Was hilft's dem Pfaffen-Orden 235

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Katharina Mommsen. Goethe und D iez, Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche, Berlin, Akademie.Verlag. 1961 (= Sitzungsbe.richte der D eutschen Akademie der Wissenschaften zu Bcrlin, Klasse f. Sprachen, Literatur und Kunst, Jg. 1961, Nr. 4), S. 8-11, S. 14-16, S. 186-200. "WAS HILFT'S DEM PFAFFEN-ORDEN" Von KA THARINA MOMMsEN Wir sprachen schon davon, daß Diez in seiner Eigenschaft als "Liebhaber" von der Fachwissenschaft heftig angegriffen wurde. Diese Angriffe führten zu einem großen, Aufsehen erregenden Gelehrtenstreit, zu der berühmten, wahrhaft überdimensionale Maße annehmenden Fehde mit Joseph von Hammer. Was sich historisch hier abspielte, müssen wir uns umrißweise vor Augen führen, da es Goethes Verhältnis zu Diez maßgeblich mit beein- flußt hat und in unseren Ausführungen über die Gedichte immer wieder eine Rolle spielen wird. Diez war zur Mitarbeit an den Fundgruben des Orients einge- laden worden, die 1809 in Wien zu erscheinen begannen. Er sandte auch Beiträge ein, von denen zwei im ersten Band der Zeit- schrift verö'ffentlicht wurden!. In dem ersten dieser Beiträge kriti- sierte Diez eine 1770 erschienene Schrift D.-D. Cardonnes. Ver- mutlich um den "Liebhaber" wegen dieses übergriffs in die Schranken zu weisen 2 , bekrittelte nun Hammer als Orientalist 1 Fundgruben Bd. I (1809), S.249-74: "Ermahnung an Islambol, oder Strafgedicht des türkischen Dichters Uweissi über die Ausartung der Osmanen." S. 397-99: "Was ist der Mensch? aus dem Türkisch-Ara- bischen des Kjemal Pascha Sade." Diez' Beiträge sind die einzigen, deren Titel im Inhaltsverzeichnis der Fundgruben S. 467 f. nicht aufgeführt wurden! Sie sind durch schwere Druckfehler entstellt, was berechtigter- weise Di ez' Unwillen hervorrief. So fehlt im Titel des ersten der ge- nannten Beiträge der Name des Dichters Uweissi; statt "aus dem Türki- schen" heißt es ebd. "aus dem Deutschen"! 2 Vgl. Unfug und Betrug S. 485. - "Unfug und Betrug in der morgen- ländischen Litteratur nebst vielen Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften." Erschien als An- hang zu Diez' DA 11. Hier zitiert als: Unfug und Betrug. "Was hilft's dem Pfaffen-Orden" 235 Diez' Fundgruben-Beiträge. Er setzte ohne dessen Wissen im Namen der "Herausgeber" - anonym also - eine Anzahl pole- mischer Anmerkungen unter Diez' Text. Damit war die Fehde eröffnet. Diez nahm den Angriff nicht hin, sondern verfaßte als Antwort eine kurze Entgegnung 3 Hammer fuhr daraufhin fort, gegen Diez in den Fundgruben zu polemisieren 4 Diez wiederum griff Hammers Freund und Lehrer, .den Wiener Orientalisten Thomas v. Chabert, an im ersten Teil seiner Denkwürdigkeiten von Asien (1811)5. Hammer und Chabert revanchierten sich, indem sie mehrere in der Sache vernichtende, im Ton verächtliche Rezensionen von Diezschen Schriften in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zei- tungS sowie in der Wiener Allgemeinen Literatur-Zeitung 7 ver- öffentlichten. Inzwischen erschien ihnen Diez durch das Unter- nehmen seiner Denkwürdigkeiten von Asien auch als ein ernst zu 3 Auf eigene Kosten druckte er: "Widerlegung der 7 Noten, welche von den H. H. Herausgebern der Fundgruben des Orients, Stück III z. Uebersetzung des Gedichts von Uweissi [Bd. I] S.249'-274 gemacht wurden, nebst Verzeichniß der Druckfehler, wodurch d. Uebersetzung und der Original-Text des Gedichts entstellt worden." (8 Seiten ohne Titelblatt, im Großfolioformat der Fundgruben.) Diez forderte die Auf- nahme dieser Entgegnung in die Fundgruben, was jedoch abgelehnt wurde. (Fundgruben Bd. I S. 463, "Schlußrede" der "Herausgeber".) Er ver- öffentlichte dann das Uwei ssi -Gedicht nochmals zusammen mit seiner Ent- gegnungsschrift in Quartformat (Berlin 1811). Vgl. Unfug und Betrug S.487. 4 Vgl. Fundgruben Bd. I (1809) S. 463 f.; Bd. 2 (1811) S. 271; Bd. 3 (1813) S. 51. 69. 5 DA I S. 244. - Vgl. Goethes Notiz: "Thomas Chabert gescholten von Diez Denkw. I. 244." (AA 3 S. 156.) 6 JALZ (= Jenaische Allgemeine Litteratur-Zeitung) Jan ,uar 1813. Auf- schluß darüber, welche Partien der hier und in der folgenden Anmerkung genannten Rezensi onen nicht von Hammer, sondern von Chabert stam- men, gibt eine Tabelle Hammers in Fug und Wahrheit (s. unten Anm. 7 a). 7 Wien er Allgemeine Literatur-Zeitung 2. und 5. Februar .1813 (über DA I), 14. Mai 1813 (über das Buch Kabus), 6. Juli 1813 (über das Königliche Budl), 16. Mai 1815 (über Wesentliche Betrachtungen des Resmi Achmed Effendi).

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Katharina Mommsen. Goethe und D iez, Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche, Berlin, Akademie.Verlag. 1961 (= Sitzungsbe.richte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu

Bcrlin, Klasse f. Sprachen, Literatur und Kunst, Jg. 1961, Nr. 4), S. 8-11, S. 14-16, S. 186-200.

"WAS HILFT'S DEM PFAFFEN-ORDEN"

Von KA THARINA MOMMsEN

Wir sprachen schon davon, daß Diez in seiner Eigenschaft als "Liebhaber" von der Fachwissenschaft heftig angegriffen wurde. Diese Angriffe führten zu einem großen, Aufsehen erregenden Gelehrtenstreit, zu der berühmten, wahrhaft überdimensionale Maße annehmenden Fehde mit Joseph von Hammer. Was sich historisch hier abspielte, müssen wir uns umrißweise vor Augen führen, da es Goethes Verhältnis zu Diez maßgeblich mit beein­flußt hat und in unseren Ausführungen über die Gedichte immer wieder eine Rolle spielen wird.

