Warum soll nicht jeder erben dürfen? - Verlag für Berlin ... · Pizzaservice: Christoph Bartmann...

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3 S tändig fuselt, schimmelt, leckt und verdreckt es, das ist nun einmal das Verhängnis der menschlichen Existenz, die es nie geschafft hat, sich von der Natur zu befreien. Emanzipie- ren kann man sich nur davon, den Dreck selbst wegzumachen. Die Bereit- schaft dazu steigt in der Mittelschicht. Schließ- lich ist es schwer einzusehen, warum man jah- relang Opfer für die Karriere gebracht und ne- benbei seine Persönlichkeit optimiert hat, um dann Urinstein wegzuschrubben oder sich um gebrechlich gewordene Eltern zu kümmern. Selbst wenn man wollte, es ginge nicht. Um sich in einer Großstadt einen annehmbaren Le- bensstandard leisten zu können, müssen zwei ran, in Vollzeit und selbstverständlich, falls nö- tig, auch am Wochenende. Man schafft es ein- fach nicht mehr, den ganzen Kram selbst zu er- ledigen, der der bloßen Reproduktion des Le- bens dient. Glücklicherweise hat die freie Marktwirtschaft auch dafür eine prima Lösung: Man kann sich Diener halten. Natürlich würde man es selbst nie so nennen, das schickt sich nicht für egalitär empfindende Menschen, und es gibt gewiss auch glücklichere Wordings, die der Putze die Illusion lassen, sie gehöre zum selben Stamm wie man selbst. Au- ßerdem stellt man in der Gegenwart nicht mehr den ganzen Menschen an (für den man dann auch Verantwortung übernehmen, ein Zimmer freiräumen und im Lauf der Zeit auch Nähege- fühle aufbringen müsste), sondern kauft rosi- nenpickerisch nur Dienstleistungen, die man gerade benötigt, also zum Beispiel jeden Mon- tag vier Stunden Putzen, Pflegepakete für die Eltern, Dogsitting und Kinderbespaßung. Das rentiert sich auch mental, weil man sich so nicht sagen muss, man gehöre zu den Men- schen, die sich Personal halten. Müsste man aber doch, erfährt man in Chris- toph Bartmanns eindringlicher Gegenwartsdi- agnose „Die Rückkehr der Diener“. Nach ihrer Lektüre glaubt man nicht mehr daran, dass es in der zeitgenössischen On-Demand-Dienst- leistungsgesellschaft so unschuldig zugeht, wie sie ihren Nutznießern vormacht. Bartmann erzählt, wie mächtig der Trend ge- worden ist, andere für sich die Drecksarbeiten erledigen zu lassen – ein Beispiel: „Etwa zwölf Prozent der deutschen Haushalte beschäftigen nach neueren Untersuchungen eine Putzkraft (und 64 Prozent davon beschäftigen sie schwarz)“ – und lässt keinen Zweifel daran, dass er sich noch verstärken wird. Die Gründe: Unsere Gesellschaft wird älter, die Entlastungs- bedürfnisse wachsen, das Angebot wird durch die digitalen Plattformen vielfältiger, das Reser- voir an modernen Tagelöhnern größer. Ist das schlimm? Auf der Mikroebene eher nicht. Wer Dienstleistungen kauft, bekommt mehr Zeit für sich (in der er allerdings oft selbst zu ei- ner Art Dienstleister fürs eigene Leben werden muss, indem er Dinge wie Onlinebanking erle- digt, die von den Unternehmen an ihre Kunden ausgelagert werden). Die On-Demand-Dienst- leister haben oft ein besseres Einkommen als in Festanstellungen, werden von keinem Chef ge- triezt und können sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen. Doch dank Bartmann begreift man schnell, dass die Serviceökonomie nur für die Konsumenten ein Paradies ist. „Der Stress, der uns quält und mit dem wir auch gerne angeben, hat seine Ursache oft in den bekannten Verein- barkeitsproblemen zwischen Beruf und Familie. Wir verschaffen uns Entlastung, indem wir den Stress an Helferinnen und Helfer weitergeben, die ihrerseits ein noch viel größeres Problem haben, Beruf und Familie zu vereinbaren.“ Im Unterschied zu traditionell Beschäftigten ha- ben die Menschen, die uns „helfen“, wenig Rechte und kaum Sicherheiten. Die Bequem- lichkeit, bis spätnachts mit exakt dem Essen be- liefert zu werden, auf das man gerade Lust hat, existiert nur in einer Welt, in der viele recht un- bequeme Arbeitsverhältnisse auf sich zu neh- men gezwungen sind. Dass von ihnen selten Klagen kommen, liegt weniger an ihrer Duld- samkeit als an den Verhältnissen, aus denen sie stammen, macht Bartmann etwa in seiner Be- schreibung der Heinzelmännchenökonomie New Yorks deutlich, wo er fünf Jahre lang Di- rektor des Goethe-Instituts war: „Man hat sich die prekären Hausarbeiterin- nen dieser Stadt als Botschafter eines weit grö- ßeren Elendszusammenhangs vorzustellen. Nach Süden hin grenzen die USA an eine Welt- gegend, in der Armut, Gewalt, Kriege und Dro- genhandel den Alltag beherrschen. Welche Bil- dungschancen bieten sich einer jungen Frau aus den Slums von Guatemala City oder Santo Do- mingo diesseits der von der Familie unterstütz- ten, wenn nicht geforderten Entscheidung, sich in Nordamerika zu verdingen? Vielleicht gehen sie ihren Beschäftigungen in New Yorker Häu- sern auch deshalb mit so viel abgehärtetem Fa- talismus nach. Es wird nichts Besseres nach- kommen, keine Ausbildung und keine Heirat ‚nach oben‘, jedenfalls keine mit Hebelwirkung. New York ist nicht die Härte, durch die man hindurch muss, wenn man zu den Sternen will. New York, das sind von anderswoher gesehen schon die Sterne, nur von sehr weit unten be- trachtet.