WAS IST EIGENTLICH WAHR?

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS DIDAKTISCHE KONZEPTE UND MATERIALIEN FÜR DEN OBERSTUFENKURS „DEUTUNGEN DER WIRKLICHKEIT UND DIE BIBEL“ (E2) Harmjan Dam, Ursula Reinhardt, Jochen Walldorf WAS IST EIGENTLICH WAHR?

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

DIDAKTISCHE KONZEPTE UND MATERIALIEN FÜR DEN OBERSTUFENKURS „DEUTUNGEN DER

WIRKLICHKEIT UND DIE BIBEL“ (E2)

Harmjan Dam, Ursula Reinhardt, Jochen Walldorf

WAS IST EIGENTLICH WAHR?

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2 AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Dr. Harmjan Dam (Jahrgang 1950) studierte Geographie (Universität Utrecht, NL) und Theo­logie (Universität Kampen, NL) und promovierte mit einer kirchenhistorischen Arbeit über den „Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen“. Von 1991 bis 1996 war er Landesschüle r­pfarrer der EKHN, von 1996 bis 2015 Dozent am RPZ der EKHN und Studienleiter des RPI der EKKW und EKHN (Fort­ und Weiterbildung von Religionslehrer/­innen im Gymnasium, Curri­cula­Entwicklung, Abitur, Schulseelsorge, Schönberger Hefte/RPI­Impulse). Seit 1974 hat er als Lehrer für Geografie und Ev. Religion an acht verschiedenen Schulen in den Niederlanden und in Deutschland gearbeitet.

Dr. Ursula Reinhardt (Jahrgang 1969) studierte evangelische Theologie, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Kiel, Marburg, Gießen und Frankfurt am Main. Sie promovier­te mit einer systematisch­theologischen Dissertation (Religion und moderne Kunst in geistiger Verwandtschaft. Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ im Spiegel christlicher Mystik). Als Lehrbeauftragte für Systematische Theologie sowie für Philosophiedidaktik arbeitete sie an den Universitäten Frankfurt am Main und Gießen. Als Fachleiterin für Evangelische Religion und Philosophie/Ethik am Studienseminar Gießen bildet sie Referendarinnen und Referendare für das Lehramt an Gymnasien aus und ist Lehrerin an der Liebigschule in Gießen.

Dr. Jochen Walldorf (Jahrgang 1965) studierte evangelische Theologie an den Universitäten Marburg, Tübingen und Basel, und promovierte bei Prof. Dr. W. Härle mit einer Arbeit über den philosophischen Entwurf des Schweizer Theologen Adolf Schlatter. Er arbeitete einige Jahre als Regionalreferent im Bereich christlicher Studierendenarbeit, danach als Pfarrer in der ev. Kirchengemeinde Grünberg. Von 2006­2016 war er als Schulpfarrer und Schulseelsorger an einem Alsfelder Gymnasium tätig, bevor er im Februar 2016 als Studienleiter in das RPI der EKKW und EKHN wechselte. Dort arbeitet er in der Regionalstelle Gießen, fachlicher Schwer­punkt ist die Fortbildungsarbeit für Religionslehrkräfte im Bereich Sekundarstufe II und Abitur.

AUTORiNNEN

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3„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

„Deutungen der Wirklichkeit und die Bibel“ –

Zur Konzeption des Themenhefts (H. Dam, U. Reinhardt, J. Walldorf) ............................................................................ 4

Das Kurshalbjahr E2 im hessischen Kerncurriculum

für die Gymnasiale Oberstufe Ev. Religion ................................................................................................................ 6

GRUNDSATZARTIKEL „Ist die Wahrheit nur (m)eine Erfindung?“ (J. Walldorf) ......................................................................................... 7

WAS IST EIGENTLICH WAHR? (H. Dam) Zugänge zur Wirklichkeit in Theologie und Naturwissenschaften

Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.1 ................................................................................................. 12

Materialien ..................................................................................................................................................... 20

WAS IST WIRKLICH? (J. Walldorf) Zugänge zur Wirklichkeit in Naturwissenschaften und Religion

Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.4 ................................................................................................. 32

Materialien ..................................................................................................................................................... 43

WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? (U. Reinhardt) Unterschiedliche Menschenbilder in Theologie und Naturwissenschaften

Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.2 ................................................................................................. 57

Materialien ..................................................................................................................................................... 65

Quellenverzeichnis ........................................................................................................................................... 79

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4 AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

EINLEITUNG EINLEITUNG

Das neue Kerncurriculum für die Gymnasiale Oberstufe

Das neue Kerncurriculum für die Gymnasiale Oberstufe (KCGO) wurde 2016 in Hessen eingeführt. Es bietet eine Reihe von neuen didaktischen Chancen, ist aber auch mit manchen Herausforderungen verbunden. Eine Herausforderung liegt si­cher darin, nicht einfach die vorgegebenen Themenfelder zu „unterrichten“, sondern – im Sinne der Kompetenzorientierung – zu fragen, wie die im KCGO genannten Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern entwickelt und erreicht werden können. Eine andere Herausforderung ergibt sich mit Blick auf das Kurshalbjahr der E2. Während in allen anderen Halbjahren die Kursthemen im Wesentlichen mit de­nen des vorausgegangenen Lehrplans korrelieren (zum Teil mit Verschiebungen zwischen den Halbjahren), wird in der E2 ein in gewisser Weise „neues“ Thema in den Vordergrund gerückt – „Deutungen der Wirklichkeit“ – und mit biblisch­hermeneu­tischen Fragestellungen verknüpft. Wirklich neu ist das Thema natürlich nicht, Aspekte daraus wurden bereits an unterschied­lichen Stellen des alten Lehrplans für die Oberstufe in Hessen aufgegriffen. Neu ist aber, dass der Auseinandersetzung mit Fragen der Wirklichkeitsdeutung zentrale Bedeutung in einem Kurshalbjahr zukommt. Worum geht es dabei?

Im KCGO wird die Zielsetzung, die mit der E2 verbunden ist, folgendermaßen umschrieben: „In Kurshalbjahr E2 wird der spezifische Zugang von Religion zur Wirklichkeit verdeutlicht. Wie unterscheidet sich das Fach Evangelische Religion von anderen (Schul-)Fächern, welches Menschenbild und welche Deutung von Wirklichkeit werden hier vertreten? Diese Fragen stellen sich insbesondere mit Blick auf die Wahrheit der Bibel

1 Im „Lehrplan Ev. Religion in der gymnasialen Oberstufe“ von Rheinland-Pfalz, der zum Schuljahr 2013/2014 eingeführt wurde, bildet das Thema „Theologie und Naturwissenschaft“ eines von vier Themen, die dem Themenbereich „Christsein in der pluralen Welt“ zugeordnet sind (vgl. im Lehrplan, S. 73-75). Daneben werden Frage-stellungen, die im KCGO in der E2 behandelt werden, z. B. im The-menbereich „Mensch“ aufgegriffen (vgl. z. B. die Konkretion „Typisch Mensch!? – Menschenbilder im Dialog“, im Lehrplan S. 33f).

2 Vgl. J. Baumert, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Killius, N./Kluge, J./Reisch, L. (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a. M. 2002, 100-150, hier: 113.

„DEUTUNGEN DER WIRKLICHKEIT UND DIE BIBEL“ Zur Konzeption des Themenhefts

und auf das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissen-schaften (Auseinandersetzung mit Fundamentalismus und Kreationismus)“ (S. 25).1

Eine Wirklichkeit, aber verschiedene Deutungen und Wahrnehmungs­pers pektiven

In der Schule und in der Universität gibt es ganz unterschiedli­che Fächer bzw. unterschiedliche Disziplinen. Es wird nicht nur ein Fach unterrichtet und gelehrt, sondern mehrere, weil diese Fächer unterschiedliche Dimensionen von Erkenntnis und Ver­stehen erschließen. Biologie und Physik nehmen die Wirklich­keit anders wahr als Religion oder Musik. Jürgen Baumert hat die Fächer und ihre Bezugswissenschaften nach unterschiedli­chen „Modi der Weltbegegnung und ­erschließung“ geordnet:

1. kognitiv­instrumentelle Modellierung der Welt (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften)

2. ästhetisch­expressive Begegnung und Gestaltung (Sprache/Literatur, Musik, Malerei/Bildende Kunst, physische Expression)

3. normativ­evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft (Recht, Politik, Ökonomie, Geschichte)

4. deskriptiv­exploratorische Begegnung und Auseinan­ dersetzung mit existentiellen Fragen der Weltdeutung und Sinnfindung (Religion, Ethik, Philosophie).2

Diese vier Modi folgen keiner Hierarchie und können einander nicht ersetzen. Jeder Modus bietet eine eigene Art und Weise, die Wirklichkeit aus einer jeweils besonderen Perspektive zu erschließen, mit den jeweils individuellen Zugangsweisen und Erkenntnisräumen.

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5„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

EINLEITUNG

Junge Menschen begegnen in unterschiedlichen Deutungs­systemen von Mensch und Welt einer Vielfalt an Überzeugun­gen und Vorstellungen. Sie müssen für sich klären, wie sie sich sehen und woran sie sich orientieren. Das Ziel der Bil­dungsprozesse in der wissenschaftspropädeutischen Gym­nasialen Oberstufe ist es, den Schülerinnen und Schülern eine mehrperspektivische Betrachtung und Gestaltung von Wirklichkeit zu eröffnen.

Religion: Fragen hinter den Fragen

In der Schule vertreten Religion, Philosophie und Ethik einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit. In diesen Fächern wird Wirk­lichkeit gedeutet und es werden die „Fragen hinter den Fra­gen“ gestellt und existentielle Themen bearbeitet: „Warum gibt es etwas und nicht nichts?“, „Wozu bin ich da?“, „Wie kann ich die Welt verstehen?“, „Was ist Wahrheit?“, „Wenn Gott als transzendente Wirklichkeit grundsätzlich unterschieden ist von der Welt, wie und warum können wir dann etwas von Gott wis­sen?“ Diese Fragen, die den Sinn und das Ziel des Lebens be­rühren, müssen notwendig gestellt werden, damit Menschen (religiöse) Orientierung und Urteilsfähigkeit gewinnen, aber auch dialogfähig werden im Umgang mit anderen Sichtweisen und Lebensdeutungen.

In der E2 kommt es nun darauf an, dass die Jugendlichen sich mit unterschiedlichen Menschenbildern und Wirklichkeitsver­ständnissen insbesondere in Theologie und Naturwissen-schaften beschäftigen. Im Hintergrund steht dabei die Wahr­nehmung, dass – so Martin Rothgangel – „für die religiösen bzw. atheistischen Alltagstheorien vieler Schülerinnen und Schüler das Verhältnis von ‚Naturwissenschaft‘ und ‚Theolo­gie‘ ganz entscheidend“ ist. Als die beiden Themenkreise, die für die Argumentation Jugendlicher ausschlaggebend sind, nennt er zum einen „naturwissenschaftliche Theorien zur Welt­ bzw. Lebensentstehung im Verhältnis zu biblischen Schöp­fungserzählungen“, zum anderen „Wissenschaftsgläubigkeit – Tragweite und Grenzen naturwissenschaftlicher Theorien“.3

In der Auseinandersetzung mit diesen Themen entdecken die Lernenden in der E2 die Möglichkeiten und Grenzen des in unserer Gesellschaft dominanten naturwissenschaftlich­ mathematischen Erkenntniszugangs. Sie entdecken auch den spezifischen Beitrag des Fachs Evangelische Religion, sein Wirklichkeits­ und Wahrheitsverständnis und sein Menschen­bild. Sie erhalten Impulse, um sich selbst im Gegenüber zur biblisch­christlichen Glaubenstradition zu verorten. In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage nach dem Anspruch biblischer Texte eine besondere Rolle. Um ihr nachgehen zu können, ist ein Verständnis für die Eigenart biblischer Texte unerlässlich, das z. B. in der Beschäftigung mit den Schöp­fungserzählungen gewonnen werden kann. Damit dies gelingt, müssen exegetische Grundkenntnisse vermittelt werden.

So lernen die Schülerinnen und Schüler in der E2 sich aus der Perspektive des christlichen Glaubens mit verschiedenen Wirklichkeitsdeutungen argumentativ auseinander zu setzen und biblische Texte, die für den Schöpfungsgedanken und somit für das Menschenbild und die Menschenwürde grund­legend sind, methodisch reflektiert auszulegen.

Die didaktische Struktur des Kurshalbjahres E2: der Beitrag dieses Themenhefts

Im KCGO sind die fünf Themenfelder des Kurshalbjahres E2 nacheinander aufgelistet. Aus den ersten drei verbindlichen und den zwei fakultativen Themenfeldern muss die Lehrkraft selbst ein Curriculum entwerfen. Die fünf Themenfelder dürfen und können dabei nicht linear abgearbeitet werden. Man kann es nicht, weil dies den Umfang der vorhandenen Unterrichts­zeit im zweiten Halbjahr deutlich sprengt. Man darf es nicht, weil aus den Themenfeldern exemplarisch und elementar das­jenige ausgewählt werden muss, was für die jeweilige Lern­gruppe mit Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausfor­derungen relevant und weiterführend ist. Diesen didaktischen Prozess nimmt das Kerncurriculum der Lehrkraft nicht ab. Es ist kein Stoffverteilungsplan.

Vor diesem Hintergrund versucht das vorliegende Themenheft Anregungen zu geben, um die eigene Unterrichts­ und Kurs­planung zu unterstützen. Ausgangspunkt war für uns dabei die Wahrnehmung, dass die Themenfelder, um die es in der E2 geht, in ganz unterschiedlicher Weise angeordnet und aufei­nander bezogen werden können. Entsprechend stellen wir in dieser Publikation drei unterschiedliche didaktische Konzepte zur Gestaltung der E2 vor, die sich in manchem berühren, aber jeweils auch eigene Akzente setzen. Unterschiedlich ist dabei vor allem der Ausgangspunkt, der in den verschiedenen Ent­würfen gewählt wird:

� Harmjan Dam geht unmittelbar von den unterschied­lichen Wirklichkeitszugängen in Naturwissenschaft und Theologie aus,

� Jochen Walldorf schließt allgemeiner bei der Frage nach der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung an,

� Ursula Reinhardt bettet Fragen der Wirklichkeitsdeu­tung in anthropologische Grundfragen ein, die einen „roten Faden“ im KCGO bilden.

Wir hoffen, dass diese unterschiedlichen, sich zugleich aber auch überschneidenden Beiträge Impulse geben können, um eine eigene Akzentuierung für die Gestaltung des Kurshalb­jahres zu entwickeln und dazu passende Unterrichtsideen und Arbeitsmaterialien zu finden.

Harmjan Dam, Ursula Reinhardt, Jochen Walldorf

3 M. Rothgangel, Geist und Gehirn. Religionspädagogische Pers-pektiven zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie, in: Glaube und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft 21, Frankfurt 2008, S. 126f.

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GRUNDSATZARTIKEL

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KERNCURRICULUM GYMNASIALE OBERSTUFE

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Themenfelder

verbindlich: Themenfelder 1–3

E2.1: Zugänge zur Wirklichkeit in Theologie und Naturwissenschaften. Was ist eigentlich wahr?

� Vergleich von Schöpfung und Evolution als komplemen­täre Erklärungen von Weltentstehung (z. B. Vergleich biblischer Schöpfungserzählungen in Gen 1 und 2 und Psalm 104, Anliegen von unterschiedlichen Schöpfungs­entwürfen und von Weltentstehungstheorien)

� Theologie und Naturwissenschaften; unterschiedliche methodische Zugänge zur Wirklichkeit und ihr jeweiliger Erklärungsanspruch

E2.2: Unterschiedliche Menschenbilder in Theologie und Naturwissenschaften. Wie sehen wir den Menschen?

� eigene Erfahrungen des Menschseins in verschiedenen Kontexten (z. B. Was ist der Mensch? Vergleich Mensch – Tier)

� Aspekte unterschiedlicher Menschenbilder in Naturwis­senschaft und Theologie

E2.3: Bibel verstehen. Ist die Bibel wahr?

� Beispiele von Methoden des Verstehens und der Aus­legung (z. B. Entstehung der Bibel, Zwei­Quellen­The­orie); hermeneutische Fragen (z. B. Wie kann ich die Bibel verstehen?)

� Bibel und Koran (z. B. Personen, Schöpfungserzäh­lung, Verständnis von Offenbarung)

E2.4: Wirklichkeit wahrnehmen. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

� Wahrnehmung von Wirklichkeit (z. B. Ist alles wahr, was ich wahrnehme? Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit?)

� unterschiedliche Wissenschaften als konkurrierende und komplementäre Sichtweisen auf die Welt

E2.5: Lektüre einer biblischen Ganzschrift. Wie können wir einen biblischen Text einordnen und welche Botschaft hat er für uns?

� eine biblische „Ganzschrift” (z. B. Jona, Esther, Ruth, Amos, Josephsgeschichte, Urerzählungen Gen 1–11, das Markus­Evangelium, das Matthäus­Evangelium); alternativ: ein biblisches Kernmotiv in mehreren bibli­schen Schriften (z. B. Befreiung, Nachfolge, Prophetie)

� Deutung dieser Ganzschrift und Herstellen eines aktu­ellen Bezugs

HESSISCHES KULTUSMINISTERIUMKerncurriculum gymnasiale Oberstufe (KCGO), Evangelische Religion, S. 33f

Kurshalbjahr E2: Deutungen der Wirklichkeit und die Bibel

Die jungen Menschen erfahren in unterschiedlichen Deu­tungssystemen von Mensch, Welt und Wirklichkeit eine Vielfalt an Überzeugungen und Vorstellungen. Sie müssen für sich klären, wie sie sich sehen und woran sie sich ori­entieren. Die unterschiedlichen Schulfächer repräsentieren die vielfältigen Zugänge und Wahrheitsansprüche. In der Deutung von Welt spielen philosophische Grundfragen eine zentrale Rolle: Was ist Wirklichkeit? Was kann ich wissen? Was ist Wahrheit? Gerade Fächer wie Evangelische Religion befassen sich mit den „Fragen hinter den Fragen“.

In diesem Kurshalbjahr kommt es darauf an, dass die Lernenden sich mit verschiedenen Antworten auf die Fra­ge „Was ist der Mensch?“ auseinandersetzen. Durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Menschenbildern und Wirklichkeitsverständnissen in Theologie und Natur­wissenschaft entdecken sie den spezifischen Beitrag des Faches, seine Begründung der Menschenwürde und sein Wahrheitsverständnis. In diesem Zusammenhang spielt die Auseinandersetzung mit dem Anspruch biblischer Tex­te eine besondere Rolle. Hierfür ist ein Verständnis für den Wahrheitsbegriff der Bibel erforderlich, das in Auseinander­setzung mit den Schöpfungserzählungen und mit einem anderen zusammenhängenden Text erworben wird. Damit dies gelingen kann, müssen exegetische Grundkenntnisse vorhanden sein.

Die Lernenden beschreiben unterschiedliche Menschenbilder (Religion wahrnehmen und beschreiben). Sie können bibli­sche Texte, die für den Schöpfungsgedanken grundlegend sind, methodisch reflektiert auslegen. Ein zusammenhängen­der Bibeltext (Ganzschrift) wird sachgemäß erschlossen (Reli­giöse Sprache deuten und verstehen) und die Lernenden set­zen sich aus der Perspektive des christlichen Glaubens mit verschiedenen Weltbildern argumentativ auseinander (Aus religiöser Perspektive an Diskussionen teilnehmen).

Bezug zur didaktischen Struktur: Bei der Bearbeitung des Themas des Kurshalbjahres sind die inhaltlichen Aspek­te der vier Bezugsfelder der didaktischen Struktur – „Der christliche Glaube in Begegnung, Anknüpfung und Ausei­nandersetzung mit biografischen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen im pluralen Umfeld“ – angemes­sen und unter entsprechender Schwerpunktsetzung zu be­rücksichtigen.

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GRUNDSATZARTIKEL

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

IST DIE WAHRHEIT NUR (M)EINE „ERFINDUNG“? Über die Erkennbarkeit der Welt und den Menschen als erkenntnisfähige Person – eine christliche Perspektive1

Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Schaut man sich die heutigen Medien und die aktuelle Politik an, dann könnte man auf die Idee kommen, die „Wahrheit“ habe ausgedient. Nicht nur in den sozialen Medien präsentiert jeder seine höchst in­dividuelle Sicht der Dinge (bis hin zu den sogenannten fake news, die unter dem Mantel der Wahrheit daherkommen), auch in der großen Politik dominieren zunehmend sehr ei­genwillige, zum Teil auch völlig abseitige Deutungen der (ge­sellschaftlichen) Wirklichkeit. Die „Wahrheiten“ des Donald Trump (über die bei seiner Amtseinführung anwesende Men­schenmenge, den Klimawandel, die Kriminalität der Migran­ten, etc.) sind da nur ein besonders offensichtliches Beispiel. Das Wort des Jahres 2016 scheint dieser Entwicklung Rech­nung zu tragen: postfaktisch, im Englischen: posttruth. Der Unterschied zwischen „gefühlter“ und echter Wirklichkeit wird zunehmend relativiert und es werden „alternative Fakten“ be­müht, um die eigene Sicht zu untermauern.

Aber genau dagegen regt sich massiv Widerstand. Lässt sich alles wirklich beliebig umdeuten, zurechtbiegen? Gibt es nicht Wirklichkeiten und „Wahrheiten“, die es schlicht zu respek­

tieren gilt – wie den Temperaturanstieg, die abschmelzenden Gletscher, vielleicht sogar die gleiche und unantastbare Würde aller menschlichen Wesen?

Der Philosoph Michael Hampe ist der Auffassung, dass sich an dieser Stelle das Scheitern postmoderner Theorien zeigt, die Wahrheit nur als individuelle bzw. gesellschaftliche Konstrukti­on ansehen: „Was macht man, wenn rechte Verschwörungs-theoretiker, Leute, die Fakten zurechtfabrizieren und schlicht lügen, an die Macht kommen? Was sagt man den Leugnern der Erderwärmung, wenn sie die Tatsachen mit grober Pran-ke einfach beiseiteschieben und lachend rufen: ‚Du wirfst mir vor, die Tatsachen zu leugnen? Hast du nicht behauptet, die gäbe es gar nicht? Nun, wenn alles nur konstruiert ist, dann konstruiere ich mir jetzt eben mal mein Klima, ich erfinde es, statt es vorzufinden – so hast du es doch immer gewollt!‘“

Auch wenn Trump selbst kein postmoderner Theoretiker ist, so lässt sich durchaus fragen, ob die geschilderte Entwick­lung nicht auch ein Ausdruck solcher Theorien ist. Außerdem: Wäre jede Wahrheit nur individuell konstruiert, dann würde das

Jochen Walldorf

1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Artikels „Gott und die Wahrheit“, in: RPI-Impulse 3/2016, S. 7-11.

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GRUNDSATZARTIKEL GRUNDSATZARTIKEL

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

2 Neben dieser Korrespondenz (zwischen Wirklichkeit und sprachlichem Erkennen) bilden die Kohärenz von Aussagen und Behauptungen sowie die intersubjektive Kommunikation (die auch eine geschichtliche Dimension einschließt) wichtige Aspekte eines angemessenen Wahrheitsverständnisses.

auch für diese „Wahrheit“ gelten – und sich damit aufheben. Es scheint, als könne man die Wahrheit nur bestreiten, indem man sie – indirekt – bestätigt bzw. voraussetzt.

Im christlichen Glauben wird Wahrheit nicht (nur) als eine Funktion des Individuums verstanden, sondern als Ausdruck einer Wirklichkeit, die von außen auf uns zukommt und uns „frei macht“ von irrigen, zerstörerischen Haltungen und Sicht­weisen (vgl. Joh 8,32). Die Wahrheit – die in Jesus von Na­zareth aufleuchtet und Gestalt angenommen hat (Joh 1,14) – begegnet uns.

Dieser Gedanke einer von uns unabhängigen Wirklichkeit, die sich dem Menschen (ansatzweise) erschließt und sein Erken­nen und Verstehen prägt, ist für das Wahrheitsverständnis grundlegend. „Die Wahrheit wird individuell gesucht und ge­funden, aber nicht hergestellt“ (M. Meyer­Blanck). In der klas­sischen Definition von Wahrheit, die spätestens bei Aristoteles begegnet, ist von einer Übereinstimmung zwischen (sprach­lich artikuliertem) Erkennen und Sein die Rede.2 Natürlich ist uns dieses Sein, also die Wirklichkeit immer nur durch unsere Sinne und in Verbindung mit unseren begrifflichen Kategorien gegeben. Dennoch ist es sinnvoll, das erkennende Denken und die uns begegnende Wirklichkeit zu unterscheiden – als aufeinander bezogene Pole im Erkenntnisprozess. Auf diese Unterscheidung nimmt die traditionelle Rede von der Wahrheit im Denken und der Wahrheit in den Dingen Bezug, an der ich mich im Folgenden orientiere.

1. Wahrheit im Denken: Der Mensch als erkenntnis­ und wahrheitsfähiges Subjekt

Bei der Frage nach der Wahrheit geht es nicht nur um die „Welt da draußen“ und ob bzw. wie wir sie (angemessen) erkennen können, sondern zunächst um uns selbst: Sind die Prozesse, die in mir und meinem Denken ablaufen, überhaupt geeignet, so etwas wie wahre Erkenntnisse hervorzubringen? Ist meine Vernunft „vernünftig“ in dem Sinne, dass sie mir hilft, die Wirk­lichkeit zu „vernehmen“ und rational zu erfassen? Oder bilden wir uns dies vielleicht nur ein, während sich unsere vermeint­lichen Erkenntnisse tatsächlich Mechanismen verdanken, die gegenüber so etwas wie der „Wahrheit“ völlig gleichgültig sind?

Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit ist keine neue Frage. Dennoch stellt sie sich im Kontext der heutigen wissenschaft­lichen Forschung in ganz neuer Weise. Dies gilt ebenso und vielleicht noch offensichtlicher für die Frage nach der Freiheit des Menschen in seinem Wollen und Handeln. Angesichts neuer Erkenntnisse der Neurowissenschaften über die enge

Korrelation von Bewusstseins­Zuständen mit den Aktivitäten verschiedener Gehirnbereiche wird von einigen Forschern be­hauptet, dass letztlich Gehirnfunktionen und die dahinter ste­hende evolutionäre Entwicklungsgeschichte festlegen, wie wir handeln und denken. Ist das, was wir für wahr halten, also nur Ausdruck unseres spezifischen Neuro­Designs und sonstiger physikalischer Bedingungen? Ja, müsste man nicht sagen, nicht ich ‚denke‘, sondern es ‚denkt‘ in mir, da hinter allem nur unpersönliche und absichtslose materielle Prozesse stehen?

Ist ein absichtsloser neuronaler Prozess wahrheitsfähig?

Dies sind gewichtige Anfragen, hinter denen allerdings – und das ist entscheidend – nicht nur naturwissenschaftliche (ge­hirnphysiologische) Daten und Erkenntnisse stehen, sondern vielmehr eine naturalistische Weltanschauung, die diese Daten in bestimmter Weise deutet und interpretiert. Grundlegend ist dabei die reduktionistische Perspektive: alles, was es gibt, lässt sich restlos auf naturwissenschaftlich beschreibbare Phäno­mene zurückführen. Mit einer solchen weltanschaulichen Deu­tung sind aber nun erhebliche Probleme verbunden. Im Blick auf unsere Fragestellung ist wesentlich, dass der Naturalismus als allumfassendes Erklärungsmodell, konsequent zu Ende ge­dacht, sich selbst aufhebt. Denn wenn Erkenntnis tatsächlich nur das Ergebnis elektro­chemischer neuronaler Prozesse ist, die im Gehirn ablaufen, wie kann sie dann gleichzeitig Folge einer rationalen Einsicht sein, die auf Wahrheit gerichtet ist? Ein neuronaler materieller Prozess ist als solcher nicht einsichtsfä­hig und kann nicht richtig oder falsch sein, sondern geschieht einfach. Es wäre sinnlos, einem Gehirnzustand Wahrheit oder Irrtum zuzuschreiben (Kategorienfehler), oder zu sagen, er sei intentional auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen, so wie geistige Akte (Gedanken, Wünsche, Hoffnungen) auf Sachver­halte oder Gegenstände bezogen sind – z. B. die Klausur am nächsten Tag oder eine wissenschaftliche Theorie.

Wenn aber Erkenntnis, wie ein strenger Naturalismus behaup­tet, nur das Ergebnis absichtsloser neuronaler Prozesse ist und nicht (aus) einer rationalen und freien Einsicht folgt, wie kann dann eine solche Erkenntnis noch den Anspruch erhe­ben, „wahr“ zu sein? Ist sie nicht ebenso das notwendige (oder auch zufällige) Resultat physisch­materieller Bedingungen und Mechanismen wie die anderslautende Erkenntnis des Diskus­sionspartners? Worüber also streiten?

Sehr pointiert begegnet dieser Gedankengang bei dem Theo­logen und Philosophen Richard Schröder. In seinem Buch „Die Abschaffung der Religion?“, in dem er sich vor allem mit dem naturalistischen Weltbild des Evolutionsbiologen und Atheisten R. Dawkins kritisch auseinandersetzt, markiert er eine prinzipi­elle Grenze naturalistischer Erklärungen: Wer alles mithilfe eines strengen Naturalismus erklären möchte, „muss doch immer eine Ausnahme machen, nämlich für seine Erkenntnis selbst. Die soll ja richtig oder wahr sein und dafür wird er Gründe an-führen und Zustimmung erwarten. Sonst beißt sich die Katze in den Schwanz und man gerät in logische Aporien. Dann ist die Erkenntnis, dass das Denken eine Eigenschaft der Materie

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GRUNDSATZARTIKEL

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

ist, wiederum eine Eigenschaft der Materie und dass ich das sage, wiederum und so weiter. Oder: das Gehirn produziert die Gedanken und darunter auch den Gedanken, dass das Gehirn die Gedanken produziert. Das kannst du dann aber auch für dich behalten, denn mein Gehirn produziert meine Gedanken. Wer an Einsicht appelliert, [...] setzt voraus, dass es Einsicht gibt. Wer für irgendeine Aussage Wahrheit bean-sprucht, muss voraussetzen, dass es einsichtige Gründe gibt und nicht nur wirkende Ursachen“.

So halte ich etwa die Urknalltheorie deshalb für wahr oder gerechtfertigt, weil eine Reihe von Beobachtungen (z. B. die Rotverschiebung entfernter Galaxien) gemacht wurde, die in einem gedanklich nachvollziehbaren bzw. schlüssigen Zusam­menhang mit dieser Theorie stehen. Diesen Zusammenhang kann ich von der Sache her einsehen. Gibt es aber nur wirken­de, harte (materielle) Ursachen und keine einsehbaren Gründe, dann ist die Rede von Wahrheit – so scheint es – hinfällig und damit auch der Anspruch auf Wahrheit, den ein naturalisti­sches Menschenbild erhebt.

