bei Kenntnis der Marken fällt das Votumzugunsten von Coca-Cola aus. Doch das Neuromarketinggießt hier alte Weisheiten in neue Schläuche, eben die, dassMarken über ihr Image stark und überzeugend wirken.

Auch deshalb konnte das Markenbewusstsein in den letztenDekaden zugunsten von Produktdifferenzierung eine wahre

magazinen üppige Fotostrecken unter dem Titel »Get the ,Sexand the City-Style‘« veröffentlicht. Die Rezensentin der Frank-furter Allgemeinen Zeitung am Sonntag beobachtete genau:»Eigentlich gehen die vier Damen keinen einzigen Schritt, dernicht irgendjemandem Geld bringt: Sie trinken ihren Kaffeebei ,Starbucks‘, sie kaufen im Luxuskaufhaus ,Barneys‘ ein, sietrinken eine bestimmte Wodka-Marke, einen bestimmtenEnergy-Drink und fahren einen Mercedes, der erst von Novem-ber an auf dem Markt ist, aber dann schon den glamourösenNimbus der New-York-Diven verströmt.« (Nr. 21/2008, S. 57)

Doch zurück ins alte Europa, wo die Werbung als das schickeKleid der Waren auf das Kaufen einstimmt, wo der »Kaufaktals Glückserfahrung« (Grasskamp 2000, S. 23) dem Besitzenlängst den Rang abgelaufen hat. Und diese Werbung weiß dasKonsumbürgertum trefflich anzusprechen.So wird der Konsumbürger in seiner konservativ-sehnsuchts-vollen Attitüde unter dem Motto »Es gibt sie noch, die gutenDinge« angelockt – die Rede ist von der exemplarischenBeschwörung einer aus Kritik in Kauflaune umgeleitetenAnpreisung der guten alten Produktqualität. Der Katalog vonManufactum, die Designbibel jener aus der funktionalistischenModerne Herausstrebenden, weil diese zwar als schick, aberdoch ungemütlich kalt empfunden wird, lamentiert über denVerlust all dessen, was der qualitätsbewusste Konsumbürgernostalgisch auf seiner Seite wusste. Doch Manufactum weißden Verlust zu heilen, es vereint »Ordnungssehnsüchte undWiderstandsfantasien« (Ullrich), es lässt die »Bobos«zugleich arriviert und opponent sein – die »Bobos« als diebourgeoisen Bohemiens, die transatlantisch die New YorkTimes schon vor Jahren ausgemacht hat.Manufactum folgt nur einer bewährten Linie der Werbung,die für eine glückliche Zukunft schon immer rückwärtsgewandte Verheißungen (auf)bot, die die Beschwörung desGuten aus dem Alten als das Wahre zur magischen Formelerhob. Und daraus mag ein Stück ihres trivialen Zaubers rüh-ren, dem eben nicht durch eine nüchterne Analyse im struktu-ralistischen Zugriff (– Ehmer liest bei Barthes nach und gibtBense hinzu –) aufklärend, kritisch beizukommen ist. Das wardas große und naive Missverständnis der kunstpädagogischenLesung der Warenästhetik. Ein kunstpädagogischer Verwei-sungsapparat kann die warenästhetischen Anleihen bei derKunst, ihre Adaption der Romantik wie das Zitat der Gegen-wartskunst aufzeigen, doch die Magie aus der Aneignung kul-tureller Codes zugunsten käuflicher Erlösungsreliquien ist sonoch lange nicht zu entzaubern.

Abb.7: Visuelle Subtexte der Werbung: Individualität und Gemeinschaft, Genussund Nachhaltigkeit.

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chern, sie als Motor von Obsessionen zu etablieren, der denvon Klein so benannten Konsum in der Ersten Welt antreibtund zwar einzig fokussiert auf eine spezifische Marke.Gleichzeitig, so Klein, sorgen diese Unternehmen durch dieAuslagerung der Produktion in die Länder der Dritten Weltfür eine Fortsetzung postkolonialer Zustände: Stichworte dazusind: Kinderarbeit, Umweltverschmutzung, die Stützung totali-tärer Systeme und der Wegfall von Arbeitsplätzen in den altenIndustriestaaten.Die Warenästhetik wurde also durchaus weiter geschrieben!