“ Bartmanns Diagnose läuft darauf hinaus, dass die neue Serviceökonomie jede Menge unange- nehmer Effekte hat, auch für ihre Nutznießer aus der Mittelschicht: Deren Bereitschaft, sich rund um die Uhr Bequemlichkeiten zu kaufen, macht die Welt für die unteren Klassen noch undurchlässiger, als sie es ohnehin schon ist. Für Menschen, die sich daran gewöhnt haben, Fair Trade zu schätzen, ist das keine überzeu- gende Ethikbilanz. Eines fehlt in „Die Rückkehr der Diener“: die Stimmen der Diener selbst. Bartmanns Essay ist eine Phänomenologie des zeitgenössischen Sich-Bedienen-Lassens, keine Sozialreportage. Es gibt keine Gruselgeschichten über fiese Chefs und die Härten im Leben von Putzfrauen und Lieferanten. Doch das ist nur konsequent. Denn die neuen Diener, die Bartmann be- schreibt, sind noch unsichtbarer als ihre Vor- gänger in den Herrenhäusern des 19. und den nostalgischen Fernsehserien des 21. Jahrhun- derts. Man bekommt sie kaum je zu Gesicht, flieht ins Büro, sobald sie auftauchen. Und die Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebensumstände, die ihnen selbst einfielen, ge- hen Bartmann nicht weit genug. Er sympathi- siert zwar mit Initiativen zur Selbstorganisie- rung der modernen Heinzelmännchen und Ver- suchen des „Plattformkooperativismus“ (statt des „Plattformkapitalismus“, von dem nur die Plattformen selbst profitieren). Doch das reicht ihm nicht: „Ohne individuelle und politische Solidarität mit den Dienstleistern wird eine politische Agenda so wenig Wirklichkeit werden wie mit erhöhter Militanz der Dienstleister selbst. Der Weg dahin ist weit, wie wäre es deshalb vorab ... schon mal mit Askese am Servicebüfett? Und mit einer gründlichen und unbequemen Prü- fung aller in Anspruch genommenen Dienstleis- tungen daraufhin, ob sie den Dienstleistern und uns in einem umfassenden Sinn guttun? Entlas- tung der Entlastung muss die Devise heißen, und wie anders als durch intelligente, das heißt wirklich intelligente Automaten. ‚Aber die Dienstleisterinnen haben doch oft gar keine Al- ternative zu ihren schlechten Jobs und wollen bleiben, was sie sind.‘ Genau, auch daran müs- sen wir arbeiten.“ Macht euren Dreck doch selbst weg Putzhilfe, Pflege, Pizzaservice: Christoph Bartmann fragt, wie fair wir uns beim Konsumieren von Dienstleistungen verhalten U Peter Praschl F ußballspieler der englischen Pre- mier League sind heute Super- stars. Bis 1961 jedoch gab es für Profispieler in Großbritannien ei- nen gesetzlichen Maximallohn von 20 Pfund die Woche, was etwa dem dama- ligen durchschnittlichen Einkommen ent- sprach. Heute können Fußballer 500 Mal so viel verdienen wie der Durchschnitt; aber nie- mand würde behaupten, das Spiel sei 500 Mal besser geworden. Das Beispiel zeigt, dass die Höhe von Ver- gütungen keinem Naturgesetz folgt und nicht an Leistung gekoppelt ist. Der Ökonom Adam Smith meinte 1776, ein Mensch, der „mit gro- ßem Aufwand an Mühe und Zeit für eine Be- schäftigung ausgebildet wurde“, dürfe erwar- ten, „dass er aus seinem erlernten Beruf einen Ertrag erzielen kann, der so weit über dem üblichen Lohn für einfache Arbeit liegt, dass er ihm den gesamten Arbeitsaufwand, nebst einem normalen Gewinn für ein gleichwerti- ges Kapital, ersetzt.“ So müsste nach Adam Smith ein Akademiker erwarten, das Doppel- te bis Vierfache einer Verkäuferin zu verdie- nen (obwohl die Verkäuferin dessen Ausbil- dung aus ihren Steuern mitfinanziert hat) – eine Summe, über die heutige Manager müde lächeln würden. Grundschullehrerinnen hin- gegen, die eine mindestens so anstrengende und wertvolle Arbeit leisten wie Manager, müssen sich damit zufriedengeben. Kurzum: die absolute und relative Höhe von Einkommen – und die daraus folgende Verteilung von Wohlstand und Gesundheit, Einfluss und Macht – sind in demokratischen Gesellschaften das Ergebnis politischer Ent- scheidungen. Es geht auch anders. Dies ist die Kernaussage des neuen Buchs von Anthony Atkinson. Es heißt „Ungleichheit“ und reiht sich ein in eine Kette neuerer Untersuchun- gen (man denke etwa an Joseph Stiglitz’ „Der Preis der Ungleichheit“, Mariana Mazzucatos „Das Kapital des Staates“ und vor allem Tho- mas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“), die den „Washingtoner Konsens“ in der Wirt- schaftspolitik – Deregulierung, Entstaatli- chung, Abbau von Sozialleistungen, Subven- tionen und Steuern, Primat der Geldwertsta- bilität – in Frage stellen. Diese Politik habe zu einer „Ungleichheits- wende“ geführt, einer Spreizung der Einkom- men, bei der sich die oberen ein, zwei Prozent zu einer abgehobenen, neuen Aristokratie entwickeln, die unteren zehn bis 20 Prozent aber abgehängt werden, so der Befund dieser Autoren. So lange die Mittelschichten von der Entwicklung mitprofitierten, mochte die „Zweidrittelgesellschaft“ Akzeptanz finden und Kritik als „Sozialneid“ abgetan werden. Margaret Thatcher und Ronald Reagan ge- wannen ja Mehrheiten für ihre Politik. Doch wie selbst der „Economist“, Zentralorgan ei- nes marktliberalen Kapitalismus, kürzlich feststellte: „65 bis 70 Prozent der Haushalte in den reichen Ländern erlebten zwischen 2005 und 2014 einen Rückgang ihres realen Einkommens aus Lohn und Kapital“. Nur durch Umverteilungsmaßnahmen des Staates konnte die Zahl auf 20 bis 25 Prozent aller Haushalte gedrückt werden. Keine nachhalti- ge Ordnung des Wirtschaftsgeschehens. Es muss sich vieles ändern, wenn alles blei- ben soll, wie es ist. Aber wie? Was hat Atkin- son zu bieten? Die Kernthesen des inzwi- schen über 70-jährigen Professors lauten ers- tens: „Nach meiner Überzeugung lässt sich die Zunahme der Ungleichheit in vielen Fäl- len direkt oder indirekt auf Veränderungen der Machtverhältnisse zurückführen“; und zweitens: „Wichtig sind Maßnahmen, die die Ungleichheit vor Steuern und staatlichen Maßnahmen reduzieren.