Will man an der Wahrheitsfähigkeit des Menschen und am Sinn rationaler Diskurse (jenseits einer erfolgreichen Weitergabe der Gene) festhalten, dann ist es naheliegend das enge weltan­schauliche Korsett eines naturalistischen Reduktionismus hin­ter sich zu lassen. Die Fähigkeit, sich in seinem Denken wie auch im Handeln auf Gründe zu beziehen und von Absichten leiten zu lassen, bildet einen zentralen Aspekt des Mensch­seins, der „sich nicht ohne Verlust in naturwissenschaftliche Beschreibungsformen … übersetzen lässt“, so der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister J. Nida­Rümelin.

Die Grenzen eines naturalistischen Menschenbildes zeigen sich auch darin, dass menschliches Bewusstsein sich selbst nie vollständig erfassen kann, weil es immer schon von einer Ich­Perspektive getragen ist. Diese lebensweltlich bestimmte Ich­Perspektive ist unhintergehbar – nicht zuletzt in der wis­senschaftlichen Arbeit des Gehirnforschers. Es ist und bleibt immer ein Ich, das die Subjektivität eines anderen Ich in die Objektivität eines Es übersetzen möchte: „Selbst dort noch, wo der Mensch sich restlos als das Fremdbedingte […] von sich abwälzen und so sich wegerklären würde, ist er es, der dies tut und weiß und will, umgreift er die Summe möglicher Elemente einer solchen Erklärung und erweist er sich so als derjenige, der ein anderes ist als das nachträgliche Produkt solcher Einzelmomente“ (A. Raffelt/K. Rahner).

Gott als schöpferischer Grund menschlichen Personseins

Transzendiert der Mensch aber in seinem Wissen und seiner geistigen Freiheit das bloß Faktische und naturwissenschaftlich Beschreibbare, dann stellt sich die Frage, wie beide Aspekte – das Geistige und das Natürliche – als Teil der einen Wirklichkeit gedacht werden können. An dieser Stelle ist es weiterführend, den Gedanken der Schöpfung ins Spiel zu bringen. Danach gründet „der Prozess der natürlichen Entstehung des Lebens und der Arten des Lebendigen einschließlich des Menschen

in demselben Willen einer göttlichen Weisheit, die auch das Ergebnis dieses Prozesses will, nämlich ein natürliches Wesen, das seinen natürlichen Ursprung entdeckt und dem Schöpfer für sein Dasein dankt“. Geht man von der Wirklichkeit Gottes aus, dann ist also eine ‚natürliche‘ Erklärung nicht notwendig mit einer reduktionistischen Erklärung verbunden, eben weil die Natur selbst sich der schöpferischen Freiheit Gottes ver­dankt und in der Hervorbringung freier, wahrheits­ und ver­antwortungsfähiger Wesen nur zu dem zurückkehrt, was sie im Ursprung ist. Das bedeutet: „Wenn Gott ist, können wir sein, wofür wir nicht umhin können, uns zu halten: Personen“ (R. Spaemann).

Will man diesen Deutungszusammenhang in der Sprache der Emergenztheorie formulieren, dann könnte man sagen: Got­tes schöpferisches Sein und Wirken wird an den Stellen der evolutionären Geschichte in besonderer Weise sichtbar, wo starke Emergenzen auftreten, also neue und unvorhersehba­re Phänomene – wie der menschliche Geist –, die aus dem Bisherigen nicht (vollständig) abgeleitet werden können. Aller­dings darf das Schöpfersein Gottes nicht auf diese Ereignisse beschränkt und davon abhängig gemacht werden. Gott als Schöpfer der Welt zu glauben heißt vielmehr, dass alles, was existiert, in einer konstitutiven Beziehung zu ihm steht.

2. Wahrheit in den Dingen: Die Welt als für den Menschen erkennbare Wirklichkeit

Damit der Mensch aber mit seiner Vernunft Wahres über die Welt erkennen kann, ist es erforderlich, dass die Welt überhaupt erkennbar und menschlicher Rationalität zugänglich ist. Dass sie so beschaffen ist, dass menschliches Denken und Forschen sich sinnvoll und nachhaltig darauf beziehen kann. Aber ist sie das überhaupt? Bleibt die Wirklichkeit – an sich – nicht vielmehr dem Menschen verborgen, so dass Erkenntnis immer nur eine subjektive und gesellschaftliche Konstruktion ist?

Diese Ansicht vertreten führende Denker der Postmoderne, am radikalsten wird sie aber von Friedrich Nietzsche schon im 19. Jahrhundert zur Sprache gebracht. Er zieht gewissermaßen ei­nen Schlussstrich unter die neuzeitliche Erkenntnistheorie und ihr (in seinen Augen) erfolgloses Bemühen, selbst den Nachweis für die Wahrheit des eigenen Erkennens zu erbringen: Wahrheit ist für ihn eine Selbsttäuschung, sie ist „die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte“. Dabei bringt er die Idee der Wahrheit sehr klar mit dem (christlichen) Gottesgedanken in Verbindung, wenn er schreibt, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und An­timetaphysiker, ... unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen­glaube, der auch der Glaube Platos war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist“. Von diesem „metaphysischen Glauben“ an die Wahrheit, „auf dem unser Glaube an die Wis­senschaft ruht“, verabschiedet sich Nietzsche ebenso radikal wie von dem – (für ihn) damit verbundenen – Glauben an Gott.

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GRUNDSATZARTIKEL

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

IST DIE WAHRHEIT NUR (M)EINE „ERFINDUNG“? Über die Erkennbarkeit der Welt und den Menschen als erkenntnisfähige Person – eine christliche Perspektive1

Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Schaut man sich die heutigen Medien und die aktuelle Politik an, dann könnte man auf die Idee kommen, die „Wahrheit“ habe ausgedient. Nicht nur in den sozialen Medien präsentiert jeder seine höchst in­dividuelle Sicht der Dinge (bis hin zu den sogenannten fake news, die unter dem Mantel der Wahrheit daherkommen), auch in der großen Politik dominieren zunehmend sehr ei­genwillige, zum Teil auch völlig abseitige Deutungen der (ge­sellschaftlichen) Wirklichkeit. Die „Wahrheiten“ des Donald Trump (über die bei seiner Amtseinführung anwesende Men­schenmenge, den Klimawandel, die Kriminalität der Migran­ten, etc.) sind da nur ein besonders offensichtliches Beispiel. Das Wort des Jahres 2016 scheint dieser Entwicklung Rech­nung zu tragen: postfaktisch, im Englischen: posttruth. Der Unterschied zwischen „gefühlter“ und echter Wirklichkeit wird zunehmend relativiert und es werden „alternative Fakten“ be­müht, um die eigene Sicht zu untermauern.

Aber genau dagegen regt sich massiv Widerstand. Lässt sich alles wirklich beliebig umdeuten, zurechtbiegen? Gibt es nicht Wirklichkeiten und „Wahrheiten“, die es schlicht zu respek­

tieren gilt – wie den Temperaturanstieg, die abschmelzenden Gletscher, vielleicht sogar die gleiche und unantastbare Würde aller menschlichen Wesen?

Der Philosoph Michael Hampe ist der Auffassung, dass sich an dieser Stelle das Scheitern postmoderner Theorien zeigt, die Wahrheit nur als individuelle bzw. gesellschaftliche Konstrukti­on ansehen: „Was macht man, wenn rechte Verschwörungs-theoretiker, Leute, die Fakten zurechtfabrizieren und schlicht lügen, an die Macht kommen? Was sagt man den Leugnern der Erderwärmung, wenn sie die Tatsachen mit grober Pran-ke einfach beiseiteschieben und lachend rufen: ‚Du wirfst mir vor, die Tatsachen zu leugnen? Hast du nicht behauptet, die gäbe es gar nicht? Nun, wenn alles nur konstruiert ist, dann konstruiere ich mir jetzt eben mal mein Klima, ich erfinde es, statt es vorzufinden – so hast du es doch immer gewollt!‘“

Auch wenn Trump selbst kein postmoderner Theoretiker ist, so lässt sich durchaus fragen, ob die geschilderte Entwick­lung nicht auch ein Ausdruck solcher Theorien ist. Außerdem: Wäre jede Wahrheit nur individuell konstruiert, dann würde das

Jochen Walldorf

1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Artikels „Gott und die Wahrheit“, in: RPI-Impulse 3/2016, S. 7-11.

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

2 Neben dieser Korrespondenz (zwischen Wirklichkeit und sprachlichem Erkennen) bilden die Kohärenz von Aussagen und Behauptungen sowie die intersubjektive Kommunikation (die auch eine geschichtliche Dimension einschließt) wichtige Aspekte eines angemessenen Wahrheitsverständnisses.

auch für diese „Wahrheit“ gelten – und sich damit aufheben. Es scheint, als könne man die Wahrheit nur bestreiten, indem man sie – indirekt – bestätigt bzw. voraussetzt.

Im christlichen Glauben wird Wahrheit nicht (nur) als eine Funktion des Individuums verstanden, sondern als Ausdruck einer Wirklichkeit, die von außen auf uns zukommt und uns „frei macht“ von irrigen, zerstörerischen Haltungen und Sicht­weisen (vgl. Joh 8,32). Die Wahrheit – die in Jesus von Na­zareth aufleuchtet und Gestalt angenommen hat (Joh 1,14) – begegnet uns.

Dieser Gedanke einer von uns unabhängigen Wirklichkeit, die sich dem Menschen (ansatzweise) erschließt und sein Erken­nen und Verstehen prägt, ist für das Wahrheitsverständnis grundlegend. „Die Wahrheit wird individuell gesucht und ge­funden, aber nicht hergestellt“ (M. Meyer­Blanck). In der klas­sischen Definition von Wahrheit, die spätestens bei Aristoteles begegnet, ist von einer Übereinstimmung zwischen (sprach­lich artikuliertem) Erkennen und Sein die Rede.2 Natürlich ist uns dieses Sein, also die Wirklichkeit immer nur durch unsere Sinne und in Verbindung mit unseren begrifflichen Kategorien gegeben. Dennoch ist es sinnvoll, das erkennende Denken und die uns begegnende Wirklichkeit zu unterscheiden – als aufeinander bezogene Pole im Erkenntnisprozess. Auf diese Unterscheidung nimmt die traditionelle Rede von der Wahrheit im Denken und der Wahrheit in den Dingen Bezug, an der ich mich im Folgenden orientiere.

1. Wahrheit im Denken: Der Mensch als erkenntnis­ und wahrheitsfähiges Subjekt

Bei der Frage nach der Wahrheit geht es nicht nur um die „Welt da draußen“ und ob bzw. wie wir sie (angemessen) erkennen können, sondern zunächst um uns selbst: Sind die Prozesse, die in mir und meinem Denken ablaufen, überhaupt geeignet, so etwas wie wahre Erkenntnisse hervorzubringen? Ist meine Vernunft „vernünftig“ in dem Sinne, dass sie mir hilft, die Wirk­lichkeit zu „vernehmen“ und rational zu erfassen? Oder bilden wir uns dies vielleicht nur ein, während sich unsere vermeint­lichen Erkenntnisse tatsächlich Mechanismen verdanken, die gegenüber so etwas wie der „Wahrheit“ völlig gleichgültig sind?

Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit ist keine neue Frage. Dennoch stellt sie sich im Kontext der heutigen wissenschaft­lichen Forschung in ganz neuer Weise. Dies gilt ebenso und vielleicht noch offensichtlicher für die Frage nach der Freiheit des Menschen in seinem Wollen und Handeln. Angesichts neuer Erkenntnisse der Neurowissenschaften über die enge

Korrelation von Bewusstseins­Zuständen mit den Aktivitäten verschiedener Gehirnbereiche wird von einigen Forschern be­hauptet, dass letztlich Gehirnfunktionen und die dahinter ste­hende evolutionäre Entwicklungsgeschichte festlegen, wie wir handeln und denken. Ist das, was wir für wahr halten, also nur Ausdruck unseres spezifischen Neuro­Designs und sonstiger physikalischer Bedingungen? Ja, müsste man nicht sagen, nicht ich ‚denke‘, sondern es ‚denkt‘ in mir, da hinter allem nur unpersönliche und absichtslose materielle Prozesse stehen?

Ist ein absichtsloser neuronaler Prozess wahrheitsfähig?

Dies sind gewichtige Anfragen, hinter denen allerdings – und das ist entscheidend – nicht nur naturwissenschaftliche (ge­hirnphysiologische) Daten und Erkenntnisse stehen, sondern vielmehr eine naturalistische Weltanschauung, die diese Daten in bestimmter Weise deutet und interpretiert. Grundlegend ist dabei die reduktionistische Perspektive: alles, was es gibt, lässt sich restlos auf naturwissenschaftlich beschreibbare Phäno­mene zurückführen. Mit einer solchen weltanschaulichen Deu­tung sind aber nun erhebliche Probleme verbunden. Im Blick auf unsere Fragestellung ist wesentlich, dass der Naturalismus als allumfassendes Erklärungsmodell, konsequent zu Ende ge­dacht, sich selbst aufhebt. Denn wenn Erkenntnis tatsächlich nur das Ergebnis elektro­chemischer neuronaler Prozesse ist, die im Gehirn ablaufen, wie kann sie dann gleichzeitig Folge einer rationalen Einsicht sein, die auf Wahrheit gerichtet ist? Ein neuronaler materieller Prozess ist als solcher nicht einsichtsfä­hig und kann nicht richtig oder falsch sein, sondern geschieht einfach. Es wäre sinnlos, einem Gehirnzustand Wahrheit oder Irrtum zuzuschreiben (Kategorienfehler), oder zu sagen, er sei intentional auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen, so wie geistige Akte (Gedanken, Wünsche, Hoffnungen) auf Sachver­halte oder Gegenstände bezogen sind – z. B. die Klausur am nächsten Tag oder eine wissenschaftliche Theorie.

Wenn aber Erkenntnis, wie ein strenger Naturalismus behaup­tet, nur das Ergebnis absichtsloser neuronaler Prozesse ist und nicht (aus) einer rationalen und freien Einsicht folgt, wie kann dann eine solche Erkenntnis noch den Anspruch erhe­ben, „wahr“ zu sein? Ist sie nicht ebenso das notwendige (oder auch zufällige) Resultat physisch­materieller Bedingungen und Mechanismen wie die anderslautende Erkenntnis des Diskus­sionspartners? Worüber also streiten?

Sehr pointiert begegnet dieser Gedankengang bei dem Theo­logen und Philosophen Richard Schröder. In seinem Buch „Die Abschaffung der Religion?“, in dem er sich vor allem mit dem naturalistischen Weltbild des Evolutionsbiologen und Atheisten R. Dawkins kritisch auseinandersetzt, markiert er eine prinzipi­elle Grenze naturalistischer Erklärungen: Wer alles mithilfe eines strengen Naturalismus erklären möchte, „muss doch immer eine Ausnahme machen, nämlich für seine Erkenntnis selbst. Die soll ja richtig oder wahr sein und dafür wird er Gründe an-führen und Zustimmung erwarten. Sonst beißt sich die Katze in den Schwanz und man gerät in logische Aporien. Dann ist die Erkenntnis, dass das Denken eine Eigenschaft der Materie

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ist, wiederum eine Eigenschaft der Materie und dass ich das sage, wiederum und so weiter. Oder: das Gehirn produziert die Gedanken und darunter auch den Gedanken, dass das Gehirn die Gedanken produziert. Das kannst du dann aber auch für dich behalten, denn mein Gehirn produziert meine Gedanken. Wer an Einsicht appelliert, [...] setzt voraus, dass es Einsicht gibt. Wer für irgendeine Aussage Wahrheit bean-sprucht, muss voraussetzen, dass es einsichtige Gründe gibt und nicht nur wirkende Ursachen“.

So halte ich etwa die Urknalltheorie deshalb für wahr oder gerechtfertigt, weil eine Reihe von Beobachtungen (z. B. die Rotverschiebung entfernter Galaxien) gemacht wurde, die in einem gedanklich nachvollziehbaren bzw. schlüssigen Zusam­menhang mit dieser Theorie stehen. Diesen Zusammenhang kann ich von der Sache her einsehen. Gibt es aber nur wirken­de, harte (materielle) Ursachen und keine einsehbaren Gründe, dann ist die Rede von Wahrheit – so scheint es – hinfällig und damit auch der Anspruch auf Wahrheit, den ein naturalisti­sches Menschenbild erhebt.

Will man an der Wahrheitsfähigkeit des Menschen und am Sinn rationaler Diskurse (jenseits einer erfolgreichen Weitergabe der Gene) festhalten, dann ist es naheliegend das enge weltan­schauliche Korsett eines naturalistischen Reduktionismus hin­ter sich zu lassen. Die Fähigkeit, sich in seinem Denken wie auch im Handeln auf Gründe zu beziehen und von Absichten leiten zu lassen, bildet einen zentralen Aspekt des Mensch­seins, der „sich nicht ohne Verlust in naturwissenschaftliche Beschreibungsformen … übersetzen lässt“, so der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister J. Nida­Rümelin.

Die Grenzen eines naturalistischen Menschenbildes zeigen sich auch darin, dass menschliches Bewusstsein sich selbst nie vollständig erfassen kann, weil es immer schon von einer Ich­Perspektive getragen ist. Diese lebensweltlich bestimmte Ich­Perspektive ist unhintergehbar – nicht zuletzt in der wis­senschaftlichen Arbeit des Gehirnforschers. Es ist und bleibt immer ein Ich, das die Subjektivität eines anderen Ich in die Objektivität eines Es übersetzen möchte: „Selbst dort noch, wo der Mensch sich restlos als das Fremdbedingte […] von sich abwälzen und so sich wegerklären würde, ist er es, der dies tut und weiß und will, umgreift er die Summe möglicher Elemente einer solchen Erklärung und erweist er sich so als derjenige, der ein anderes ist als das nachträgliche Produkt solcher Einzelmomente“ (A. Raffelt/K. Rahner).

Gott als schöpferischer Grund menschlichen Personseins

Transzendiert der Mensch aber in seinem Wissen und seiner geistigen Freiheit das bloß Faktische und naturwissenschaftlich Beschreibbare, dann stellt sich die Frage, wie beide Aspekte – das Geistige und das Natürliche – als Teil der einen Wirklichkeit gedacht werden können. An dieser Stelle ist es weiterführend, den Gedanken der Schöpfung ins Spiel zu bringen. Danach gründet „der Prozess der natürlichen Entstehung des Lebens und der Arten des Lebendigen einschließlich des Menschen

in demselben Willen einer göttlichen Weisheit, die auch das Ergebnis dieses Prozesses will, nämlich ein natürliches Wesen, das seinen natürlichen Ursprung entdeckt und dem Schöpfer für sein Dasein dankt“. Geht man von der Wirklichkeit Gottes aus, dann ist also eine ‚natürliche‘ Erklärung nicht notwendig mit einer reduktionistischen Erklärung verbunden, eben weil die Natur selbst sich der schöpferischen Freiheit Gottes ver­dankt und in der Hervorbringung freier, wahrheits­ und ver­antwortungsfähiger Wesen nur zu dem zurückkehrt, was sie im Ursprung ist. Das bedeutet: „Wenn Gott ist, können wir sein, wofür wir nicht umhin können, uns zu halten: Personen“ (R. Spaemann).

Will man diesen Deutungszusammenhang in der Sprache der Emergenztheorie formulieren, dann könnte man sagen: Got­tes schöpferisches Sein und Wirken wird an den Stellen der evolutionären Geschichte in besonderer Weise sichtbar, wo starke Emergenzen auftreten, also neue und unvorhersehba­re Phänomene – wie der menschliche Geist –, die aus dem Bisherigen nicht (vollständig) abgeleitet werden können. Aller­dings darf das Schöpfersein Gottes nicht auf diese Ereignisse beschränkt und davon abhängig gemacht werden. Gott als Schöpfer der Welt zu glauben heißt vielmehr, dass alles, was existiert, in einer konstitutiven Beziehung zu ihm steht.

2. Wahrheit in den Dingen: Die Welt als für den Menschen erkennbare Wirklichkeit

Damit der Mensch aber mit seiner Vernunft Wahres über die Welt erkennen kann, ist es erforderlich, dass die Welt überhaupt erkennbar und menschlicher Rationalität zugänglich ist. Dass sie so beschaffen ist, dass menschliches Denken und Forschen sich sinnvoll und nachhaltig darauf beziehen kann. Aber ist sie das überhaupt? Bleibt die Wirklichkeit – an sich – nicht vielmehr dem Menschen verborgen, so dass Erkenntnis immer nur eine subjektive und gesellschaftliche Konstruktion ist?

Diese Ansicht vertreten führende Denker der Postmoderne, am radikalsten wird sie aber von Friedrich Nietzsche schon im 19. Jahrhundert zur Sprache gebracht. Er zieht gewissermaßen ei­nen Schlussstrich unter die neuzeitliche Erkenntnistheorie und ihr (in seinen Augen) erfolgloses Bemühen, selbst den Nachweis für die Wahrheit des eigenen Erkennens zu erbringen: Wahrheit ist für ihn eine Selbsttäuschung, sie ist „die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte“. Dabei bringt er die Idee der Wahrheit sehr klar mit dem (christlichen) Gottesgedanken in Verbindung, wenn er schreibt, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und An­timetaphysiker, ... unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen­glaube, der auch der Glaube Platos war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist“. Von diesem „metaphysischen Glauben“ an die Wahrheit, „auf dem unser Glaube an die Wis­senschaft ruht“, verabschiedet sich Nietzsche ebenso radikal wie von dem – (für ihn) damit verbundenen – Glauben an Gott.

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In diesem erkenntnistheoretischen Horizont steht auch M. Foucault, bei dem es heißt: „Wir müssen uns nicht einbilden, dass die Welt uns ein lesbares Gesicht zuwendet [...] Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis“. Ebenso lehnt der ame­rikanische Philosoph Richard Rorty die Vorstellung ab, die Wahrheit könne unabhängig vom menschlichen Geist „dort draußen“, in der Welt sein: Es gibt „keine Wahrheit, wo es kei­ne Sätze gibt“. Da die Welt aber „nicht spricht“, kann sie uns auch nicht sagen, welche Sprachspiele und Deutungen wir im Umgang mit ihr verwenden sollen. Der Mensch bewegt sich demzufolge in einem Spiegelsaal, in dem ihn nur die eigenen sprachlichen Bilder, Zerrbilder und Konstruktionen anblicken – ohne greifbaren Bezug zu einer Welt außerhalb seiner selbst.

Ist damit unser Leben und Handeln in der Welt zutreffend be­schrieben? Zu Recht wird hier ein naiver Realismus in Frage gestellt, der davon ausgeht, dass sich in der Erkenntnis die Realität (mehr oder weniger) unbeeinflusst vom Subjekt abbil­det. Erkenntnis vollzieht sich immer vor dem Hintergrund per­sönlicher und kultureller Einstellungen und Konventionen. Den­noch ist die menschliche Erkenntnis nicht beliebig, vielmehr kommt darin die uns begegnende Realität immer wieder ‚zur Sprache’ – manchmal sogar konträr zu unseren Erwartungen und Hoffnungen. So macht jeder Mensch in seinem Leben die Erfahrung von Widerständen, in denen sich etwas zeigt, das in seinen Deutungen und Vorstellungen (bislang) nicht vorkam und nicht vorgesehen war. Natürlich sind solche Erfahrungen nicht neutral, sondern vermittelt durch unsere Sprache und Interpretationen. „Aber all diesen Erfahrungen liegt die unarti­kulierte Wahrnehmung von ‚etwas’ zugrunde, das mich ... mit einer Realität konfrontiert, die ich jedenfalls nicht konstruiert, ja bis dato nicht einmal interpretiert habe“. Diese unmittelba­re und durch unsere (äußeren und inneren) Sinne vermittelte Wahrnehmung liegt all unseren Erkenntnisvollzügen zugrunde. Die Wirklichkeit ist somit „nicht nur unser Konstrukt, sondern kann unsere Konstrukte schwer erschüttern, vielleicht sogar zum Einsturz bringen“ (W. Härle). Der Philosoph und Schrift­steller Umberto Eco spricht davon, dass das Sein einen „har­ten Sockel“ hat und es „Tendenzen“ und „Resistenzen“ des Seins gibt, die der Interpretation Grenzen setzt.

Gerade der Erfolg der Naturwissenschaften in der Erklärung und Vorhersage natürlicher Ereignisse zeigt, dass diese Erklä­rungen und Vorhersagen auf eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit verweisen. Selbst der größte Anti­Realist, der in ei­nem Flugzeug den Atlantik überquert, muss anerkennen, dass das Flugzeug imstande ist zu fliegen – und es fliegt u.a. auf­grund des Verhältnisses von Druck und kinetischer Energie, das erstmals 1738 festgestellt wurde. Die Position eines radikalen Konstruktivismus erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig.

Ist die Wirklichkeit aber dem menschlichen Denken nicht ver­schlossen und „unlesbar“ (oder beliebig „lesbar“), sondern – annäherungsweise – zugänglich, wie ein kritischer Realismus postuliert, dann ist die Rede von Wahrheit nicht bedeutungs­los, sondern sinnvoll und berechtigt. Nicht im Sinne absoluter Wahrheit, da es dem Menschen nicht möglich ist, seine sub­jektive Perspektive zu verlassen und einen „Gottesstandpunkt“ einzunehmen, aber doch im Sinne einer bewährungs­ und auch irrtumsfähigen Erkenntnis, die Anhalt hat an dem, wie die Dinge wirklich sind. Es ist interessant, dass in der gegenwärti­gen philosophischen Szene gerade realistische und die Wahr­heit betonende Positionen eine neue Konjunktur erleben. Die Vertreter dieses „neuen Realismus“ (P. Boghossian, M. Gabriel u.a.)3 bzw. eines robusten, pluralistischen Realismus (H. Drey­fus, C. Taylor) verteidigen den common sense, die Autorität der Wissenschaften und kritisieren die Argumente des radika­len Konstruktivismus.4

Warum ist die Welt verstehbar?

Wenn der Mensch aber nun Wahres über die Welt erkennen und sein Handeln produktiv und erfolgreich darauf beziehen kann, dann ist damit vorausgesetzt, dass die natürliche Welt verstehbare, dem Denken zugängliche Strukturen besitzt. Dass sie transparent ist für (menschliche) Rationalität. Warum ist dies so? Handelt es sich dabei schlicht um eine nackte und letztlich unverständliche Tatsache, die es zu akzeptieren gilt? Oder lässt sich die Verstehbarkeit der Welt ihrerseits „verste­hen“? Für Albert Einstein war die rationale Verständlichkeit des Universums im tiefsten ein „Geheimnis“, das zum Staunen An­lass gab. In einem Brief schreibt er:

„Sie finden es merkwürdig, dass ich die Verstehbarkeit der Welt (...) als Wunder oder ewiges Geheimnis empfinde. Nun, a priori sollte man doch eine chaotische Welt erwarten, die durch Denken in keiner Weise fassbar ist (...) Die Art von Ord-nung dagegen, die z. B. Newtons Gravitationstheorie schafft,

3 Für den Fachverband Ethik hat K. Goergen wichtige „Texte zum Neuen Realismus“ (2014) in einem Reader zusammengestellt (online verfügbar).

4 Damit ist ein konstruktivistischer Ansatz in der Religionspädagogik keineswegs in Abrede gestellt. Es ist jedoch darauf zu achten, dass es in Lernprozessen auch darum geht „die Selbstbezüglichkeit un-seres Erkennens zu durchbrechen“ (R. Englert) und offen zu sein für die Eigen-, manchmal auch Widerständigkeit des Wirklichen. Dies kann dazu führen, bestimmte Vorstellungen und Konstruktionen (z. B. ein bestimmtes Jesusbild) zu überdenken bzw. zu modifizieren.

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besitzt einen ganz anderen Charakter. Wenn auch die Axiome der Theorie vom Menschen gesetzt sind, so setzt doch der Erfolg eines solches Vorhabens eine hochgradige Ordnung der objektiven Welt voraus, die a priori nicht zu erwarten war. Hier liegt das ‚Wunder’, das sich mit dem Fortschreiten unse-res Wissens immer mehr verstärkt”.

Diese Verwunderung äußerte auch der Nobelpreisträger und Physiker E. Wigner in seinem berühmten Diktum, der „unge­heure Nutzen der Mathematik in der Naturwissenschaft“ sei „etwas, das ans Mysteriöse grenzt“ und nur geglaubt, nicht aber erklärt werden könne. Bemerkenswert ist also nicht allein die Verstehbarkeit des Universums, sondern auch und beson­ders der mathematische Charakter dieser Verstehbarkeit. Es besteht unter Naturwissenschaftlern weitgehende Überein­stimmung, dass die Mathematik in der Lage ist, die Muster und Symmetrien zu beschreiben, die sich auf den verschiedenen Ebenen der natürlichen Ordnung finden (vgl. z. B. die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie).

Im Blick auf diese Gewissheit, im rationalen Denken und Forschen einen Zugang zu den elementaren Strukturen und „Geheimnissen“ des Universums zu finden, spricht der (selbst nicht religiöse) Philosoph Thomas Nagel von „einer natürlichen Sympathie zwischen den tiefsten Wahrheiten der Natur und den tiefsten Schichten des menschlichen Geistes“, die dafür sorgt, dass „wir uns im Universum stärker heimisch fühlen, als dem weltlich Gesinnten behagt“.

Aus der Sicht des Glaubens ist diese „natürliche Sympathie“ nicht weiter verwunderlich. In der christlichen Theologiege­schichte wird Gott nicht nur als umfassende Liebe, sondern auch als schöpferische Vernunft (logos) und Weisheit (sophia) verstanden. Diese Vernunft und Weisheit des Schöpfers kommt zum Ausdruck in der Erkennbarkeit, Ordnung und Entwick­lungsfähigkeit der von ihm geschaffenen Welt (vgl. Gen 1; Joh 1,1­3; Spr 8,22ff). Die Wirklichkeit ist nicht ‚dunkel‘, chaotisch und dem Menschen verschlossen, sondern sie besitzt – von Gott her – eine rationale Struktur und Regelhaftigkeit, aufgrund deren sie für das Denken, Erkennen und Handeln des Men­schen als verantwortlichem Partner Gottes erschlossen ist.

Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass unserem Verständnis von Wahrheit bestimmte Voraussetzungen zugrunde liegen, die alles andere als selbstverständlich sind: die tiefgehende Entspre­chung zwischen der menschlichen Rationalität und den Struktu­ren, die in der Natur vorhanden sind – aber auch die Stabilität und Verlässlichkeit dieser Gegebenheiten. Der Gottesgedanke der jüdisch­christlichen Tradition eröffnet hier eine spezifische Verste­hensmöglichkeit. Gott als der schöpferische Ursprung der Wirk­lichkeit wird in der biblischen Glaubensgeschichte immer wieder als treu und verlässlich bekannt (z. B. Ps 89,3.6.9.15), und aus dieser Treue Gottes wird „sowohl der kontinuierlich­einheitliche Prozesscharakter der Wirklichkeit als auch deren kontinuierliches Erschlossensein für das menschliche Verstehen verstehbar“ (W. Härle). Diese Treue Gottes zu seiner Schöpfung und zum Men­schen aber ist gemäß der Sprach­ und Denkwelt der Hebräi­schen Bibel ein zentraler Aspekt seiner „Wahrheit“ (hebr. ämät).