Diez war zur Mitarbeit an den Fundgruben des Orients einge­laden worden, die 1809 in Wien zu erscheinen begannen. Er sandte auch Beiträge ein, von denen zwei im ersten Band der Zeit­schrift verö'ffentlicht wurden!. In dem ersten dieser Beiträge kriti­sierte Diez eine 1770 erschienene Schrift D.-D. Cardonnes. Ver­mutlich um den "Liebhaber" wegen dieses übergriffs in die Schranken zu weisen2, bekrittelte nun Hammer als Orientalist

1 Fundgruben Bd. I (1809), S.249-74: "Ermahnung an Islambol, oder Strafgedicht des türkischen Dichters Uweissi über die Ausartung der Osmanen." S. 397-99: "Was ist der Mensch? aus dem Türkisch-Ara­bischen des Kjemal Pascha Sade." Diez' Beiträge sind die einzigen, deren Titel im Inhaltsverzeichnis der Fundgruben S. 467 f. nicht aufgeführt wurden! Sie sind durch schwere Druckfehler entstellt, was berechtigter­weise Diez' Unwillen hervorrief. So fehlt im Titel des ersten der ge­nannten Beiträge der Name des Dichters Uweissi; statt "aus dem Türki­schen" heißt es ebd. "aus dem Deutschen"!

2 Vgl. Unfug und Betrug S. 485. - "Unfug und Betrug in der morgen­ländischen Litteratur nebst vielen Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften." Erschien als An­hang zu Diez' DA 11. Hier zitiert als: Unfug und Betrug.

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Diez' Fundgruben-Beiträge. Er setzte ohne dessen Wissen im Namen der "Herausgeber" - anonym also - eine Anzahl pole­mischer Anmerkungen unter Diez' Text. Damit war die Fehde eröffnet. Diez nahm den Angriff nicht hin, sondern verfaßte als Antwort eine kurze Entgegnung3• Hammer fuhr daraufhin fort, gegen Diez in den Fundgruben zu polemisieren4• Diez wiederum griff Hammers Freund und Lehrer, .den Wiener Orientalisten Thomas v. Chabert, an im ersten Teil seiner Denkwürdigkeiten von Asien (1811)5.

Hammer und Chabert revanchierten sich, indem sie mehrere in der Sache vernichtende, im Ton verächtliche Rezensionen von Diezschen Schriften in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zei­tungS sowie in der Wiener Allgemeinen Literatur-Zeitung7 ver­öffentlichten. Inzwischen erschien ihnen Diez durch das Unter­nehmen seiner Denkwürdigkeiten von Asien auch als ein ernst zu

3 Auf eigene Kosten druckte er: "Widerlegung der 7 Noten, welche von den H. H . Herausgebern der Fundgruben des Orients, Stück III z. Uebersetzung des Gedichts von Uweissi [Bd. I] S.249'-274 gemacht wurden, nebst Verzeichniß der Druckfehler, wodurch d. Uebersetzung und der Original-Text des Gedichts entstellt worden." (8 Seiten ohne Titelblatt, im Großfolioformat der Fundgruben.) Diez forderte die Auf­nahme dieser Entgegnung in die Fundgruben, was jedoch abgelehnt wurde. (Fundgruben Bd. I S. 463, "Schlußrede" der "Herausgeber" .) Er ver­öffentlichte dann das Uweissi-Gedicht nochmals zusammen mit seiner Ent­gegnungsschrift in Quartformat (Berlin 1811). Vgl. Unfug und Betrug S.487.

4 Vgl. Fundgruben Bd. I (1809) S. 463 f.; Bd. 2 (1811) S. 271; Bd. 3 (1813) S. 51. 69.

5 DA I S. 244. - Vgl. Goethes Notiz: "Thomas Chabert gescholten von Diez Denkw. I. 244." (AA 3 S. 156.)

6 JALZ (= Jenaische Allgemeine Litteratur-Zeitung) Jan,uar 1813. Auf­schluß darüber, welche Partien der hier und in der folgenden Anmerkung genannten Rezensionen nicht von Hammer, sondern von Chabert stam­men, gibt eine Tabelle Hammers in Fug und Wahrheit (s. unten Anm. 7 a).

7 Wien er Allgemeine Literatur-Zeitung 2. und 5. Februar .1813 (über DA I), 14. Mai 1813 (über das Buch Kabus), 6. Juli 1813 (über das Königliche Budl), 16. Mai 1815 (über Wesentliche Betrachtungen des Resmi Achmed Effendi).

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nehmender Konkurrent. Das wird ersichtlich aus Hammers Rezen­sion vom 2. Februar 1815 in der Wiener Allgemeinen Literatur­Zeitung.

In den Denkwürdigkeiten von Asien, so heißt es dort (5. 148), unter­nähme Diez, "für seine Bibliothek und für die orientalischen Studien ganz allein zu leisten, was in Calcutta die Asiatic researches, in England die Oriental Collections, in Frankreich die Notices et extraits de la biblio­theque du Roi (depuis Imperiale), in Deutschland Herrn Hofraths Eichhorn vortreffliche Werke das Repertorium und die Bibliothek, und jüngst die Fundgruben des Orients zu Wien, durch gemein­sames Bestreben, der orientalischen Literatur zu leisten sich vorge­setzt. In so weit ist des Hrn. Verf. Absicht sehr löblich, und dieß um so mehr, als er die Kosten der Auflage aus Eigenem übernommen, und hierdurch dem Herrn Grafen von Rzewuski, der bisher die Auslagen der Fundgruben gedeckt, rühmlich nachgeeifert hat."

Auf Hammers und Chaberts Rezensionen erteilte Diez nun eine Antwort, die in ihrer Form etwas Einzigartiges darstellt. Er ver­öffentlichte Ende 1815 einen polemischen Anhang zum zweiten Teil seiner Denkwürdigkeiten von Asien, ,der den sagenhaften Umfang von 600 enggedruckten Seiten hatte. Waren die Kritiken der Wiener zynisch verächtlich geschrieben, so erwiderte Diez grob verächtlich: wie an Umfang, so sucht seine Streitschrift Unfug und Betrug auch an Derbheit ihresgleichen. Satz für Satz werden darin Hammers und Chaberts Ausführungen zitiert und mit umständ­licher Gegenargumentation bekämpft.