“ Kurz: Gewerk- schaften und NGOs müssen eine „Gegen- macht“ bilden, damit Jobs besser bezahlt wer- den. Es geht nicht an, dass der Staat ständig ausbügeln muss, was der Markt verbockt. Das klingt nach einer klassischen sozialde- mokratischen Position, doch schon vor 110 Jahren sagte Winston Churchill – keiner so- zialistischen Sympathien verdächtig – im Un- terhaus, es sei „ein nationales Übel, dass ir- gendeine Klasse Seiner Majestät Untertanen im Ausgleich für ihre Anstrengungen weniger als einen zum Leben reichenden Lohn erhal- ten sollte“. Das führe nicht „zum Fortschritt, sondern zur fortschreitenden Degeneration“. Auch Churchills politische Enkelin Theresa May verspricht „ein Großbritannien, das nicht nur für die wenigen, sondern für die vie- len, nicht nur für die da oben, sondern auch für die hier unten, nicht nur für die Starken, sondern auch für die Schwachen funktio- niert“, was ja das Zugeständnis beinhaltet, bis heute sei es nicht so. Atkinson seinerseits ist ein Bewunderer des liberalen Politikers William Beveridge, der den Wohlfahrtsstaat in Nachkriegsgroß- britannien schuf. Beveridge und seine Nach- folger haben große Teile der britischen Wirt- schaft verstaatlicht und ruiniert. Das fordert Atkinson freilich nicht. Er ist auch nicht für die Kontrolle von Preisen und Löhnen, wie es die US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Richard M. Nixon gelegentlich prakti- zierten. Er tritt ein für einen höheren Spit- zensteuersatz, um Managern den Anreiz zu nehmen, sich selbst immer höhere Gehälter zuzubilligen, einen höheren Grundsteuer- satz, um der Spekulation mit Immobilien ent- gegenzuwirken, eine Erhöhung des Mindest- lohns, mehr Kindergeld und was der Umver- teilungsvorschläge mehr sind. So könnte Großbritannien, statt in Sachen Ungleichheit mit den USA mitzuziehen, wieder „im Mittel- bereich der OECD-Länder rangieren“. Wie Deutschland also. Man fragt sich als deut- scher Leser, weshalb man 474 Seiten lesen soll, um sich ein solches Programm erklären zu lassen. Vier etwas radikalere Vorschläge hat Atkinson allerdings noch zu bie- ten, um der „Ungleichheitswende“ entgegenzuwirken: Erstens ein aus der Vermögenssteuer zu finanzie- rendes „Erbe“ für jeden, der die Volljährigkeit erreicht, um die Un- gleichheit in der Erbengesellschaft auszugleichen – ein Vorschlag, der immerhin den Charme des Uner- probten hat. Zweitens die Schaf- fung eines „Wirtschafts- und Sozial- rats“, in dem – wie in Ludwig Er- hards „konzertierter Aktion“ – die „Sozialpartner“ vertreten sind, aber auch Konsumentenorganisationen und andere NGOs. Dieses Organ der deliberativen Demokratie sollte allerdings nur beratende Funktion haben; andere Theoretiker wie etwa David van Reybrouck gehen schon weiter und wollen die Parteien ganz abschaffen. Drittens eine staatliche Jobgaran- tie für jeden Arbeitswilligen. Und viertens die Konzentration der staatlichen Forschungs- förderung auf solche Innovationen, die Ar- beitsplätze schaffen und nicht zerstören. Es sind diese letzten Vorschläge, die be- denklich stimmen. Zwar stimmt es, wie Ma- riana Mazzucato nachgewiesen hat, dass es weder das Internet noch das Smartphone noch Google ohne staatliche Grundlagenfor- schung gegeben hätte. Aber man muss sich auch fragen, ob es diese revolutionären Dinge überhaupt gegeben hätte, wenn Leute wie At- kinson die Forschung bestimmt hätten. Atkinson scheint auch wenig aus dem Ver- sagen des Staates als Arbeitgeber gelernt zu haben. Sein Buch widmet er „den wunderba- ren Menschen, die im National Health Service arbeiten“ – dem von Beveridge geschaffenen steuerfinanzierten staatlichen Gesundheits- dienst. Wer das Pech hatte, dessen Leistun- gen in Anspruch nehmen zu müssen, weiß, dass man ein wunderbarer Mensch sein muss, um in einem derart dysfunktionalen System zu funktionieren. Inzwischen haben über 20 Prozent der Briten eine private Zusatzversi- cherung abgeschlossen, um sich Leistungen zu sichern, die in Deutschland auch für Kas- senpatienten selbstverständlich sind, wie freie Arztwahl, Behandlung durch Spezialis- ten auch außerhalb eines staatlichen Kran- kenhauses, Übernahme von Zahnarztkosten und Krankenhausaufnahme nach Bedürftig- keit, nicht nach Warteliste. Die Ungleichheit ist ein Problem, keine Frage, und nicht nur in den angelsächsischen Ländern. Aber zurück zu den Zeiten, als Fuß- baller für 20 Pfund kickten und die Beatles über den „Taxman“ klagten, der 19 Shilling aus jedem verdienten Pfund kassierte? Es muss anders gehen. Nostalgie ist auch keine Lösung. Anthony Atkinson: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. A. d. Engl. v. Hainer Kober. Klett-Cotta, Stuttgart. 474 S., 26,95 €. Warum soll nicht jeder erben dürfen? Anthony Atkinson, der Mentor von Thomas Piketty, sucht Rezepte gegen die Ungleichheit U Alan Posener Spezialist für Einkommensverteilung: Anthony Atkinson, Jahrgang 1944, gehört zu den führenden Ökonomen weltweit ULLSTEIN/HARVARD 2 27.08.16 Samstag, 27. August 2016 DWBE-VP1 Belichterfreigabe: - - Zeit: : : Belichter: Farbe: ??/DW/DWBE-VP1 27.08.16/1/LW2 AARAVENA 5% 25% 50% 75% 95% + U SAMSTAG, 27. AUGUST 2016 2 NEUE BÜCHER 3 27.08.16 Samstag, 27. August 2016 DWBE-VP1 Belichterfreigabe: - - Zeit: : : Belichter: Farbe: ??/DW/DWBE-VP1 27.08.16/1/LW3 AARAVENA 5% 25% 50% 75% 95% + SAMSTAG, 27. AUGUST 2016 U NEUE BÜCHER E s soll ja Schriftsteller geben, bei denen ist das so. „Sie werden immer nur eine Ge- schichte haben. Sie werden diese Ge- schichte auf vielerlei Weise schreiben. Las- sen Sie sich davon nicht nie irre machen. Sie haben nur eine Geschichte.“ Das hat Sarah Payne gesagt, die ist Schriftstellerin und lehrt Schreiben. Und Lucy Barton, die Schriftstellerin werden, ihre Ge- schichte erzählen will, hat das gehört. Da ist sie sich si- cher. So sicher wie sonst über beinahe Nichts in „Die Unvollkommenheit der Liebe“, der Geschichte der Lu- cy Barton, die Elizabeth Strout aufgeschrieben hat. Unsicherheit ist eine der Konstanten im Leben der Lucy Barton, die in New York lebt, aber in ärmlichsten Verhältnissen am Rande der Gesellschaft aufwuchs, in einem auch geografisch ziem- lich abseits liegenden Kaff in Illinois. Weswegen der Originaltitel „My Name is Lucy Barton“ in seiner ganzen geradezu trotzigen Set- zung der bessere Titel war für den fünften Roman der in Kleinstädt- chen von Maine und Vermont aufgewachsenen New Yorker Pulitzer- Preisträgerin von 2009. „Die Unvollkommenheit der Liebe“ aller- dings passt insofern, als diese Liebes- und Gefühlsunvollkommen- heit die andere von mehreren Wurzelwegen der Erzählung ist und die wiederum ziemlich nahe am Kitsch gebaut ist. Was man, da ist Elizabeth Strout doch sehr