3. Wahrheit und Religion

Bisher war von Wahrheit im allgemeinen Sinn die Rede (wenn auch aus christlicher Sicht), nicht jedoch speziell von religiö­ser oder christlicher Wahrheit. Dazu einige abschließende Bemerkungen: Religiöse Menschen sprechen dem Gesamt­system der Aussagen und Erzählungen ihrer Religion – zu­mindest in einem Kern – Wahrheit zu. Dabei ist offenkundig, dass sich diese religiöse Wahrheitsgewissheit in keiner Wei­se auf ein kognitives Für­Wahr­Halten beschränkt, aber sich eben „auch nicht ohne inhaltlich bestimmte, der eigenen Deutung vorausliegende bzw. im Vorgang des Deutens ge-fundene Bestimmungen der Wahrheit vollziehen kann. Pro­vokativ formuliert: Glauben und Religion sind auch Für-Wahr-Halten“. So ist „der christliche Glaube nicht zu denken ohne die Gewissheit, dass die Gottesgeschichte und die eigene Lebensgeschichte in der Geschichte des Jesus von Nazareth korrelieren“ (M. Meyer­Blanck).

Eine endgültige Bewahrheitung (Verifikation) solcher Glaubens­überzeugungen in der Gegenwart ist schon deshalb nicht möglich, weil der Glaube als Rede von Gott „immer mehr und anderes als nur die Wirklichkeit der Welt zur Sprache“ bringt. Nur Gott selbst kann die Wahrheit des Glaubens am Ende bzw. Ziel der Geschichte erweisen. Im Blick auf eine mögliche (par­tielle) Bewährung religiöser Aussagen schon in der Gegenwart ist „entscheidend, ob die in der christlichen Lehre artikulierten Annahmen über die Wirklichkeit im ganzen zusammenpas­sen mit den Erfahrungen, die Menschen in den verschiede­nen Erfahrungsbereichen tatsächlich machen“ (E. Jüngel). Die obigen Überlegungen zum Wahrheitsverständnis sind ein Bei­spiel dafür, wie die christliche Rede von Gott als Schöpfer des Menschen und der Welt „zusammenpasst“ mit Erfahrungen, die unser Denken und Handeln prägen: die Erfahrung der Er­kenntnis­ und Wahrheitsfähigkeit des Menschen und der dem entsprechenden Verstehbarkeit der Welt.

Literatur:

� M. Hampe, Katerstimmung bei den pubertären Theoretikern, in: DIE ZEIT Nr. 52/2016

� W. Härle, Spurensuche nach Gott, Berlin 2008 � R. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht,

Stuttgart 2007 � R. Schröder, Abschaffung der Religion?, Freiburg 2008 � T. Nagel, Das letzte Wort, Stuttgart 1999 � E. Jüngel, Art. Wahrheit/IV, in: RGG (4. Auflage),

Band 8, Tübingen 2005 � J. Polkinghorne, An Gott glauben im Zeitalter

der Naturwissenschaften, Gütersloh 2000 � M. Meyer­Blanck, Unterscheiden, was zusammen­

gehört. Zum Verhältnis von Wahrheitsfrage und Wirklichkeitsdeutung im Kontext religiöser Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 1/2016, Themenheft Wahrheit, S. 7­18.

� U. Eco, Kant und das Schnabeltier, München 2003

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WAS IST EIGENTLICH WAHR? WAS IST EIGENTLICH WAHR?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

WAS IST EIGENTLICH WAHR?ZUGÄNGE ZUR WIRKLICHKEIT IN THEOLOGIE UND NATURWISSENSCHAFTEN

Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.1

Im Kerncurriculum für Evangelische Religion in Hessen wer­den die Absichten des Halbjahres E2 kurz zusammengefasst: „In Kurshalbjahr E2 wird der spezifische Zugang von Religion zur Wirklichkeit verdeutlicht. Wie unterscheidet sich das Fach Evangelische Religion von anderen (Schul­)Fächern, welches Menschenbild und welche Deutung von Wirklichkeit werden hier vertreten?“ (S. 25). Die Schülerinnen und Schüler, die in die Oberstufe kommen, haben in der Schule schon zehn Jah­re die Erfahrung gemacht, dass sie unterschiedliche Fächer haben. Sie verbinden ein „Fach“ aber in der Regel mit un­terschiedlichen Inhalten und Themen (Deutsch, Geschichte, Mathe usw.) und weniger mit den unterschiedlichen Zugän­gen zur Wirklichkeit, den „Modi der Weltbegegnung“. Noch weniger haben sie reflektiert, dass die Fächer unterschiedli­che Methoden und Wahrheitsansprüche repräsentieren (vgl. Einleitung). Gerade Religion und Ethik haben in der Schule den Auftrag sich mit den „Fragen hinter den Fragen“ zu be­fassen und die unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit offenzulegen und zu reflektieren. Dies verbindet sich mit der

Erfahrung junger Menschen, dass sie in hohem Maße mit ei­ner Vielfalt an Überzeugungen und Vorstellungen konfrontiert werden. In dieser Vielfalt von unterschiedlichen Deutungssys­temen von Mensch, Welt und Wirklichkeit müssen sie für sich klären, wo sie stehen, woran sie sich orientieren, wie sie sich selbst sehen bzw. sehen möchten.

Um die großen Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit für Schülerinnen und Schüler konkret und verständlich zu ma­chen, ist im KCGO für E2 der Fokus auf das Thema Theo­logie und Naturwissenschaften gelegt. Durch die Beschäf­tigung mit Wirklichkeitsverständnissen in Theologie und Naturwissenschaft und mit den damit korrespondierenden unterschiedlichen Menschenbildern, entdecken sie den spe­zifischen Beitrag des Faches Evangelische Religion, sein Wahrheitsverständnis und seine Begründung der Menschen­würde. In E2 wird so auch ein erster Hinweis auf das Thema „Menschenbilder“ gegeben, das sich von Q1 bis Q4 als „roter Faden“ durch die Oberstufe zieht.

Harmjan Dam

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WAS IST EIGENTLICH WAHR?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

1. Wie man aneinander vorbei reden kann.Verschiedene Fächer haben unterschiedliche Zugänge.

5. Der hermeneutische Zirkel

Heilige Bücher in den Weltreligionen. Was ist „heilig“? Was macht Texte heilig?

Bibel und Koran: Kann man diese vergleichen?

7. Weitere Themen zum Verstehen der Bibel: Deutungen der Taufe Jesu im Jordan; Zwei Quellen Theorie; Entstehung der Bibel; Ist die Bibel ein Märchenbuch?;

Die Wahrheit der Bibel. Bibliologe zu Gen 4,1­16 und Mk 2, 1­12

Themenfeld E2.1 Zugänge zur Wirklichkeit in Theologie und Naturwissenschaften. Was ist eigentlich wahr?

� Vergleich von Schöpfung und Evolution als kom­plementäre Erklärungen von Weltentstehung (z. B. Vergleich biblischer Schöpfungserzählungen in Gen 1 und 2 und Psalm 104, Anliegen von unter­schiedlichen Schöpfungsentwürfen und von Welt­entstehungstheorien)

� Theologie und Naturwissenschaften; unterschiedliche methodische Zugänge zur Wirklichkeit und ihr jeweili­ger Erklärungsanspruch

2. Um zu verstehen muss man den (historischen) Kontext kennen.

Schöpfungserzählungen. Gattungen in Medien, Literatur und Bibel. Umwelt, Quellen.

3. Wie denken die Naturwissenschaften, wie die Theologie?

Zwei Zugänge zur Wirklichkeit.

4. Wahrheit, Wahrnehmung und Erkenntnis.Empirismus und Idealismus/Rationalismus.

Konstruktivismus. Relationaler Wahrheitsbegriff

Der hier vorgelegte Unterrichtsentwurf geht von diesem The­menfeld E2.1 aus und hat Aspekte der anderen vier Themen­felder eingeflochten. Das methodisch­didaktische Vorgehen kann am besten mit einem immer wieder neuen „Heranschlei­chen“ an die Wahrheitsfrage verglichen werden. Es ist be­wusst „holzschnittartig“ und kann nicht mehr als ein erstes Problembewusstsein für diese theologischen und philosophi­schen Grundfragen schaffen.

Mit schülernahen Methoden und Beispielen wird die Frage nach Wahrheit – in Bezug auf die „Wirklichkeit“ wie im Blick auf Texte – immer wieder anders gestellt um zu verdeutlichen,

Deutungen der Paradies-GeschichteGanzschrift Jona lesen und deuten

6. Schöpfung, Kreationismus, Sozialdarwinismus

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WAS IST EIGENTLICH WAHR? WAS IST EIGENTLICH WAHR?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

wie in den Wissenschaften Zugänge und Wahrheitsbegriffe differieren und wie Inhalte und Methoden zusammenhängen.

Dabei bleibt im Blick, dass diese Zugänge sich ergänzen, aber dennoch nicht wertneutral sind. Unterschiedliche Diszi­plinen haben unterschiedliche Welt­ und Menschenbilder, mit den entsprechenden Konsequenzen.

Die Unterrichtsinhalte sind in mehreren großen Einheiten zu­sammengefügt. Wieviel Zeit gebraucht wird, kann – abhän­gig von Zwischenfragen, Beispielen, Niveau der Kursgruppe usw. – variieren. Mit kleineren Hausaufgaben (Textlektüre usw.) kann – wenn nötig – die Brücke zur nächsten Stunde geschlagen werden.

1. Wie man aneinander vorbeireden kann – oder: „Zugänge zur Wirklichkeit“

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können erklären, warum Menschen aneinander vorbeireden, wenn sie ihren Zugang zur Wirklichkeit als einzig wahren verstehen.

Der erste Zugang zu diesem Thema (erste Doppelstunde) ist das Lied Romanze der „Wise Guys“ (M1a) (u.a. bei You­tube). Es besingt auf lustige Weise einer sehr schülernahe Situation: ein junger Physiker und seine „Angebetete“ be­trachten die Wirklichkeit, reden aber völlig aneinander vor­bei. Das Lied wird gehört und kommentiert. Weitere Bei­spiele können von den Schülerinnen und Schülern erzählt werden.

Auch die Lehrkraft kann Beispiele beisteuern: Ist die Part­nerwahl vor allem durch Liebe oder durch Hormone be­stimmt? Wie kann bei einen neu gefundenen Gemälde von Rembrandt festgestellt werden, ob es eine Fälschung ist? Durch die Analyse der chemischen Struktur der Farben, durch die Maltechnik, durch den ästhetischen oder öko­nomischen Wert des Gegenstandes? Ist die Musik, die ich mag, durch die Klangwellen (Bässe, Rhythmus als Tonwel­len), durch die Melodien oder durch die Interpretation des Künstlers bestimmt? Oder hängt es vor allem von meiner Stimmung ab, ob ich bestimmte Musik mag (zur Ruhe kom­men wollen oder Abtanzen)?

Die Schüler werden schnell entdecken, dass die unterschiedli­chen Zugänge die „Wahrheit“ auf unterschiedliche Weise fest­stellen. Dies wird dann auf die Zuordnung der verschiedenen Schulfächer als „Modi der Weltbegegnung“ angewandt. Diese ergänzen sich und können sich nicht gegenseitig ersetzen. Dazu ist ein kurzer Text von J. Baumert mit Aufgabenstellung in M1b aufgenommen.

2. Verstehen durch Kenntnis des historischen Kontexts

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können die zwei Schöpfungserzählungen in Genesis unterschei-den und erklären, in welchem Kontext und mit welchen Absichten sie geschrieben wurden.

In einem nächsten Unterrichtsschritt geht es um den histo­rischen Zugang zur Wahrheit. Alle Schülerinnen und Schüler kennen den Satz: „Das kannst du nicht verstehen, wenn du nicht weißt, was dahinter steckt.“ Um sie nochmals diese Er­fahrung machen zu lassen, bekommen sie den WhatsApp­ Dialog von Markus und Sophie (M2). Die Andeutungen und Abkürzungen lassen unterschiedliche Interpretationen offen, wozu die Schüler Vermutungen anstellen. Die Wahrheit kann anschließend nur durch Informationen über den historischen Kontext (Wer ist wer? Was bedeutet was?) erklärt werden:

Markus wohnt in der Wetterau, einem ländlichen Ge-biet nördlich von Frankfurt. Sophie wartet im Norden der Stadt an der Endstation der U-Bahn Linie 6, um zusammen auszugehen. Markus kommt später, we-gen MKS: Maul- und Klauenseuche beim Vieh. Diese grassiert auf dem Land und es gibt Absperrungen und Straßenkontrollen um der Ausbreitung vorzubeugen. Die B 521 ist die durchgehende Straße, die laut Sophie frei sein müsste. Sie hat es aber nur gehört. Markus schreibt aber, dass er dort auch schon versucht hat schneller nach Frankfurt zu kommen, es aber auch auf dieser Straße Kontrollen und Blockaden gibt und er also nicht schnell durchkommt. Sophie regt sich aber auf über Kirsten, Markus Schwester. Kirsten hat auch vermutet, dass die Straße B 521 frei wäre. Sophie fürchtet, dass Kirsten dabei ist und ihre Pläne, Markus zu erobern, durchkreuzen könnte. Markus hat Kirsten aber nur mitgenommen, weil sie zu Marie, ihrer Freun-din in Frankfurt gehen wollte, darum ist es kein Prob-lem. Dann bricht Sophie ab, weil die U-Bahn gleich los fährt. Auf die Frage von Markus, wo sie sich dann tref-fen, schreibt Sophie, dass sie zuerst zum „Café KoZ“ im KommunikationZentrum auf dem Uni-Campus Bo-ckenheim (Mertonstraße) geht, wo sie beide eigentlich immer zuerst hingehen.

Die Einsicht, dass man für das Verstehen von Texten die Hin­tergründe kennen muss, wird nun angewendet auf das Bei­spiel dreier Schöpfungsgeschichten: die zwei biblischen und die babylonische Schöpfungserzählung „Enuma Elisch“ (M3 und M4). Ziel ist einerseits zu verdeutlichen, dass es in der Bibel nicht nur eine Schöpfungserzählung gibt (dies wird auch bei „Gattungen“, siehe unten, aufgegriffen) und dass die jünge­re Schöpfungserzählung vor ihrem babylonischen Hintergrund verstanden werden sollte.

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WAS IST EIGENTLICH WAHR?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Nach der Erarbeitung kann als Fazit z. B. formuliert werden, dass man die biblischen Geschichten nur verstehen kann, wenn man die Entstehungszeit und den Kontext kennt. Gen 1 ist die jüngere Schöpfungserzählung und kann als Gegenent­wurf zu Enuma Elisch verstanden werden. Die Erde entsteht in der Bibel nicht aus Göttern, sondern aus dem Nichts. Gott schafft aus dem Chaos eine gute Ordnung. Der Mensch hat – nach der Bibel – in seinem Wesen eine Ähnlichkeit mit Gott: er will schaffen und gestalten. Ihm wird darum der Auftrag zu­getraut, diese Welt sorgfältig zu bebauen und zu bewahren. Er ist kein Sklave der Götter. Die Schöpfungserzählungen wollen nicht in erster Linie das WIE, sondern das WOZU des Lebens und der Menschen erklären.

Gattungen in Medien, Literatur und Bibel

Mit dem Vergleich der biblischen und babylonischen Schöp­fungserzählungen haben die Schülerinnen und Schüler eine erste Erfahrung mit der historisch­kritischen Methode der Bi­belexegese gemacht. Diese Methode wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, als das Fach Geschichte sich in der Wissenschaft zur wichtigen Leitwissenschaft entwickelt hatte. „Wissen wie es gewesen ist“ (L. von Ranke) war oft das Kri­terium für Wahrheit und galt als letztes Argument um etwas zu verstehen. Die Ergebnisse der historisch­kritische Exege­se (Textkritik, Quellentrennung, soziale und politische Umwelt usw.) gelten bis heute als Standard in den biblischen theologi­schen Fächern und die anderen exegetischen Zugänge bauen darauf auf. Als am Anfang des 20. Jahrhundert die Naturwis­senschaften zur Leitwissenschaft wurden, entwickelte sich in der historisch­kritischen Exegese die Literarkritik. Sie betonte, dass nicht alle biblischen Texte auf ihre Historizität zu befragen

sind, sondern dass man zum Beispiel zwischen Gattungen un­terscheiden muss.

Didaktisch kann dieser zweite Zugang mit einer Sammlung Glasgefäße erklärt werden (siehe Bild). Die Schülerinnen und Schüler werden gebeten zu erraten, was in welche Flasche gehört. Es leuchtet ein, dass man Bier nicht in eine Weinfla­sche füllt, dass Milch nicht in ein Remouladenglas gehört und Schnaps nicht in ein Joghurtglas usw. (Als kleine Zwischenfra­

Die Menschenschöpfung, Garten Eden (jüngere biblis­che Schöpfungserzählung) Gen 2,4b­25

Götter schaffen die Erde. Babylonische Schöpfungser­zählung. Enûma elîsch

Die Schöpfung der Welt in 7 Tage und der Sabbat (ältere biblische Schöpfungser­zählung) Gen 1,1­2,4a

1. Was war am allerersten Anfang?

Wüste Als Erstes fällt Regen. Apzu (Erzeuger) und Tiamat (Urmutter)

Chaos/Urflut Als Erstes kam Licht/Firmament

2. Wie wird der höchste Gott bezeichnet?

Gott der HERR. HERR= JHWH (Jahweh: der, der ist und dabei ist)

600 Götter und Dämonen Ea=Richter, Marduk = Sohn Eas

Gott (Elohim), Gott herrscht und schafft durch Befehl (Wort)

3. Welche Rolle haben die Sterne?

(keine) Zeichen der Götter Lampen am Firmament Licht für die Nacht

4. Warum wurde der Mensch erschaffen?

Menschen sollen das Land bearbeiten

Um den Göttern die Mühen und Lasten abzunehmen

Um die Erde in Besitz zu nehmen. Lasst UNS Menschen machen

5. Wie erhält der Mensch seine Lebendigkeit?

Aus Erde (Adama) macht er den Mensch (Adam) und bläst ihm Lebensatem (Nefesh: Seele) ein.

(Mensch ist etwas Schönes aus Blut und Knochen)

(Er ist lebendig weil er vom leb­endigen Gottgeschaffen wurde.) Gott segnet ihn.

6. Wozu ist der Mensch auf der Welt?

Um den Garten zu pflegen. Mann und Frau. Beziehungen!

Um den Göttern die Mühen und Lasten abzunehmen

Erde bebauen und bewahren

7. Was ist das Verhältnis von Gott/den Göttern zu den Menschen?

Er gibt ihnen eine Lebensauf­gabe. Beziehung

Sklaven der Götter Mensch ist Gottes­Ebenbild = „Seelenverwandtschaft“ (Mit­Schöpfer)

Die Antworten in der Tabelle können in etwa lauten:

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WAS IST EIGENTLICH WAHR? WAS IST EIGENTLICH WAHR?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

ge kann diskutiert werden, ob man eine Beziehung per SMS beenden darf …). Ebenso gibt es unterschiedliche Gattungen im Fernsehen: Krimi, Nachrichten, Satire, Talkshow, Spielfilm usw.

Danach werden die Schüler gefragt, welche unterschiedlichen Gattungen in der Bibel vorkommen. Sie können nennen: Psal­men (Lyrik), Prophetie, Briefe, Evangelien, Weisheitssprüche, Novelle (Jona), historische Bücher (Kön, Sam, Apg), Parabeln (Gleichnisse), Wundererzählungen usw.

Die Aufgabe lautet dann zu analysieren, in welchen Gattungen in der Bibel über die Schöpfung berichtet wird. Dazu verglei­chen sie Gen 2, Ps 104 und Gen 1. Gen 2 ist eher eine mytho­logische Erzählung oder „Urerzählung“. Ps 104 ist Lyrik zum Lob des Schöpfers. Gen 1 ist ebenso ein Gedicht – mit sieben Strophen, was man schon daran sieht, dass sie alle identisch enden. In modernen Bibeln wird dies auch typografisch klar, weil der Text als Gedicht gesetzt ist. Als Fazit kann an der Tafel notiert werden, dass Gen 1 das Staunen über die gute Schöp­fung und über den guten Schöpfer in lyrischer Form ausdrü­cken will und keine (natur­)wissenschaftliche Erklärung vom WIE der Weltentstehung ist. Wir sprechen darum weder vom Schöpfungsmythos, noch von der Schöpfungsgeschichte, noch vom Schöpfungsbericht.

Auf dieser Basis kann dann genauer in den Bibeln nachge­schaut werden, wie der „Textapparat“, die Fußnoten, die Glie­derung, die Überschriften, die Karten, die Register, das Stich­wortverzeichnis und die Sacherklärungen helfen, die Texte besser zu verstehen. Geeignet ist dafür die „Gute Nachricht Bibel“.1 Anhand des Apparates von Gen 1 und 2, der viele kon­krete Beispiele bringt, kann der Nutzen verdeutlicht werden.

3. Wie denken die Naturwissen­schaften, wie die Theologie?

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können erklären, wie die Naturwissenschaften ihre Theorien ent-wickeln. Sie können erläutern, wie Theologie (Bibel) und Naturwissenschaften (Darwin) zwei sich ergänzende Zu-gänge zur und Deutungen von Wirklichkeit sind.

Im nächsten Schritt wird nun erkundet, wie die Naturwissen­schaften nach Erkenntnis und Wahrheit in der „Natur“ (also nicht in der „Schöpfung“) suchen. Angefangen werden die Doppelstunden mit der Projektion des Bildes „Die ‚Netze‘ der Wissenschaft“ (M5). In einem Klassengespräch versuchen die Schülerinnen und Schüler das Bild zunächst zu beschreiben und zu deuten. Dass man ein Netz braucht, um etwas zu fan­gen und wie ein Netz wirkt, kann mit Beispielen erläutert wer­den. Z. B. das Suchen nach bestimmten Steinen in einer Kiste

mit Lego: Wer nicht gezielt sucht, findet nichts. Wer gezielt sucht, findet anderes nicht.

Weil die Naturwissenschaften in hohem Maße mit mathema­tischen Formeln arbeiten, muss auch die Mathematik als Ab­straktion erklärt werden. Man kann z. B. drei willkürliche Ge­genstände (Stift, Ranzen, Wörterbuch) auf den Tisch legen und bis drei zählen. Dann drei andere (Mülleimer, Handy, Reli­gionsbuch) und sagt 3+3=6. Es zeigt, dass Zahlen den Vorteil haben, dass man (fast) alles in Zahlen ausdrücken kann, aber dass sie nur einen entfernten Bezug zur Wirklichkeit darstellen. Dass Zahlen nicht immer hilfreich sind, kann man am Beispiel „Wie viel liebst du mich?“ diskutieren. Oder an der Frage, ob die sogenannte ‚gefühlte‘ Temperatur für dich die gleiche ist wie für mich? usw.

Dann wird M6 ausgeteilt, der Text von Hans­Peter Dürr gele­sen und erläutert.

Mit einer zweiten Textarbeit zu den (nicht einfachen) Ausfüh­rungen von Helmut Fischer (M7) wird das Verhältnis von Na­turwissenschaften und Theologie besprochen. Dabei sollte M7 zuerst als Hausaufgabe gelesen werden; in der Unterrichts­stunde wird dann Aufgabe 1 in Zweiergruppen bearbeitet, an­schließend absatzweise der ganze Text gelesen und erklärt. Danach formulieren die Schülerinnen und Schüler in Vierer­gruppen eine Antwort auf Frage 2. Die Thesen werden an die Tafel geschrieben und im Plenum besprochen (und Fehler, wenn nötig, bereinigt).

Einige Schülerbeispiele von zusammenfassenden Thesen zum Text von Helmut Fischer:

� Die Naturwissenschaften haben an sich nichts Religiö­ses, Göttliches oder Heiliges. Sie sind ein eigener Zu­gang zur Wirklichkeit und verstehen die Natur aus ihrer eigenen Methode heraus und diese ist nicht religiös.

� Je mehr die Naturwissenschaften sich entwickelten, desto stärker wurde die Existenz Gottes in Frage ge­stellt. Im 20. Jahrhundert wurden sie sich aber bewusst, dass sie nicht die einzig wahre Erklärungsmethode für die Wirklichkeit sind, und sich bewusster über ihren ei­genen Zugang.

� Die Naturwissenschaft kann die Existenz Gottes weder belegen, noch widerlegen. Wir sollten uns nicht für einen einzigen Zugang zur Wirklichkeit bzw. eine einzige Wis­senschaft entscheiden, ohne diesen (d.h. seine Methode und was man damit „fangen kann“; vgl. Netz des Physi­kers) zu reflektieren.

� Naturwissenschaft spricht die Sprache der Mathematik und entwickelt mathematische Theorien um die Wirklich­keit zu erklären (z. B. Wetter­Vorhersage­Modelle). Reli­gion ist ein anderer Zugang zur Wirklichkeit und schaut darum anders (z. B. Schönheit; Dankbarkeit; Trost)

Alternative Texte finden sich in den Beiträgen von J. Walldorf (M6, M7 und M9) und U. Reinhardt (M8­11).1 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2000ff., ISBN 3-438-01672-9.

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WAS IST EIGENTLICH WAHR?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

4. Wahrheit, Wahrnehmung und Erkenntnis

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können drei erkenntnistheoretische Modelle unterscheiden und ihre Ausgangpunkte und Absichten erklären.

Die Doppelstunde zur Erkenntnistheorie kann mit einfachen Wahrnehmungsübungen anfangen: Kippbilder, optische Täu­schungen, die Brechung eines Bleistifts in einem Glas Wasser; Bilder von M.C. Escher oder Magritte usw. Zum Beispiel

� Bild Vulkan, Vergleich zweier Kreise (Religionsbuch Oberstufe, Cornelsen 2014, S. 54­55, 59).

� Escher, Magritte (Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Calwer/Diesterweg 2014, S. 10­11)

Die Schülerinnen und Schüler werden hier selbst auch Bei­spiele nennen können, die die begrenzten Möglichkeiten des Auges beweisen.

„Ist das, was ich sinnlich erfassen kann, weniger wahr als das, was ich denken kann?“ Diese philosophische, erkenntnisthe­oretische Frage ist auf M8 stark vereinfacht auf zwei Modelle reduziert. Diese zwei Modelle des Empirismus und des Ratio­nalismus/Idealismus können in einem Klassengespräch erklärt werden. Auch können sie durch Textarbeit erschlossen oder vertieft werden, z. B.

� John Locke, Immanuel Kant (Religionsbuch Oberstufe, Cornelsen 2014, S. 56, 60­61)

� René Descartes, Empirismus (Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Calwer/Diesterweg 2014, S. 24, 26).

Um das Modell des Konstruktivismus zu erklären, kann fol­gendes Experiment gemacht werden: Acht Schülerinnen und Schüler werden gebeten aus dem Klassenraum zu ge­

hen und anschließend nacheinander hereingerufen. Der/die erste Schüler bzw. Schülerin soll die auf einzelnen Kärtchen geschriebenen Ziffern von Reihe I vorlesen. Die anderen be­obachten, was passiert, verraten aber nichts. Das letzte Sym­bol 0 wird höchstwahrscheinlich als Null gelesen. Die zweite Schülerin wird hereingerufen und bekommt die Buchstaben der Reihe II zu lesen. Das letzte Symbol 0 (das gleiche wie aus Reihe I) wird wahrscheinlich als Buchstabe O gelesen. Ebenso wird den nächsten Schülern bzw. Schülerinnen die Reihe III und IV gezeigt, dabei werden sie wahrscheinlich das gleiche Symbol abwechselnd als B oder als 13 lesen, wenn die anderen Buchstaben in der vergleichbar verfremdeten Schriftart gestaltet sind. Dann erfolgt das Experiment noch­mals mit den vier anderen Schülern.

(I) 3 - 6 - 8 - 2 - 0

(II) A - B - G - N - 0

(III) 3 - 6 - I8 - 2 - I3

(IV) I–I - \/\/ - I\I - I< - I3

Danach erklären die Schülerinnen und Schülern, die Zuschau­er waren, den acht „Vorlesern“, wie das Experiment verlief. Gemeinsam wird überlegt, was es „beweist“. Anschließend können auch andere Beispiele der „Konstruktion“ von Wirk­lichkeit gegeben werden, aus denen sich zeigt, dass „Wahr­heit“ immer auch mit dem Standpunkt und dem Kontext der Konstrukteure zusammenhängt. Z. B. das aufgeräumte Kin­derzimmer in der Sicht der Mutter und des Kindes usw. Das Modell kann im Klassengespräch erklärt und mit Textarbeit vertieft werden:

� P. Watzlawick, E. von Glasersfeld (Religionsbuch Oberstufe, Cornelsen 2014, S. 59­63)

� Niklas Luhmann, Matrix (Kursbuch Religion Sek II, Calwer/Diesterweg 2014, S. 24­25)

� H. Maturana, N. Luhmann (Oberstufe Religion, Heft 1, Wirklichkeit, Calwer 2006, S. 8­9)

Bei der abschließenden Frage auf M8 („Vergleichen Sie die drei erkenntnistheoretischen Ansätze. Was gewinnt man, was geht verloren?“) kann insbesondere auf die Vor­ und Nachtei­le des heute stark verbreiteten Konstruktivismus hingewiesen werden.2 Man kann zwar nicht verneinen, dass es sich bei der Suche nach Wahrheit immer auch um Konstruktionsprozesse handelt, aber im philosophischen Modell des Konstruktivismus spiegelt sich eine hoch individualistische Gesellschaft wieder. Es ist das Individuum, das die Wirklichkeit in seinen Gedanken konstruiert. Demzufolge erhalten andere, nicht vom Individu­

2 Literatur zur aktuellen philosophischen Debatte um den Konstruk-tivismus bzw. neuen Realismus: Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013. Hubert Dreyfuss, Charles Taylor, Die Wieder-gewinnung des Realismus. Harvard 2015, Berlin 2016.

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WAS IST EIGENTLICH WAHR? WAS IST EIGENTLICH WAHR?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

um bestimmten Phänomene, Strukturen und Prozesse weni­ger Aufmerksamkeit. Zudem muss bedacht werden, dass der Konstrukteur nicht als Beobachter außerhalb dieser Prozesses steht. Auch er muss, wenn er konstruiert, offen legen, was sein Movens als Konstrukteur ist. Konstruktivismus hilft einerseits Verabsolutierungen zu vermeiden. In einem Satz (W. Hollen­weger): „Ich weiß nicht was ist, ich weiß nur, was mir begegnet.“

Auf der anderen Seite kann er jedoch zu Relativismus führen und sogar zu „nihilistischem Skeptizismus, der jeden Wertmaß­stab ausschließt“ (E. Troeltsch). Dies wird vermieden, wenn im Konstruktivismus die Relativität nicht als Subjektivität, sondern als Relationalität aufgefasst wird und nach Konsenswahrheit bzw. intersubjektiver Wahrheit gesucht wird.