Hammer beantwortet Unfug und Betrug sehr bald. März 1816 veröffentlichte er die Gegenschrift Fug und Wahrheit7a ; sie erschien in einer Wiener Zeitschrift. Doch gab Hammer sie auch als Sonder­druck heraus. Es ist ein kurzer Aufsatz von pamphletartigem Cha­rakter. Der Boden des Sachlichen wird darin verlassen, die Pole­mik fast ganz ins Persönliche hinübergespielt. Der Akzent liegt auf den sich häufenden Schimpfworten. [ ... ]

7. J. v. Hammer: Fug und Wahrheit in der morgenländischen Littera­tur, nebst einigen wenigen Proben von der feinen Gelehrsamkeit des Herrn von Diez zu Berlin in Sprachen und Wissenschaften. In: Archiv f. Geogra­phie, Historie, Staats- und Kriegskunst. Wien 1816. Nr.35 u. 36. Hier zitiert als: Fug und Wahrheit.

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Die Fehde zwischen" Hammer und Diez verfolgte Goethe -wie wir genau wissen, seit Herbst 1814 - mit größtem Interesse. Sie wurde recht eigentlich die Ursache dafür, daß er für die Per­son von Diez jene menschliche Zuneigung faßte, die aus den spär­lichen persönlichen Kontakten nicht allein hätte resultieren kön­nen. Wiederum spielten hier, ähnlich wie wir es bei dem Interesse für Sprüche sahen, aktuelle Momente eine ausschlaggebende Rolle. In diesem Fall waren es bestimmte trübe Erfahrungen, wie sie Goethe als Autor gerade in den damaligen Jahren gemacht hatte. Gleich Diez war auch Goethe in seiner Eigenschaft als "Liebhaber" soeben im Bereich der Wissenschaft von den professionellen Ver­tretern eines Faches heftig attackiert worden. Das kritische Echo auf seine 1810 erschienene Farbenlehre, dies ihm so besonders am Herzen liegende Werk, war in deprimierender Weise negativ aus­gefallen. Einzig Goethes Vorsatz, sich nicht in Kontroversen ein­zulassen, war es zu verdanken, wenn er nicht mit den Vertretern der Wissenschaft in einen ähnlichen offenen Konflikt geriet wie Diez. Alle Voraussetzungen waren sonst gegeben. Stärker als sein begreiflicher Wunsch, zurückzuschlagen, war Goethes Abneigung gegen einen Federkrieg, der selbst unter bedeutenden Männern nur zu oft, ja fast unvermeidlich auch mit der Waffe persönlicher Be­leidigungen ausgefochten zu werden pflegt.

In dieser Situation faszinierte ihn das Schauspiel des von den Fachleuten verfolgten "Dilettanten" auf einem Gebiet, dem er selbst soeben als Dichter des Divan sein volles Interesse zuge­wandt hatte. Handelte es sich doch bei den Angriffen Hammers nicht nur darum, Diez im einzelnen Irrtümer nachzuweisen, son­dern dessen gesamte Leistungen praktisch zu annullieren. Er sprach ihm prinzipiell Sprach- und Sachkenntnis ab und erklärte seine übersetzungen für fehlerhaft und stilistisch schwerfällig. Wenn Diez sich mit Ehrlichkeit, aber deutlichem Selbstbewußtsein als "Liebhaber" bezeichnet hatte, so versäumte Hammer nicht, stolz seinerseits den "Orientalisten" hervorzukehren8• Alles dies hatte

8 So JALZ Januar 1813, Nr. 8 und 9 und in Fug und Wahrheit (s. S. 236); vgl~ auch Hammers Freund Thomas v. Chabert in JALZ No­vember 1816, Nr. 211.

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in Goethes Erfahrungen mit den Naturwissenschaftlern In Sachen der Farbenlehre seine Parallele.

In Goethes Divan-Epoche entstanden eine ganze Reihe von Spruchgedichten, deren Quellen sich in den Kritiken der Wiener Orientalisten und in Diez' Antikritik finden. Man versteht diese Gedichte erst dann in vollem Umfang, wenn man sich vor Augen führt, daß Goethe den Hammer-Diez-Streit mit der persönlichen inneren Beteiligung dessen ansah, der Ahnliches erlebt hatte. Wenn er sich auch der aktiven Parteinahme enthielt, so war ihm doch für die Person des angegriffenen Berliner "Liebhabers" eine ver­ständliche, echte Sympathie erwachsen.

Man hat bisher den Sinn der auf den Hammer-Diez-Konflikt anspielenden Gedichte - auch in den Zahmen Xenien gibt es nicht wenige - nur darin finden wollen, daß Goethe hier die "Silben­stecherei" der Philologen verspotten wollte (Burdach)9. Aber da­mit ist viel übersehen worden. Zwar hatte der Hammer-Diez­Streit für Goethe auch diesen Aspekt: typisches Beispiel zu sein für jene Art von Polemik, die Goethe perhorreszierte, vor der er auch Freunde vielemal warnte10• Insofern sagen die betreffenden Spruch­gedichte allerdings manches ironische Mahnwort, an beide Parteien gleicherweise gerichtet und darüber . hinaus ins Allgemeingültige pädagogisch deutend. Daneben zeichnet sich aber etwas anderes ab. Viele dieser Gedichte enthielten, für den Kenner der intimeren Zu­sammenhänge, auf jeden Fall für die Hauptbeteiligten jenes Streits ohne weiteres verständlich, für die übrigen Leser vielleicht verbor­gener, deutliche Bekundungen der Sympathie für Diez. [ ... ]

9 Zu "Wanderers Gemüthsruhe" im Buch des Unmuts: Jub. Ausg. 5 S.362.

10 So riet er einmal dem jungen Heinrich Voß dringend, den Angriff eines Rezensenten nicht mit "Leidenschaft" zu erwidern: "Glauben Sie mir, ... er wird sich mehr ärgern, wenn Sie sich durch Ruhe eine Supe­riorität gegen ihn beilegen ... Dazu, sagte er endlich, sind wir Alten ja da, daß wir die Jugend vor Unbesonnenheiten warnen; als wir jung waren, machten wir es selbst nicht besser, aber es hat uns Verdrießlich­keiten zugezogen in zahlloser Menge." Vgl. Momme und Katharina Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken. Bd. I. Berlin 1958, S. 109 (Artikel "Antwort des Recensenten").

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Inspiriert durch Lektüre der DA II zu Anfang des Jahres 1816 schrieb Goethe eine Reihe von Gedichten für den West-öst­lichen Divan. Prüft man nach, aus welchen Abschnitten des Diez­schen Buches die meisten An(egungen stammen, so erweist es sich, daß ein Kapitel bei weitem Vorrang hat. Es ist das fünfte, das längste Kapitel innerhalb der DA I und II (es umfaßt 135 Druck­seiten): "Spiegel der Länder oder Reisebeschreibung des Admirals Kjatibi Rumi zu Wasser und zu Lande." Neben dem Buch Kabus ist diese Schrift wohl das Wertvollste, was Diez übersetzt hat. Von den neun Divan-Gedichten, die nach bisherigem Forschungs­stand auf den DA II beruhen, haben sieben ihren Ursprung in Kjatibi Rumi's Spiegel der Länder. Wir werden uns mit dem Werk eingehender zu beschäftigen haben, da es noch wichtige Aufschlüsse für Dichtung, Entwürfe und Paralipomena des West­östlichen Divan bietet.