geschickt, natürlich nicht Strout vorwer- fen kann, sondern Lucy. Man soll nämlich, auch das lehrt Sarah Pay- ne (diesmal ihre Leser), die Stimme des Autors um Himmels Willen nie mit der des Erzählers verwechseln. Sagt ja alles Lucy Barton. Was sie sagt, ist Folgendes. Alles beginnt in einem New Yorker Krankenhaus. Lucy ist allein, wir sind Mitten in den Achtzigern, draußen bricht gerade Aids aus, Lucys Kinder sind sehr klein, ihr Mann hat eine durchaus nachvollziehbare Krankenhausallergie. Man hat ihr den Blinddarm entfernt. Dann hat sie Fieber bekommen. Es ist ein geheimnisvolles Fieber. Neun Wochen liegt Lucy da, dann ist es weg. Es hat andere als körperliche Ursachen; da ist eine dunkle Stelle in der Geschichte der Lucy Barton, die sie nicht uns erzählt, sondern ihrem Arzt. Einem gütigen, gütigen Mann, in den sich Lucy leicht verliebt. Sie verliebt sich gern. Und gütig, gütig sagt sie gern. Sie ist eine mit Intellektualismus und Er- zähltheorie in der Wolle gefärbte Pilcher-Figur. Aber das deuteten wir ja schon an. Und dann, eines Tages, als sie den Kopf vom Fenster wen- det, durch das man, wenn man nicht schlafen kann – und Lu- cy schläft schlecht – einen herrlichen Blick auf die Lichtbö- gen des Chrysler Buildings hat, sitzt Lucys Mutter am Bett. Wie ein Gespenst aus uralten Tagen sitzt sie da. Sie ist zum ersten Mal geflogen. Zum ersten Mal Taxi gefahren. Jetzt sitzt sie da, kann noch immer nicht sagen, dass sie ihre Toch- ter liebt (das kann die umgekehrt auch nicht – eine der unvoll- kommenen Lieben der Geschichte der Lucy B.). Und erzählt Geschichten. Wie eine andere Scheherazade. Fünf Tage, fünf Nächte. Geschichten von Menschen, die Lucy von damals kennen könnte, von ausnahmslos scheiternden Ehen. Das beruhigt Lucy nicht sehr. Ihre Ehe kriselt auch. Am Ende wird sie gescheitert sein. Lucy strahlt mit ihrer sanften Leuchte durch ihr Leben, in dem Bücher die beste Waffe gegen das Alleinsein stellten. In dem es immer um Ausgrenzung ging. Immer ums Überwinden der Einsamkeit, ums Dazugehören, ums Zulassen und Erzählen von Ge- fühlen, um Wahrhaftigkeit. Nazis kommen vor, Albträume aus dem Holocaust, und Aids, Missbrauch, Heimat und New York und – als man schon anfing ihn zu vermissen – der 11. September. Lucy erzählt, als säße sie in der Krankenhaus-Cafeteria beim Filterkaffee neben ei- nem. Was natürlich so nicht sein kann. Aber Sätze erklärt, die halt so sind: „Ein Hotelzimmer kann etwas Trostloses sein. Mein Gott, kann es trostlos sein.“ Oder Weisheiten von diesem Schlag enthalten: „Le- ben, denke ich manchmal, heißt Staunen.“ Ist halt Lucy Bartons Geschichte. Die Bücher von Lucy Barton, die diese Geschichte vermutlich wieder und wieder erzählen, gibt es na- turgemäß nicht. Und irgendwie ist man am Ende dieses Lebensbe- richts, dieser tragisch verbauten Frauenseele ziemlich überzeugt da- von, dass das wahrscheinlich auch ganz gut so ist. Elmar Krekeler KURZKRITIK Die Dichterin spricht Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Luchterhand, München. 208 S., 18 €. Christoph Bartmann: Die Rückkehr der Diener. Hanser, München. 288 S., 22 €. D ie Verhältnisse sind erbärmlich, die Häuser voller Ungeziefer, Wanzen, Schaben und doch bis in die Bodenkammern hinein von Menschen bewohnt. Sieben- oder auch zwölfköpfige Familien teilen sich eine Stu- be und manchmal auch das Bett. Schlafplätze gibt es also im Schichtwechsel – und Arbeit ge- nerell nur zu miesen Pfennigstundenlöhnen. Slums, wie wir sie heute in Brasilien oder Bangladesch besichtigen, beherrschten das Deutschland, das der 1902 bei Riga geborene und 1972 in Düsseldorf begrabene Alexander Graf Stenbock-Fermor im Jahr 1930 bereiste. Der „rote Graf“, wie man ihn nannte, hatte als Student ein Jahr als Bergmann bei Thyssen in Duisburg gearbeitet. Später wurde er Reporter der „Frankfurter Zeitung“ und schrieb das Un- terschichtpendant zu Siegfried Kracauers be- rühmter Schrift „Die Angestellten“, sprich eine Milieukunde im Geist und Stil der Neuen Sach- lichkeit. „Deutschland von unten“, im Original 1931 er- schienen, bedachte zwar auch die urbanen Zen- tren, die Lumpenproletarier in Berlin, das Bor- sigwerk in Hindenburg/Oberschlesien (unten, ganz rechts) oder die mitteldeutschen „Leuna- proleten“. Doch die wahren Missstände ortete das Buch in den deutschen Mittelgebirgen. Heimarbeit in der erzgebirgischen Spielzeugin- dustrie, die vom Kind bis zur Greisin auf jede Schnitzerhand angewiesen war (links). Das Bild der Frau – ob als „Lieferheldin“ im thüringi- schen Lauscha (oben) schwindsüchtig in der Korbflechterwerkstatt (oben) – erschüttert in diesem Buch besonders. Im Thüringer und Frankenwald saß die globale Puppenindustrie, Woolworth aus Amerika ließ hier produzieren, es herrschte globaler Drückerlohnwettbewerb. Die Heimarbeiter, schrieb die „Vossische Zei- tung“ damals, seien „die Ärmsten des Proletari- ats“, „die Versprengten des Klassenkampfes, die noch nicht den Hauch einer neuen, kommen- den, besseren Zeit verspürt haben“. „Wir wis- sen, dass es nur einen einzigen Weg aus diesem Dreck und zur Zukunft gibt“, fauchte der „Völ- kische Beobachter“. Stenbock-Fermor hört im Dorfgasthaus mit, wie die Nazis in der Provinz bereits Zulauf bekommen. Christian Jäger und Erhard Schütz haben die Elendsreportage mit- samt ihren 62 historischen Fotografien neu he- rausgegeben. Sie bietet eine Zeitreise in die Ver- gangenheit, die den Blick für die Gegenwart schärft. Denn eines ist klar: Heimarbeiter, die Spielzeugpuppen jahrein, jahraus die Augen einsetzen, gibt es auch heute noch; ihre Arbeit findet global nur woanders statt. Alexander Graf Stenbock-Fermor: Deutschland von unten. VBB, Berlin. 240 S., 22 €. Die berühmteste Sozialreportage der Weimarer Republik deckte das Elend der Unterschicht in der Heimindustrie auf. Jetzt erscheint der Bericht neu U Marc Reichwein ANZEIGE Deutschland, deine proletarische Provinz