5. Der hermeneutische Zirkel

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können die drei Schritte des hermeneutischen Zirkels erklären.

In der nächsten Doppelstunde werden die Konsequenzen aus dem Konstruktivismus für das Verstehen von Texten gezogen: der hermeneutische Zirkel. Eine didaktische Annäherung ge­schieht mit M9: Die vielen Ge­sichter der Tulpe. In die Mitte des Klassenraums wird eine Vase mit einem Bund Tulpen gestellt. Die Schülerinnen und Schüler wäh­len eine der sieben Personen und

beschreiben die Tulpen aus der jeweiligen Sicht. Danach wer­den die Kurztexte vorgelesen und die andern raten, aus wel­cher Sicht hier die Tulpe beschrieben wird. Anschließend wird besprochen, was die Übung bezwecken sollte.

Die Erkenntnisse aus dem Schreibauftrag werden dann mit der hier abgebildeten Grafik des hermeneutischen Zirkels verbun­den. Dies sollte mit Texten vertieft werden, z. B.:

� Religionsbuch Oberstufe, Cornelsen 2014, S. 99­100

� Kursbuch Religion Sek II, Calwer/Diesterweg 2014, S. 33

Um die gewonnene Erkenntnis praktisch anzuwenden, wird anschließend Gen 3 nach den drei Schritten des hermeneu­tischen Zirkels gedeutet. Für den zweiten Schritt, in dem es um den Autor und die Hintergründe des Textes geht, kann auf den sog. „Textapparat“ (vgl. oben bei 2.) und zusätzlich auf das Arbeitsblatt M10 zurückgegriffen werden.

Ein zeitgemäßes aktuelles Verstehen (dritter Schritt) kann in Kleingruppen (oder als Hausaufgabe) erarbeitet werden (vgl. dazu M11). Auch können zwei Auslegungen aus dem Internet

zur Paradieserzählung besprochen werden. Suchbegriff: „ge­nesis 3 sündenfall interpretation“. Abschließend kann nun der Arbeitsauftrag „Deutung der Ganzschrift Jona“ gegeben und erläutert werden: M11.

6. Schöpfung, Fundamentalismus und Kreationismus?

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können das biblisch-christliche Menschenbild (Geschöpf, Eben-bild Gottes) von einem biologistischen Menschenbild (Natur, Lebewesen mit mechanischen und chemischen Prozessen) unterscheiden. Sie können erklären, was Kre-ationismus (bzw. ID) ist und will und was der Sozialdarwi-nismus beabsichtigt. Sie können erklären, welche Folgen sozialdarwinistische und kreationistische Einseitigkeiten haben und einen eigenen Standpunkt dazu einnehmen.

Um die Schülerinnen und Schüler weiter von der Notwendig­keit einer Kontextualisierung zu überzeugen, wird die Übung „Fragen an Dr. Laura“ gemacht. Siehe: www.bibel.com/faq/offener­brief­an­dr­laura.html. Die Schüler überlegen, war­um in all diesen Fällen eine biblizistische buchstabengetreue Deutung von biblischen Texten für heute nicht gelten kann.

Schwerpunkt dieses nächsten Schrittes in der Unterrichts­reihe ist aber ein zweites Thema: die (möglichen) Konse­quenzen von Theologie und Naturwissenschaften für das Welt­ und Menschenbild. Bisher wurden die Unterschiede zwischen den verschiedenen „Modi der Weltbegegnung“ als komplementär gedeutet, hier müssen nun aus didaktischen Gründen zwei Positionen aufgegriffen werden, bei denen nicht das Ergänzende, sondern das Gegensätzliche betont wird: Kreationismus und Sozialdarwinismus.

Zu den verschiedenen Formen des Kreationismus kann zuerst ein Text gelesen werden, zum Beispiel aus dem „Religionsbuch Oberstufe“ (Cornelsen 2014), S. 81. Die Fragen sind hier:

1. Was ist Kreationismus?

2. Welche Inhalte verkündet diese Auffassung und warum?

3. Was ist „Intelligent Design“? (deutsch „Spezifisches Design“)

4. Welche Argumente führt „Intelligent Design“ für seine Position an?

5. Welche Argumente könnten gegen diese zwei Theorien vorgebracht werden?

Auch Auszüge aus dem EKD­Text 94 zu „Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule“ (online verfügbar über die EKD) eignen sich als Einführung gut.

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WAS IST EIGENTLICH WAHR?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Literatur:

� Ulrike Baumann, Friedrich Schweitzer (Hg.), Religionsbuch Oberstufe. Berlin 2008(1), 2014(2)

� Harmjan Dam, Björn Uwe Rahlwes, Schönberger Impulse. Praxisideen Religion: Anderes entdecken – Eigenes vergewissern: Bausteine für einen pluralitäts­fähigen Religionsunterricht. Frankfurt 2008 (Bibel & Koran!)

� Harmjan Dam, Selcuk Doğruer, Susanna Faust­ Kallenberg, Begegnung von Christen und Muslimen in der Schule. Eine Arbeitshilfe für gemeinsames Feiern. Göttingen 2016 (u.a. Bibel & Koran)

� Veit­Jakobus Dieterich, Wirklichkeit. Oberstufe Religion Heft 1. Stuttgart 2006

� Helmut Fischer, Schöpfung oder Urknall Schöpfung und Urknall: Klärendes für das Gespräch zwischen Glaube und Naturwissenschaft, Zürich 2009

� Hanno Hagemann, Naturwissenschaft und Glaube. Themenheft Oberstufe. Vandenhoeck & Ruprecht 2013

� Bernd Niss, Oliver Friedrich, Naturwissenschaft und Glaube. Themenhefte Gemeinde. Bergmoser & Höller 2008

� Religion 5­10. Was bringt mir die Bibel? Heft 9. Friedrich Verlag Velber, 2013

� Hartmut Rupp, Veit­Jakobus Dieterich (Hg.) Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Stuttgart/Braunschweig 2014

� Stefan Jakob Wimmer, Stefan Leimgruber, Von Adam bis Mohammed. Bibel und Koran im Vergleich. München 2005

� Renate Wind, Befreiung buchstabieren. Basislektüre Bibel. Gütersloh 1995 (antiquarisch erhältlich)

� Mirjam und Ruben Zimmermann, Die Bibel. Vom Textsinn zum Lebenssinn. Göttingen 2003

Die kontroverse Debatte wird mit dem Thesenspiel auf M12 nach der Methode „Quattro­Plus“ durchgeführt. Dazu muss zuerst der Sozialdarwinismus als frühe Konsequenz aus dem Evolutionismus erläutert werden. Er wird zwar heute nicht mehr von Evolutionisten vertreten, macht aber die weitgehenden Konsequenzen einer bestimmten Sichtweise für die Gesell­schaft klar. Die Thesen sind so plakativ, dass eine Differenzie­rung nach dem Spiel einfach zu leisten ist.

Erst hier in der Unterrichtsreihe wäre es möglich eine Klausur zu platzieren, in der es um die Überprüfung der Kompetenzen geht. Viele Texte in der hier erwähnten Literatur eignen sich dazu.

7. Bibel, Bibeldeutung, Bibel und Koran

Vor diesem Hintergrund können in der weiteren Unterrichts­reihe nun noch einige andere notwendige Aspekte zum Um­gang mit der Bibel und zur „Wahrheit der Bibel“ angespro­chen werden:

Weil zu diesen Aspekten viele Unterrichtsmaterialien und Tex­te in den gängigen Oberstufenbüchern und Materialheften zur Verfügung stehen, wird dies hier nicht weiter ausgearbeitet.

Zur Beurteilung des Jona­Auftrages kann das Schema in M13 hilfreich sein.

Einige Unterrichtsthemen können, wenn sie hier nicht mehr unterzubringen sind, auch in die Q1 hineingenommen werden: Synopse, Zwei­Quellen­Theorie, Jesus im Koran.

Inhalt Methode

Bibliolog als narrative Ausle­gungsmethode (Gen 4,1­16 und Mk 2,1­12)

Bibliolog (Ausbildung: siehe: www.bibliolog.de)

Die Entstehung der Bibel.(Jesajarolle; Qumran usw.)

Besuch Bibelhaus – Erlebnismuseum, Metzlerstraße 19, Frankfurt

Ist die Bibel ein Märchen­buch? Die Wahrheit der Bibel.

Textarbeit (M14 im Beitrag von Reinhardt)

Was ist „heilig“? Was macht Texte heilig? Heilige Bücher in den Weltreligionen

Mindmap an der Tafel, Vergleich der fünf Welt­religionen

Bibel und Koran; Kann man diese vergleichen?

Texte Jona im Koran Synopse Abraham in Bibel und Koran

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WAS IST EIGENTLICH WAHR? WAS IST EIGENTLICH WAHR?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M1a Wie man aneinander vorbeireden kann

Romanze

Sie trafen sich am Strand kurz vor dem Sonnenuntergangund lächelten und waren leicht verlegen.

Alles war so neu, sie kannten sich noch nicht sehr lang.Er streckte ihr ´nen Rosenstrauß entgegen.

Sie sagte: „Rosen wecken so romantische Gefühle.“Da nickte er und sprach: Ja, zweifelsohne!

Da reichen in der Nase ein paar tausend Moleküleder Duftstoffe mit dem Namen ‚Pheromone‘“.

Und sie saßen eine ganze Weile schweigend beieinander Und blickten auf das weite Meer hinaus.

Da flüsterte sie: „Schau! Der Mond ist heute riesengroß!Die Nacht ist viel zu schön um je zu enden.

Es ist hier so romantisch, ich bin schon ganz atemlos!“und sie fasste ihn ganz sanft an beiden Händen.

Er sagte: „Du, der Durchmesser des Monds am Firmamentist konstant einunddreißig Bogenminuten,

also ungefähr ein halbes Grad, das ist ganz evident.Es wäre falsch, verschied´ne Größen zu vermuten.“

Und sie saßen eine ganze Weile schweigend beieinander Und blickten auf das weite Meer hinaus.

So saßen sie am Meer in dieser warmen Sommernacht.Sie griff nach seiner Hand und seufzte leise:

„Wie wundervoll die Sterne funkeln – es ist eine Pracht!“und sie schmiegte sich an ihn auf sanfte Weise.

Er sah sie an und sagte nur: „Die Sterne funkeln nicht.Das wäre ja verrückt, wenn das so wäre!

Es sieht vielleicht so aus, doch es bricht sich nur das Lichtin den Schichten oben in der Atmosphäre.“

Und sie saßen eine ganze Weile schweigend beieinander Und blickten auf das weite Meer hinaus.Und dann ging sie ohne ihn nach Haus´.

(Wise Guys, T+M Daniel Dickopf)

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WAS IST EIGENTLICH WAHR?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M1b

Verstehen durch Kennen des KontextsWhatsApp zwischen Markus und SophieBilden Sie Zweiergruppen, lesen Sie sich in verteilten Rollen diese WhatsApp vor und erzählen Sie in eigenen Worten nach, was beide hier miteinander besprechen.

Vermutungen über die Bedeutung:

M2

Hallo Markus, ich warte hier schon 15 Minuten an der U6. Wo bleibst du?

Tut mir Leid, Sophie. MKS. Ich komme nicht voran. Nichts geht mehr. Ich bin nicht so schnell da.

Dann nimm doch die B 521. Die sollte frei sein, habe ich gehört.

Habe ich schon probiert. Kirsten hat es mir auch geraten.Geht aber auch nicht flott.

Wieso Kirsten? Ist sie dabei? Das kann doch nicht wahr sein. Da hattest du was anderes versprochen.

Das ist kein Problem: Marie.

Ich glaube, es geht los!

Treffen wir uns dann noch?

KoZ, wie immer.

Zugänge zur WirklichkeitModi der WeltbegegnungIn einer allgemeinbildenden Schule wird nicht nur ein Fach unterrichtet, sondern mehrere. Die unterschiedlichen Fächer spiegeln die unterschiedlichen Disziplinen in der Wissenschaft. Die Fächer erschließen unterschiedliche Dimensio nen von Erkenntnis und Verstehen: Biologie und Physik schauen anders auf die Wirklichkeit als Religion oder Musik.

Der deutsche Erziehungswissenschaftler Prof. Jürgen Baumert, der vor allem durch seinen Beitrag zur PISA­Studie und die na­tionalen Bildungsstandards bekannt wurde, hat die Schulfächer und ihre Bezugswissenschaften nach unterschiedlichen „Modi der Weltbegegnung“ geordnet:

1. kognitiv­instrumentelle Modellierung der Welt (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften)

2. ästhetisch­expressive Begegnung und Gestaltung (Sprache/Literatur, Musik/Bildende und theatrale Kunst/ physische Expression)

3. normativ­evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft (Geschichte, Politik, Ökonomie, Recht)

4. deskriptiv­exploratorische Begegnung und Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen der Weltdeutung und Sinnfindung (Religion, Ethik, Philosophie).

Diese vier Modi können einander nicht ersetzen und sie sind alle gleich wichtig. Jeder Zugang bietet eine eigene Art und Weise, die Wirklichkeit aus einer jeweils besonderen Perspektive zu sehen und jeder hat seine eigenen Methoden und sein eigenes Ver­ständnis von Erkenntnis und Wahrheit.

Aufgaben1. Suchen Sie im Internet die Bedeutung der Wörter, die sie nicht kennen und fassen Sie die vier „Modi der Welt-begegnung“ in eigenen Worten zusammen.

2. Erklären Sie mit Beispielen die Unterschiedlichkeit der hier genannten vier Fächergruppen, ihr Verständnis von Erkenntnis und Wahrheit und die dabei verwendeten Methoden.

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WAS IST EIGENTLICH WAHR? WAS IST EIGENTLICH WAHR?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M3

Die Menschenschöpfung Bibel Gen 2,4b­25

Götter schaffen die Erde. Enûma elîsch

Die Schöpfung der Welt in 7 Tagen. Sabbat Bibel Gen 1,1­2,4a

Entstehungszeit/ Autoren

Ca. 950 ­ 800 v. Chr. Es gab noch keine Priester.

Vor 800 vor Christus (auf 7 Tontafeln in Keilschrift)

Ca. 520 vor Christus. Von Priestern aufgeschrieben.

EntstehungsortJerusalem, aber in einer noch bäuerlichen Umgebung.

Babylon (jetzt Irak) bei den Flüssen Euphrat und Tigris

Bei Babylon, wohin die Juden aus Jerusalem verschleppt worden waren. (Exil)

Fragen:

1. Was war am allerersten Anfang?

2. Wie wird der höchste Gott bezeichnet?

3. Welche Rolle haben die Sterne?

4. Warum wurde der Mensch erschaffen?

5. Wie erhält der Mensch seine Lebendigkeit?

Gen 2,7

6. Wozu ist der Mensch auf der Welt?

Gen 2,15b Enuma Elisch 6,1 Gen 1,28

7. Was ist das Verhältnis von Gott/den Göttern zu den Menschen?

Gen 1,27a

Vergleich der biblischen und babylonischen Schöpfungserzählung

Lesen Sie die beiden Schöpfungsgeschichten in der Bibel sowie die Kurzfassung von Enuma Elisch (Blatt M4) und beant­worten Sie die sieben Fragen. Die Entstehungszeit deutet auf die ältesten schriftlichen Quellen hin, die aber auf noch ältere mündliche Überlieferung zurückgehen. Gen 1,1­2,4a wurde in Babylon im Exil geschrieben wurde, Enuma Elisch war den dort lebenden Juden bekannt.

Aufgabe: Vergleichen Sie die biblischen mit der babylonischen Schöpfungserzählung und fassen Sie die wichtigsten Erkenntnisse in einigen Sätzen zusammen.

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WAS IST EIGENTLICH WAHR?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M4Der historische Kontext der jüngeren biblischen Schöpfungs erzählung: „Enuma Elisch“, der babylonische Schöpfungsmythos

Dieser Text wurde in Babylon (heute Irak) geschrieben, das durch die beiden Flüsse Euphrat und Tigris geprägt war. Die genaue Entstehungszeit ist unklar, Abschriften des Textes datieren aus der Zeit vom 9. bis zum 2. Jahr-hundert v. Chr. und wurden in praktisch allen wichtigen Grabungsplätzen in Assyrien und Babylonien gefunden. Die Erzählung wurde alljährlich zum Neujahrsfest gelesen.In diesem Umfeld entsteht im 6. Jahrhundert v. Chr. die biblische Schöpfungserzählung Gen 1,1-2,4a. Sie ist deut-lich jünger als die zweite Schöpfungserzählung (Gen 2,4bff), die um 900 v.Chr. entstand.

(Tafel 1,1) „Als oben der Himmel noch nicht existierte und unten die Erde noch nicht entstanden war – gab es Apzu und Tiamat, die alle gebar. Sie hatten ihre Wasser miteinander vermischt, ehe sich Weideland verband und Röhricht zu finden war – als noch keiner der Götter geformt oder entstanden war, die Schicksale nicht bestimmt waren, da wurden die Götter in ihnen geschaffen.“

Tiamat ist die Urgöttin in der babylonischen Mythologie. Sie verkörpert das Prinzip des Salzwassers und bildet den Gegenpart zu ihrem Gemahl Apzu, dem Prinzip des Süßwassers. Ihr Name bedeutet Sie, die Sie alle gebar, weil sie zusammen mit Apzu in den Urzeiten vor der Schöpfung die ersten Generationen von Göttern (später etwa 600) gezeugt hat. Der begriffliche Gehalt des Namens Tiamat ist schwer zu fassen, sie verkörpert Person (Göttin) und Prinzip (Salzwasser) in einem. Tiamat ist der Urzustand, das Allumfassende, die „heilige Tiefe“ — diese Vorstellung begegnet auch in der Bibel (Gen 1,2).

Nachdem die jungen Götter Tiamat und Apzu mit ihrem Lärm und ihrem Treiben geweckt haben, will Apzu die Ruhestörer vernichten. Die Jungen begehren jedoch gegen den Vater auf und Ea tötet Apzu, raubt ihm seinen Strahlenkranz und kleidet sich selbst damit. Daraufhin schwört Tiamat Rache. Zusammen mit einer Armee von Ungeheuern, Schlangen und Löwen will sie ihre Kindeskinder bekämpfen. Als diese sich dem riesigen Heer Tiamats gegenübersehen, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Einzig Marduk, der Sohn von Ea, bietet sich an zu kämpfen, aber für nichts Geringeres als die Herrschaft über alles Seiende. Er besiegt Tiamat, spaltet sie und bildet aus den zwei Hälften den Himmel, Erde und Sterne. Als Marduk bemerkt, dass die Götter durch die ihnen zugeteilten Aufgaben zu stark in Anspruch genommen werden, beschließt er Menschen zu

schaffen. Sie sollen die Lasten der Götter tragen. Aus dem Blut von Kingu, einem der jungen Götter, der sich auf die Seite Tiamats gestellt hat, formt Ea die Menschheit.

Der babylonische Stadtgott Marduk wurde später zum Hauptgott der Babylonier.

In der Religion der Babylonier spielten die Sterne eine wich­tige Rolle. Sie glaubten, dass die Götter auf das mensch­liche Leben einwirken, indem sie ihnen Zeichen gaben – besonders durch die Gestirne und ihren Lauf. Gelehrte versuchten die Himmelzeichen zu deuten. Daneben wur­den einzelne Götter auch direkt mit der Sonne, dem Mond oder der Venus als Sitz dieser Götter verbunden.

(Tafel 6,1) „Als Marduk die Rede der Götter hörte, bekam er den Wunsch, etwas Schönes zu schaf­fen. Er öffnete den Mund um Ea zu sagen, was er gedacht hat: „Ich will Blut zusammenbringen und Knochen bilden; ich will den Lulu (sumerisch für Mensch) ... schaffen und ihnen die Mühen und Lasten der Götter geben, damit diese ihre Ruhe haben.“

Das Weltbild in der Bibel und in Babylon, © Harmjan Dam

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M5Die ‚Netze‘ der Wissenschaften

© Harmjan Dam

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„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M6Hans­Peter Dürr: Das Netz des Physikers

Was meint eigentlich ein Naturwissenschaftler, wenn er von Erkenntnis spricht, was ist das für ein Wissen, das einer sol­chen Erkenntnis entspringt? […] Lassen Sie mich diese Be­ziehung zwischen den Erkenntnissen der Naturwissenschaf­ten über die Wirklichkeit und der „eigentlichen“ Wirklichkeit mit einer einprägsamen Parabel beschreiben, wie sie von dem berühmten englischen Astrophysiker Sir Arthur Edding­ton 1939 angeführt wird.

Eddington vergleicht in dieser Parabel den Naturwissen­schaftler mit einem Ichthyologen, einem Fischkundigen, der das Leben im Meer erforschen will. Er wirft dazu sein Netz aus, zieht es gefüllt an Land und prüft seinen Fang nach der gewohnten Art eines Wissenschaftlers. Nach vielen Fischzü­gen und gewissenhaften Überprüfungen formuliert er zwei Grundgesetze der Ichthyologie:

1. Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter.2. Alle Fische haben Kiemen.

Er nennt diese Aussagen Grundgesetze, da beide Punkte sich ohne Ausnahme bei jedem Fang bestätigt hatten. Hypo­thetisch nimmt er deshalb an, dass diese Aussagen sich auch bei jedem künftigen Fang bestätigen, also wahr bleiben werden.

Ein kritischer Betrachter – wir wollen ihn einmal den Metaphy­siker [= ein Philosoph oder Theologe, der die „letzten Fragen“, nach Sinn, Ziel usw. stellt] nennen – ist mit der Schlussfol­

gerung des Ichthyologen höchst unzufrieden und wendet energisch ein: „Dein zweites Grundgesetz, dass alle Fische Kiemen haben, lasse ich als Gesetz gelten, aber dein erstes Grundgesetz, das über die Mindestgröße der Fische, ist gar kein Gesetz. Es gibt im Meer sehr wohl Fische, die kleiner als fünf Zentimeter sind, aber die kannst du mit deinem Netz ein­fach nicht fangen, da es eine Maschenweite von fünf Zentime­tern hat!“ Unser Ichthyologe ist von diesem Einwand jedoch keineswegs beeindruckt und entgegnet: „Was ich mit meinem Netz nicht fangen kann, liegt prinzipiell außerhalb fischkund­lichen Wissens, es bezieht sich auf kein Objekt der Art, wie es in der Ichthyologie als Objekt definiert ist. Für mich als Ichthyo­logen gilt: Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch.“

Soweit die Parabel. Sie lässt sich als Gleichnis für die Na­turwissenschaft verwenden. Bei Anwendung dieses Gleich­nisses auf die Naturwissenschaften entsprechen dem Netz des Ichthyologen das methodische Rüstzeug und die Sin­neswerkzeuge des Naturwissenschaftlers, die er benutzt, um seinen Fang zu machen, d.h. naturwissenschaftliches Wis­sen zu sammeln, dem Auswerfen und Einziehen des Netzes [entspricht] die naturwissenschaftliche Beobachtung. Wir se­hen sofort, dass dem Streit zwischen dem Ichthyologen und dem Metaphysiker kein eigentlicher Widerspruch zugrunde liegt, sondern dieser nur durch die verschiedenen Betrach­tungsweisen […] verursacht wird.

Der Metaphysiker geht von der Vorstellung aus, dass es im Meer eine objektive Fischwelt gibt, zu der auch sehr kleine Fische gehören können. Vielleicht gibt es für ihn auch gewis­se Hinweise darauf, wenn er etwa vom Ufer aus ins Wasser schaut. Aber er hat Schwierigkeiten, deren „Objektivität“ im Sinne des Ichthyologen zu beweisen, denn im Sprachge­brauch des Ichthyologen ist ein Objekt etwas, was er mit dem Netz fangen kann. Der Metaphysiker empfindet diese Bedin­gung der Fangbarkeit als unzulässige subjektive Einschrän­kung der für ihn objektiven Wirklichkeit und bestreitet deshalb die Relevanz der Aussage des Ichthyologen.

Der Ichthyologe ist hier anderer Meinung. Für ihn ist uninter­essant, ob er im Zuge seines Fangs eine Auswahl trifft oder nicht. Er bescheidet sich mit dem, was er fangen kann, und hat deshalb gegenüber dem Metaphysiker den Vorteil, nir­gends vage Spekulationen anstellen zu müssen. Die Präg­nanz seiner Aussagen beruht wesentlich auf diese Selbst­beschneidung. […]

Das Gleichnis mit unserem Ichthyologen ist selbstverständ­lich zu einfach, um die Stellung des Naturwissenschaftlers und seine Beziehung zur Wirklichkeit angemessen zu be­schreiben. Aber das Gleichnis ist doch differenziert genug, um wenigstens die wesentlichen Merkmale dieser Beziehung zu charakterisieren. Die Naturwissenschaft handelt nicht von der eigentlichen Wirklichkeit, der ursprünglichen Welterfah­rung, oder allgemeiner: dem, was dahinter steht, sondern nur von einer bestimmten Projektion dieser Wirklichkeit, nämlich von dem Aspekt, den man, nach Maßgabe detaillierter Anlei­tungen in Experimentalhandbüchern, durch „gute“ Beobach­tung herausfiltern kann.

Hans Peter Dürr (1929-2014) war Physik-Professor und viele Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts in München.

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M7 Helmut Fischer: Die Naturwissenschaft und das Denken über Gott

Ein wichtiger Schritt zum naturwissenschaftlichen Denken in der westlichen Welt war das Bekanntwerden der Schriften von Aristoteles im Mittelalter und deren Interpretation durch den Theologen und Philosophen Thomas von Aquin (1224­1274). Der bis dann von Platon geprägte spekulative Umgang mit der Natur wurde jetzt abgelöst durch die von Aristoteles eröff­nete empirische Erforschung des Naturgeschehens. Wurde Gott bis dahin im Sinne der platonischen Ideen verstanden als „das worüber nicht Größeres gedacht werden kann“ (An­selm von Canterbury), so war Gott nach dem aristotelischen Konzept aus der Erfahrung von Natur und Welt als der un­veränderliche Ursprung aller Bewegung in Welt und Kosmos zu erkennen. Innerhalb dieses Weltverständnisses, das seit Thomas von Aquin in der christlichen Kirche galt, verstan­den auch Kopernikus, Keppler und Newton (1642­1726) ihre Forschungen. Sie alle waren davon überzeugt, mit ihren For­schungsergebnissen dazu beizutragen, die Gedanken Got­tes, des Schöpfers und ersten Bewegers, zu entschlüsseln.

Erst mit der Aufklärung [um 1800] wurden Gott und alles Me­taphysische aus der naturwissenschaftlichen Forschung aus­geschlossen. Der Physiker und Mathematiker Pierre Simon Laplace (1749­1827) hat gegenüber Napoleon festgestellt, dass er, um die Entstehung des Sonnensystems zu erklären, einen übernatürlichen Erstbeweger nicht nötig habe. Imma­nuel Kant formulierte 1786 in seiner Vorrede zu „Metaphy­sische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ die These, „dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathe­matik anzutreffen sei“ (S. 14). Damit war der Gottesgedanke aus der wissenschaftlichen Naturerklärung ausgeschlossen und wissenschaftliche Naturerklärung zugleich von religiöser Sinndeutung unterschieden, ohne dass die beiden Perspek­tiven gegeneinander ausgespielt werden mussten.

Im 19. Jahrhundert begann sich die Naturwissenschaft als die einzige Wissenschaft zu verstehen, die es mit Realitäten zu tun hat. Andere Perspektiven und auch Religion wurden für belanglos, für illusionär oder für rückständig erklärt. [Vgl. die Religionskritik von Feuerbach, Marx und Freud. Auch die naturwissenschaftliche Forschung von Charles Darwin zur Evolution und die Ideen seines deutschen Pendants Ernst Haeckel konnten als ein Verneinen von Gott als Schöpfer verstanden werden.] Ernst Haeckel drückt das Selbstver­ständnis der Naturwissenschaften in seinem Buch „Die Welt­rätsel“ von 1899 wie folgt aus: Man könne die Welt so be­schreiben und verstehen, wie sie ihrer Natur nach objektiv ist. Haeckel war überzeugt, dass das Weltall weder Anfang noch Ende hat, in seiner Größe festgelegt und unveränderlich ist und nach mechanischen Gesetzen funktioniert. In Preußen

schloss man um 1900 das Patentamt, weil man überzeugt war, dass die Welt vollständig erklärt sei und weitere Erfindun­gen kaum mehr zu erwarten seien. Dieses [mechanistische] Weltverständnis hat erst im 20. Jahrhundert das Bewusstsein des Volkes erreicht und nachhaltig geprägt. Der christliche Gottesglaube wurde damit zur privaten Illusion herabgestuft. Die Verbindung zu einem persönlichen Gott schien allenfalls noch über das Modell des Deismus [Gott als „Uhrmacher“] möglich, das Gott aus dem gegenwärtigen Weltgeschehen und aus dem persönlichen Leben heraushält.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Naturwissenschaft in ihrem Selbstverständnis einen radikalen Umbruch erlebt, der mit den Stichworten „Quantenphysik“ und „Relativitäts­theorie“ nur angedeutet sei. […] Die Vorstellung eines nach mechanischen Gesetzen determinierten Weltalls ist undenk­bar geworden. Die Naturwissenschaften handeln auch nicht mehr von der Natur an sich und von physikalischen Reali­täten, sondern sie sprechen von der spezifisch definierten menschlichen Art, sich mit Phänomenen auseinanderzu­setzen und ihnen in der Sprache der Mathematik oder in andere Symbolsystemen Ausdruck zu geben. Die Modelle und mathematischen Formeln versteht man nicht mehr als unser Bild von der Natur, sondern lediglich als das Bild von unserer Beziehung zur Natur (Heisenberg 1955, S. 20). Un­sere jeweilige Perspektive und die Methoden des Betrach­ters entscheiden darüber, was sich uns zeigt und wie sich uns etwas zeigt. Diese Inhalte und das Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaften sind freilich im allgemeinen Bewusstsein des 21. Jahrhunderts noch nicht angekom­men. Den Naturwissenschaften, die ihre Grenzen längst er­kannt haben, wird nach wie vor das Wahrheitsmonopol des 19. Jahrhunderts zugeschrieben, und bereits ihre Hypothe­sen und Theorien werden als wahr in einem absoluten Sinn genommen. Der bewusste Naturwissenschaftler weiß, dass Naturwissenschaft als Wissenschaft weder theistisch [an ei­nen persönlichen Gott glaubend] noch deistisch sein kann, sondern in der Gottesfrage allenfalls agnostisch. Wie der Gerichtsmediziner trotz seiner Tätigkeit nicht vergessen wird, dass es jenseits seines täglichen Umgangs mit Leichen ein vielschichtiges pralles Menschenleben gibt, so wird sich der reflektierte Naturwissenschaftler nicht daran hindern lassen, Welt und menschliches Leben auch unter anderen als natur­wissenschaftlichen Perspektiven anzusehen und zu verste­hen. Das allgemeine Bewusstsein ist freilich weiterhin auf das fixiert, was als exklusive und objektive naturwissenschaftliche Wahrheit angeboten wird.