Zuerst ist hier eines Gedichtes aus dem Buch der Sprüche zu ge­denken, um dessen Erklärung man sich vielfach vergeblich be­mühte, weil man seine Quelle nicht kannte. Es handelt sich um den Vierzeiler:

Was hilft's dem Pfaffen-Orden Der mir den Weg verrannt? Was nicht gerade erfaßt worden Wird auch schief nicht erkannt.

Das Gedicht wird in den Ausgaben datiert: 27. Januar 1816, weil die beiden letzten Verse auf einem Blatte stehen, das jenes Datum trägt. Auf diesem Blatt befinden sich noch viele andere Aufzeichnungen von Goethes Hand: Spruchartiges, eine Reihe orientalischer Städtenamen etc. Wir werden unten zeigen, daß es sich dabei um lauter Exzerpte aus immer demselben Kapitel der DA II handelt: aus Kjatibi Rumi's Spiegel der Länder. Schon am 21. Januar 1816 verzeichnet Goethes Tagebllch abendliche Lektüre dieses Werks: "Nach Indien verschlagener Osmanischer Staatsmann und Dichter in Diezens Merkwürdigkeiten", heißt es da, und weiter am 28. Januar: "Abends übersetzung des Spiegels der Länder von Diez". Das Blatt mit den Aufzeichnungen vom 27. Januar 1811> lehrt, daß Goethe sich auch in der Zwischenzeit mit dem Spiegel der Länder befaßte. Ob der Vierzeiler vom

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" Pfaffen-Orden " noch vom 27. Januar stammt, dem Tag, an dem die Exzerpte notiert wurden, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Vielleicht wurde er kurz danach, möglicherweise gemeinsam mit dem Gedicht "Bist du von deiner Geliebten getrennt" am 31. Ja­nuar 1816 verfaßt.

An dem Pfaffenorden-Gedicht läßt sich, wie die Divan-Kom­mentare zeigen, rätseln und deuten. Man fragte sich, welchen "Pfaffenorden" Goethe im Sinne hatte, worauf die merkwürdigen letzten Verse zielen und was die Ausdrücke "gerade" und "schief" hier wohl bedeuten.

Unter dem Pfaffen orden hat man zunächst Goethes Gegner aus dem Lager der römischen Konvertiten verstanden. Man dachte an die Maler dieser Richtung und an die Dichter Friedrich Schlegel, Zacharias Werner und Stolberg. Goethes Kunstrichtung, so interpretiert G. v. Loeper, "wurde von ihnen, als Protestanten, nicht gerade, von ihnen als Katholi­ken schief beurteilt11." Düntzer dagegen meinte: "Die Frommen, die gegen Goethe zu Felde gezogen, haben nichts gegen ihn ausgerichtet, da sie ganz schief ihn angesehen und darum gar nicht erkannt haben." Die beiden letzten Verse seien "als allgemeiner Satz zu nehmen, daß das schiefe Anblicken uns am wenigsten die Dinge erkennen läßt"12. IBur­dach dachte bei dem "Pfaffenorden" auch an die Naturphilosophen unter den neueren Mystikern13 ; 'Ermatinger interpretiert "schief" als "ver­worrene Mystik", "gerade" als "klaren Verstand" und sah in dem Spruch Polemik gegen die katholisierenden Romantiker14. Beutler bezieht den Vierzeiler allein auf die theologischen Gegner Goethes15. Weitz macht mit Recht darauf aufmerksam, bei Goethe finde sich die Bezeichnung "Pfaffen" ausgedehnt "auf jedes herrschsüchtig-geistbeengende Zunft- und Klüngelwesen"16. Man möge denken an Wortzusammensetzungen wie "Philister-Pfaffen" oder "Geschmäckler Pfaffen"17. Rychner greift das in früheren Kommentaren Gesagte wieder auf und erklärt den Spruch als

11 WD hg. von G. v. Loeper. Berlin 1872. S. 101. 12 Düntzer Er!. zum WD. Leipzig 1878. S. 300 f. 13 Jub. Ausg. 5 S. 367.

14 Ermatinger Anmerkungsband zur Alt'schen Goethe-Ausg. S. 201. 15 WD hg. von E. Beutler. Bremen 1956. S. 519 (1. Auf!. Leipzig 1945,

S. 513).

16 WD hg. von H.-J. Weitz. LeipziglWiesbaden. 1949 u. öfter. S. 545. 17 Zahme Xenien 7, V. 250; "Mag jener dünkelhafte Mann" V. 6.

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gerichtet "gegen übertreibende romantische Frömmelei und naturphiloso­phische Spekuliersucht"18.

Sehen wir uns die Quelle des Gedichtes an, so werden sich auch für seine Deutung weitere Wege eröffnen. Wie bei vielen anderen Entlehnungen aus Diez' Schriften schöpft Goethe auch hier aus türkischem Bereich. Der Spiegel der Länder, der die Anregung gab, ist das Werk eines osmanischen Staatsmanns und Admirals aus dem 16. Jahrhundert. Der Verfasser, Mir Sidi Aly, - als Schriftsteller nannte er sich Kjatibi Rumi - war ein hoher Beamter des Sultans Soliman 11. (1520-1566), ein gewandter Diplomat, tapferer Krie­ger und berühmter Seeheld. Zudem war er ein in Astronomie und anderen Wissenschaften unterrichteter Mann, und schließlich -ein Dichter. Alles in allem eine Persönlichkeit, die Goethes Inter­esse erregen konnte, zumal die vielerlei Vorzüge des Mannes durchaus seinem Werk zustatten gekommen sind, das noch heute nach über 400 Jahren lesenswert ist.

Geschrieben wurde es als eine Art Rechenschaftsbericht für Soli­man II. Dieser hatte den Verfasser 1553 zum Admiral von Kgyp­ten ernannt mit dem Auftrag, von Aleppo nach Bassora zu gehen, um die im dortigen Hafen befindliche Galeerenflotte durch den Persischen Golf ins Rote Meer nach Suez zu führen. Der Auftrag scheitert an drei großen Angriffen der überlegenen portugiesischen Flotte. Der Rest der türkischen Galeeren gerät in Seenot, wird von der Küste Arabiens abgetrieben in Richtung auf die Küsten von Persien und Indien. Das letzte Schiff zerschellt in einem Seesturm. Der Admiral muß mit dem Rest der Mannschaft die Reise zu Fuß fortsetzen. Dabei gerät er ständig in Bedrängnis und Abenteuer. Immer treten neue Hindernisse in den Weg, die die Rückkehr ins Vaterland verhindern. So dauert die Reise volle vier Jahre (1553 bis 1556) und führt durch so viele Länder des Orients, "daß wenige sie ihm nachthun werden", wie Diez bemerktl~.