Produktanalyse als MythendekonstruktionUnterricht zu Design ist mehr als eine ökonomisch intendierteKritik der Warenästhetik; das Begehren ist pädagogisch nichtauszublenden, sondern das Faktische, also die Kultobjekte inAnschauung zu reflektieren kann erste Pädagogenpflicht sein.Warenästhetik war und ist immer an Mythen gebunden – anvorhandene, oder sie generiert eigene, neue Mythen.Auch der iPod als teures Kultobjekt lebt von Mythen undbringt neue hervor. Der mit mehreren Awards ausgezeichneteVideoclip »Living iPod«(Abb. 9) gewährt in knapp zweiMinuten Länge Einblicke in das Leben eines iPod und zeigt,was es bedeutet, sich gut 10.000 Songs merken zu müssen,immer einsatzbereit zu sein und auch mal gestohlen zu wer-den. »Ich lebe diesen Traum, ich bin dein Freund« ist seineplakative Botschaft. Erzählt wird vom Mythos des unzertrenn-lichen »good boys«, des steten Begleiters, dieses Freundes vonDick und von auch mal von Doof … Ein iPod stiftet Freudeund Freunde und damit Gemeinschaft. »Nie mehr allein zusein« ist seine repetierte Botschaft, weil man ja zur Commu-nity mit den weißen Drähten im Kopf gehört.Die Heirat zwischen Nike und iPod, zwischen Sport undMusik ist ein besonderer Schauplatz des warenästhetischenEvozierens von Obsessionen. Nike bietet Laufschuhe miteinem Sensor und Speicherchip an. Diese Daten generieren amheimischen Computer über eine Auswertung ein Leistungs-profil für den Läufer und stellen zum Training die passendeMusik über das (kostenpflichtige) iTunes-Portal bereit.

Abb. 9: »Living iPod« – Videostill eines prämierten Werbeclips 2006

In einem handlungsorientierten Untersuchungsansatz könnenFragen an Schülerinnen und Schüler und deren Antworten dieerzählten Mythen entkleiden. Die eigenen Erfahrungen wie dieBerichte in den Blogs und Clips sind das Material, die Produkt-kultur aufzuschließen. Die Leitfragen sind im ersten Zugriffeinfach, können aber Komplexität entfalten: Was machen wir

Karriere hinlegen. Denn: Marke und Werbung versuchenUnterscheidungen im Massenmarkt zu schaffen. Dort wo dieProduktqualität nicht unterscheidbar oder sehr ähnlich ist(Benzin, Zahnpasta, Bier …) schaffen Marke und Werbungkontextuelle Attribuierungen.Die Globalisierung treibt zur Universalität im Massenmarkt,Marke und vor allem Werbung müssen die Ware aber wiederethnologisch differenzieren und mit lokalem oder individuel-lem Mehrwert aufladen. Der große Nutznießer der globalenMarkenuniformität ist die Produktpiraterie, sie profitiert vonder globalen Uniformität und dem interkulturellen Wert derMarken.Die Relevanz von Marken wirkt in die Entwicklungspsycho-logie hinein. Amerikanische Studien mit Kindern und Heran-wachsenden zeigen: In Phasen geringeren Selbstwertgefühleswächst die Neigung der Heranwachsenden (12–14-Jährige),über Marken das Selbstwertgefühl zu stärken; danach nimmtdas Selbstwertgefühl zu und die Orientierung an Marken wirdschwächer (Abb. 8). Unter diesem Aspekt ist z. B. die Werbung,in deren Mittelpunkt jugendliche, noch führerscheinlose Pro-tagonisten mit ihren Wunschträumen stehen oder träumendschon das Auto mit dem Stern fahren, der Versuch, früh eineMarkenbindung aufzubauen.

Abb. 8: Marken stärken in präadoleszenten Phasen das Selbstwertgefühl – hiervon Adbusters ins Bild gesetzt

All dies hat Kritik aufgerufen: »No Logo!« ist der Titel desBuches von Naomi Klein im Jahr 2000. Klein beschreibtdarin die Globalisierung von Marken und die Entwicklungeiniger weltweit operierender Firmen von Herstellerunter-nehmen hin zu Lifestyle-Vermarktungsunternehmen. DieseUnternehmen, so Kleins These, konzentrieren sich zuneh-mend darauf, ihre Marken mit imaginären Attributen anzurei-

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Weitere Adaptionen von anderen Braun-Geräten sind evident;Ive erklärt diese Gestaltungsnähe mit der Prägung in seinemElternhaus – und Dieter Rams fühlt sich geschmeichelt. DieGestaltungsanforderungen von Rams, sein Katechismus derguten Form, ist denn auch im Unterricht die prägnante Foliezu einer Erörterung der Produkte im Vergleich. Die Produkt-gegenwart der Schüler wird mit der vom Lehrer gewusstenHistorie abgeglichen; Bezüge werden aufgezeigt, Verbindungensichtbar. Das ist auch eine Fortschreibung der Mythenkon-struktion. Und deren Aufdeckung!Auch ein Formvergleich des Fiat 500 oder des MINI mit ihrenjeweiligen Ahnen führt zu den Retro-Stilen, die die Nostalgiezur käuflichen Ware ummünzen, und solch ein Formvergleichführt zur präzisen Unterscheidung zwischen Styling undRedesign.