Prof. Helmut Fischer leitete das Predigerseminar in Friedberg (EKHN)

Aufgaben: 1. Lesen Sie den Aufsatz, klären Sie alle Fremdwörter und markieren Sie die wichtigsten Sätze.2. Bilden Sie Vierergruppen und formulieren Sie Fischers Position in zwei Thesen.

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M8Deutungen der Wirklichkeit: Erkenntnistheorie

Bei dem Thema „Deutungen der Wirklichkeit“ geht es auch um „Erkenntnistheorie“: Wie kann ich etwas wissen? Wie nehme ich Wirklichkeit wahr? Was gilt als Beweis? Man kann hier (stark vereinfacht) drei Positionen unterscheiden:

I EMPIRISMUS

Der Empirismus geht davon aus, dass es eine echte Wirklichkeit (Gegenstände usw.) gibt, die ich als Mensch WAHR­NEHMEN kann. Ich kann meine sinnliche Wahrnehmung (Sehen, Hören) verbessern durch Verlängerung meiner Sinne: Mikro­ und Teleskope, Film­ und Tonaufnahmen, Computer usw. Die Ergebnisse von Experimen­ten (Fakten) bilden dann, wenn ich sie durchden­ke und in Sprache fasse, bestimmte Theorien, Begriffe usw. (Newton, Locke, Russell)

II RATIONALISMUS/IDEALISMUS

Der Rationalist zweifelt an seinen Wahrnehmun­gen. Manchmal fühlt sich kaltes Wasser warm an, manchmal schmeckt Tabak bitter, weil ich Fieber habe. Ich sehe, dass die Sonne aufgeht, aber eigentlich dreht sich die Erde. Ist die Erde rund, weil meine Augen rund sind? Gibt es mich wirklich? Die einzige Sicherheit, so Descartes, ist, dass ich denke. Nur mein Verstand (=RATIO) ist sicher! Darum sind Theorien, Begriffe und Ideen (Idealismus) sicherer als Wahrnehmungen. Immanuel Kant (1724­1804), der Philosoph der Aufklärung, sagte: „Nur eine Wechselwirkung von sinnlicher Wahrnehmung und geistiger Arbeit (Denken) kön­nen zur sicheren Erkenntnis führen.“

III KONSTRUKTIVISMUS

Im 20. Jahrhundert sind die Wissenschaftler sich über Kants Aussage nicht mehr so sicher. „Un­sere jeweilige Perspektive und die Methoden des Betrachters entscheiden darüber, was sich uns zeigt und wie sich uns etwas zeigt.“ „Wir kons­truieren immer unser Bild der Wirklichkeit.“ An­ders formuliert: Ich weiß nicht was IST, sondern nur was mir BEGEGNET. Darum sagt der Konst­ruktivist höchstens, dass etwas PASST! Ein Por­trät stimmt beispielsweise, wenn es für mich mit meiner Idee von der Wirklichkeit (der Person, die ich kenne) übereinstimmt. Eine Theorie erweist sich als passend, wenn sie mir hilft etwas zu erklären. Ob sie wirklich wahr ist, weiß ich nicht. Ob es eine „eigentliche“ Wirklichkeit gibt, bleibt offen.

Aufgaben: Vergleichen Sie die drei erkenntnistheoretischen Ansätze. Was gewinnt man, was geht verloren?

Grafiken © Harmjan Dam

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M9 Die vielen Gesichter der Tulpen

1. BlumenverkäuferFür mich haben die Tulpen nur einen ökonomischen Wert. Sie kosten mich € 1,17 je Bund zu neun Stück. Ich möchte sie für € 1,95 verkaufen. Tulpen sieht man nach drei Tage schon an, dass sie alt sind, darum muss ich die 10 Bund schnell loswerden.Ich notiere mir verschiedene Werbesprüche.

2. BiologeMir stellt sich als Wissenschaftler die Frage, wie die Tulpen eine so intensive Farbe haben können und warum es die gleiche Art in vielen unterschiedlichen Farben gibt. Wissenschaft fängt immer zunächst mit wahrnehmen, messen und beschreiben an. Ich beschreiben die Tulpen, die ich hier sehe, so genau wie möglich.

3. Verliebter JungeIch kann es kaum abwarten, Marie gleich die Tulpen zu geben. Ich träume schon Wochen von ihr, habe es dann gestern geschafft sie anzusprechen und habe mich für heute mit ihr im Park verabredet.Soll ich mir ein paar Notizen machen, damit ich weiß was ich sagen soll, wenn ich ihr die Tulpen gebe?

4. HistorikerEin Lied besingt, dass „Tulpen aus Amsterdam“ kommen, aber das ist historisch falsch. Tulpen kommen aus dem Nahen Osten und ihr Name ist mit der osmanischen Kopfbedeckung „Turban“ verwandt.Ich recherchiere im Internet und schreibe einen kurze „Wiki“ der Tulpe.

5. Hungrige Familie im Zweiten WeltkriegWenn ich Tulpen sehe, muss ich immer an die Geschichte meiner Großeltern denken, die die Hungersnöte am Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt und statt Speisezwiebeln Tulpenzwiebeln gegessen haben.Ich schreibe auf, wie meine Großeltern mir diese Geschichte erzählt haben.

6. Eine alte Witwe erinnert sichVor 50 Jahren habe ich mit meinem Mann unsere Hochzeitreise in die Niederlande gemacht und von Amsterdam aus die großen Tulpen­Anbaugebiete hinter den Dünen besucht. Jedes Jahr zum Hochzeitstag hat mein Mann mir Tulpen geschenkt, aber nun ist er letztes Jahr gestorben.Heute ist Hochzeitstag und ich schreibe mir auf, was mir durch den Kopf geht.

7. Der MüllmannIch frage mich, warum Menschen eigentlich Tulpen kaufen. Wenn man sie kauft, haben sie keine Wurzeln mehr und sind doch schon tot. Nach vier Tage hängen sie und das Wasser fängt zu stinken an. Wenn ich dann die Komposttonnen leere, rieche ich sie schon von weitem.Ich schreibe einen Brief für die Zeitung, um Menschen von Tulpenkauf anzuhalten.

© Harmjan Dam nach „Die Wahrheit der Rose“, Mirjam und Ruben Zimmermann: Die Bibel. Vom Textsinn zum Lebenssinn. Göttingen 2003.

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M10Die Paradieserzählung (Gen 2,4b­3,24) deuten

Informationen für Schritt II des hermeneutischen Zirkels nach: H. Pfeiffer, „Paradies/Paradieserzählung“ (2006), in: www.bibelwissenschaft.de/de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon

PARADIES

Die Lustgärten (παράδεισοι/paradeisoi) der assyrischen und persischen Könige waren Ausdruck großköniglicher Herr­schaftsideologie. Die Menschen in Israel müssen von diesen Gärten gehört haben.

Dieses Relief aus dem Nordpalast Assurbanipals in Ninive stellt vermutlich einen der königlichen Gärten Sanheribs dar. Der auf einem Berg gelegene Garten wird über einen von rechts kom­menden Aquädukt und ein Netz von Kanälen bewässert. Eine via sacra (heiliger Weg) mit einem Altar führt den Berg hinauf zu einem Pavillon oder einem Privattempel mit der Statue des Königs. Wenn es um den König herum grünte und blühte, so galt dies als sichtbares Zeichen seiner besonderen Gottesnä­he. Die genau geordneten Pflanzen und Tiere aus den erober­ten Ländern dokumentierten den Herrschaftsanspruch der Großkönige.

ENTSTEHUNGSZEIT

Die zwei Paradieserzählungen in Genesis 2,4bff und Gen 3 gehören zusammen. Es fängt an mit dem Leben im Paradies. Dies ist die ältere Schöpfungserzählung. Gegenüber der wohl geordneten jüngeren Schöpfungserzählung (Gedicht der 7 Tage; Gen 1; setzt sich gegen den Babylonischen Göttermythos Enuma Elisch ab) ist diese Erzählung aus dem Garten Eden sehr dra­matisch: Adam ist unzufrieden und alleine, es wird ihm verboten vom Baum der Erkenntnis zu essen, die „Schlange“ verführt Adam und Eva, dies doch zu tun; sie verstecken sich und werden vertrieben. Das Ziel ist die Erklärung der gegenwärtigen Lebenswelt des Menschen, die vor allem durch die Beschwernisse des bäuerlichen Lebens gekennzeichnet sind: Dornen, Disteln, Schweiß, gefährliche Schlangen, die Mühsal der Geburt, das Sterben und Begraben­Werden in der staubigen Erde. Das bäuerliche Leben gab es in Israel erst in der Zeit Davids und Salomos, ca. 950 v.Chr.

STRUKTUR

Das schöne Leben im Paradies und das Verlassen des Gartens werden kontrastreich einander gegenübergestellt:

� die Lebensräume Garten (Gen 2,8.9.10.15.16; Gen 3,1.2.8.10.23.24) und Ackerboden (Gen 2,5; Gen 3,17­18.23)

� die Bewässerung im Garten durch eine immer sprudelnde Quelle (Gen 2,6) und außerhalb des Gartens durch den unver­fügbaren Regen (Gen 2,5; Gen 3,18)

� die gewandelten Gemeinschaftsverhältnisse der Tiere (Gen 2,19/Gen 3,14), von Mensch und Tier (Gen 2,19­20/Gen 3,15.21), sowie von Mann und Frau (Gen 2,23­24.25/Gen 3,7.10.16).

Die Darstellungen der Welt vor und nach der Verführung (Gen 3,1­6) sind dabei so aufeinander bezogen, „dass die Er­zählung an Schöpfungsvorgängen in Gen 2 nur so viel berichtet, wie dann für den Fluch­Abschnitt gebraucht wird“ (O.H. Steck). In der Struktur steht die Verführungsszene Gen 3,1­6 im Zentrum. Durch diese Struktur herrscht in dieser Erzählung ein negatives und pessimistisches Menschenbild vor. Das Leben ist schwer, der Mensch macht Fehler, er widersetzt sich Gott. Darum wurde diese Geschichte früher mit dem Begriff „Sündenfall“ überschrieben. Gott aber schützt den Menschen („Felle“) und schenkt ihm Freiheit.

Königlicher Garten (Relief aus Ninive; 7. Jahrhundert vor Christus)

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M11 Deutung des biblischen Buches JONA nach den Schritten des hermeneutischen Zirkels

Beim Verstehen der Bibel spielen die drei Schritte des hermeneutischen Zirkels eine große Rolle. Exemplarisch sollten Sie nun versuchen, mit Hilfe der Schritte das Bibelbuch Jona besser zu verstehen. Sie arbeiten dazu mit der „Gute Nachricht Bibel“ (Stuttgart 2000), einer zeitgemäßen Übersetzung, die durch den „Textapparat“ unten am Seitenende, durch die Kar­ten, die Register und die Sacherklärungen hilft, die Fragen unter II zu beantworten. Die über 20.000 Suchergebnisse bei Google zu „Jona Exegese“ („Exegese“ ist das Fachwort für Bibelauslegung) können Ihnen ebenso helfen, aber hier gibt es auch viele fundamentalistische „Auslegungen“!

Notieren Sie Ihre Antworten (nicht handschriftlich!!) auf ca. 3 Din­A4 Seiten (Schriftgröße 12). Der Auftrag muss spätestens am .............. fertig sein und geht mit 25% in die Note für E2 ein.

SCHRITT I: DER TEXT (Was ist unser erster Leseeindruck?)

Lesen Sie den Text auf der Rückseite („Gute Nachricht“) einmal durch und bearbeiten Sie folgende Aufgabenstellungen (vgl. Operatorenblatt!):

I.1 Beschreiben Sie den Propheten Jona mit einigen zutreffenden Adjektiven.I.2 Skizzieren Sie kurz, welche prophetische Botschaft das Buch Jona vermitteln will.I.3 Entwickeln Sie eigene vorläufige Überlegungen zu dem symbolischen Ereignis mit dem „großen Fisch“.

SCHRITT II: DER AUTOR (Was hat der Text – der wahrscheinlich im 5. Jhd. vor Chr. nach dem babylonischen Exil entstand – damals wahrscheinlich bedeutet?)

II.1 Biografisch.II.1.1. Untersuchen Sie, auf welchen älteren Propheten sich der Autor des Buches Jona beruft und wann dieser lebte.II.1.2. Skizzieren Sie anhand des Textes, wie Jona geflohen bzw. gereist ist.II.1.3. Arbeiten Sie aus dem Text heraus, an wen oder gegen wen dieses Bibelbuch gerichtet sein könnte.

II.2. GeistesgeschichtlichII.2.1. Erläutern Sie durch den Vergleich mit anderen Bibeltexten (im Apparat), was mit der Flucht, der Seenot und der Selbstopferung Jonas in Kapitel 1 gemeint sein kann.II.2.2. Analysiere die ganz besondere Gattung von Kapitel 2 (vgl. dazu unbedingt im Apparat die vielen Verweise in der Fußzeile!!) und fassen Sie die zentralen Aussagen von Kapitel 2 zusammen.II.2.3. Fassen Sie die Ereignisse in Kapitel 3 und 4 im Blick auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (bzw. Gott und Niniviten oder Jona) zusammenII.2.4. Entwickeln Sie eigene Überlegungen dazu, warum das Buch Jona in die Bibel aufgenommen wurde.II.2.5. Jesus nimmt in den Evangelien auch Bezug auf Jona, als die Menschen in seiner Zeit nach einem Zeichen bzw. einem Beweis seiner Göttlichkeit fragen. Erklären Sie, was Jesus mit dem „Zeichen Jonas“ gemeint hat.

SCHRITT III: DER LESER (Was könnte dieser Text heute für uns bedeuten?)Stellen Sie sich vor, es gäbe in YouFM oder Planet­Radio kurze geistliche Überlegungen für junge Menschen, sowie auf HR3 „Moment mal“ oder im Fernsehen „Das Wort zum Sonntag“ usw.

Sie bekommen den Auftrag in 3 Minuten (45 Zeilen Text) „kurz und knackig“ eine Radioandacht zur Bedeutung von Jona heute zu machen. Hier geht es also um ein zeitgemäßes Verstehen. Der Titel könnte lauten: „Als Jona gestern nach Frankfurt kam …“ oder „Wer will denn heute schon Prophet sein …“, oder „Ein widerwilliger Friedenstifter aus der Nähe von Gaza­Stadt“ oder „Eine Stadt bekehrt sich – Wann bekehren wir uns von der Abschottung gegen Flüchtlinge?“ usw. Im Titel und Aufbau sind Ihrer Phantasie keine Grenzen gesetzt, es muss aber eine Auslegung des Originals sein und darf Ihren Erkenntnissen aus Schritt II nicht widersprechen!

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„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M12Diskussionsthesen zu Kreationismus und SozialdarwinismusSozialdarwinismus ist eine sozialwissenschaftliche Theorierichtung, die einen biologistischen Determinismus vertritt (determinieren = bestimmen). Sie war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg sehr beliebt und wendet Aspekte der biologischen Evolutionstheorie von Charles Darwin auf menschliche Gesellschaften an. So sieht der Sozialdarwinismus die Entwick­lung von Völkern, Gruppen und Staaten als Folge von natürlicher Selektion und vom „Kampf ums Dasein“. Diese Theorie spielte auch eine Rolle im Nationalsozialismus.

Der Sozialdarwinismus ist sich nach Franz M. Wuketits über drei Kernaussagen einig: � Darwins Theorie der Auslese ist in sozialer, ökonomischer und auch moralischer Hinsicht

maßgeblich für die menschliche Entwicklung. � Es gibt gutes und schlechtes Erbmaterial. � Gute Erbanlagen sollen gefördert, schlechte ausgelöscht werden.

Wir diskutieren die zehn Thesen mit der Methode „Quattro­Plus“. Vier Personen sitzen mitten im Klassenraum an einem Tisch. Die an­deren sitzen rundherum. Es wird gewürfelt, welche These diskutiert wird. Die vier haben Kärtchen um diese These zu bewerten (1 = sehr einverstanden; 4 = überhaupt nicht einverstanden). Wenn sie unterschiedlich werten, wird die These diskutiert. Bei gleicher Wertung wird eine neue These gewürfelt. Danach können die anderen im Klassenraum Argumente pro und contra beisteuern. Nach ca. 10 Minuten kommt die nächste Vierergruppe mit einer nächsten These an die Reihe.

DISKUSSIONSTHESEN (nach Augenzahl der beiden Würfel zu diskutieren)

1. Wenn in Afrika eine Hungersnot herrscht, wird die zu hohe Be­völkerungszahl auf natürliche Weise korrigiert.2. Genauso wie Pflanzen und Tiere durch Züchtung veredelt wer­den, muss die Genetik (die Lehre der Ausbildung von erblichen Merkmalen und Vererbung) zur Verbesserung der menschlichen Rasse benutzt werden.3. Menschen, die über achtzig Jahre alt sind, brauchen keine künstlichen Hüften mehr. Die Operation lohnt sich nicht mehr für die paar Jahre, die sie durchschnittlich noch leben.4. Jeder Biologielehrer (bzw. ­lehrerin) sollte dazu verpflichtet wer­den, neben der Evolutionstheorie auch die Schöpfungsgeschichte zu vermitteln.5. Jeder Mensch sollte als Jugendlicher schon verpflichtet wer­den, einen Organspende­Ausweis auszufüllen und mit sich zu tra­gen. Eine gesunde junge Niere kann, wenn der Spender als Ju­gendlicher durch einen Unfall ums Leben kommt, noch Jahre bei Nierengeschädigten gute Dienste leisten.

6. Eltern, die nicht möchten, dass ihre Kinder die anti­biblische Evolutionslehre hören, dürfen ihre Kinder aus Gewissensgründen vom Biologieunterricht abmelden.7. Penner und Obdachlose sollten keine umfassende medizini­sche Hilfe erhalten.8. Menschen, die nett zu anderen sind, machen das nur, weil sie sich davon später Vorteile (Geld, Hilfe usw.) erwarten. Menschen­freundlichkeit ist nur verkappter Egoismus.9. Schwangere Frauen sollten alle zur Pränatal­Diagnostik ver­pflichtet werden, damit geistig behinderte Föten abgetrieben wer­den können.10. Die Schulbehörden sollten die Gründung von rein christlichen Schulen fördern, in denen anti­christliche Theorien, wie die von Darwin, Marx, Feuerbach, Nietzsche oder Dawkins, aber auch un­sittliche moderne Literatur und Filme, verboten sind. So werden die Seelen der jungen Menschen nicht verdorben.

M13Beurteilung der Auslegung des Bibelbuches JonaSchüler/in: ............................................................................................................................................

BE: ................................................. = Note: ................................................. Pt. (von 15)Bemerkungen:

Sehr gut (15-13)

Gut (12-10)

Befriedigend (9-7)

Ausreichend (6-5)

Mangelhaft (4-1)

Ungenügend (0)

Aufbau: Die Schritte sind eingehalten.

Wie wurde I geschrieben?

Inhaltliche Qualität (II) (Biografisch)

Inhaltliche Qualität (II) (Geistesgeschichtlich)

Qualität und Originalität (Schritt III)

Aussehen/Layout

Summe

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

WAS IST WIRKLICH?ZUGÄNGE ZUR WIRKLICHKEIT IN NATURWISSENSCHAFTEN UND RELIGION

Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.4

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese Fragestellung und da­mit das Themenfeld „Wirklichkeit wahrnehmen“ (E2.4) wird im folgenden didaktischen Konzept als Einstieg ins Kurshalbjahr der E2 gewählt.

Es gehört zwar nicht zu den verbindlichen Themenfeldern, bietet aber eine sehr gute Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler für die Frage nach unterschiedlichen Zugängen zur Wirklichkeit (in Naturwissenschaften und Theologie) zu sen­sibilisieren. Die Einsicht, dass in die Wahrnehmung von Wirk­lichkeit immer auch subjektive Perspektiven und Konstruktio­nen mit eingehen und es keine völlige Objektivität gibt, macht es leichter verständlich und nachvollziehbar, dass auch die naturwissenschaftliche Beschreibung nicht die Wirklichkeit als ganze erfasst, sondern nur einen spezifischen Modus der Weltbegegnung darstellt.

E2.4 Wirklichkeit wahrnehmen. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

� Wahrnehmung von Wirklichkeit (z. B. Ist alles wahr, was ich wahrnehme? Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit?)

� unterschiedliche Wissenschaften als konkurrierende und komplementäre Sichtweisen auf die Welt

Die Abbildung verdeutlicht den Aufbau des hier vorgestellten Entwurfs. Nach einem Einstieg über Fragen der Wirklichkeits­erkenntnis werden die Besonderheiten und Spezifika eines naturwissenschaftlichen und eines religiösen Zugangs zur Wirklichkeit herausgearbeitet und miteinander ins Gespräch

Jochen Walldorf

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Bedeutung biblischer Texte im bisherigen Kursverlauf eher punktuell zur Sprache kamen (z. B. in der Beschäftigung mit biblischen Schöpfungstexten).

1. Wirklichkeit wahrnehmen

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können zwischen verschiedenen Wirklichkeitsvorstellungen und der Wirklichkeit an sich unterscheiden und erläutern, was für sie „wirklich“ ist; sie können verschiedene Modelle menschlichen Erkennens (naiver Realismus, Konstrukti-vismus, kritischer Realismus) in Grundzügen beschreiben und dazu Stellung nehmen.

Was ist wirklich?

Der Einstieg erfolgt über einen Lernimpuls zu einem Bild des Surrealisten René Magritte (1898­1967), Schlüssel der Felder (M1). Es kreist um ein Problem, mit dem sich der Künstler in vielen seiner Bilder beschäftigt: unsere Wahrnehmung (unser Bild von der Wirklichkeit) und die Wirklichkeit sind nicht dassel­be. Im genannten Gemälde wird dieser Umstand, dass wirkli­che und wahrgenommene Wirklichkeit auseinanderfallen (kön­nen), besonders eindrücklich dadurch, dass wir das Fenster in Glasscherben zerbersten sehen. Die Auseinandersetzung mit dem Bild kann darin münden, dass die Jugendlichen aus der Sicht des Malers eine Antwort auf die Frage formulieren: Sehen wir die Wirklichkeit so wie sie wirklich ist? Weitere Bilder Mag­rittes (z. B. Hellsehen, 1936; Das ist kein Apfel, 1964) können die Bildbetrachtung ergänzen oder vertiefen.1

Ein alternativer, spielerischer Einstieg ins Thema ist die Be­schäftigung mit dem Phänomen optischer Täuschungen, Kippbildern usw. Zahlreiche Beispiele und Hinweise dazu fin­den sich in Unterrichtswerken,2 aber auch in kurzen Filmen wie z. B. „Was sieht Auge und Gehirn“ (9 Min., u.a. bei youtube).

Ausgehend von der Erkenntnis, dass Wirklichkeitsvorstellun­gen täuschen können, selektiv sind und von der eigenen Per­spektive und dem persönlichen Lebenshintergrund abhängen, überlegen die Schülerinnen und Schüler, was sie als „wirklich“ bezeichnen würden. Dazu bilden sie Partnergruppen, wählen eine der folgenden Thesen aus und diskutieren diese; anschlie­ßend werden neue Gruppen gebildet, eine weitere These aus­gewählt, etc.3

1. Wahrnehmung von Wirklichkeit: Was ist wirklich?

2. Theologie und Naturwissenschaften – unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit

Theologie (Religion) und Naturwissenschaft als komplementäre Zugänge zur Wirklichkeit

3. Schöpfung und Evolution – gegensätzliche oder komplementäre Perspektiven auf das Leben?

Wie sieht ein Naturwis-senschaftler die Welt? Welchen Erklärungsan-spruch haben naturwis-senschaftliche Theorien?

Wie sieht ein religiöser Mensch die Welt?

Was kennzeichnet die Sprache des Glaubens?

Biblische Schöpfungs-texte (Gen 1; Ps 8):

die Welt und der Mensch als Schöpfung

Gottes

Evolutionstheorie: das Leben und der

Mensch als Folge einer natür lichen Entwicklung

Gemeinsam ein vollständigeres Bild: Schöpfung und Evolution

4. Die Bibel – zentraler Bezugspunkt für christlichen Glauben und Theologie

gebracht (E2.1). Anschließend werden diese Zusammenhän­ge auf ein für den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie (Religion) zentrales Beispiel angewandt: das Ver­hältnis von Schöpfungsglauben und biologischer Evolutions­theorie. Dabei kommen beide „Perspektiven“ in ihrer jeweiligen Eigenart zur Sprache, bevor danach gefragt wird, ob und in­wiefern sie sich ergänzen können. Anthropologische Aspek­te (E2.2) sind dabei durchgehend präsent. Zum Schluss wird das Thema „Bibel verstehen“ (E2.3) noch einmal zusammen­hängend aufgegriffen, nachdem Fragen der Auslegung und

1 Zu den Bildern Magrittes und ihrer Verwendung im Unterricht vgl. B. Bosold, Das Geheimnis sichtbar machen. Philosophisch- theologische Spaziergänge mit R. Magritte, Materialbrief RU Sekundar, 1/2011.

2 Vgl. z. B. Zugänge zur Philosophie, Einführungsphase, Berlin 2010, S. 32-38.

3 Nach: Vernünftig glauben, Arbeitsbuch für den katholischen RU Oberstufe, Paderborn 2011, S. 11.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Wirklich ist, was uns durch andere überliefert wird.

Liebe und Treue sind Wirklichkeit.

Wirklich ist nur das, was wir sehen und messen können.

Es gibt nicht die Wirklichkeit. Wirklichkeit ist nur eine Konstruktion in unserem Kopf.

Wirklich ist das, was wir durch unsere Lebenspraxis erfahren.

Wirklichkeit ist für jeden etwas anderes.

Wenn ich das Vertrauen eines Freundes missbrauche, dann habe ich wirklich Schuld auf mich geladen.

Zahlen und mathematische Gesetze werden zwar vom menschlichen Geist entwickelt, dennoch „gibt“ es sie wirklich.

Mein Verstand ist Realität – sonst könnte ich nicht über diese Aussage nachdenken und sie beurteilen.

Gerechtigkeit, Menschenwürde und Demokratie sind genauso wirklich wie der Boden, auf dem ich stehe.

Tagsüber ist es in Frankfurt wirklich hell.

Gott ist kein Gegenstand in Raum und Zeit, aber er ist dennoch wirklich.

Träume sind nur Schäume.

Interessant an diesen Thesen ist u.a., dass darin für sehr un­terschiedliche „Dinge“ Wirklichkeit beansprucht wird: mate­rielle Gegebenheiten, ethische Werte, existentielle Erfahrun­gen, mathematische Konstrukte, rational­logische Prozesse, eine transzendente Macht. Darauf kann im weiteren Unter­richtsverlauf zurückgegriffen werden.

Abschließend setzen sich die Jugendlichen mit einem Text von H. von Ditfurth auseinander (M2). Darin wird am Beispiel der Hell­Dunkel­Wahrnehmung (vgl. dazu eine der obigen Aussagen) verdeutlicht, dass unsere Sinnesorgane die Welt nicht einfach abbilden, wie sie ist, sondern auslegen und in­terpretieren. Ein „naiver Realismus“ ist nicht haltbar. Alternativ kann in diesem Zusammenhang auch das „Höhlengleichnis“ von Platon aufgegriffen werden.

Ist die Wirklichkeit nur (m)eine „Erfindung“?

Aus den Überlegungen von Ditfurths ergibt sich unmittelbar die Frage, ob wir mit Hilfe unseres Erkenntnisapparats über­haupt ein wahres Bild der Welt erhalten können – oder ob die Welt nur unsere Konstruktion („Erfindung“) ist. Der unter­richtliche Einstieg erfolgt über den Videoclip „Fisch ist Fisch (Frederik)“ (3:40 Min., u.a. bei youtube), in dem ein aus einer Kaulquappe herangewachsener Frosch einem befreundeten Fisch von der Welt an Land erzählt. Der Fisch kann sich aber

z. B. Vögel nur als „gro­ße, gefiederte Fische“ vorstellen. Sein Lebens­hintergrund – die Welt im Wasser – prägt sein Denken und Erkennen. Für die im Clip darge­stellten verschiedenen Perspektiven auf die Welt können leicht wei­tere Beispiele gefunden werden (z. B. Fußball­fans unterschiedlicher Mannschaften, die das gleiche Spiel erleben).

Der Begriff des radikalen Konstruktivismus wird von der Lehrkraft eingeführt und erläutert. Dies kann durch einen geeigneten Text z. B. von E. von Glasersfeld oder P. Watzla­wick vertieft werden (vgl. die Religions­ und Philosophiebü­cher für die Sek II). Für eine kritische Diskussion des konst­ruktivistischen Modells sind folgende Fragen hilfreich: Wenn jeder seine eigene „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ konstruiert, sind dann alle Sichtweisen gleichberechtigt und gleich gültig (vielleicht sogar gleichgültig)? Gilt dies auch für wahnhaf­te Vorstellungen von psychisch kranken Menschen – oder für Extremisten? Wie ist Kommunikation und Verständigung möglich?

In einem weiteren Schritt kann hier noch einmal das Bild von R. Magritte ins Spiel gebracht werden: Wirklichkeits­bilder und Konstruktionen können auch scheitern und zer­brechen! Wodurch kommt es zu solchen Erfahrungen? Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Aufgabe ausgehend von dem Bild Situationen zu entwickeln, in denen eine be­stimmte Sichtweise, Überzeugung, Einstellung zerbricht, in Frage gestellt oder auch erweitert wird. Folgende Personen werden vorgegeben: eine Medizinerin, ein Historiker, eine Politikerin, ein Ethiker, eine Glaubende/ein Atheist.

Die Arbeitsergebnisse werden verglichen und ins Gespräch gebracht mit einem Text des Philosophen H. G. Frankfurt (M3), der radikal konstruktivistische (postmoderne) Positio­nen kritisiert und anhand konkreter Beispiele (Brückenbau, Medizin, Geschichtsforschung) dafür argumentiert, dass die Wirklichkeit – und eine darauf bezogene Wahrheit – mensch­lichem Erkennen begrenzt zugänglich ist. Kontrovers kann diskutiert werden, ob es sich auch bei ethischen Werten wie der Menschenwürde um etwas „Wirkliches“ handelt, das vom Menschen „entdeckt“ – oder nur von ihm „erfunden“ bzw. konstruiert wird.

Rückblickend werden drei Modelle menschlichen Erkennens definiert und vergleichend diskutiert: Naiver Realismus – ra­dikaler Konstruktivismus – kritischer Realismus (vgl. M4). Die Position von Ditfurths wird diesen Modellen zugeord­net. Zu den erkenntnistheoretischen Modellen vgl. auch den Grundsatzartikel in diesem Heft, S. 9­11.

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

2. Zugänge zur Wirklichkeit in Naturwissenschaften und Theologie (Religion)

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können den naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt in seiner Eigenart und seinen Grenzen beschreiben und zwischen „Naturbild“ und „Weltbild“ unterscheiden; sie können das Besondere eines religiösen Weltzugangs erläutern, nach seinen Quellen fragen und ihn in Relation setzen zu einem naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt. Sie können unterschiedliche Erkenntnisebenen benennen und sich argumentativ mit Fragen der Wirklichkeitsdeutung aus-einandersetzen.