Als interessante "Reisebeschreibung" hat Diez denn auch Kjatibi Rumis Schrift übersetzt. Für Goethe kamen noch weitere Quali­täten hinzu, wenn er für das Werk eine so ausgeprägte Vorliebe

18 WD hg. von.M. Rychner. Zürich 1952. S. 482. 19 DA II S. 137.

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faßte. Sind es doch ·wahrhafte Odysseus-Schicksale, die darin er­zählt werden. An Odysseus erinnert auch des Verfassers Charak­ter. Mit der Standhaftigkeit eines echten Helden erduldet er das Unerträgliche, Weisheit und List helfen ihm und seinen Gefährten, alle Gefahren zu besiegen, in seinem Handeln zeigt sich eine ge­niale Natur, die instinktiv immer das Richtige tut.

Daß Kjatibi Rumis Bericht vielfach dichterische Züge auf­weist, ist ein weiterer Umstand, der Goethes Anteilnahme hervor­rufen konnte. Nicht nur hat das Schildern im Spiegel der Länder dichterische Lebendigkeit, es begegnen auch auf Schritt und Tritt wirkliche poetische Einlagen. Es sind Gedichte aus dem Stegreif, die Kjatibi Rumi unterwegs verfaßt. Oft meistert er gerade mit ihnen besonders schwierige Situationen. Vorherrschend ist in die­sen Gedichten ein betont gnomischer Charakter. Endlich liebt der Verfasser reichlich Sprichwörter einzustreuen, auch wohl sentenz­artige Zitate berühmter Dichter. Und von hier sehen wir denn auch wieder die fruchtbarste Wirkung auf Goethe ausgehen. Diese Gnomen und Sprichwörter gaben ihm viele Anregungen zum West-östlichen Divan. Immer war es ja der Sprichwörter-Reich­turn der Diezschen Publikationen, der ihn vor allem zum eigenem Dichten beflügelte2o•

Auch die Verse vom "Pfaffen-Orden" haben ein solches von Kjatibi Rumi angeführtes türkisches Sprichwort zur Vorlage. Es findet sich auf S. 238 der DA 11 und lautet: "Was nicht gerade gefaßt worden, wird auch schief nicht erkannt." Das gleicht fast wörtlich dem Text von Vers 3 und 4 unseres Gedichts. Doch dür­fen wir uns nicht mit dieser Feststellung begnügen. Erst der Zu­sammenhang, in dem das Sprichwort im Spiegel der Länder steht, gibt eigentlichen Aufschluß über die Bedeutung, die es sowohl in der QueUe wie bei Goethe bekommt. Auch muß man diesen Zu­sammenhang kennen, um für Vers 1 und 2 des Goetheschen Ge­dichts eine nähere Erklärung zu finden.

Das Sprichwort steht bei Kjatibi Rumi an einem sehr prägnan­ten Ort, am Höhepunkt einer längeren dramatischen, inhaltlich

20 Eine Zusammenstellung der auf Kjatibi Rumis Spiegel der Länder beruhenden Gedichte und Paralipomena in: Katharina Mommsen, Goethe und Diez, S. 343 ff. (Dieziana-Verzeichnis).

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ganz eigenartigen Episode. Goethe schenkte gerade diesem Ab­schnitt besondere Bedeutung, denn er machte sich aus ihm zahl­reiche Notizen - die wir noch besprechen werden - und entnahm ihr auch zu anderen Divan-Gedichten Anregungen, von denen man bereits weiß. Daß den späteren Lesern bei diesem Stand der Dinge die Quelle zum "Pfaffen-Orden"-Gedicht entging, ist selt­sam genug.

Kjatibi Rumi gerät im Verlauf seiner Irrfahrten in Kriegsgebiet. Man verkennt seine friedlichen Absichten. Diesem und jenem Fürsten muß er gegen seine Nachbarn beistehen. Mehrmals tritt er als Unterhändler zwi­schen feindlichen Parteien auf, ehe man ihn weiterziehen läßt. Aber es gibt auch Hindernisse anderer Art. In Chor ass an, auf dem Weg zum Schah von Persien, wird Kjatibi Rumi von einer religiösen Sekte am Wei­terziehen gehindert. Man sucht ihn in Glaubensstreitigkeiten zu verwik­kein. Zwar sind die Widersacher auch Mohammedaner, doch es sind Schiiten, während die Osmanen Hanifiten sind. Die Schiiten aber behaup­ten gegenüber den Hanifiten, daß nach Mohammeds Tod das Kalifat auf Ali, den Schwiegersohn des Propheten hätte übergehen und bei dessen Nachkommenschaft verbleiben müssen, während die Hanifiten die Erb­folge Abu Bakr's, Umars und Uthmans für rechtmäßig halten. Hierüber suchen der Moscheenverwalter und seine Leute Streit mit den Osmanen. Kjatibi Rumi aber zieht sich im Guten aus der Affäre, bleibt höflich und diplomatisch, und als man immer stärker auf ihn eindringt, bekundet er in einem improvisierten Gedicht seine Liebe und Verehrung für Ali und dessen Nachkommen, ganz im Sinne der Schiiten. So wird er des Streits enthoben und - wie es im Bericht heißt- : "mit tausendfacher Noth aus ihren Händen befreit". Nachträglich aber findet sich doch wieder ein Ver­leumder, der die Schiiten von neuem gegen ihn aufstachelt, und es kommt zu einem heimtückischen überfall. Bei Schilderung dieser Krisensituation tritt nun auch das Sprichwort in Erscheinung, das Goethe in dem Gedicht vom "Pfaffen-Orden" verwendet.