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S tändig fuselt, schimmelt, lecktund verdreckt es, das ist nuneinmal das Verhängnis dermenschlichen Existenz, die esnie geschafft hat, sich von derNatur zu befreien. Emanzipie-ren kann man sich nur davon,

den Dreck selbst wegzumachen. Die Bereit-schaft dazu steigt in der Mittelschicht. Schließ-lich ist es schwer einzusehen, warum man jah-relang Opfer für die Karriere gebracht und ne-benbei seine Persönlichkeit optimiert hat, umdann Urinstein wegzuschrubben oder sich umgebrechlich gewordene Eltern zu kümmern.

Selbst wenn man wollte, es ginge nicht. Umsich in einer Großstadt einen annehmbaren Le-bensstandard leisten zu können, müssen zweiran, in Vollzeit und selbstverständlich, falls nö-tig, auch am Wochenende. Man schafft es ein-fach nicht mehr, den ganzen Kram selbst zu er-ledigen, der der bloßen Reproduktion des Le-bens dient. Glücklicherweise hat die freieMarktwirtschaft auch dafür eine prima Lösung:Man kann sich Diener halten.

Natürlich würde man es selbst nie so nennen,das schickt sich nicht für egalitär empfindendeMenschen, und es gibt gewiss auch glücklichereWordings, die der Putze die Illusion lassen, siegehöre zum selben Stamm wie man selbst. Au-ßerdem stellt man in der Gegenwart nicht mehrden ganzen Menschen an (für den man dannauch Verantwortung übernehmen, ein Zimmerfreiräumen und im Lauf der Zeit auch Nähege-fühle aufbringen müsste), sondern kauft rosi-nenpickerisch nur Dienstleistungen, die mangerade benötigt, also zum Beispiel jeden Mon-tag vier Stunden Putzen, Pflegepakete für dieEltern, Dogsitting und Kinderbespaßung. Dasrentiert sich auch mental, weil man sich sonicht sagen muss, man gehöre zu den Men-schen, die sich Personal halten.

Müsste man aber doch, erfährt man in Chris-toph Bartmanns eindringlicher Gegenwartsdi-agnose „Die Rückkehr der Diener“. Nach ihrerLektüre glaubt man nicht mehr daran, dass es inder zeitgenössischen On-Demand-Dienst-leistungsgesellschaft so unschuldig zugeht, wiesie ihren Nutznießern vormacht.

Bartmann erzählt, wie mächtig der Trend ge-worden ist, andere für sich die Drecksarbeitenerledigen zu lassen – ein Beispiel: „Etwa zwölfProzent der deutschen Haushalte beschäftigennach neueren Untersuchungen eine Putzkraft(und 64 Prozent davon beschäftigen sieschwarz)“ – und lässt keinen Zweifel daran,dass er sich noch verstärken wird. Die Gründe:Unsere Gesellschaft wird älter, die Entlastungs-bedürfnisse wachsen, das Angebot wird durchdie digitalen Plattformen vielfältiger, das Reser-voir an modernen Tagelöhnern größer. Ist dasschlimm? Auf der Mikroebene eher nicht.

Wer Dienstleistungen kauft, bekommt mehrZeit für sich (in der er allerdings oft selbst zu ei-ner Art Dienstleister fürs eigene Leben werdenmuss, indem er Dinge wie Onlinebanking erle-digt, die von den Unternehmen an ihre Kundenausgelagert werden). Die On-Demand-Dienst-leister haben oft ein besseres Einkommen als inFestanstellungen, werden von keinem Chef ge-triezt und können sich ihre Arbeitszeit selbsteinteilen. Doch dank Bartmann begreift manschnell, dass die Serviceökonomie nur für dieKonsumenten ein Paradies ist. „Der Stress, deruns quält und mit dem wir auch gerne angeben,hat seine Ursache oft in den bekannten Verein-barkeitsproblemen zwischen Beruf und Familie.Wir verschaffen uns Entlastung, indem wir denStress an Helferinnen und Helfer weitergeben,die ihrerseits ein noch viel größeres Problemhaben, Beruf und Familie zu vereinbaren.“ ImUnterschied zu traditionell Beschäftigten ha-ben die Menschen, die uns „helfen“, wenig

Rechte und kaum Sicherheiten. Die Bequem-lichkeit, bis spätnachts mit exakt dem Essen be-liefert zu werden, auf das man gerade Lust hat,existiert nur in einer Welt, in der viele recht un-bequeme Arbeitsverhältnisse auf sich zu neh-men gezwungen sind. Dass von ihnen seltenKlagen kommen, liegt weniger an ihrer Duld-samkeit als an den Verhältnissen, aus denen siestammen, macht Bartmann etwa in seiner Be-schreibung der HeinzelmännchenökonomieNew Yorks deutlich, wo er fünf Jahre lang Di-rektor des Goethe-Instituts war:

„Man hat sich die prekären Hausarbeiterin-nen dieser Stadt als Botschafter eines weit grö-ßeren Elendszusammenhangs vorzustellen.Nach Süden hin grenzen die USA an eine Welt-gegend, in der Armut, Gewalt, Kriege und Dro-genhandel den Alltag beherrschen. Welche Bil-dungschancen bieten sich einer jungen Frau ausden Slums von Guatemala City oder Santo Do-mingo diesseits der von der Familie unterstütz-ten, wenn nicht geforderten Entscheidung, sichin Nordamerika zu verdingen? Vielleicht gehensie ihren Beschäftigungen in New Yorker Häu-sern auch deshalb mit so viel abgehärtetem Fa-talismus nach. Es wird nichts Besseres nach-kommen, keine Ausbildung und keine Heirat‚nach oben‘, jedenfalls keine mit Hebelwirkung.New York ist nicht die Härte, durch die manhindurch muss, wenn man zu den Sternen will.New York, das sind von anderswoher gesehenschon die Sterne, nur von sehr weit unten be-trachtet.“

Bartmanns Diagnose läuft darauf hinaus, dassdie neue Serviceökonomie jede Menge unange-nehmer Effekte hat, auch für ihre Nutznießeraus der Mittelschicht: Deren Bereitschaft, sichrund um die Uhr Bequemlichkeiten zu kaufen,macht die Welt für die unteren Klassen nochundurchlässiger, als sie es ohnehin schon ist.Für Menschen, die sich daran gewöhnt haben,

Fair Trade zu schätzen, ist das keine überzeu-gende Ethikbilanz.