Wie sieht ein Naturwissenschaftler, eine Naturwissenschaftlerin die Welt?

Als Anforderungssituation kann ein Zitat des Evolutionsbio­logen und bekennenden Atheisten Richard Dawkins gewählt werden, in dem er u.a. die Ansicht vertritt, dass es „nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt“. Ein Be­leg für diese Position wird nicht zuletzt in dem großen Erfolg der Naturwissenschaften bei der Entdeckung und Erklärung natürlicher Phänomene gesehen.

Der Biologe Richard Dawkins schreibt in seinem Buch „Der Gotteswahn“ (2008, S. 25f): „Gedanken und Ge-fühle der Menschen erwachsen aus den äußerst kompli-zierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem Sinn vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der na-türlichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Uni-versum lauert, keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer in dem Sinn, dass es Naturphä-nomene gibt, die wir noch nicht verstehen. Wenn etwas

außerhalb der natürlichen Welt zu liegen scheint, die wir nur unvollkommen begreifen, so hoffen wir darauf, es eines Tages zu verstehen und in den Bereich des Na-türlichen einzuschließen. Und wie immer, wenn wir einen Regenbogen entzaubern, wird er dadurch nicht weniger staunenswert. Wenn große Naturwissenschaftler unserer Zeit religiös zu sein scheinen, so stellt sich bei näherer Betrachtung ihrer Überzeugungen in der Regel heraus, dass sie es nicht sind“.

Die Jugendlichen äußern sich zu diesem Zitat in einer individu­ellen Schreibmeditation: „Laut Dawkins kann ein Naturwissen­schaftler nicht wirklich religiös sein. Nehmen Sie dazu Stellung!“ Anschließend wird gemeinsam überlegt, welche Kenntnisse erforderlich sind, um die Aussage von Dawkins sachgemäß beurteilen zu können (z. B. Kenntnisse über die Arbeitsweise der Naturwissenschaften und ihren Geltungsbereich) und es wird ggf. ein Arbeitsplan erstellt. Mögliche Leitfragen: Wie sieht ein naturwissenschaftlich Forschender die Welt? Was sieht er gut, was vielleicht nur schlecht oder auch gar nicht? Aus wel­chem Blickwinkel heraus nimmt er die Wirklichkeit wahr?

Eine vergleichbare Anforderungssituation ist der Roman des Bestseller­Autors Dan Brown, Origin (2017), in dem es – am Beispiel der Frage nach dem Ursprung des (menschlichen) Lebens – gezielt um den Konflikt zwischen Religion und Wis­senschaft geht. Der Autor selbst ist dabei der Meinung, dass „kein Gott die Wissenschaft überlebt“.4

Nun wird die Arbeitsweise der Naturwissenschaften näher in den Blick genommen. Dabei ist es sinnvoll, zunächst nach den konkreten Arbeitsschritten bzw. Methoden zu fragen, die Schü­lerinnen und Schüler können dabei auf die Erstellung von Ver­laufsprotokollen im naturwissenschaftlichen Unterricht zurück­

Voraussetzungen der NaturwissenschaftenExistenz von Natur und Materie; Erkennbarkeit der Natur mithilfe der Mathematik; der Mensch als erkenntnisfähige Person (Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrneh­mung und der logischen Regeln des Denkens)

Interesse der NaturwissenschaftenErforschung der Natur und der in ihr vorfindlichen Phänomene; Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten, die mathematisch exakt beschreibbar sind

Anspruch der Naturwissenschaften„Objektive Aussagen“ über die Natur treffen, das heißt: Aussagen, die unabhängig vom jeweiligen Beobachter sind und jederzeit unter denselben Bedingungen nachge­prüft werden können

Arbeitsschritte/ Methoden der Naturwissenschaften

1. Beobachten und Beschreiben von natürlichen Phänomenen; 2. Aufstellung von Hypothesen (induktives Verfahren); 3. Bestätigung oder Widerlegung der Hypothe­sen durch Experimente; 4. Ist die Hypothese bestätigt, kann ein Gesetz formuliert werden, evtl. als Teil einer größeren Theorie oder eines Modells

4 Um die Voreinstellungen der Jugendlichen sichtbar zu machen, kann alternativ zu den geschilderten Anforderungssituationen auch ein Rollenspiel durchgeführt werden zu der Frage, „welches Schul-fach der Wahrheit über Welt und Mensch am nächsten steht“ und auf das Leben am besten vorbereitet (vgl. dazu den Entwurf von U. Reinhardt, S. 60).

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

greifen. Die Ergebnisse werden durch das Schaubild und ggf. auch den erläuternden Text (P. Kliemann) in M5a vertieft und gesichert. Davon ausgehend überlegen die Jugendlichen, was Voraussetzungen eines solchen Verfahrens sind und welches In­teresse bzw. welcher Anspruch damit verbunden ist (vgl. Tabel­le). Es sollte deutlich werden, dass auch ein Naturwissenschaft­ler zuerst etwas glauben muss, bevor er etwas wissen kann.

In Unterrichtswerken finden sich verschiedene Texte, die in ähnlicher Weise die Frage nach Voraussetzungen, Anspruch und Arbeitsweise der Naturwissenschaften aufgreifen.5

In einem weiteren Schritt soll nach der Reichweite naturwis­senschaftlicher Erkenntnisse gefragt werden. Dies könnte schon an dieser Stelle vorbereitet werden, indem den Kurs­mitgliedern eine Aussage des Philosophen L. Wittgenstein (1889­1951) vorgelegt wird, zu der sie ebenfalls (schriftlich) Stellung nehmen: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle mög­lichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“. Es fällt nicht schwer, Beispiele für derartige „Lebensprobleme“ zu finden (Umgang mit Scheitern, Einschränkungen und Leid; ethische Konflikte; Wahl eines Partners oder von Freunden; usw.).

Wie weit reicht der Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften?

Am Anfang kann eine Beschäftigung mit dem Lied „Romanze“ der Wise Guys (CD „Radio“, Nr. 11) stehen (vgl. den Entwurf von H. Dam, M1). Als Ergebnis sollte festgehalten werden, dass beide Sichtweisen, die darin – verkörpert durch das verliebte Paar – vorkommen, notwendig sind, um die Wirklichkeit ange­messen zu beschreiben: die wissenschaftlich­distanzierte („ob­jektivierende“) und die existentiell­persönliche. Diese Folgerung wird in dem Lied zwar nicht explizit gezogen, aber doch nahe­gelegt: Es endet fatal, wenn man nur noch einen Blickwinkel auf die Wirklichkeit zulässt und alles andere als „unwirklich“ ansieht.

Dieser Zusammenhang soll vertieft und weiter geklärt wer­den mit einem Text des Physikers Peter C. Hägele (M6a/ M6b). Er eignet sich für den Unterricht, da er einerseits mit klaren, hilfreichen Begriffen arbeitet (Naturbild – Weltbild), und andererseits ein anschauliches Beispiel verwendet, um den begrenzten Geltungsbereich der Naturwissenschaften zu verdeutlichen. Bei der Auswertung der Textarbeit sollte darauf geachtet werden, dass die im Text erwähnte „Mehr­deutigkeit der Welt“ keineswegs eine Beliebigkeit im Blick auf weltanschauliche Deutungen (Weltbilder) bedeutet. So kann man durchaus fragen, in welches Wirklichkeitsverständnis die oben genannten Voraussetzungen der Wissenschaft sinnvoll integriert werden können (vgl. dazu den Grundsatzartikel in

diesem Heft). Dies spricht dafür, das Verhältnis von Naturwis­senschaften und Theologie nicht im Sinne eines Unabhängig­keits­, sondern eines Dialogmodells zu verstehen.6

Alternativ kann auch gut mit dem Text von H.P. Dürr, Das Netz des Physikers (vgl. den Entwurf von H. Dam, M6) oder – für weniger lernstarke Schüler – mit einer Erweiterung des Klie­mann­Textes (M5b) gearbeitet werden.

Wie sieht ein religiöser Mensch die Welt?

Zu Beginn steht die Aufgabe, in arbeitsteiligen Gruppen aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven Texte zur Geburt eines Kindes zu formulieren:

� die Hebamme schreibt einen Bericht zum Verlauf der Ge­burt,

� der Arzt erstellt einen medizinisch­wissenschaftlichen Befund zum neugeborenen Säugling (z. B. Blutwerte, Or­ganfunktionen)

� eine Patin formuliert ein Dankgebet für den Taufgottes­dienst des Kindes,

� die Eltern schreiben einen Text für die Geburtsanzeige, in dem sie ihre Dankbarkeit und Freude ausdrücken,

� der 8­jährige Bruder notiert in sein Tagebuch, was ihm angesichts der Geburt durch den Kopf geht und was er befürchtet (Verzicht auf die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern),

� die Abrechnungsstelle des Krankenhauses erstellt eine Rechnung über die Kosten der Geburt und der stationären Behandlung von Mutter und Kind; im Jahresabschluss des Krankenhauses wird der erwirtschaftete Gewinn der Ge­burtsstation ausgewiesen.7

Die Texte werden präsentiert, die Kursmitglieder erraten, wer hier jeweils aus welcher Perspektive heraus über die Geburt und das Neugeborene spricht. In der Auswertung sollte ei­nerseits die Vielzahl berechtigter Perspektiven auf die Wirk­

5 Z. B. Kursbuch Religion Oberstufe, Stuttgart/Braunschweig 2004, S. 28; vgl. auch U. Reinhardt, M6a/b/c

6 Zu den verschiedenen Modellen (Konflikt, Unabhängigkeit, Dialog, Integration) vgl. Ian G. Barbour, Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner? Göttingen 2010.

7 Anstelle der Geburt eines Kindes können auch die unterschiedli-chen Wahrnehmungsperspektiven des Frühlings (vgl. U. Reinhardt) oder einer Rose bzw. Tulpe als Beispiel gewählt werden (vgl. H. Dam, M9).

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

lichkeit deutlich werden, andererseits aber auch nach dem Besonderen der religiösen Perspektive gefragt werden.

Dieses Besondere der Glaubensperspektive wird im Folgen­den exemplarisch in der Auseinandersetzung mit Texten des jüdischen Theologen Abraham Heschel und des christlichen Religionspädagogen Rainer Oberthür (M7) herausgearbeitet. In beiden Texten spielt das existentielle Staunen und das Fra­gen nach dem Geheimnis hinter den „Tatsachen“ dieser Welt eine zentrale Rolle. Die gewonnenen Einsichten können an­schließend in Zusammenhang gebracht werden mit verschie­denen Bibeltexten.

Was sind die Quellen des Glaubens?

Wie kommt ein Mensch aber nun dazu, die Wirklichkeit im Licht des Glaubens zu sehen? Was sind die Quellen, aus de­nen der Glaube entsteht? In welcher „Umgebung“ kann religi­öser Glaube wachsen und sich entwickeln – im Vergleich zum naturwissenschaftlichen Wissen, das z. B. im Labor entsteht? Diesen Fragen wird in einem 4­Ecken­Gespräch nachgegan­gen. Die Lehrkraft stellt dazu folgende vier Thesen, die sich an einem Text von G. Theißen orientieren8, vor und hängt jede in einer Ecke des Raumes auf:

� Für den Glauben ist die Bibel eine wichtige Quelle und Orientierungshilfe. Sie enthält ganz unterschiedliche Erfah­rungen, die Menschen mit Gott gemacht haben und die auch heute noch von Bedeutung sein können.

� Die frühen Christen haben den Glauben nicht für sich be­halten, sondern weitergegeben. So ist – von Generation zu Generation – eine lange Glaubensgeschichte und Glau­bensüberlieferung (Tradition) entstanden. Ein lebendiger und auch kritischer Dialog über den Glauben, der sich im­mer wieder erneuert hat und bis heute Menschen prägt.

� Der Glaube lebt von der Erfahrung. Dabei ist es sehr un­terschiedlich, wie Menschen Gott und seinem Wirken be­gegnen: Manche erfahren Gott in der Stille und im Gebet, andere in der Natur oder in einem Gottesdienst, wieder andere im Erleben von Liebe und Vertrauen – oder in der Kraft, schwere Situationen zu durchstehen. Wo Menschen Gott erfahren, gewinnt der Glaube Tiefe und Überzeu­gungskraft.

� Der Glaube braucht die Vernunft, um sich selbst und die Bibel besser zu verstehen und sich vor Einseitigkeiten zu bewahren. Es ist wichtig, das, was man glaubt und was einem weitergegeben wurde, auch zu prüfen, zu durch­denken. So entsteht ein aufgeklärter, mündiger Glaube.

Die Schülerinnen und Schüler beziehen (im wahrsten Sinne des Wortes!) Stellung und ordnen sich einer Ecke zu: „Was ist Ihrer Meinung nach für den Glauben besonders wichtig, förderlich oder tragend?“ Die verschiedenen „Ecken“ kom­men miteinander ins Gespräch und erläutern ihre Position. Dabei geht es auch darum, ob und inwiefern die genannten Glaubens­Quellen miteinander verknüpft sind und zusam­mengehören.

Ein Interview mit dem Theologen J. Moltmann, in dem er von seinem persönlichen Glaubens­ und Lebensweg berichtet (M8), führt das Gespräch weiter und vermittelt zusätzliche Impulse. Die Jugendlichen arbeiten u.a. heraus, wie hier von

Erfahrung

� „ich erfahre im Gebet, wie meine Sinne geöffnet werden für das Leben“

� Überleben des Bombenangriffs als Beginn der Suche nach Gott: „Wo bist du?“

� „Gefühl, dass Gott mich zieht/schon gefunden hat“

� Wachsende Gewissheit beim Lesen der Passionsgeschich­te: „Da ist jemand, der dich versteht,“, neuer Lebensmut

Bibel

� „Klagepsalmen sprachen mir aus der Seele“

� Lesen der Passionsgeschichte im Mk­Evangelium/Todes­schrei Jesu wachsende Gewissheit: „Da ist jemand, der dich versteht, der die gleiche Verlassenheit gefühlt hat“

� Exoduserfahrung des Volkes Israel; Zeugnis von Jesus und seinem Wirken („Treueereignis Gottes“)

Tradition

� „Mit Menschen erleben wir die Wirklichkeit ... menschliches Leben ist auf Kommunikation angewiesen ... Leben ist Beziehung und Austausch“

� Verteilung von Bibeln im Kriegsgefangenenlager durch andere Menschen

� Menschliche Zeugen stärken die Zuversicht auf die Aussa­gen/Verheißungen der Bibel

Vernunft

� „Gefühl, dass ich Gott nicht suchen würde, wenn er mich nicht ziehen würde oder nicht schon gefunden hätte“ (Argument gegen Illusionsverdacht)

� Menschliche Zeugen stärken die Zuversicht auf die Aus­sagen/Verheißungen der Bibel

� Professor für Systematische Theologie: Glaube + Vernunft im Gespräch

8 G. Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh 2012, S. 19f (Frage 5: „Was sind die Grundlagen des Glaubens?“). Auch dieser Text könnte im Unterricht Verwendung finden.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Erfahrung, Bibel, Tradition und Vernunft gesprochen wird und welche Bedeutung ihnen zukommt. Eine Stärke des Textes liegt darin, dass der Glaube sehr authentisch in einem (span­nenden) Lebenszeugnis zur Sprache kommt.

Denkbar ist es auch, anstelle des Interviews mit vier unter­schiedlichen Texten zu arbeiten, die jeweils eine „Glaubens­quelle“ näher veranschaulichen (arbeitsteilige Gruppenarbeit, anschließend Austausch der Ergebnisse im Gruppenpuzzle).

Theologie und Naturwissenschaften als komplementäre Zugänge zur Wirklichkeit

Diese Sequenz kann als Bündelung der vorangegangenen Stunden verstanden werden, sie kann unter Umständen auch entfallen oder andere Bausteine ersetzen.

Nach einer Bildbetrachtung zu einem Landschaftsgemälde von Vincent van Gogh aus seiner Zeit in Arles oder Saint­Rémy (z. B. „Landschaft mit gepflügten Feldern“, 1889) er­halten die Jugendlichen die Aufgabe, aus verschiedenen Per­spektiven heraus mögliche Fragen zum Bild zu formulieren. Eine Gruppe formuliert Fragen eines Naturwissenschaftlers bzw. Chemikers (z. B. „Welche Substanzen bringen die Far­ben hervor?“), eine zweite Gruppe Fragen eines Kunstge­schichtlers (z. B. „Was gab van Gogh den Anstoß für dieses Bild?“), ein dritte Gruppe Fragen eines Betrachters oder Inter­preten, der die Bedeutung des Bildes verstehen möchte (z. B. „Was versucht van Gogh mit den Farben auszudrücken?“).

In einem Text von G. Lohfink (M9) wird dieses Beispiel auf­gegriffen und auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie (Glaube) als komplementären Zugangsweisen zur Wirklichkeit übertragen. Wenn Lohfink zusammenfassend davon spricht, dass „wahre Wissenschaft für verschiede­ne Erkenntnisebenen offen ist“ (vgl. M9, Aufgabe 3), dann lässt sich dabei nicht nur an religiöse Erfahrungen denken, sondern auch an ethisch­moralische Einsichten und Urteile (z. B. von der Würde eines jeden Menschen, die mich und mein Handeln in Anspruch nimmt), an ästhetische Erlebnis­se und Wertungen (Musik, Kunst) oder an elementare Erfah­rungen von Liebe, Treue und Freiheit. Aus dem Bereich der Philosophie ist das Problem der „Qualia“ bekannt: Die sog. Erste­Person­Perspektive, die Innensicht eines Menschen, seine subjektiven Erlebnisse und Absichten sind naturwissen­schaftlich nicht angemessen erfassbar, aber dennoch einzig­artige Zugänge zur Welt.

Um diese „verschiedenen Erkenntnisebenen“ bzw. die Mehr­dimensionalität der Wirklichkeit zu thematisieren, kann auch auf die Thesen aus der ersten Doppelstunde („Was ist wirk­lich?“, S. 34) zurückgegriffen werden. Ein Schaubild (M10) verdeutlicht und festigt den erarbeiteten Zusammenhang.

Sinnvoll wäre es, die Komplementarität von Naturwissen­schaften und Theologie nun auch auf ein aktuelles Beispiel zu beziehen bzw. anzuwenden. So können die Jugendlichen (evtl. als Hausaufgabe) den Auftrag erhalten, am Thema

Klonen oder PID zu erörtern, wie Naturwissenschaften und Theologie zusammenarbeiten können und füreinander an­schlussfähig sind. Für lernstarke Schüler ist die Frage nach der Freiheit und Determination des Menschen, die im Ge­spräch mit der Hirnforschung eine wichtige Rolle spielt, ein reizvolles Thema.9

3. Schöpfung und Evolution – gegensätzliche oder komplemen­täre Sichtweisen auf das Leben?

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können die Schöpfungserzählung in Gen 1 aus ihrem zeitgeschichtli-chen Kontext heraus erschließen und einen Schöpfungs-psalm kreativ gestalten. Sie können Grundzüge der Evolu-tionstheorie und ihrer Entstehung erläutern und nach ihrer Reichweite fragen. Sie können den biblisch-christlichen Schöpfungsglauben von einer kreationistischen Position unterscheiden und als eigenständige Sichtweise von Welt und Mensch, die die biologische Perspektive ergänzt und erweitert, ins Gespräch bringen.

„Am Anfang schuf Gott …“ – Die jüngere Schöpfungserzählung in Gen 1

Das Kinder­ und Jugendbuch von M. Schmidt­Salomon „Susi Neunmalklug erklärt die Evolution“ (2009), das auch als Vi­deoclip vorliegt (3:45 Min., u.a. youtube), stellt eine aktuelle Anforderungssituation dar. Darin wird aus Sicht des „Neu­en Atheismus“ die biblische Schöpfungserzählung in Gen 1 in plakativer Form als falsch und überholt dargestellt. Erste Schüleräußerungen zum Video lassen vorhandene Voreinstel­lungen sichtbar werden. Eine mögliche Aufgabenstellung, die am Ende der Unterrichtssequenz zu Schöpfung und Evoluti­on bearbeitet werden soll, aber hier schon vorgestellt wird: „Deine 13­jährige Cousine hat das Buch zum Geburtstag ge­schenkt bekommen. Sie fragt dich, was du davon hältst. Du schreibst ihr eine (längere) Mail“.

Die folgenden Unterrichtsschritte vermitteln den Schülerinnen und Schülern wichtige Voraussetzungen, um diese Aufgabe kompetent und reflektiert bewältigen zu können. Alternativ zum beschriebenen Vorgehen ist es auch möglich, eine sog. Lernaufgabe zu formulieren, die ebenfalls auf die Anfertigung einer Mail an die Cousine als Produkt abzielt, die dafür erfor­derlichen Lernschritte und inhaltlichen Klärungen aber stärker der individuellen Bearbeitung (oder der Bearbeitung in Klein­gruppen) zuweist. Der Vorteil dieser Arbeitsweise liegt darin, dass die Schüler – entsprechend ihrer Voraussetzungen – auf

9 Vgl. dazu z. B. Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Stuttgart/Braunschweig 2014, S. 72f; Vernünftig glauben, aaO, S. 71-73; Moment mal!, Evangelische Religion Oberstufe, Stuttgart 2016, S. 118f, sowie die aktuelle Filmdokumentation „Mehr als mein Gehirn – Eine Reise zum Ich“ (iguw 2017).

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

unterschiedlichen Niveaus arbeiten können und ihren Lern­weg sehr eigenverantwortlich gestalten.10

In jedem Fall wirft die Auseinandersetzung mit dem Kinder­buch die Frage nach einem angemessenen Verständnis der biblischen Schöpfungserzählung in Gen 1 auf: In welchem Kontext ist sie entstanden und welche Bedeutung hatte sie für die Menschen in Israel zur damaligen Zeit? Eine Lehrer­erzählung kann zunächst in die bedrängende Situation des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. Chr. und der Zeit da­nach einführen.11 Anschließend erhalten die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, den für die babylonische Religion zen­tralen Schöpfungsmythos „Enuma Elisch“ mit der biblischen Schöpfungserzählung in Gen 1 zu vergleichen und jeweils Kernaussagen herauszuarbeiten (dazu M4 im Entwurf von H. Dam, S. 23, das gemeinsam entwickelt wurde).

Aufgabenstellung zu M4 (Entwurf Dam)

1. Vergleichen Sie den babylonischen Schöpfungsmy­thos Enuma Elisch mit der Schöpfungserzählung in Gen 1,1­2,4a. Wie wird darin jeweils gesprochen a) über Gott bzw. Götter, ihr Wesen, ihr Handeln und ihre Absichten, b) über die Welt (Himmel und Erde) und ihre Entstehung,

c) über die Gestirne und ihre Funktion und d) über den Menschen und seine Bedeutung? – Halten Sie Ihre Er­gebnisse schriftlich in einer Tabelle fest!

2. Im babylonischen Exil waren für die Juden tragende Säulen ihres Glaubens (Land, Königtum, Tempel) weg­gebrochen. Welche Bedeutung kann in dieser Situation die in Gen 1 überlieferte Schöpfungserzählung für sie ha­ben? Welche Botschaft vermittelt sie der resignierten und verunsicherten jüdischen Gemeinde?

3. Kann der biblische Text auch heute noch Sinnperspek­tiven erschließen – angesichts einer Gesellschaft, in der Leistung, Effektivität und Selbstoptimierung dominieren?

In der gemeinsamen Auswertung wird Gen 1 als Gegenent­wurf zum babylonischen Schöpfungsmythos verständlich, der ein neues Selbst­ und Weltverständnis ermöglicht (wo­bei Himmel, Erde und Sterne „radikal entgöttert werden“) und den Gott Israels als Schöpfer der ganzen Welt erkenn­bar macht. Es geht nicht um die Frage, wie die Welt und der Mensch im Einzelnen entstanden sind, sondern darum, wozu sie da sind und welche schöpferische Macht hinter allem steht. Entscheidend ist deshalb nicht das naturkund­liche „Wissen“ (Weltbild) in Gen 1, sondern das Schöpfer­wirken Gottes, das mit Hilfe dieses Wissens veranschaulicht und ausgesagt wird. Deshalb ist der Glaube frei, das jeweils aktuelle naturwissenschaftliche Wissen aufzugreifen und mit dem Schöpfungsglauben zu verbinden.

10 Vgl. dazu den Artikel von C. Terno, Lernen mit Lernaufgaben in der Oberstufe, in: RPI-Impulse 2/2018, S. 27-29 (mit zusätzlichen Onlinematerialien).

11 Vgl. J. Zink, Schöpfungsglaube, Stuttgart 2006, S. 51-58.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Eine sehr gelungene Alternative zum Kinderbuch von M. Schmidt­Salomon ist „Das Buch vom Anfang von allem“ (2015, ab 8 Jahren) von R. Oberthür. Darin werden die bibli­schen Schöpfungstexte und die naturwissenschaftliche Sicht von der Geschichte des Universums als unterschiedliche, sich ergänzende Erzählungen dargestellt. Bei Interesse kön­nen Lernende dieses Buch am Ende der Sequenz zu Schöp­fung und Evolution in einer Präsentation vorstellen.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Einen Schöpfungspsalm sprachlich­klanglich gestalten

Die Beschäftigung mit Gen 1 hat verdeutlicht: Für Verständnis und Auslegung biblischer Texte ist es wesentlich darauf zu achten, um welche Textgattung es sich handelt. Es können – neben der Schöpfungserzählung bzw. dem Schöpfungs­mythos – mit den Kursmitgliedern weitere biblische Textarten (Geschichtserzählung, Gleichnis, Brief, Gesetzestext, Psalm/Gebet ...) gesammelt werden.

Der Fokus soll im Folgenden auf den Psalmen liegen. Nach einer knappen Einführung durch die Lehrkraft (in der z. B. die Unterscheidung zwischen Dank­, Klage­, Lob­, Vertrauens­, Buß­, Schöpfungspsalmen vorgestellt werden kann) wird Psalm 8 – ein Schöpfungspsalm – in Gruppen näher be­trachtet und in Form eines Texttheaters kreativ gestaltet. Eine Anleitung dazu findet sich in M11. Auf diesem Weg lernen die Jugendlichen auch einen kreativen Zugang zu biblischen Texten kennen. Sollte die Gestaltung eines Texttheaters in der Lerngruppe nur schwer umsetzbar sein, sind auch ande­re Arbeitsformen denkbar: einen eigenen Schöpfungspsalm schreiben, ein Schöpfungsbild zu Ps 8 malen, Standbilder entwickeln, etc.

Die Evolutionstheorie Darwins

Mit dieser Stunde wird ein Wechsel hin zur biologischen Perspektive vollzogen. Eine gute Möglichkeit, die Evolu­tionstheorie und ihre Entstehung zu erschließen, bietet die Ar­

Enuma Elisch/babylonische Religion Genesis 1

Gott/Götter zerstrittene, eigensinnige Götterschar der eine Gott JHWH, den Israel in seiner Geschichte (z. B. im Exodus) erfahren hat und der Schöpfer der ganzen Welt ist

Welt zufälliges Produkt eines gewaltsamen Götter­kampfs, instabile Weltordnung

gewollte und sinnvoll geordnete Schöpfung Gottes als Lebensraum für Mensch und Tier; selbst nicht göttlich

Gestirne Sonne, Mond und Sterne als Sitz bestimmter Götter; Sternkonstellationen etc. als Zeichen der Götter

Lichter am Himmel, die Gott geschaffen hat, um Tag und Nacht voneinander zu trennen ...

Mensch Geschaffen aus dem Blut des Gottes Kingu, um die Götter von ihrer Arbeit zu entlasten

Geschaffen zum „Ebenbild“ und verantwortli­chen Partner Gottes, mit dem Auftrag die Welt zu gestalten

beit mit der Filmdokumentati­on „Gottes Werk und Darwins Beitrag“ (kfw 2009). In Kapitel 1­4 und 6 (ca. 20 Min.) wer­den Darwins Lebensweg, die Grundzüge der Evolutions­theorie (Mutation und Selek­tion) sowie deren Rezeption in der Zeit nach Darwin an­schaulich vorgestellt.

Alternativ können auch frei­willige Präsentationen einzel­ner Schülerinnen und Schüler (mit Interesse an biologischen Fragen) ins Thema einführen.

Ein Beobachtungsbogen zur Erarbeitung der Filmabschnitte kann folgende Impulse enthalten:

1. Wie sah Darwins Kindheit, Jugend und Studienzeit aus? Welche Interessen hatte er?

2. Die Reise auf der „Beagle“ veränderte Darwins Leben. Wie verlief diese Reise und womit befasste sich Darwin in die­ser Zeit?

3. Nach fünf Jahren kehrte die „Beagle“ 1836 nach England zurück. Was kennzeichnete Darwins weitere Arbeit als Na­turforscher?

4. Notieren Sie die Kernthesen der Evolutionstheorie Darwins! Wodurch kommt es zum Artenwandel bei den Lebewe­sen?

5. Die Evolutionstheorie Darwins sorgte für „Zündstoff“. Wie wurde sie im 19. Jahrhundert aufgenommen?

6. Welche Haltung hatte Darwin selbst zur Religion?

7. Im Film werden auch heutige Wissenschaftler vorgestellt (z. B. Prof. Treitler, Theologe; Prof. Wuketits, Evolutionsthe­oretiker; Pater Gaus, Priester und Lehrer für Chemie und Biologie). Was erfahren wir über sie und ihre Ansichten?

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Fragen an die Evolutionsbiologie

Die Bedeutung und Reichweite der Evolutionstheorie war und ist bis heute immer wieder umstritten. Was folgt aus dieser biologischen Theorie für unsere Sicht der Welt und des Men­schen, für unser Selbstverständnis? Die Schülerinnen und Schüler diskutieren folgende Fragen an die Evolutionsbiologie oder eine Auswahl daraus.12 Dabei achten sie darauf, was leicht und was schwer fällt, welche Fragen man auf der bio­logischen Ebene (teilweise) beantworten kann, welche eher nicht, usw. Es sollte deutlich werden, dass die Evolutions­theorie vor allem Einblicke in kausale Entwicklungszusam­menhänge ermöglicht, aber keine umfassende Weltdeutung („Weltbild“) und kein hinreichendes Menschenbild bietet.

Was ist von dieser Welt zu halten?

Warum gibt es den Menschen?

Wie ist es zu erklären, dass in der Evolution des Lebens ein Wesen entsteht, das die Evolution erkennen kann?

Welche Rolle spielt der einzelne Mensch in der Evolution?

Was kann mich in Leid und Not trösten?

Ist alles sinnlos oder gibt es einen Sinn in der Evolution?

Was kommt auf uns zu?

Was ist gut und was ist böse?

Ist alles das Wirken von Mutation und Selektion?

Kann der Mensch ein Geschöpf Gottes und das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung sein?