"Man schickte" - so wird erzählt21 - "des andern Tages zur Frühzeit zweyhundert Bogenschützen ... welche uns alle ergr~ffen und nach dem Sprüchworte: was nicht gerade gefaßt worden, wird auch schief nicht er­kannt22

, einen jeden von uns einem Kriegsmanne übergaben." Den überfallenen werden Pferde, Geräte und sonstige Habseligkeiten

geraubt. Die Gefährten verzweifeln an ihrem Leben . .Alle werden in

21 DA II S. 238. 22 Im Original nicht hervorgehoben.

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Fesseln gelegt, zur Aufsicht über Kjatibi Rumi werden fünf Kriegsleute eingesetzt. "über diese Art des Betragens des Mirza" - so heißt es -"ward ich sehr gebeugt." - In der folgenden Nacht hat Kjatibi Rumi den glücklichen Einfall, einen Gesang auf den Kalifen Ali zu dichten, in dem er ihn um Beistand anfleht, und diesen Gesang an den Moscheenverwalter und Imam zu schicken. Hierdurch geraten die Schiiten in Verlegenheit. Die Vorfälle werden in der Stadt kundbar, und das Volk tadelt sie sehr. Am Ende fürchtet sich der Mirza vor dem Schah und bereut die began­genen Handlungen. Kjatibi Rumi und seine Leute werden in Freiheit ge­setzt, sie bekommen ihre Pferde, ihre Habe zurück und können nun un­gehindert ihres Weges ziehen.

Wir haben es in der Vorlage also regelrecht und in aller Form mit einem "Pfaffenorden" zu tun. Es wird wirklich ein "Weg ver­rannt" und schließlich wieder freigegeben. Auf diese Situation be­zieht sich das Sprichwort, das Goethe sich zunächst gesondert exzerpierte und dann zu einem Gedicht erweiterte. Der Quellen­text wird dabei kaum verändert. In der Vorlage heißt es: "Was nicht gerade ge-faßt worden ... " Bei Goethe steht sowohl im Ex­zerpt wie im Gedicht: "Was nicht gerade er-faßt worden ... " Will man interpretieren, was der Spruch im Rahmen des Berichts von Kjatibi Rumi zu bedeuten hat, so könnte man sagen: wenn es dem Pfaffenorden nicht "gerade", d. h. auf geradem Weg, in Güte, auf ehrliche Weise gelingt, den Helden zu fassen oder auch nur sein Wesen zu erfassen, wieviel weniger noch gelingt es "schief", Verleumdungen Glauben schenkend und einen heimtücki­schen überfall veranstaltend.

Goethe gibt in seinem Spruch gleichsam die Essenz der hier ver­kürzt mitgeteilten Erzählung Kjatibi Rumis, der, von rabiaten Sektierern verkannt, verdächtigt und auf seinem Wege gewaltsam gehindert, doch zuletzt ans Ziel gelangt. Goethe sah, was in Diez' übersetzung etwas unklar bleibt, daß der Spruch" Was nicht ge­rade gefaßt worden, wird auch schief nicht erkannt" sich auf die Gesamtsituation des in seinen redlichen Gesinnungen Verkannten bezieht, keineswegs auf den Akt der Gefangennahme als solchen. über die Ausdrücke "gerade" und "schief" wird noch zu sprechen sein. Zunächst erweisen sie sich als sprichwörtliche Wendungen; Düntzer hat ganz richtig gespürt, daß die letzten bei den Verse als "allgemeiner Satz" zu nehmen seien.

"Was hilft's dem Pfaffen-Orden" 245

Was nun die Bedeutung des Wortes "Pfaffen-Orden" betrifft, dessen verschiedene Auslegung seitens der Kommentatoren wir eingangs anführten, so läßt sich nach der Einsicht in die Quelle mehr und Genaueres sagen. Es hat sich herausgestellt, daß ur­sprünglich die Schiiten in Kjatibi Rumis Erzählung Goethe als dieser Pfaffenorden vor Augen getreten waren. Demnach war es dies, was der Dichter bei Abfassung des Vierzeilers im Blick hatte: ein verdienstvoller, ehrenwerter Mann wird von einem Haufen dogmatisierender Fanatiker angegriffen und mißhandelt. Wir wer­den nicht allzuweit gehen müssen, um auszumachen, was Goethe darüber hinaus mit dem "Pfaffen-Orden" gemeint hat. Der Aus­druck bezieht sich auf etwas viel Aktuelleres, Näherliegendes als auf die mystischen Naturphilosophen oder auf die Dichterkatho­liken Stolberg, Werner, Schlegel, oder auf die Nazarener. Ziehen wir in Betracht, daß es eine Diezsche Publikation war, die den Anstoß zu unserm Gedicht gab, so ergibt sich damit ein ganz akuter Anlaß zu seiner Entstehung. Goethe zielt damit allererst auf Diez' Streit mit Hammer, mit den Wiener Orientalisten. Es war die Situation des von der Zunft angegriffenen, verständnislos behandelten und mißhandelten Gelehrten, eines Mannes, dessen hohe Verdienste über allen Zweifel feststanden, den jedoch die Fachgenossen regelrecht zu vernichten trachteten.

Gerade die DA II, bei deren Lektüre unser Gedicht entstand, ließen ja den Streit Hammer-Diez jenes überdimensionale Aus­maß annehmen, das ihm dauernde Berühmtheit sicherte. Hier er­schien der riesige polemische "Anhang" - wir sahen, daß Goethe ihn als erstes las, und zwar mit der größten Teilnahme. Diez selbst hatte zudem seinen Briefen an Goethe manchen Stoßseufzer, man­che Klage über Bosheit, Verständnislosigkeit und Intrigen der Wiener Zunftgenossen anvertraut und dadurch von vornherein Goethes Aufmerksamkeit wachgerufen. Liest man diese Briefe, so begreift es sich am ehesten, welche Realität hinter dem Gedicht vom "Pfaffen-Orden" steht. In dem Begleitschreiben, mit dem Diez am 23. Dezember 1815 die DA II nebst "Anhang" über-sandte, hieß es: .

"So langweilig .Ihnen aber auch der weitläufige Anhang vorkommen mag: so habe ich doch auf Ihre Geduld gerechnet, daß Sie ihn nicht unge-

246 Katharina Mommsen

lesen lassen werden, um über den Unfug mit zu richten, der von ein Paar Innungsverwandten trauriger Gestalt, besonders von einem ganz verblen­deten Idioten gegen mich verübt worden. Ich weiß zu verachten was dumm, kindisch und ungelehrt ist. Da aber zugleich schaamlose Bosheit und Verläumdung über mich hergefallen sind; so mußte ich endlich wider mei­nen Willen die Keule ergreifen, um darunter zu schlagen und die Unwis­senheit aufzudecken, die wirklich unglaublich groß ist. Bedauern Sie mich, daß ich meine Zeit mit solchen Elendigkeiten habe verlieren müssen23•

Am 2. Februar 1816, also bald nach Entstehung des Pfaffen­ordengedichts, sendet Goethe seinen Dankbrief für die DA II an Diez. Nach außerordentlichen Lobsprüchen über das Werk drückt er zum Schluß sein Bedauern aus, "hier abermals ein Beyspiel ge­sehen zu haben, wie die Gildemeister, anstatt der guten Sache för­derlich zu seyn, das Verdienst zu hindern und zu verdrängen suchen. Doch will es" - schließt Goethes Brief - "zu unserer Zeit nicht recht mehr gelingen, indem das Echte und Tüchtige doch zuletzt seinen Platz behauptet"24.