Kunstpädagogik [re]agiert:In einem letzten Abschnitt sollen kursorische Hinweise Bezügezu den vorigen Ausführungen herstellen und so Impulse füreine reflexive wie ästhetisch-praktische Auseinandersetzungstiften. In der dekonstruktiven Reflexion der Marken undLogos kommen aus der Gegenwartskunst Beispiele zur Um-gestaltung als Auseinandersetzung mit diesen Signaturen einerschönen, neuen Warenwelt. (Abb. 11).

Abb. 11: Switcher als spielerische Logountersuchung (Jg. 9, aus dem Unterrichtvon Stefan Schmidt)

Schon 1960 hat Hans Magnus Enzensberger den Necker-mann-Katalog als ethnografische Quelle von ganz herausra-gender Güte für eine archäologische Rekonstruktion vorge-schlagen. Das gilt heute für alle Versandhauskataloge wie dieWerbeprospekte, die in bester ökologischer Begründung vonjedem Briefkasten fern gehalten werden. Doch zur Annähe-rung an die Produktkultur sind diese farbigen Zeitzeugen einergiebiger Fundus der Warenkultur als Sittenbild. Mit Schülernund deren weiterführenden Recherchen zu den abgebildeten(und inspirierenden) Produkten lassen sich Produktkultur undGesellschaft, Technik und ihr Einfluss auf soziales Leben, dieRiten des Alltags und dessen Accessoires fokussieren (Abb.12a und 12b).

Auch eine vergleichende Untersuchung zur Verknüpfung vonObjekt und Verhalten, von Verhaltensnormen und Produkt-kultur kann durch private Fotos vom häuslichen Interieuroder historische Bildfunde in Illustrierten hervorgehen (Abb.13a und 13b).

im Sinne sozialer Handlung mit den Objekten, was machendie Objekte mit uns? So bleibt die individuelle Sphäre von derwarenästhetischen Marter geschützt, der Diskurs ist auf eineMetaebene verlagert und sensibilisiert den Blick für dieGeschichte(n) in den Objekten.

Ein zweiter Zugriff auf die Mythendekonstruktion resultiertaus einer klassischen semiotischen Analyse. Damit werdenForm, Farbe, Oberfläche, Material – all die syntaktischenGrundlagen – in ihrem Bestand beschrieben und im struktura-len Zusammenhang der einzelnen Elemente in ihrer gesamtenBedeutung gelesen. So führt die Deutung über das reine Weißder ersten iPod-Generation als juvenile Innovation zu Formund Material, die ihrerseits von einer Reinkarnation desFunktionalismus künden. Ergänzt um das minimale Gewichtund die intuitive Bedienung wächst das Signum eines Mini-malismus, das einer technischen Avantgarde ihren unproble-matischen Begleiter spendiert. Im Sinne der nachgelagertenpragmatischen Funktion ist eine suggestive Trias auszuma-chen: Mobilität, unbegrenzter Individualismus bei gleichzeiti-ger Zugehörigkeit zur Gruppe und manifeste Konzentrationauf Genuss.Die Grundlagenliteratur zu einer semiotisch orientiertenDesignanalyse von Bernd Löbach (1976) wurde inzwischenerweitert und ausdifferenziert; die jüngsten Publikationen vonHelene Kamarsin (2007) oder das Fachbuch von BernhardE. Bürdek (2005) geben beste Hinweise für eine fundierteProduktanalyse.

Eine Produktanalyse zum erfolgreichen Apple-Design (amBeispiel des iPod) wäre ohne einen Rekurs zum funktionalisti-schen Design der Firma Braun mit ihren Designern HansGugelot und Dieter Rams nicht vollständig. Gerade dasDesign von Apple, das unter der Federführung von JonathanIve in der letzten Dekade die Renaissance von Apple begüns-tigte, ist dezidiert und in aufschlussreichen Details mit einemum Jahrzehnte zurückliegenden Braun-Design zu begründen.Hier zeigen Produktvergleiche frappierende Übereinstimmun-gen; das Taschenradio T3 Braun, entstanden ca. 1959, ist miteinem integrierten Steuerungsrad ausgestattet, das gut 40Jahre später dem iPod zu seinem Erfolg verhalf (Abb. 10).