Eines fehlt in „Die Rückkehr der Diener“: dieStimmen der Diener selbst. Bartmanns Essay isteine Phänomenologie des zeitgenössischenSich-Bedienen-Lassens, keine Sozialreportage.Es gibt keine Gruselgeschichten über fieseChefs und die Härten im Leben von Putzfrauenund Lieferanten. Doch das ist nur konsequent.Denn die neuen Diener, die Bartmann be-schreibt, sind noch unsichtbarer als ihre Vor-gänger in den Herrenhäusern des 19. und dennostalgischen Fernsehserien des 21. Jahrhun-derts. Man bekommt sie kaum je zu Gesicht,flieht ins Büro, sobald sie auftauchen.

Und die Maßnahmen zur Verbesserung ihrerLebensumstände, die ihnen selbst einfielen, ge-hen Bartmann nicht weit genug. Er sympathi-siert zwar mit Initiativen zur Selbstorganisie-rung der modernen Heinzelmännchen und Ver-suchen des „Plattformkooperativismus“ (stattdes „Plattformkapitalismus“, von dem nur diePlattformen selbst profitieren). Doch das reichtihm nicht:

„Ohne individuelle und politische Solidaritätmit den Dienstleistern wird eine politischeAgenda so wenig Wirklichkeit werden wie miterhöhter Militanz der Dienstleister selbst. DerWeg dahin ist weit, wie wäre es deshalb vorab ...schon mal mit Askese am Servicebüfett? Undmit einer gründlichen und unbequemen Prü-fung aller in Anspruch genommenen Dienstleis-tungen daraufhin, ob sie den Dienstleistern unduns in einem umfassenden Sinn guttun? Entlas-tung der Entlastung muss die Devise heißen,und wie anders als durch intelligente, das heißtwirklich intelligente Automaten. ‚Aber dieDienstleisterinnen haben doch oft gar keine Al-ternative zu ihren schlechten Jobs und wollenbleiben, was sie sind.‘ Genau, auch daran müs-sen wir arbeiten.“

Macht euren Dreck doch selbst wegPutzhilfe, Pflege,

Pizzaservice:Christoph Bartmann

fragt, wie fair wir uns beim

Konsumieren vonDienstleistungen

verhaltenU Peter Praschl

F ußballspieler der englischen Pre-mier League sind heute Super-stars. Bis 1961 jedoch gab es fürProfispieler in Großbritannien ei-nen gesetzlichen Maximallohn

von 20 Pfund die Woche, was etwa dem dama-ligen durchschnittlichen Einkommen ent-sprach. Heute können Fußballer 500 Mal soviel verdienen wie der Durchschnitt; aber nie-mand würde behaupten, das Spiel sei 500 Malbesser geworden.

Das Beispiel zeigt, dass die Höhe von Ver-gütungen keinem Naturgesetz folgt und nichtan Leistung gekoppelt ist. Der Ökonom AdamSmith meinte 1776, ein Mensch, der „mit gro-ßem Aufwand an Mühe und Zeit für eine Be-schäftigung ausgebildet wurde“, dürfe erwar-ten, „dass er aus seinem erlernten Beruf einenErtrag erzielen kann, der so weit über demüblichen Lohn für einfache Arbeit liegt, dasser ihm den gesamten Arbeitsaufwand, nebsteinem normalen Gewinn für ein gleichwerti-ges Kapital, ersetzt.“ So müsste nach AdamSmith ein Akademiker erwarten, das Doppel-te bis Vierfache einer Verkäuferin zu verdie-nen (obwohl die Verkäuferin dessen Ausbil-dung aus ihren Steuern mitfinanziert hat) –eine Summe, über die heutige Manager müdelächeln würden. Grundschullehrerinnen hin-gegen, die eine mindestens so anstrengendeund wertvolle Arbeit leisten wie Manager,müssen sich damit zufriedengeben.

Kurzum: die absolute und relative Höhevon Einkommen – und die daraus folgendeVerteilung von Wohlstand und Gesundheit,Einfluss und Macht – sind in demokratischenGesellschaften das Ergebnis politischer Ent-scheidungen. Es geht auch anders. Dies ist dieKernaussage des neuen Buchs von AnthonyAtkinson. Es heißt „Ungleichheit“ und reihtsich ein in eine Kette neuerer Untersuchun-

gen (man denke etwa an Joseph Stiglitz’ „DerPreis der Ungleichheit“, Mariana Mazzucatos„Das Kapital des Staates“ und vor allem Tho-mas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“),die den „Washingtoner Konsens“ in der Wirt-schaftspolitik – Deregulierung, Entstaatli-chung, Abbau von Sozialleistungen, Subven-tionen und Steuern, Primat der Geldwertsta-bilität – in Frage stellen.

Diese Politik habe zu einer „Ungleichheits-wende“ geführt, einer Spreizung der Einkom-men, bei der sich die oberen ein, zwei Prozentzu einer abgehobenen, neuen Aristokratieentwickeln, die unteren zehn bis 20 Prozentaber abgehängt werden, so der Befund dieserAutoren. So lange die Mittelschichten von derEntwicklung mitprofitierten, mochte die„Zweidrittelgesellschaft“ Akzeptanz findenund Kritik als „Sozialneid“ abgetan werden.Margaret Thatcher und Ronald Reagan ge-wannen ja Mehrheiten für ihre Politik. Dochwie selbst der „Economist“, Zentralorgan ei-nes marktliberalen Kapitalismus, kürzlichfeststellte: „65 bis 70 Prozent der Haushaltein den reichen Ländern erlebten zwischen2005 und 2014 einen Rückgang ihres realenEinkommens aus Lohn und Kapital“. Nurdurch Umverteilungsmaßnahmen des Staateskonnte die Zahl auf 20 bis 25 Prozent allerHaushalte gedrückt werden. Keine nachhalti-ge Ordnung des Wirtschaftsgeschehens.

Es muss sich vieles ändern, wenn alles blei-ben soll, wie es ist. Aber wie? Was hat Atkin-son zu bieten? Die Kernthesen des inzwi-schen über 70-jährigen Professors lauten ers-tens: „Nach meiner Überzeugung lässt sichdie Zunahme der Ungleichheit in vielen Fäl-len direkt oder indirekt auf Veränderungender Machtverhältnisse zurückführen“; undzweitens: „Wichtig sind Maßnahmen, die dieUngleichheit vor Steuern und staatlichenMaßnahmen reduzieren.“ Kurz: Gewerk-schaften und NGOs müssen eine „Gegen-macht“ bilden, damit Jobs besser bezahlt wer-den. Es geht nicht an, dass der Staat ständigausbügeln muss, was der Markt verbockt.

Das klingt nach einer klassischen sozialde-mokratischen Position, doch schon vor 110Jahren sagte Winston Churchill – keiner so-zialistischen Sympathien verdächtig – im Un-terhaus, es sei „ein nationales Übel, dass ir-gendeine Klasse Seiner Majestät Untertanenim Ausgleich für ihre Anstrengungen wenigerals einen zum Leben reichenden Lohn erhal-ten sollte“. Das führe nicht „zum Fortschritt,sondern zur fortschreitenden Degeneration“.Auch Churchills politische Enkelin TheresaMay verspricht „ein Großbritannien, dasnicht nur für die wenigen, sondern für die vie-len, nicht nur für die da oben, sondern auchfür die hier unten, nicht nur für die Starken,sondern auch für die Schwachen funktio-niert“, was ja das Zugeständnis beinhaltet, bisheute sei es nicht so.