Die Misere des angegriffenen Diez mit der des von den Sektie­rern verfolgten Kjatibi Rumi zu vergleichen, lag allerdings für Goethe nahe genug. Vielleicht noch aufschlußreicher für unser Gedicht ist der Schluß eines Diezschen Briefes vom 28. November 1815, der eine Vorankündigung der DA 11 enthielt:

"Wie aber die menschliche Vernunft an sich auf Erden nur einartig ist, so verschieden und mannigfaltig auCh die Formen sind, worin sie . sich nach Klimaten und Sprachen entwickelt und ausbildet: so muß man von dieser Idee so durchdrungen seyn wie Ew. Hochwohlgeboren, um sich mit Leichtigkeit in den Orient hineinzudenken, sobald Thatsachen dazu ge­geben werden. Dies ist es, was so vielen von der Innung versagt worden, ich meyne Kenner, welche nicht als Liebhaber sondern als Professionsver­wandte die morgenländischen Sprachen treiben und vor den Worten den Geist des Orients nicht sehen können. Sie werden darüber viele unerwartete Beweise im Anhange des zweyten Bandes der Denkwürdigkeiten zu lesen haben, wo ich das Geheimniß der Innung aufzudecken gezwungen gewesen, weil man an mir als Liebhaber eine gute Beute zu finden glaubte25."

23 Goethe-Jahrbuch 11, S. 33; AA 3 S. 222. 24 WA IV 26 S. 246. 25 Goethe-Jahrbuch 11, S. 32; AA 3 S. 221.

"Was hilft's dem Pfaffen-Orden" 247

Was Diez hier in die Form eines Kompliments für Goethe klei­det, berührt letzten Endes das Verhältnis des Menschen zum Wissen überhaupt. Um den "Geist" einer Sache zu erfassen, ge­nügt es nicht, Detailkenntnisse zu sammeln. Die "Idee" muß zu Hilfe kommen. Auch auf diese ewig problematische Forderung mögen noch die Verse hinweisen:

Was nicht gerade erfaßt worden Wird auch schief nicht erkannt.

Alles deutet also darauf, daß das Gedicht vom "Pfaffen-Or­den" ursprünglich einen Bezug auf Diez hat, und zwar einen posi­tiven Bezug. Wenn Diez die Veröffentlichung des Divan noch er­lebt hätte, so hätte er sicherlich diese Verse als besonders an ihn gerichtet verstanden. Als Zuspruch und Ermunterung waren sie offenkundig gedacht, zur Zeit als sie geschrieben wurden. Unbe­schadet dessen gilt natürlich auch hier, was Goethe selbst so oft betonte, daß Dichtung "unendlicher Auslegung fähig" ist. Selbst­verständlich ist das Gedicht auch als Seitenhieb zu verstehen auf die mancherlei Pfaffen- und Zunftanfeindungen, die Goethe zu er­dulden hatte, in Religions- und Weltanschauungsdingen, wie aber auch gerade in Sachen der Wissenschaft. Darüber hinaus reicht noch seine überpersönliche Bedeutung als Weisheitsspruch überhaupt.

Manche Anzeichen lassen vermuten, daß Goethe hier auch spe­ziell an die Erfahrungen in Sachen seiner Farbenlehre dachte. Gerade im Jahr 1816 war er wieder viel auf diesem Gebiet tätig. Die entopischen Farben beschäftigen ihn. Auch dachte er daran, eine Sammlung von Nachträgen zur Farbenlehre zu veröffent­lichen. Hier besonders wäre der Ort und die Gelegenheit gewesen, seinen Kritikern zu antworten. Daß er dies unterließ, geschah ganz bewußt. In der ".i\lteren Einleitung" zu jenen Nachträgen, geschrie­ben 1816/1817, gab Goethe hierüber eine Art Grundsatzerklä­rung ab, die zeigt, mit welch gleichgerichteten Problemen er be­schäftigt war, als der Hammer-Diez-Konflikt auf seinem Höhe­punkt anlangte:

"Der Verfasser eines Entwurfes der Farbenlehre wurde oft gefragt: warum er seinen Gegnern nicht antworte, welche mit so großer Heftigkeit seinen Bemühungen alles Verdienst absprechen, seine Darstellung als man­gelhaft, seine Vorstellungs art als unzulässig, seine Behauptungen als un-

248 Katharina Mommsen

haltbar, seine Gründe als unüberzeugend ausschreien. Hierauf ward ein­zelnen Freunden erwidert: daß er von jeher zu aller Controvers wenig Zutrauen gehabt, deßhalb er auch seine frühem Arbeiten nie bevorwor­tet, weil hinter einer Vorrede gewöhnlich eine Mißhelligkeit mit dem Leser versteckt sei. Auch hat er allen öffentlichen und heimlichen An­griffen auf sein Thun und Bemühen nichts entgegengestellt, als eine fort­währende Thätigkeit, die er sich nur durch Vermeidung alles Streites, welcher sowohl den Autor als das Publicum von der Hauptsache ge­wöhnlich ablenkt, zu erhalten entschlossen blieb; ich habe, sprach er, nie­mals Gegner gehabt, Widersacher viele26."

Man begreift Goethes Stellungnahme zum Hammer-Diez-Kon­flikt besser, wenn man sich diese Erklärung vergegenwärtigt. Was Goethe ablehnt, ist nicht so sehr sachliche Polemik, an der es auch in den Nachträgen zur Farbenlehre nicht fehlt, als persönliche "Controvers", privater Federkrieg. Gegner, die wirklich etwas zu sagen hätten, würde er in Betracht ziehen, Widersacher nicht27•

Die beste Entgegnung bestünde in "fortwährender Thätigkeit". In diesem Sinne riet schon "Wanderers Gemüthsruhe", im Hinblick auf Diez, sich nicht mit Niederträchtigkeiten aufzuhalten.