Abb. 10: Starke Anleihen von Apple (2001) bei Braun (1959), nicht nur beim iPod

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Die designgeschichtliche Kontextualisierung der aufgespürtenObjektwelt ist ein Aspekt, die Rekonstruktion des sozial-historischen Zusammenhanges von Produktion, Konsum,Gebrauch etc. ein anderer, dessen Recherche in fachübergrei-fende, handlungsorientierte Methoden hineinreicht.Die Forschungsgruppe »Sinus-Milieu« stiftet mit ihren sozio-ethnologischen Zielgruppenanalysen Anregungen, die dort inWort und Bild zugewiesenen Attribuierungen zu befragen.Aus den von Sinus konstruierten personalen Typen könnendie behaupteten produktkulturellen Codes auf eine Klischee-bildung hin kritisch befragt werden. Dabei kommen die überdie Modesoziologie hinausragenden Begriffe des »Habitus«und der »feinen Unterschiede« zur diskursiven Anwendung(Abb. 14a und 14b).

Abb. 14a und b: Sinus-Milieu – Sinus konstruiert personale Typen mit Produktkulturellen Codes und regt zur kritischen Befragung an.

Kulturpolizei?Bleibt letztlich die rhetorische Figur der Kulturpolizei. Eineder warenästhetischen Analyse, dem kritischen Aufdecken vonökonomischen Mechanismen im Kleid der ästhetischen Über-zuckerung gewidmete Designpädagogik wird abseits vonMusterkoffern und suggestivem Geschmacksdiktat in ästheti-scher Praxis als Recherche, Rezeption und Reflexion, aberauch mit bewältigbaren praktischen Lösungen die unabweis-baren Momente der Identitätsstiftungen durch Design unddamit auch von Genuss (als Konsumglück) ernst nehmen.Subjekt und Objekt treffen dabei nicht als Antagonisten auf-einander, die Schülerinnen und Schüler nähern sich dem schö-nen Schein als Quelle von Genuss wie Kritik in Recherche,simulierender oder intervenierender Praxis.

Johannes Kirschenmann ist Hochschullehrer an derAkademie der Bildenden Künste München

Der Text basiert auf einem Vortrag beim 3. KunstpädagogischenTag des BDK-Niedersachsen am 30.5.2008 an der HochschuleVechta. Der Autor dankt Raimund Lehmann für seine kriti-sche Textsichtung.

Literatur:

Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main 1964

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils-kraft. Frank-furt/Main 81996

Bürdek, Bernhard E.: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produkt-gestaltung. Basel 2005

Ceranic, Boban: Im Kopf des Konsumenten. Aus dem Blickwinkel des Neuro-marketing. Saarbrücken 2007

Grasskamp,Walter: Konsumglück. Die Ware Erlösung. München 2000

Haug,Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/Main 1971

Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften. Konsumenten, Marken undProduktstrategien. Landsberg/Lech 2007

Klein, Naomi: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. EinSpiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. München 2001

Löbach, Bernd: Industrial design. Grundlagen d. Industrieproduktgestaltung.München 1976

Pine, B. Joseph/Gilmore, James H.: The Experience Economy.Work is Theatre& Every Business a Stage. Boston 1999

Precht, Richard David: Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Eine philosophischeReise. München 2007

Schuhmacher-Chilla, Doris: Die Welt der Gegenstände und die ÄsthetischeErziehung. In: Sturm, Hermann (Hg.): Design retour. Ansichten zur Design-geschichte. Essen 2000, S. 36 – 43

Schulze, Gerhard: Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart.Frankfurt/Main 1992

Selle, Gert: Design im Alltag. Vom Thonetstuhl zum Mikrochip. Frankfurt/Main2007

Ullrich,Wolfgang: Habenwollen.Wie funktioniert die Konsumkultur?Frankfurt/Main 2008

Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986

Welsch,Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990

Abb. 12a und 12b: Werbeprospekte und Versandhauskataloge als Quelle histori-scher Produktkultur

Abb. 13a und 13b: Was machen wir mit den Produkten – was machen die Pro-dukte mit uns? Zwei Familien am Kaffeetisch in den 1950er und 1980ern Jahren