Atkinson seinerseits ist ein Bewundererdes liberalen Politikers William Beveridge,der den Wohlfahrtsstaat in Nachkriegsgroß-britannien schuf. Beveridge und seine Nach-folger haben große Teile der britischen Wirt-schaft verstaatlicht und ruiniert. Das fordertAtkinson freilich nicht. Er ist auch nicht fürdie Kontrolle von Preisen und Löhnen, wie esdie US-Präsidenten Franklin D. Rooseveltund Richard M. Nixon gelegentlich prakti-zierten. Er tritt ein für einen höheren Spit-zensteuersatz, um Managern den Anreiz zunehmen, sich selbst immer höhere Gehälterzuzubilligen, einen höheren Grundsteuer-satz, um der Spekulation mit Immobilien ent-gegenzuwirken, eine Erhöhung des Mindest-lohns, mehr Kindergeld und was der Umver-teilungsvorschläge mehr sind. So könnteGroßbritannien, statt in Sachen Ungleichheitmit den USA mitzuziehen, wieder „im Mittel-bereich der OECD-Länder rangieren“. WieDeutschland also. Man fragt sich als deut-scher Leser, weshalb man 474 Seiten lesen

soll, um sich ein solches Programmerklären zu lassen.

Vier etwas radikalere Vorschlägehat Atkinson allerdings noch zu bie-ten, um der „Ungleichheitswende“entgegenzuwirken: Erstens ein ausder Vermögenssteuer zu finanzie-rendes „Erbe“ für jeden, der dieVolljährigkeit erreicht, um die Un-gleichheit in der Erbengesellschaftauszugleichen – ein Vorschlag, derimmerhin den Charme des Uner-probten hat. Zweitens die Schaf-fung eines „Wirtschafts- und Sozial-rats“, in dem – wie in Ludwig Er-hards „konzertierter Aktion“ – die„Sozialpartner“ vertreten sind, aberauch Konsumentenorganisationenund andere NGOs. Dieses Organder deliberativen Demokratie sollteallerdings nur beratende Funktionhaben; andere Theoretiker wie etwaDavid van Reybrouck gehen schonweiter und wollen die Parteien ganz

abschaffen. Drittens eine staatliche Jobgaran-tie für jeden Arbeitswilligen. Und viertens dieKonzentration der staatlichen Forschungs-förderung auf solche Innovationen, die Ar-beitsplätze schaffen und nicht zerstören.

Es sind diese letzten Vorschläge, die be-denklich stimmen. Zwar stimmt es, wie Ma-riana Mazzucato nachgewiesen hat, dass esweder das Internet noch das Smartphonenoch Google ohne staatliche Grundlagenfor-schung gegeben hätte. Aber man muss sichauch fragen, ob es diese revolutionären Dingeüberhaupt gegeben hätte, wenn Leute wie At-kinson die Forschung bestimmt hätten.

Atkinson scheint auch wenig aus dem Ver-sagen des Staates als Arbeitgeber gelernt zuhaben. Sein Buch widmet er „den wunderba-ren Menschen, die im National Health Servicearbeiten“ – dem von Beveridge geschaffenensteuerfinanzierten staatlichen Gesundheits-dienst. Wer das Pech hatte, dessen Leistun-gen in Anspruch nehmen zu müssen, weiß,dass man ein wunderbarer Mensch sein muss,um in einem derart dysfunktionalen Systemzu funktionieren. Inzwischen haben über 20Prozent der Briten eine private Zusatzversi-cherung abgeschlossen, um sich Leistungenzu sichern, die in Deutschland auch für Kas-senpatienten selbstverständlich sind, wiefreie Arztwahl, Behandlung durch Spezialis-ten auch außerhalb eines staatlichen Kran-kenhauses, Übernahme von Zahnarztkostenund Krankenhausaufnahme nach Bedürftig-keit, nicht nach Warteliste.

Die Ungleichheit ist ein Problem, keineFrage, und nicht nur in den angelsächsischenLändern. Aber zurück zu den Zeiten, als Fuß-baller für 20 Pfund kickten und die Beatlesüber den „Taxman“ klagten, der 19 Shillingaus jedem verdienten Pfund kassierte? Esmuss anders gehen. Nostalgie ist auch keineLösung.

Anthony Atkinson: Ungleichheit. Was wirdagegen tun können. A. d. Engl. v. HainerKober. Klett-Cotta, Stuttgart. 474 S., 26,95 €.

Warum soll nicht jeder erben dürfen?

Anthony Atkinson, der Mentor von Thomas Piketty,sucht Rezepte gegen die Ungleichheit U Alan Posener

Spezialist für Einkommensverteilung: Anthony Atkinson,Jahrgang 1944, gehört zu den führenden Ökonomen weltweit

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E s soll ja Schriftsteller geben, bei denen istdas so. „Sie werden immer nur eine Ge-schichte haben. Sie werden diese Ge-schichte auf vielerlei Weise schreiben. Las-sen Sie sich davon nicht nie irre machen.

Sie haben nur eine Geschichte.“ Das hat Sarah Paynegesagt, die ist Schriftstellerin und lehrt Schreiben.Und Lucy Barton, die Schriftstellerin werden, ihre Ge-schichte erzählen will, hat das gehört. Da ist sie sich si-cher. So sicher wie sonst über beinahe Nichts in „DieUnvollkommenheit der Liebe“, der Geschichte der Lu-cy Barton, die Elizabeth Strout aufgeschrieben hat.

Unsicherheit ist eine der Konstanten im Leben der LucyBarton, die in New York lebt, aber in ärmlichsten Verhältnissen amRande der Gesellschaft aufwuchs, in einem auch geografisch ziem-lich abseits liegenden Kaff in Illinois. Weswegen der Originaltitel„My Name is Lucy Barton“ in seiner ganzen geradezu trotzigen Set-zung der bessere Titel war für den fünften Roman der in Kleinstädt-chen von Maine und Vermont aufgewachsenen New Yorker Pulitzer-Preisträgerin von 2009. „Die Unvollkommenheit der Liebe“ aller-dings passt insofern, als diese Liebes- und Gefühlsunvollkommen-heit die andere von mehreren Wurzelwegen der Erzählung ist unddie wiederum ziemlich nahe am Kitsch gebaut ist. Was man, da istElizabeth Strout doch sehr geschickt, natürlich nicht Strout vorwer-fen kann, sondern Lucy. Man soll nämlich, auch das lehrt Sarah Pay-ne (diesmal ihre Leser), die Stimme des Autors um Himmels Willennie mit der des Erzählers verwechseln. Sagt ja alles Lucy Barton.