Ausgehend von diesen Fragen können sich die Lernenden z. B. mit einem Interview mit dem atheistischen Philosophen D. Dennett auseinandersetzen, in dem dieser die These auf­stellt, der Atheismus sei eine naheliegende Konsequenz aus der Evolutionstheorie.13

Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Kreationismus

Es gibt nicht nur eine Kritik am Schöpfungsglauben auf­grund eines bestimmten (überhöhten) Verständnisses der Evolutionstheorie, sondern auch eine Kritik an der Evoluti­onstheorie aufgrund eines bestimmten Verständnisses der Bibel. Dies soll nun aufgegriffen werden – und damit auch eine weitere Form der Bibelauslegung, nämlich die funda­mentalistische.

Zur Einführung werden weitere Teile des Films „Gottes Werk und Darwins Beitrag“ (Kapitel 9­10 oder 11, ca. 9 bzw. 13 Min.) verwendet,14 ebenso denkbar sind freiwillige Schülerre­ferate zu Kreationismus und Intelligent Design. Impulsfragen zu den genannten Filmabschnitten:

1. Was ist der „Kreationismus“? Welche Auffassungen und Forderungen vertreten Kreationisten?

2. Wo liegen Probleme eines wörtlichen Verständnisses der biblischen Schöpfungserzählungen?

3. Was verbirgt sich hinter der Bewegung des „Intelligent Design“?

4. Welche kritischen Anfragen stellen sich an dieses Kon­zept?

5. Beurteilen Sie folgende Aussage von Prof. Haszprunar, die dieser im Film macht: „Es ist der falsche Ansatz, den Allmächtigen [Gott] dort zu suchen, wo man etwas nicht weiß. Es wäre viel sinnvoller, ihn dort zu ergründen, wo man etwas weiß“!

Zur inhaltlichen Vertiefung kann auf eine Vielzahl geeigneter Texte zurückgegriffen werden, hier wird ein Text von G. Loh­fink (M12) vorgeschlagen. Darin kritisiert der Autor einerseits ein fundamentalistisches Bibelverständnis und eine von da­her motivierte Kritik an der Evolutionstheorie, und entfaltet andererseits ein positives Verständnis der Komplementarität von Schöpfungsglaube und Evolution.

Der Text kann ergänzt werden durch die Inter­pretation einer Abbil­dung, die auf dem Cover des Buches „Und Gott schuf Darwins Welt“ von H. Hemminger (Brunnen 2009) zu sehen ist (s. rechts). Dort sind zwei bekannte Motive mitei­nander verwoben: die Erschaffung des Men­schen nach Michelan­gelo und die stufen­weise Entwicklung des Menschen aus dem Tierreich.15

12 In: Kursbuch Religion Sek II, aaO, S. 71.

13 Der Textauszug aus einem SPIEGEL-Interview findet sich in: entwurf 4/2008, S. 54.

14 Empfehlenswert zu diesem Thema ist auch die Dokumentation „Adam, Eva und die Evolution – Kreationismus auf dem Vor-marsch“ (SWR 2009, 28 Min.).

15 Eine dazu passende, kurze moderne Schöpfungserzählung („Gott wollte den Menschen“) hat M. Fischer formuliert; sie findet sich z. B. in: Kursbuch Religion Sek II, aaO, S. 71.

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WAS IST WIRKLICH?

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WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

4. Die Bibel – zentraler Bezugs­punkt für christlichen Glauben und Theologie

Das Themenfeld „Bibel verstehen“ kam im bisherigen Kursver­lauf schon an verschiedenen Stellen und in unterschiedlicher Weise zur Sprache, diese „losen Fäden“ werden nun noch einmal aufgegriffen und miteinander verbunden. Dies ist auch deshalb wichtig, weil die biblische Überlieferung einen we­sentlichen Bezugspunkt für die Sichtweise des christlichen Glaubens auf die Welt und das Leben darstellt.

Mögliche thematische und vertiefende Aspekte:

� Zugänge zur Bibel (historisch­kritisch, feministisch, tiefen­psychologisch, fundamentalistisch, kreativ, etc.). Ausge­hend von der kennengelernten Auslegung zu Gen 1 (his­torisch­kritisch), dem Bibelverständnis im Kreationismus (fundamentalistisch) und dem Texttheater zu Ps 8 (kreativ) werden verschiedene Zugänge zu biblischen Texten er­schlossen und miteinander ins Gespräch gebracht.

� Gattungen in der Bibel. Dabei kann ebenfalls von den Er­kenntnissen ausgegangen werden, die in der Beschäftigung mit Gen 1 und Ps 8 gewonnen wurden.

� Der hermeneutische Zirkel (vgl. das didaktische Konzept von H. Dam)

� Entstehung und/oder Aufbau der Bibel. Um einen Über­blick über die Bibel zu vermitteln, können Gruppen gebildet werden, die jeweils für einen „Raum“ der Bibel zuständig sind (Mosebücher/Tora; Prophetenbücher; Lehrbücher: Psalmen, Sprüche; Evangelien und Apostelgeschichte;

Briefe). Jede Gruppe erstellt passende Materialien für eine Stationenarbeit, die anschließend durchgeführt wird.

� Die Bibel – ein Märchenbuch? Hier kann das in der Aus­einandersetzung mit Naturwissenschaften und Theologie (Religion) erarbeitete mehrdimensionale Wirklichkeits­ und Wahrheitsverständnis auf biblische Zusammenhänge über­tragen werden.

� (Begleitende) Lektüre einer Ganzschrift, z. B. des Buches Jona

� Bibel und Koran. Die Beschäftigung mit biblischen Schöp­fungstexten kann vertieft werden durch Korantexte zum Thema Schöpfung und Mensch. Ausgehend davon können Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Schriftverständnis zwischen Christen und Muslimen erarbeitet werden. Mög­lich ist eine Behandlung dieses Themas auch im Kontext der Christologie (Q1): Jesus Christus bzw. der Koran als Wort und Offenbarung Gottes.

Materialien zu diesen und weiteren Themen sind in allen rele­vanten Unterrichtswerken, Arbeitshilfen usw. zu finden, dabei können auch bisherige Unterrichtskonzepte – soweit sinnvoll – berücksichtigt werden.

Literatur:

� H. Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, Kevelaer 2009

� H. Küng, Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion, München 2005

� P. Hägele/R. Mayer, Warum glauben – wenn Wissenschaft doch Wissen schafft?, Wuppertal 2003

� B. Drossel, Und Augustinus traute dem Verstand. Warum Naturwissenschaft und Glaube keine Gegen­sätze sind, Gießen 2013

� R. Oberthür, Das Buch vom Anfang von allem. Bibel, Naturwissenschaft und das Geheimnis unseres Universums, München 2015

� U. Lüke, Das Säugetier von Gottes Gnaden. Evolution – Bewusstsein – Freiheit, Freiburg 2016

� H. Hemminger, Und Gott schuf Darwins Welt, Gießen 2009

� Entwurf 4/2008, Heftthema „Schöpfung“ � Oberstufe Religion, Heft 1, Wirklichkeit, hg. von V.­J.

Dieterich, Stuttgart 2006 � Unterrichten in der Oberstufe. Materialien und Anre­

gungen für den Ev. RU in der Jg. 11: „Was ist wahr? – Wahrnehmung und Wirklichkeit“, hg. von der Gymnasialpäd. Materialstelle der Ev.­Lutherischen Kirche in Bayern

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M1Rene Magritte (1898­1967), Schlüssel der Felder, 1933

Betrachten Sie das Bild zunächst für sich allein: Widerstehen Sie der Versuchung, gleich in die Deutung zu verfallen.

Nehmen Sie möglichst genau alle Einzelheiten wahr.

Sprechen Sie jetzt gemeinsam über dieses Bild:Was sehe ich? Benennen Sie die Dinge, die Sie sehen. Achte Sie auf Einzelheiten, die Ihnen auffallen.

Wie ist das Bild komponiert? Aufbau, Gliederung – Vordergrund, Hintergrund – Farbe, Formen.Wie wirkt das Bild auf mich? Welche Gefühle löst es aus, welche Gedanken?

Was ist die Aussage des Bildes? Stellen Sie Vermutungen darüber an, was Magritte mit diesem Bild ausdrücken will. Bietet der Kontext anderer Bilder von Magritte einen Anhaltspunkt?

Sehen wir die Wirklichkeit so, wie sie wirklich ist? – Wie würde der Künstler diese Frage beantworten? Und wie antworten Sie?

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M2 Hoimar v. Ditfurth: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist

Vor einigen Jahren stellte mir jemand die Frage, ob es eigentlich dunkel im Kosmos würde, wenn alle Augen ver­schwänden. Fragen dieser Art stehen am Anfang aller erkenntnistheoretischen Überlegungen. „Hell“ und „dunkel“ sind, wie jeder feststellen kann, der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken, nicht Eigenschaften der Welt, sondern „Seherlebnisse“: Wahrnehmungen, die entstehen, wenn elektromagnetische Wellen bestimmter Länge – zwischen 400 und 700 millionstel Millimetern – auf die Netzhaut von Augen fallen. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass das auch für tierische Augen gilt, und wir wissen sogar, dass die Länge der den Eindruck „hell“ hervorrufenden Wellen bei manchen Tieren von den Frequenzen abweicht, die für menschliche Augen gelten. [...]

Der wirklichen Situation wird man nur dann gerecht, wenn man annimmt, dass in der Außenwelt elektromagneti­sche Wellen der verschiedensten Längen (oder „Frequenzen“) existieren, dass unsere Augen auf einen (vergleichs­weise außerordentlich kleinen) Ausschnitt dieses „Frequenzbandes“ ansprechen und dass unser Gehirn, genauer: der „Sehrinde“ genannte Teil unseres Großhirns, die durch das Ansprechen der Netzhaut ausgelösten Signale dann auf irgendeine, absolut rätselhaft bleibende Weise in optische Erlebnisse übersetzt, die wir mit den Worten „hell“ oder „dunkel“, mit verschiedenen Farbbezeichnungen usw. beschreiben. [...]

Auf dem ganzen Weg, der zwischen Netzhaut und Sehrinde liegt, wird es nicht hell, auch nicht in der „Endstation“. „Hell“ ist erst das optische Erlebnis hinter jener rätselhaft bleibenden Grenze, die körperliche Vorgänge und psychi­sche Erlebnisse für unser Begriffsvermögen voneinander trennt. Hell ist es daher auch nicht in der Außenwelt, nicht im Kosmos, und zwar ganz unabhängig davon, ob es Augen gibt oder nicht. Ist der Kosmos in Wahrheit also dun­kel? Diese Möglichkeit hatte die Frage ja vorausgesetzt. Auch das aber scheidet aus. Das Eigenschaftswort „dun­kel“ nämlich bezieht sich aus den gleichen Gründen nicht auf eine Eigenschaft der Außenwelt, sondern beschreibt ebenfalls ausschließlich ein Seherlebnis. Man könnte auch sagen: Da der Kosmos nicht hell sein kann, kann er auch nicht dunkel sein, denn das eine ist nur als das Gegenteil des anderen denkbar. [...]

Man sieht, die scheinbar so simple Frage, ob es in der Welt ohne Augen dunkel wäre, hat es in sich. Wie beiläufig sind wir bei ihrer Erörterung auf alle wesentlichen Voraussetzungen der Problematik der sogenannten Erkennt­nistheorie gestoßen. Wir haben, erstens, angenommen, dass es außerhalb des Erlebens eine reale Außenwelt tatsächlich gibt. Wir stellten, zweitens, fest, dass das, was wir erleben, nicht ohne weiteres als reale Eigenschaft dieser Außenwelt anzusehen ist. Und schließlich hat sich auch bereits gezeigt, dass es allem Anschein nach reale Eigenschaften dieser von uns vorausgesetzten Außenwelt gibt, die wir, wie zum Beispiel die außerhalb des engen Empfindlichkeitsbereichs unserer Netzhaut liegenden Frequenzen elektromagnetischer Wellen, gar nicht wahrneh­men können. [...]

Und als ob das alles noch nicht genug wäre: Selbst der – aller Wahrscheinlichkeit nach also nur winzige – Ausschnitt der Außenwelt, den wir überhaupt erfassen können, wird uns von unseren Sinnesorganen und unserem Gehirn nun keineswegs etwa so vermittelt, „wie er ist“. In keinem Falle ist das, was in unserem Erleben schließlich auftaucht, etwa ein getreues „Abbild“. Auch das wenige, was wir überhaupt wahrnehmen, gelangt vielmehr nicht ohne kompli­zierte und im Einzelnen völlig undurchschaubar bleibende Verarbeitung in unser Bewusstsein. Unsere Sinnesorgane bilden die Welt nicht etwa für uns ab. Sie legen sie für uns aus. Der Unterschied ist fundamental.

Aufgaben

1. Ist der Kosmos dunkel? Ist es in Frankfurt tagsüber hell? Erläutern Sie die Antwort, die v. Ditfurth auf diese Fragen gibt.

2. Am Schluss des Textes formuliert der Autor, dass unsere Sinnesorgane die Welt nicht für uns abbilden, sondern sie auslegen. Entwickeln Sie zu beiden Erkenntnismodellen eine (beschriftete) Grafik: „Erkenntnis als Abbildung der Welt“ – „Erkenntnis als Auslegung der Welt“.

3. Nehmen Sie Stellung zur Überschrift des Textes!

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M3Harry G. Frankfurt: Die Wirklichkeit ist keine „Erfindung“

Im folgenden Text argumentiert der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt (geb. 1929) dafür, dass Menschen die Welt – trotz aller subjektiven und gesellschaftlichen Einflüsse – in wichtigen Aspekten erkennen können und dass wir uns im Alltag auf diese Erkenntnisse verlassen.

Der Punkt, auf den sich postmoderne Denker besonders stützen, ist folgender: Was ein Mensch als wahr an-sieht, ist entweder lediglich eine Funktion des individuellen Standpunkts dieses Menschen, oder es ist durch das bestimmt, was der Mensch durch verschiedene komplexe und unentrinnbare gesellschaftliche Zwänge als wahr anzusehen gezwungen ist. Dieser Standpunkt kommt mir ziemlich beschränkt vor. Gewiss steht außer Frage, dass beispielsweise Ingenieure und Architekten ohne Rücksicht auf das, was postmoderne Denker oder irgendwelche anderen Leute sagen, bestrebt sein müssen, echte Objektivität zu erzielen – und dass es ihnen manchmal tat­sächlich gelingt, dies zu tun. Viele von ihnen sind außerordentlich geschickt darin, mit normalerweise zuverlässiger Exaktheit sowohl die Hindernisse, die der Ausführung ihrer Pläne entgegenstehen, als auch die Mittel, die sie zur Überwindung dieser Hindernisse zur Verfügung haben, einzuschätzen. [...]

Nehmen wir an, eine Brücke stürzt unter einer Belastung ein, die den Normalwert nicht überschreitet. Was würde uns das lehren? Es würde uns zumindest lehren, dass diejenigen, die die Brücke entworfen oder gebaut haben, irgendwelche ziemlich groben Fehler gemacht haben. Uns wäre klar, dass zumindest einige der Lösungen, die sie bei der Behandlung der vielfältigen Probleme, mit denen sie es zu tun hatten, gefunden haben, auf verhängnisvolle Weise unrichtig waren. Gleiches gilt natürlich in der Medizin. Ärzte müssen danach streben, begründete Urteile da­rüber zu fällen, wie man mit Krankheit und Verletzung umgeht. Dementsprechend müssen sie wissen, von welchen Medikamenten und Vorgehensweisen sich zuversichtlich erwarten lässt, dass sie ihren Patienten helfen werden; sie müssen wissen, bei welchen es eher unwahrscheinlich ist, dass sie auf irgendeine Weise nützen, und sie müssen wissen, welche wahrscheinlich schädlich sein werden. Niemand, der bei Sinnen ist, würde sich auf einen Baumeis­ter verlassen oder sich der Behandlung eines Arztes anvertrauen, der sich nicht um die Wahrheit kümmert. [...]

In allen diesen Kontexten besteht ein klarer Unterschied zwischen der Alternative, Dinge richtig zu machen, und derjenigen, Dinge falsch zu machen, und somit ein klarer Unterschied zwischen Wahr und Falsch. Zwar wird häufig behauptet, dass die Situation eine andere sei, wenn es um historische Analysen und um Ausführungen zu gesell­schaftlichen Fragen geht, und besonders, wenn Bewertungen von Menschen und Grundsätzen zur Debatte stehen, die in solchen Analysen und Ausführungen gewöhnlich enthalten sind. Das Argument, das üblicherweise diese Behauptung stützen soll, lautet, dass derartige Bewertungen immer stark von den persönlichen Lebensverhältnis­sen und Einstellungen der Menschen beeinflusst sind, die sie abgeben, und dass wir deshalb von historischen und sozialwissenschaftlichen Werken keine strenge Objektivität oder Unparteilichkeit erwarten können.

Zugegebenermaßen ist das Element der Subjektivität in solchen Fragen unvermeidlich. Für das, was dieses Zuge­ständnis im Blick auf die Variationsbreite bei der Interpretation der Fakten impliziert, die man bei seriösen Historikern erwarten kann, gibt es jedoch wichtige Grenzen. Es existiert eine Dimension der Realität, in die selbst die kühnste – oder die faulste – Zügellosigkeit der Subjektivität nicht wagen kann einzugreifen. Dies ist der Geist der berühmten Ant­wort, die Georges Clemenceau gab, als man ihn aufforderte, Mutmaßungen darüber anzustellen, was künftige Histori­ker über den Ersten Weltkrieg sagen würden: „Sie werden nicht sagen, dass Belgien in Deutschland einmarschiert ist“.

Aufgaben

1. Erläutern Sie, wie Harry G. Frankfurt die in der Überschrift formulierte These begründet.

2. „Fakten“, z. B. über den Verlauf des Ersten Weltkriegs, können nach Frankfurt unterschiedlich gedeutet werden, nicht aber beliebig. Wie groß ist die „Variationsbreite bei der Interpretation der Fakten“? Diskutieren Sie diese Frage anhand der aktuellen Debatte über den Klimawandel.

3. Ist der Mensch mehr ein „Entdecker“ oder ein „Erfinder“ der Wirklichkeit? Nehmen Sie Stellung!

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M4 Drei Modelle, wie die menschliche Erkenntnis funktioniert:

Naiver Realismus – radikaler Konstruktivismus – kritischer Realismus

Naiver RealismusIn der Welt finden sich Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände. Alle existieren unabhängig von uns in Raum und Zeit. Wir nehmen sie mit unseren Sinnesorganen so wahr, wie sie tatsächlich sind. Wir erlangen unser Wissen über die Welt durch Beobachtung und Erfahrung. Dabei wird die Realität durch die Sinne in unseren Geist übertragen, ähnlich wie beim Photogra­phien Bilder aus der Wirklichkeit auf eine Speicherkarte projiziert werden. Im Erkenntnisvorgang nimmt der Mensch ein passive, die Gegenstände der Umgebung nehmen eine aktive Rolle ein.

Radikaler KonstruktivismusWir haben kein direktes Wissen von der Welt, sondern nur unsere Sinneseindrücke. Aus ihnen konstruiert oder erschafft sich jeder von uns sein eigenes Bild von der Welt. Ob dies ein wahres Bild ist, kann man nicht feststellen. Etwas zu wissen bedeutet deshalb nicht, dass sich in diesem Wissen die Wirklichkeit abbildet oder wiederspiegelt. Wissen ist immer nur ein möglicher Weg, um mit den „Gegenständen“ und Gegebenheiten klarzukommen und sich im Leben so zurechtzufinden, dass es für den Einzelnen irgendwie „passt“.

Kritischer RealismusEs existiert eine reale Welt, die von uns unabhängig ist. Wir nehmen sie mit unseren Sinnen wahr, allerdings nicht unmittelbar und direkt, sondern immer schon vermittelt durch Begriffe, Modelle und Vergleiche, die unser Denken und Erkennen prägen. Deshalb ist es nötig (aber auch möglich!), Vorstellungen von der Welt kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen. Die Wirklichkeit ist nicht immer so, wie es zunächst scheint. Durch dieses Hinterfragen können wir der Wirklichkeit schrittweise näherkommen.

Erkenntnis­subjekte

(primär aktiv)

KONSTRUKTIVISMUSKonstruierenindividuell

?

„Wirklich­keit“

1 „Wirklich­keit“

3„Wirklich­

keit“ 2 usw.

Erkenntnis­subjekt(primär passiv)

NAIVER REALISMUS

wirkt aktiv ein

bildet ab, spiegelt

Wirklichkeit(unabhängig

vom Erkenntnis ­ subjekt)

Erkenntnis­subjekt(passiv + aktiv)

KRITISCHER REALISMUS

wirkt ein

nimmt auf und verabeitet rational­

konstruktiv

Wirklichkeit(unabhängig

vom Erkenntnis ­ subjekt)

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Wie es zu naturwissenschaftlichen Aussagen kommt

Verifikation

Verifikation

Gesetz

Experiment

Hypothese

Falsifikation

Deduktion

Induktion

Sammlung von Daten

D1 D2 D3 D4 D5

D.

M5aPeter Kliemann: Wie arbeiten die Naturwissenschaften?

Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung sind natürliche Erscheinungen, die gemessen werden können, die kausal erklärbar, wiederholbar und vorhersagbar sind, und die deshalb auch unter bestimmten Versuchsbedingungen grundsätzlich von jedermann jederzeit überprüft werden können.

Methodisch geht die moderne Naturwissenschaft bei der Erforschung ihres Gegen­standes folgendermaßen vor:

1. Zunächst werden durch gezielte Beobachtungen, Experimente oder Tests Daten gesammelt (also z. B. dass ein Objekt mit dem Gewicht 1 kg zu einem bestimmten Zeitpunkt unter bestimmten Bedingungen in 0,3 Sekunden senkrecht zu Boden gefallen ist).

2. Um den Zusammenhang zwischen diesen Daten (so z. B. zwischen dem Gewicht und der Fallgeschwindigkeit des Objekts) zu klären, formuliert der Naturwissen­schaftler nun eine Hypothese, d. h. eine begründete Vermutung (also z. B., dass das Gewicht der Objekte sich umgekehrt proportional zur Fallzeit verhält, wie Aristoteles meinte). Diesen Schluss vom Einzelfall auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit bezeich­net man als Induktion.

3. Die Hypothese wird nun in einer großen, aber begrenzten Anzahl von Versuchen überprüft. Diese Anwendung einer allge­meinen Behauptung auf Einzelfälle nennt man Deduktion.

4. Erweist sich die zu überprüfende Hypothese auch nur in einem Fall als falsch (sogenannte Falsifikation; also z. B., wenn zwei Körper trotz gleichen Gewichts in ein und demselben Medium unterschiedlich schnell fallen – so die Beobachtung Galileo Galileis), dann muss die Hypothese zurückgenommen, modifiziert oder auch eine ganz neue Hypothese aufgestellt werden (so z. B. die Hypothese des Galilei, dass alle Körper unabhängig von ihrem Gewicht im Vakuum gleich schnell fallen). Die neue Hypothese muss dann ihrerseits auf dem Weg der Deduktion experimentell überprüft werden. Erweist sich die zu überprüfen­de Hypothese hingegen immer wieder als richtig (sogenannte Verifikation), dann kann sie in den Status eines Naturgesetzes erhoben werden, wobei es sich natürlich immer wieder gezeigt hat, dass auch vermeintliche Naturgesetze noch einmal modi­fiziert werden müssen. – Dieses Verfahren der modernen Naturwissenschaft hat sich [...] als äußerst erfolgreich erwiesen. Ihm verdanken wir vom Kühlschrank bis zum Smartphone alle technischen Errungenschaften unserer Industriegesellschaft.

M5b

Grafik nach: Evangelisch verstehen, 2016, Verlag Europa-Lehrmittel

Peter Kliemann: Wo liegen Grenzen eines naturwissenschaftlichen Zugangs zur Welt?

Der naturwissenschaftliche Zugang hat jedoch auch seine nicht zu übersehenden Grenzen:

a) So sagen naturwissenschaftliche Sätze nichts über die Beziehung des Wissenschaftlers zu seinem Gegenstand aus, also z. B., aus welchen biographischen Gründen sich Galilei mit den Fallgesetzen beschäftigte, [...] welche Folgen seine Forschun­gen für sein weiteres Leben hatten, etc.

b) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse helfen auch bei ethischen und politischen Fragestellungen, die sich aus den Ergeb­nissen naturwissenschaftlicher Forschung ergeben, nicht weiter: Dürfen und sollen Atomkraftwerke gebaut werden? Ist es erlaubt, biologische und chemische Kampfstoffe herzustellen? Dürfen und sollen Experimente mit menschlichen Genen ange­stellt werden?

c) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse versagen außerdem bei der Erklärung von Sachverhalten, die einmalig und nicht wie­derholbar sind: Der Tod meiner Mutter, der Streit mit meinem Chef, [...] meine Freude über den Sonnenaufgang im Gebirge ... All das ereignet sich natürlich unter Umständen in vergleichbarer Weise in vielen Menschenleben, unterliegt deshalb auch bestimmten Gesetzmäßigkeiten, letztlich handelt es sich aber doch um jeweils einzigartige menschliche Erfahrungen, die in ihrer Erlebnisqualität nicht messbar sind und auch nicht von jedermann jederzeit überprüft werden können.

d) Welchen Sinn mein Leben eigentlich hat, warum ich ehrlich und hilfsbereit sein soll, [...] wie ich mit meiner Arbeitslosigkeit fertig werde – all das sind Probleme und Fragen, die Menschen umtreiben, bei denen der naturwissenschaftliche Zugang zur Wirklichkeit jedoch keine Hilfe bieten kann.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M6a Peter C. Hägele: Naturbild und Weltbild

Der Physiker P. Hägele setzt sich intensiv mit Fragen nach der Tragweite und den Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auseinander. Er weist darauf hin, dass in den Naturwissenschaften „nicht die Natur an sich abgebildet wird, sondern eine Natur, wie sie sich durch die Filter unserer Sinnesorgane, unserer Messgeräte und Apparate und unserer experimentellen Anordnungen zeigt“. Der Naturwissenschaftler hat es immer schon mit einer durch diese und andere Filter „präparierten Natur“ zu tun; er kann nur das erkennen, was mit Hilfe jener speziellen Methodik ‚eingefangen‘ werden kann. Darüber hinaus enthalten naturwissenschaftliche Theorien „keine Werte oder Wertun-gen – weder ethische noch ästhetische Fragen werden beantwortet“, ebenso wenig wie „Fragen nach Sinn und Ziel“ natürlicher Prozesse. Um die Eigenart und Reichweite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu verdeutlichen, unterscheidet Hägele zwischen „Naturbild“ und „Weltbild“. Dies wird im Folgenden erläutert.

Die Gesamtheit der Erkenntnisse, welche aus der Methodik und Arbeitsweise der Naturwissenschaften folgen, wird gerne als das (natur­)wissenschaftliche Weltbild bezeichnet. Dieses beschreibt jedoch nur bestimmte Aspekte der Welt, nicht aber die Welt als Ganze. Der Begriff des Weltbildes (oder der Wel­tanschauung) sollte deshalb für die umfassendere Weltsicht reserviert bleiben. Anstelle des Begriffs des wissenschaftlichen Weltbildes wird von manchen auch die etwas bescheidenere Bezeichnung Naturbild vorgezogen. […] In einer pauschalen Definition ist das Naturbild der mit (natur­)wissenschaftlicher Methodik gewonnene Anteil oder Aspekt eines Weltbildes. Es fasst die allgemein akzeptierten naturwissenschaftlichen Modelle zusammen. Das Weltbild geht darüber hinaus: es ist das Bild, das sich jemand von der Gesamtwirklichkeit um ihn herum und in ihm macht und beinhaltet auch Fragen nach Sinn und Bedeutung des Lebens, nach Gott oder einem letz­ten Grund des Seins sowie nach ethischen Werten, an denen sich Menschen orientieren können. Wir treffen somit die Unter­scheidung und Abgrenzung: Naturbild – Weltbild.

In Anlehnung an die Wissenschaftler COULSON und RHODES kann man die Welt mit einem Haus vergleichen. Während ein Weltbild das ganze Haus mit allen seinen Seiten und Aspekten im Blick hat, ist das Naturbild lediglich ein bestimmter Schnitt durch dieses Haus, z. B. ein Grundriss des ersten Stockwer­kes. Der Aspekt, der durch diesen Schnitt ins Blickfeld kommt, ist durch die Methodik der Naturwissenschaften vorgegeben. Innerhalb dieser Ebene, dieses Schnittes, können die wissen­schaftlichen Einsichten immer weiter fortschreiten. Mit der Verfeinerung der Methodik werden immer detailliertere Ergeb­nisse möglich (Fläche der Zimmer, Starke der Wände usw.). Grenzen sind nicht in Sicht und brauchen auch nicht postuliert zu werden. Allerdings kommen andere vorhandene Ebenen oder gar das ganze Haus nicht in den Blick. So findet sich z. B. auch keine Abbildung des Architekten des Hauses im gewähl­ten Schnitt. Aus diesem Grund die Existenz eines Architekten zu leugnen, wäre allerdings ein grobes Missverständnis.

Der Schnitt gibt zwar einige Hinweise auf Eigenschaften des ganzen Hauses (man kann z. B. aus den gemessenen Wand­stärken Schlüsse ziehen über die mögliche Zahl der Stockwer­ke), er kann aber dennoch zu ganz verschiedenen Häusern passen. [...] Ohne Bild gesprochen bedeutet dies, dass aus ei­

nem Naturbild nicht zwangsläufig und eindeutig ein bestimm­tes Weltbild folgt. Dies wird auch durch die Erfahrung bestä­tigt, dass Naturwissenschaftler, welche als Zeitgenossen etwa dasselbe Naturbild haben, dennoch oft ganz unterschiedliche Weltbilder vertreten.

Die Abbildung fasst dies zusammen: Aus der generellen Me­thodik von Experiment, Beobachtung und Modellentwurf fol­gen zusammen mit den spezielleren Methoden der einzelnen Disziplinen die Modelle (Theorien), welche gemeinsam das Naturbild ausmachen. Dieses ist lediglich Teil eines Weltbil­des, welches zusätzlich von ganz unterschiedlichen außer­wissenschaftlichen Elementen geprägt ist. [...] Der Biophysiker A. GIERER spricht in diesem Zusammenhang von der Mehr­deutigkeit der Welt: „Man kann eben die Welt – in Überein­stimmung mit wissenschaftlicher Erkenntnis und logischem Denken – zum Beispiel atheistisch oder im Glauben an Gott interpretieren, [...] dem Geist oder der Materie die Priorität für das Verständnis der Welt zuschreiben, [...] dem einzelnen Leben und der Geschichte den einen, anderen oder gar kei­nen Sinn unterlegen, den Menschen als [von Gott gewolltes] Ziel oder Zufallsprodukt der Evolution ansehen. Da gibt es ein weites Spektrum von Möglichkeiten für die Interpretation des Menschen und der Welt. In jedem Fall aber ist die Wissen­schaft, die ihre eigenen Voraussetzungen reflektiert, mit ver­schiedenen Interpretationen und daher auch mit verschiede­nen Religionen, Kulturen und Lebensformen vereinbar“.