In derselben Einleitung zu den · Farbenlehrenachträgen wird übrigens von dem "pfäffischen Aberglauben" der Anhänger New­tons gesprochen. Das mag uns wieder daran erinnern, wie nah zeitlich das Pfaffenordengedicht steht. Auch ist es wohl nicht Zu­fall, wenn in den von 1816/1817 stammenden Entwürfen zu je­ner Einleitung ähnliche Vokabeln auftauchen. In diesen Entwürfen war die Tonart noCh wesentlich schärfer als im endgültigen Text. "Gegen das Papstthum der einseitigen Naturlehren welches sich anmaßt durch Zeichen und Zahlen den Irrthum in Wahrheit zu verwandlen habe ich meine Thesen schon vor vielen Jahren ange­schlagen. Aber die künstliche Behendigkeit dieses Pfaffengeschlech­tes hatte eine allgemeine Wirckung meines Unternehmens zu hin-

26 WAll 51 S. 321. 27 "Widersacher kommen nicht in Betracht, denn mein Dasein ist ihnen

verhaßt, sie verwerfen die Zwecke, nach welchen mein Thun gerichtet ist, und die Mittel dazu achten sie für eben so viel falsches Bestreben. Ich weise sie daher ab und ignorire sie, denn sie können mich nicht fördern, und das ist's, worauf im Leben alles ankommt." ("Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort"; geschrieben 1823. WA II 11 S. 60.)

"Was hilft's dem Pfaffen-Orden" 249

dern gewußt." So heißt es dort - das Wort "Papstthum" wird in gleichem Sinne noch ein zweites Mal gebraucht28. Mag auch hier das bevorstehende Reformationsjubiläum, das Goethe schon 1816 nachweislich beschäftigte, auf die Diktion mitbestimmend gewirkt haben, es scheint doch gleichfalls noch unser Gedicht vom "Pfaf­fen-Orden" nachzuklingen, das von Ende Januar 1816 stammte.

Nicht unerwähnt darf es bleiben, daß einer der Hauptgegner von Goethes Farbenlehre ausgerechnet Christoph Heinrich P f a f f hieß. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sowohl der erste Vers unseres Gedichtes als auch die angeführten Wendungen der "Alteren Ein­leitung" ironisierend auf diesen Namen anspielen. Im Frühjahr 1816 beschäftigte sich Goethe viel mit seinen "Widersachern", griff auch nachweislich zu der in seinem Besitz befindlichen Schrift von Pfaff: Ueber Newton's Farbentheorie, Herrn von Goethe's Far­benlehre und den chemischen Gegensatz der Farben. Leipzig 1813. (Tagebuch 28 . April 1816). In der auf Farbenlehre-Probleme be­züglichen Korrespondenz mit Seebeck findet sich um diese Zeit der charakteristische Satz: "Die Schriftgelehrten recitieren bei dieser Gelegenheit ihren alten Rosenkranz ... "29! Vielleicht entstand 1816 auch das - undatierte - Nachlaßgedicht "Absurder Pfaffe"!, von dem man vermutet, daß es sich auf Chr. H. Pfaff beziehe.

Unmittelbar vor jener "Alteren Einleitung" zu den Farbenlehre­nachträgen ließ Goethe, als Motto der ganzen Publikation, ein Gedicht drucken, das gleichfalls noch an die Verse vom "Pfaffen­Orden " erinnert. Geschrieben wurde es 1817, also in demselben Zeitraum, in dem wir uns hier immer bewegen:

Priester werden Messe singen Und die Pfarrer werden pred'gen, Jeder wird vor allen Dingen Seiner Meinung sich entled'gen ,Und sidl der Gemeine freuen, Die sich um ihn her versammelt, So im Alten wie im Neuen Ohngefähre Worte stammelt.

28 WA II 52 S. 374 f. Hier nach der Handschrift verbessert. 29 Goethe an Th. J. Seebeck 11. Mai 1816. Jahrb. d. Goethe-Gesell­

schaft 10 (1924) S. 175.

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Und so lasset auch die Farben Mich nach meiner Art verkünden, Ohne Wunden, ohne Narben, Mit der läßlichsten der Sünden.

Es hat sich also gezeigt, wie sehr Goethe in dem Vierzeiler vom "Pfaffen-Orden" auch in eigener Sache spricht. Selbst die Wendung V. 3 f.

Was nicht gerade erfaßt worden Wird auch schief nicht erkannt

enthält aus der Perspektive der Farbenlehre heraus gesehen, eine eigene Realität. Goethes Tendenz war, eine "reine Erfahrungs­lehre" aufzustellen30, den Newtonianern warf er vor, daß sie durch ihre "verzwickten" Experimente der Natur Gewalt antäten:

Freunde, flieht die dunkle Kammer Wo man euch das Licht verzwickt, Und mit kümmerlichstem Jammer Sich verschrobnen Bildern bückt31•

übrigens regte die Episode von Kjatibi Rumis Streit mit den Schiiten u. a. noch zwei Divan-Gedichte aus dem Buch der Sprüche an, die speziellen Bezug auf Diez haben dürften.

Wir sahen: Kjatibi Rumi hatte sich bei dem Rencontre mit starrsinnigen, dabei gefährlichen Sektierern als echter Weiser be­tragen, indem er sein ganzes Verhalten darauf abstellte, nicht in Kontroverse einzutreten, und mit seiner Meinung zurückhielt. "So handelte ich nach dem Sprüchworte: Stillschweigen ist die Antwort für Einfältige32, und beobachtete ein tiefes Stillschwei­gen, sagt Kjatibi Rumi, von seinen Gegnern in die Enge getrieben; er fährt fort mit eigenen Versen, in denen es heißt: " ... hadere nicht, 0 Herz mit Frommen! Weise fallen in Unwissenheit, wenn sie mit Unweisen streiten"33. Wie man weiß, regte der letzte Satz das ganz in der Nachbarschaft der Verse vom "Pfaffen-Orden" stehende Divan-Gedicht an:

80 "Altere Einleitung" WA II 51 S. 323. 81 WA I 3 S. 356. 82 Im Original gesperrt. 88 DA II S. 236.

"Was hilft's dem Pfaffen-Orden"

Laß dich nur in keiner Zeit Zum Widerspruch verleiten, Weise fallen in Unwissenheit Wenn sie mit Unwissenden streiten.

251

Von diesen Versen gilt, aus den gleichen Gründen der Aktuali­tät wie beim Pfaffen orden gedicht, daß sie im Moment der Ent­stehung auch als Botschaft an Diez gedacht waren. Nur gab Goethe diesmal eine Mahnung: besser hätte Diez getan, zu schweigen, wie sehr ihm auch zugesetzt wurde. Das Gedicht enthält im Grunde die gleiche Maxime, die wir in der "Älteren Einleitung" zu den Farbenlehrenachträgen ausgesprochen fanden: in persön­li-:he Kontroverse mit Widersachern soll man sich nicht einlassen. Durch den Hinweis auf die Kjatibi-Rumi-Stelle, die Goethe na­türlich aus dem Herzen gesprochen war, wurde Diez gleichzeitig auf anmutige Weise eine Freundlichkeit gesagt, erinnerte Goethe damit doch an sein Buch, die DA II. [ ... ]