Was sie sagt, ist Folgendes. Alles beginnt in einem New YorkerKrankenhaus. Lucy ist allein, wir sind Mitten in den Achtzigern,draußen bricht gerade Aids aus, Lucys Kinder sind sehr klein, ihrMann hat eine durchaus nachvollziehbare Krankenhausallergie. Manhat ihr den Blinddarm entfernt. Dann hat sie Fieber bekommen. Esist ein geheimnisvolles Fieber. Neun Wochen liegt Lucy da, dann istes weg. Es hat andere als körperliche Ursachen; da ist eine dunkleStelle in der Geschichte der Lucy Barton, die sie nicht uns erzählt,

sondern ihrem Arzt. Einem gütigen, gütigen Mann, in densich Lucy leicht verliebt. Sie verliebt sich gern. Und gütig,gütig sagt sie gern. Sie ist eine mit Intellektualismus und Er-zähltheorie in der Wolle gefärbte Pilcher-Figur. Aber dasdeuteten wir ja schon an.

Und dann, eines Tages, als sie den Kopf vom Fenster wen-det, durch das man, wenn man nicht schlafen kann – und Lu-cy schläft schlecht – einen herrlichen Blick auf die Lichtbö-gen des Chrysler Buildings hat, sitzt Lucys Mutter am Bett.Wie ein Gespenst aus uralten Tagen sitzt sie da. Sie ist zumersten Mal geflogen. Zum ersten Mal Taxi gefahren. Jetztsitzt sie da, kann noch immer nicht sagen, dass sie ihre Toch-

ter liebt (das kann die umgekehrt auch nicht – eine der unvoll-kommenen Lieben der Geschichte der Lucy B.). Und erzähltGeschichten. Wie eine andere Scheherazade. Fünf Tage, fünf

Nächte. Geschichten von Menschen, die Lucy von damals kennenkönnte, von ausnahmslos scheiternden Ehen.

Das beruhigt Lucy nicht sehr. Ihre Ehe kriselt auch. Am Ende wirdsie gescheitert sein. Lucy strahlt mit ihrer sanften Leuchte durch ihrLeben, in dem Bücher die beste Waffe gegen das Alleinsein stellten.In dem es immer um Ausgrenzung ging. Immer ums Überwinden derEinsamkeit, ums Dazugehören, ums Zulassen und Erzählen von Ge-fühlen, um Wahrhaftigkeit. Nazis kommen vor, Albträume aus demHolocaust, und Aids, Missbrauch, Heimat und New York und – alsman schon anfing ihn zu vermissen – der 11. September. Lucy erzählt,als säße sie in der Krankenhaus-Cafeteria beim Filterkaffee neben ei-nem. Was natürlich so nicht sein kann. Aber Sätze erklärt, die halt sosind: „Ein Hotelzimmer kann etwas Trostloses sein. Mein Gott, kannes trostlos sein.“ Oder Weisheiten von diesem Schlag enthalten: „Le-ben, denke ich manchmal, heißt Staunen.“

Ist halt Lucy Bartons Geschichte. Die Bücher von Lucy Barton, diediese Geschichte vermutlich wieder und wieder erzählen, gibt es na-turgemäß nicht. Und irgendwie ist man am Ende dieses Lebensbe-richts, dieser tragisch verbauten Frauenseele ziemlich überzeugt da-von, dass das wahrscheinlich auch ganz gut so ist. Elmar Krekeler

KURZKRITIK

Die Dichterin spricht

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Luchterhand, München. 208 S., 18 €.

Christoph Bartmann: Die Rückkehr der Diener. Hanser, München. 288 S., 22 €.

D ie Verhältnisse sind erbärmlich,die Häuser voller Ungeziefer,Wanzen, Schaben und doch bis indie Bodenkammern hinein vonMenschen bewohnt. Sieben- oder

auch zwölfköpfige Familien teilen sich eine Stu-be und manchmal auch das Bett. Schlafplätzegibt es also im Schichtwechsel – und Arbeit ge-nerell nur zu miesen Pfennigstundenlöhnen.

Slums, wie wir sie heute in Brasilien oderBangladesch besichtigen, beherrschten dasDeutschland, das der 1902 bei Riga geborene

und 1972 in Düsseldorf begrabene AlexanderGraf Stenbock-Fermor im Jahr 1930 bereiste.Der „rote Graf“, wie man ihn nannte, hatte alsStudent ein Jahr als Bergmann bei Thyssen inDuisburg gearbeitet. Später wurde er Reporterder „Frankfurter Zeitung“ und schrieb das Un-terschichtpendant zu Siegfried Kracauers be-rühmter Schrift „Die Angestellten“, sprich eineMilieukunde im Geist und Stil der Neuen Sach-lichkeit.

„Deutschland von unten“, im Original 1931 er-schienen, bedachte zwar auch die urbanen Zen-

tren, die Lumpenproletarier in Berlin, das Bor-sigwerk in Hindenburg/Oberschlesien (unten,ganz rechts) oder die mitteldeutschen „Leuna-proleten“. Doch die wahren Missstände ortetedas Buch in den deutschen Mittelgebirgen.Heimarbeit in der erzgebirgischen Spielzeugin-dustrie, die vom Kind bis zur Greisin auf jedeSchnitzerhand angewiesen war (links). Das Bildder Frau – ob als „Lieferheldin“ im thüringi-schen Lauscha (oben) schwindsüchtig in derKorbflechterwerkstatt (oben) – erschüttert indiesem Buch besonders. Im Thüringer und

Frankenwald saß die globale Puppenindustrie,Woolworth aus Amerika ließ hier produzieren,es herrschte globaler Drückerlohnwettbewerb.

Die Heimarbeiter, schrieb die „Vossische Zei-tung“ damals, seien „die Ärmsten des Proletari-ats“, „die Versprengten des Klassenkampfes, dienoch nicht den Hauch einer neuen, kommen-den, besseren Zeit verspürt haben“. „Wir wis-sen, dass es nur einen einzigen Weg aus diesemDreck und zur Zukunft gibt“, fauchte der „Völ-kische Beobachter“. Stenbock-Fermor hört imDorfgasthaus mit, wie die Nazis in der Provinz

bereits Zulauf bekommen. Christian Jäger undErhard Schütz haben die Elendsreportage mit-samt ihren 62 historischen Fotografien neu he-rausgegeben. Sie bietet eine Zeitreise in die Ver-gangenheit, die den Blick für die Gegenwartschärft. Denn eines ist klar: Heimarbeiter, dieSpielzeugpuppen jahrein, jahraus die Augeneinsetzen, gibt es auch heute noch; ihre Arbeitfindet global nur woanders statt.

Alexander Graf Stenbock-Fermor: Deutschlandvon unten. VBB, Berlin. 240 S., 22 €.

Die berühmteste Sozialreportage der Weimarer Republikdeckte das Elend der Unterschicht in der Heimindustrieauf. Jetzt erscheint der Bericht neu U Marc Reichwein

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