Natur- bild

außerwissen-

schaftlicheElemente

generelle Methode: Experiment, Beobachtung,

Modellentwurf

Weltbild

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4

spezielle Methoden der Einzelwissenschaften

(Physik, Chemie, Biologie etc.)

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M6bAufgaben zu: Peter C. Hägele, Naturbild und Weltbild

Gehen Sie den Text in Partnergruppen zunächst Abschnitt für Abschnitt durch, markieren Sie jeweils Kernbegriffe und ­aussa­gen und stellen Sie sich diese gegenseitig vor, klären Sie unverständliche Passagen (ggf. mit Hilfe der Lehrkraft).

1. Was ist nach Hägele ein „Naturbild“ und was ein „Weltbild“? Worin unterscheiden sich beide? Klären Sie gemeinsam die Bedeutung der Begriffe und versuchen Sie anschließend, das Verhältnis von Naturbild und Weltbild in einer (beschrifteten) Grafik darzustellen!

2. Zur Erklärung des Unterschieds zwischen Naturbild und Weltbild greift Hägele auf das Bild eines mehrstöckigen Hauses zurück. Erläutern Sie dieses Bild und seine Bedeutung!

3. Nehmen Sie Stellung zu der Aussage Hägeles, dass „aus einem Naturbild nicht zwangsläufig und eindeutig ein bestimmtes Weltbild folgt“ und die Welt deshalb „mehrdeutig“ ist. Berücksichtigen Sie dabei auch das Zitat von A. Gierer am Ende des Textes.

Zusatzaufgabe

Der Elementarteilchenphysiker H. FRITZSCH schreibt im Prolog seines Buches „Vom Urknall zum Zerfall“ (1983): „Am Anfang war das Nichts, weder Zeit noch Raum, weder Sterne noch Planeten, weder Gestein noch Pflanzen, Tiere und Menschen. Alles entstand aus dem Nichts, zuerst ein sehr heißes Plasma aus Quarks, Elektronen und anderen Teilchen, zusammen mit Raum und Zeit. Schnell kühlte dieses Plasma ab; es bildeten sich Protonen, Neutronen, Atomkerne, Atome, Sterne, Galaxien und Planeten. Schließlich entstand das Leben in vielen Sonnensystemen des Alls, darunter auch auf einem Planeten eines ganz gewöhnlichen Sterns in einem der Spiralarme einer Galaxie, die sich zufällig am Rande einer großen Ansammlung von Gala-xien befand. Aus einfachsten Organismen entwickelten sich dort im Laufe von vier Milliarden Jahren Pflanzen und Tiere und schließlich der Mensch. Ursprünglich glaubte der Mensch, er befinde sich im Mittelpunkt des Alls, und die gesamte Welt sei nur für ihn gemacht. Er erfand Götter, die nach seinen Vorstellungen die Welt beherrschten und dem menschlichen Dasein seinen Sinn gaben. [...] Er versteht, dass er in Zukunft ohne Götter leben muss und dass er für sein Schicksal selbst verantwortlich ist.“

Fritzsch beschließt sein Buch mit folgenden Worten: „Das Universum ist mehr als eine Ansammlung von Elektronen, Quarks und Galaxien, mehr als Raum und Zeit. Auch jene vielgestaltige, ineinander verwobene Welt der Erde, die uns geschaffen hat, gehört dazu. Nicht nur uns gegenüber haben wir die Pflicht, diese Welt zu erhalten. Das Universum selbst verpflichtet uns dazu.“

Was sind in diesen Texten naturbildhafte Aussagen – also Aussagen, die sich unmittelbar aus der Methodik und Arbeits­weise der Naturwissenschaften ergeben?

Wo finden sich Aussagen, die das Naturbild überschreiten in Richtung eines Weltbildes – also Aussagen, die ethische Begriffe oder Ansprüche enthalten und Sinnfragen bzw. Fragen nach einem letzten Grund des Seins aufgreifen?

Unterstreichen Sie die jeweiligen Aussagen mit unterschiedlichen Farben!

Welche Unklarheiten und Missverständnisse (können) entstehen, wenn Naturbild und Weltbild miteinander vermischt werden?

Hinweise für die Lehrkraft (beim Kopieren abdecken):

Weltbildhafte Aussagen im Text von H. Fritzsch sind vor allem folgende:

� „Am Anfang war das Nichts, weder Raum noch Zeit ... Alles entstand aus dem Nichts ...“: Das Nichts ist kein natur-wissenschaftlicher Begriff, eine physikalische Kosmologie kann nur Aussagen über einen möglichen Anfangszustand (Urknall) machen, nicht aber über ein Vorher und Jenseits der Welt

� „Er [der Mensch] erfand die Götter ...“: Dahinter steht eine vorwissenschaftliche Entscheidung für den Atheismus, die sich in keiner Weise aus den Naturwissenschaften ergibt

� „Nicht nur uns gegenüber haben wir die Pflicht, diese Welt zu erhalten. Das Universum selbst verpflichtet uns dazu“: Hier werden plötzlich ethische Kategorien eingeführt, die über eine rein naturwissenschaftliche Sicht hinausgehen

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M7 Wie sieht ein religiöser Mensch die Welt?

Abraham Heschel: Ein Vermächtnis zu staunen

Verwunderung oder Staunen gegenüber der Geschichte und der Natur sind die Hauptkennzeichen für die Haltung des religiösen Menschen. Eins aber liegt ihm völlig fern: Dinge für selbstverständlich zu halten und Geschehnisse als den natürlichen Ablauf der Dinge anzusehen. Es bedeutet für ihn keine Antwort auf sein fundamentales Stau­nen, wenn er eine ungefähre Ursache für ein Phänomen findet. Er weiß, es gibt Gesetze, die den Ablauf natürlicher Vorgänge regeln. Er ist sich der Stetigkeit und der immer gleichen Struktur der Dinge bewusst. Solches Wissen mindert aber nicht sein nie endendes Staunen über die Tatsache, dass es überhaupt Tatsachen gibt. Wenn er die Welt betrachtet, sagt er: „Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder in unseren Augen” (Psalm 118,23).

Fundamentales Staunen hat einen weiteren Horizont als jeder andere menschliche Akt. Jeder Akt der Wahrnehmung oder des Erkennens hat einen ausgewählten Ausschnitt der Wirklichkeit zum Gegenstand; radikales Staunen bezieht sich auf die gesamte Wirklichkeit, nicht nur auf das, was wir sehen, sondern auch auf den Akt des Sehens als solchen, ebenso wie auf unser eigenes Ich, auf das Ich, das sehen und über seine Fähigkeit zu sehen staunen kann.

Voll unendlichen Staunens steht der Mensch der Bibel vor den „großen Dingen, die nicht zu erforschen sind, den Wundern, die nicht zu zählen sind” (Hiob 5,9). Er trifft sie an in Raum und Zeit, in Natur und Geschichte, nicht nur in den ungewöhnlichen, sondern auch in den alltäglichen Geschehnissen der Natur. Nicht nur die Dinge, die außer ihm liegen, erwecken das Staunen des Menschen der Bibel; sein eigenes Sein erfüllt ihn mit bewundernder Ehrfurcht. „Ich danke dir dafür, dass ich so wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl” (Psalm 139,14).

Rainer Oberthür: Tatsache und Geheimnis

Alle Dinge, die wir sehen,können wir doppelt anschauen: als Tatsache und als Geheimnis.Nun kommen Tatsache und Geheimnis im Staunen zusammen:

Vordergrund und Hintergrund, Außen und Innen, Oberfläche und Tiefe.Wenn wir die Tatsachen kennen [wie die Welt angefangen hat und sich entwickelte],

können wir staunen,können nach dem Geheimnis und nach Gott fragen.

Die Unfassbarkeit aller Ereignisse vom Urknall bis zum Leben, das nach dem Grund von allem Anfang und aller Entwicklung fragt,

ist ein guter Grund, an einen Schöpfer der Welt zu glauben,aber kein Beweis dafür, dass es Gott gibt.

Gott ist nicht einfach die Erklärung für alles, was wir nicht verstehen.Gott ist nicht der Lückenbüßer für fehlende Antworten,

aber Gott kann uns helfen, die Lücken auszuhalten, damit zu leben,tiefer zu fragen nach dem Grund, warum es die Welt gibt,

tiefer das Wunder zu erleben, warum es uns gibt,tiefer ergriffen zu sein von dem Unbegreiflichen.

Arbeitsauftrag

1. Menschen, die aus dem Vertrauen auf Gott und seine Liebe leben, haben einen neuen Blick auf die Wirklichkeit, eine veränderte Lebensperspektive. Was sind nach Heschel und Oberthür Merkmale dieser Sichtweise des Glaubens?

2. In welchem Verhältnis steht diese Sichtweise zum naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt? Nehmen Sie auch hier Bezug auf beide Texte!

3. Überlegen Sie: Was folgt aus der Sichtweise des Glaubens für den Umgang mit anderen Menschen und mit der Schöpfung? Ändert sich dadurch das Handeln im Alltag?

4. Lesen Sie folgende Bibeltexte (ggf. arbeitsteilig): Ps 136,1-15 und 23-26; Ps 23; Mt 6,25-34; Lk 10,25-37. Wo und in welcher Weise kommt hier die Sichtweise und Grundhaltung des Glaubens zur Sprache?

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M8Glaubenswege – ein Interview mit dem Theologen Jürgen Moltmann

Jürgen Moltmann, geboren 1926 in Hamburg, stammt aus einer atheistischen Lehrerfamilie. Krieg und Gefangenschaft haben den späteren Theologen geprägt. Er lehrte zuletzt von 1967 bis 1994 Systema-tische Theologie an der Universität Tübingen. In der „Systematischen Theologie“ (einem Fachgebiet innerhalb der Theologie) geht es darum, die Inhalte des christlichen Glaubens zu reflektieren und auf dem Forum der Vernunft zu verantworten. Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ (1964) zählt zu den folgenreichsten theologischen Büchern aus Deutschland.

[...] Was ist Gott für Sie?

Es ist ein Doppelgefühl. Zum einen ist Gott ein Gegenüber, zu dem ich bete und der mich im Gebet erweckt, der meine Sinne wachruft, so dass ich aufmerksamer lebe. Ein Gegenüber, zu dem ich schreie und spreche, danke und lobe, und vor dem ich mein Leben führe. Zum anderen ist Gott eine große Umgebung. Eine große Atmosphäre des Vertrauens, die mich von allen Seiten umgibt. So, wie es im Psalm 139 anklingt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Dieses Doppelgefühl von Gegenüber und Gegenwart weist für mich auf Gott hin.

Im Gebet richten Sie sich auf dieses Gegenüber aus?

Ja. Ich bin ein sprechendes und hörendes Wesen. Im Gebet erfahre ich, wie meine Augen, meine Sinne geöffnet werden für das Leben.

Erinnern Sie sich noch, wie dieser Dialog mit Gott für Sie begonnen hat? War das 1943, als Ihre Geburtsstadt Hamburg in den Bombennächten zerstört wurde?

Da habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien. [...] Es war so: Die „Operation Gomorrha“, wie die Engländer die geplante Zerstörung der ersten deutschen Großstadt getauft hatten, richtete neun Nächte lang ein unbeschreibli­ches Inferno an. Ich war eingezogen als Luftwaffenhelfer. In der letzten oder vorletzten Nacht traf eine Sprengbom­be die Plattform mitten auf der Alster, wo wir mit unserem Kommandogerät aufgebaut standen. Die Splitter zerris­sen meinen Schulfreund neben mir. Ich erhob mich wieder, taub und geblendet, mit nur geringen Splitterwunden an Schulter und Wangenknochen.

Wundern Sie sich noch heute darüber, dass Sie überlebten?

Ja, das war wirklich ein Wunder. In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und mein Leben in seine Hände gelegt. Ich war wie tot und habe danach jeden neuen Tag wie ein Geschenk emp­funden. Meine Frage war nicht: Warum lässt Gott das zu? Sondern: Mein Gott, wo bist du? Damit fing mein Suchen nach Gott an.

Was gab Ihnen die Gewissheit, dass Sie nicht einer Illusion nachjagten?

Ich hatte das Gefühl, dass ich Gott nicht suchen würde, wenn er mich nicht ziehen würde. Oder wenn er mich nicht schon gefunden hätte. Warum sonst sollte ich nach Gott suchen? Da muss schon irgendetwas sein, das mich gefunden hatte.

Sie waren als Kriegsgefangener der Briten fünf Jahre lang eingesperrt in Kasernen und Lagern. Hat diese Ge-fangenschaft Ihre Widerstandskraft gestärkt?

Nein, am Anfang überwog die Depression über die Kriegszerstörungen und diese Gefangenschaft ohne absehbares Ende. [...] Es gab [aber] zwei Erfahrungen, die für mich eine Wende zu neuer Lebenshoffnung bedeuteten. Zum ei­nen erlebte ich in dem Lager an der schottischen Küste viele menschenfreundliche Begegnungen mit den einheimi­schen Arbeitern und ihren Familien. Zum anderen wurden Bibeln verteilt und ich las abends darin. Die Klagepsalmen im Alten Testament sprachen mir aus der Seele. Dann las ich die Passionsgeschichte im Markus­Evangelium und vernahm den Todesschrei Jesu: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich erfuhr zwar keine Erleuchtung, aber ich spürte die wachsende Gewissheit: Da ist jemand, der dich versteht, der die gleiche Verlassenheit gefühlt hat, in der du jetzt bist! Das brachte mir neuen Lebensmut. [...] Ganz langsam, aber sicher ergriff mich eine große Hoffnung auf die Auferstehung in Gottes „weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist“, wie es im Buch Hiob heißt.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M8 Fortsetzung: Glaubenswege

Diese Hoffnung ist Ihr Lebensthema geworden. Sie bezeichnen sie als Zentrum und Lebenskraft der christli-chen Existenz. Warum?

Die große Hoffnung sagt: Eine andere, eine gerechtere Welt ist möglich. Gib dich nicht auf, setz‘ dich ein! Jedes Kind, das zur Welt kommt, verkörpert einen erneuten Anlauf zu diesem Gelingen. In jedem Kind wartet Gott sozu­sagen auf den menschlichen Menschen.

Das stellt eine unerhörte Aufwertung des Menschen dar, die vielen von uns heutzutage gar nicht geläufig ist.

Aber diese Wertschätzung macht das Leben erst menschlich. Das menschliche Leben ist angenommenes, gelieb­tes und erlebtes Leben. Wo Leben nicht angenommen, geliebt und erlebt werden kann, haben wir es nicht mehr mit menschlichem Leben zu tun. Wenn ein Kind nicht erfährt, dass es angenommen wird, wird es krank. Wenn ein Mensch sich selbst nicht annimmt, verliert er seine Lebendigkeit. Er wird müde und gibt sich auf. [...] Wir Menschen sind Gottes große Liebe. Das ist die Botschaft des Evangeliums. Und Gott hofft auf das Gelingen seiner riskanten Geschöpfe. Er hofft darauf, dass wir die Gottesebenbildlichkeit, die in uns angelegt ist, verwirklichen werden. Wir können sagen: Menschsein ist Menschwerden. Wir werden erwartet.

Gott wartet auf uns. So lautet die Verheißung der Bibel. Aber können wir diesen Auskünften tatsächlich vertrauen?

Für das Volk Israel war die Verheißung oder vielmehr der verheißende Gott deshalb so gewiss, weil sie aus der Gefangenschaft in Ägypten tatsächlich heil herausgekommen sind. Das Gelobte Land sah dann zwar etwas an­ders aus, als sie geträumt hatten, aber sie haben auf ihrer Wanderung offenbar die Treue Gottes erfahren. [...] Für die Christen ist das Treueereignis Gottes die Auferweckung Jesu Christi. Oder allgemeiner gesagt: das Kommen Christi, in dem der göttliche Lebensgeist war. Von ihm sind Lebens­ und Heilungskräfte ausgegangen zu den Men­schen hin. Weil er gekommen ist, ist die Hoffnung auf die Zukunft Gottes und die neue Erde, auf der Gerechtigkeit herrscht, gewiss.

Aber weshalb soll sich ein halbwegs aufgeklärter Mensch heute auf die Aussagen der Bibel verlassen?

Es gibt keine naturwissenschaftlichen Beweise. Aber es gibt Zeugen. Wenn ich an Menschen denke wie Dietrich Bonhoeffer oder an Martin Luther King, fühle ich mich in meiner Zuversicht gestärkt.

Am Ende sind es also Menschen, denen wir glauben müssen?

Ja. So ist es im menschlichen Leben überall und immer wieder. Mit Menschen erleben wir diese Wirklichkeit. Denn menschliches Leben ist auf natürliche und soziale Kommunikation angewiesen und existiert nur darin. Leben ist Beziehung und Austausch.

Und in diesem Bereich des Zwischenmenschlichen können wir Gott finden?

Richtig. Der Geist Gottes ist das, was lebensfördernd zwischen den Menschen stattfindet: die Liebe und die Gerechtigkeit.

[...]

Aufgaben

1. Moltmann erzählt von seinem persönlichen Glaubens- und Lebensweg. Wie kommen darin die vier Quel-len des Glaubens vor, von denen G. Theißen spricht (Bibel, Tradition, Erfahrung, Vernunft)? Markieren Sie die entsprechenden Stellen mit vier verschiedenen Farben – und beachten Sie dabei auch die biographi-schen Angaben. Können manche Aussagen mit mehreren Farben markiert werden?

2. Für den Glauben und die Theologie Moltmanns spielt der Begriff der „Hoffnung“ eine zentrale Rolle – sowohl als Hoffnung vonseiten Gottes als auch der (glaubenden) Menschen. Erläutern Sie diesen Zusammenhang!

3. Sie haben das Interview mit Moltmann (z. B. im Rahmen einer Talkshow) als Zuhörer verfolgt und können ihm abschießend noch eine oder zwei Fragen stellen. Was fragen Sie (und warum)?

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M9Gerhard Lohfink: Verschiedene Zugangsweisen zur Wirklichkeit

Stellen wir uns ein Bild des Vincent van Gogh (1853­1890) vor, zum Beispiel eine seiner Landschaften aus der Zeit in Arles oder Saint­Rémy. Man kann durchaus mit naturwissenschaft­licher Methode an ein solches Bild herangehen. Man kann messen, wie groß es ist. Man kann feststellen, wie schwer die Leinwand ist, und ihre textile Struktur bestimmen. Man kann eine chemische Analyse der verwendeten Farben vornehmen. Man kann Van Goghs Pinselführung bis ins Kleinste untersu­chen: kurze, energische Striche; aufgetupfte Lichtpunkte. Das alles ist äußerst aufschlussreich. Es hilft zum Beispiel, einen echten Van Gogh von Fälschungen zu unterscheiden. Aber an das Eigentliche des Bildes ist man mit den geschilderten Ana­lysen noch keineswegs herangekommen. Nicht einmal seine Geschichte ist damit geklärt. Wann genau und wo wurde es gemalt? Charakterisiert Vincent das Bild in einem Brief an sei­nen Bruder? Stammt die Bildidee von ihm selbst oder malte er nach einer Vorlage? Welchen Einfluss hatten andere Maler? […] [Aber trotz dieser Einflüsse] ist sein Bild eine Neuschöp­fung. Es ist in ein völlig anderes Licht getaucht. Die Welt, die Vincent hier malt, glüht in Blau, Gelb und Braun. Also Abhän­gigkeit – und doch eruptiv Neues! Über derartige Beziehungen kann ein Physiker oder Chemiker mit seinen Möglichkeiten und Versuchsanordnungen keine Aussagen mehr machen. Dazu bedarf es kunstgeschichtlicher Untersuchungen, die mit einer anderen Methode arbeiten.

Und selbst dabei würde man mit einer rein historischen Me­thodik einem großen Gemälde noch nicht gerecht – so hilf­reich sie ist. Es käme ja darauf an, die ästhetische Dimension des betreffenden Bildes zu erfassen. Wie sieht van Gogh die Welt? Wie hat er die Bildkomposition angelegt? Welche Far­

ben hat er gewählt? In welchem Verhältnis stehen sie zuei­nander, und was drückt er mithilfe dieser Farben aus? Wie verhalten sich bei ihm Abbildung der Welt und Neuschöp­fung von Welt zueinander? Haben die Felder, die Bäume, die Wolken, die er malt, eine Tiefendimension, die seelische Bewegungen mitaussagen? Erst mit Fragen dieser Art würde man anfangen seinen Bildern als Bildern gerecht zu werden. Angesichts dieser eigentlichen Wahrnehmung großer Kunst muss die reine Naturwissenschaft, muss sogar die Kunstge­schichte ihre Grenzen erkennen. Die ästhetische Welt eines Bildes und seine Sinndimensionen sind mit naturwissen­schaftlichen Methoden schlechterdings nicht erfassbar.

Und nun gilt: So wenig die Naturwissenschaft die Sinndimen­sionen eines Bildes erfassen kann, so wenig kann sie den Sinn der Welt erfassen. Sie kann unendlich viel darüber wissen, wie, auf welche Weise die Prozesse der materiellen Welt ablaufen. Aber sie kann nichts darüber sagen, warum es die Welt gibt und ob sie ein Ziel, einen Sinn hat. Die Naturwissenschaft kann, um es noch radikaler zu formulieren, in keiner Weise die Frage beantworten, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Man darf die Welt nicht auf das reduzieren, was an ihr sichtbar, zählbar und messbar ist, und dann allen anderen Erkenntnisweisen die Qualität wahrer Erkenntnis absprechen. Wahre Wissenschaft ist für viele verschiedene Erkenntnisebe­nen offen. Wissenschaftlich denken heißt gerade: Mit Größen rechnen, die mit der eigenen Methode nicht erfassbar sind, für die es aber vielleicht andere Zugangsweisen gibt.

Ich bin extrem dankbar, wenn mein Zahnarzt über die mo­dernsten Geräte und Techniken verfügt, die heute in der Zahnmedizin zur Verfügung stehen und wenn er sich in der neuesten Zahnforschung auskennt. Doch halte ich ihn nicht unbedingt für kompetent, wenn es um die Frage nach dem Sinn meines Lebens geht. […] Sachgerecht wäre es, dazu – zumindest auch – das Alte und Neue Testament zu befragen bzw. Menschen, die in der Tradition dieses Buches leben. Die Bibel ist gesammelte Erfahrung. Der christliche Glaube ist die Frucht einer langen Glaubensgeschichte. Er ist die verdich­tete, immer wieder erneuerte Summe von Erfahrungen vie­ler Generationen, von Erfahrungen, die Menschen mit dem Gott Israels gemacht haben. Solcher Gotteserfahrung die (mögliche) Qualität echter Erkenntnis abzusprechen, würde gerade nicht wissenschaftliche Offenheit verraten, sondern vielmehr eine sehr eingeschränkte und eindimensionale Sicht der Wirklichkeit.

Aufgaben

1. Vergleichen Sie die von Ihnen formulierten Fragen mit denen, die im Text vorkommen.

2. Übertragen Sie das hier gewählte Beispiel auf den Bereich der Musik, z. B. eine Komposition von J.S. Bach, und beschreiben Sie verschiedene Wahrnehmungsperspektiven und Zugangsweisen.

3. Erörtern Sie folgende These Lohfinks: „Wahre Wissenschaft ist für viele verschiedene Erkenntnis ebenen offen“.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M10Schaubild: Naturwissenschaft und Religion

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M11Irmintraud Eckard: Einen Schöpfungspsalm durch Sprechen, Tönen und Bewegen gestalten

Eines der Hauptinstrumente unserer Persönlichkeit ist unsere Stimme. Dies wird uns meist erst dann bewusst, wenn wir heiser werden, wenn wir vor Aufregung „einen Kloß im Hals haben“, wenn uns „die Luft wegbleibt“ oder wenn es uns „die Sprache verschlägt“. Andererseits erleben wir es als befreiend, wenn wir fließend sprechen kön­nen, wenn wir tief durchatmen können und die Worte aus dem Herzen kommen können.

Um die Stimme zur Ausdrucksgestaltung eines Psalms einsetzen zu können, sollten wir einige Körperübungen machen, um die drei wesentlichen Gestaltungs­Elemente Sprechen, Atmen und Herz bewusst wahrzunehmen. […]

Um einen Psalm mit unserer Stimme zu gestalten, können wir folgende Möglichkeiten einsetzen. Jede einzelne Variante wird gemeinsam erprobt:

� Wichtige Worte werden wiederholt, auch mehrfach,

� die Lautstärke wird variiert, lautes oder leises Sprechen,

� das Sprechtempo wird verändert, schnell oder langsam,

� die Tonhöhe wird moduliert, hell, dumpf, klar, klangvoll

� Pausen werden bewusst eingesetzt,

� die Stimme wird durch die Körperhaltung und Bewegung beeinflusst, ein Aufstehen an bestimmten Stellen, ein Emporschwingen der Arme oder ein akzentuierter Schritt verändern unsere Stimmqualität.

Wichtig ist, dass wir das, was wir sprechen wollen, zuvor denken und uns vor unserem inneren Auge vorstellen.

Beispiel: Psalm 8 (nach Luther)

Material: vorgedruckter Psalmtext mit Raum für Notizen (großer Zeilenabstand!), Stifte

Gestaltungszeit: ca. 30­40 Minuten

Jeweils vier Personen bilden eine Gruppe.

Der ausgewählte Psalm wird in der Gruppe bewusst tonlos miteinander im Chor gesprochen. Jede/r sagt, welche Textstelle sie/ihn besonders aufmerken ließ. Der Text wird strukturiert, in Abschnitte aufgeteilt, wich­tige Worte oder Sätze werden unterstrichen. Ein Thema wird benannt.

Miteinander werden Stimm­Modulationen erprobt, verändert und in Stichworten auf dem Textblatt als Ge­dankenstütze notiert. Der Psalm als Ganzes wird nach den ausgewählten Sprach­Gestaltungsmitteln ge­sprochen.

Die Vorstellung der Ergebnisse erfolgt unkommentiert im Plenum. Die expressive Klangdeutung wirkt sehr emotional und weckt bei den Zuhörenden Bilder und Erfahrungen, die sehr tief gehen können. Das Spre­chen eines Psalms in dieser Form kann auch Teil eines Gottesdienstes sein.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

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WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M12 Gerhard Lohfink: Evolution, Schöpfungsglaube und Kreationismus

Über die Evolution lässt sich naturwissenschaftlich unendlich viel sagen. Aber nichts da­von widerlegt den Gottesglauben und den Glauben an die Welt als Schöpfung Gottes. [...] Leider gibt es christliche Fundamentalisten, die hier aus einem falschen Bibelver­ständnis heraus noch immer anderer Meinung sind. Sie lehnen die Evolutionstheorie ra­dikal ab und haben nicht begriffen, was es heißt, die Bibel wörtlich zu nehmen. Denn „wörtlich“ nimmt man die Bibel gerade dann, wenn man die Art, in der sie redet, ernst nimmt – das heißt, wenn man ihre Textgattungen beachtet. Den Text von der Schöpfung in Gen 1 zum Beispiel nehmen wir nur dann wörtlich, wenn wir ihn nicht als naturhisto­rische Dokumentation lesen, sondern als eine hochtheologische Erzählung, die Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde zeigen und zugleich die Institution des Sabbats von der Schöpfungsordnung her begründen will. Deshalb arbeitet Gott sechs Tage lang und ruht sich am siebten Tag von seiner Arbeit aus.

Die biblische Schöpfungsgeschichte zeigt übrigens selbst, dass sie nicht als kosmolo­gische bzw. biologische Dokumentation gelesen sein möchte. Es gibt nämlich in Gen 1­2 zwei Schöpfungserzählungen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden.1 [...] Nun haben aber die Redaktoren der Genesis beide Schöpfungserzählungen aneinander­gereiht und miteinander verfugt. Sie wussten durchaus, dass sie dabei mit unterschied­lichem Erzählmaterial arbeiten. Wir würden heute sagen: Sie haben mit verschiedenen Weltentstehungs­Theorien gearbeitet. Aber gerade diese Freiheit im Umgang mit je verschiedenem Erfahrungsmaterial zeigt: Sie wollten gar nicht in erster Linie bio­logische oder kosmologische Theorien vertreten. Sie wollten vielmehr theologisch herausarbeiten, dass Gott alles erschaffen hatte. Selbstverständlich taten sie das mit den Mitteln ihrer Zeit.

Weil das so ist, nehmen Fundamentalisten, die mit Gen 1 und 2 kosmologisch oder biologisch argumentieren, den biblischen Text gerade nicht wörtlich. Die Bibel kann deshalb nicht gegen die Evolution ins Feld geführt werden. Übrigens kann sie das auch deshalb nicht, weil die große Schöpfungserzählung in Gen 1 wenigstens an einer Stelle selber ein Stück weit evolutiv denkt. Die Pflanzen und die Tiere werden nämlich von Gott nicht direkt, mit eigener Hand geschaffen, sondern die „Erde“ bringt sie hervor (Gen 1,11f. 24f) und lässt sie aus sich heraus entstehen. Und doch hat Gott die Pflanzen und die Tiere „gemacht“. Dies wird schon dadurch ausgedrückt, dass Gott ja der Erde den Befehl gibt, Pflanzen und Tiere entstehen zu lassen. Hat der Erzähler von Gen 1 schon geahnt, dass die Formen des Lebens nicht unmittelbar von Gott geschaffen sein müssen, sondern dass Gott in seine Schöpfung die Kraft gelegt hat, Leben zu entwickeln und hervorzubringen? Wir wissen es nicht. Aber eines wissen wir: Eine sachgerechte Bibelauslegung hat mit der Evolutionslehre nicht die geringsten Schwierigkeiten – solange diese ihre Grenzen nicht überschreitet. Konkret: Wenn Biologen von „sich selbst organisierender Natur“ reden oder vom „Experi­mentieren der Evolution“ oder der „Kreativität der Evolution“, so ist solche Redeweise theologisch durchaus akzeptabel. Sie muss – in sich gesehen – nicht ausschließen, dass diese Natur Schöpfung Gottes ist. Gott hat die Welt so geschaffen, dass sie sich hochentwickeln soll zu immer höherer Selbständigkeit – und zwar als „Natur“, das heißt, als das Aus­sich­selbst­He­rauswachsende. Die Hominisation, die Menschwerdung des Menschen, ist dann ganz das Werk Gottes und ganz das Werk der Natur. Aber diese Natur ist von Gott so geschaffen, dass sie als die Spitze der Evolution den Menschen hervorbringt. Die Geistseele, die den Menschen grundlegend von jedem Tier unterscheidet, ist Geschenk Gottes – und dennoch Geist, auf den die Schöpfung schon immer angelegt war. […]

Gott trägt die Welt durchgehend als transzendente Ursache2 und als alles zu sich heranziehendes Ziel. Deshalb ist die gesamte Evolution von Gott gewollt und inspiriert – und doch Selbsthervorbringung der Natur mit ständigem Probieren, mit Misslingen und Gelingen, mit evolutiven Sackgassen und mit einer im Ganzen irritierenden Nicht­Geradlinigkeit. Das gerade ist die unge­heure Freiheit, in der Gott seine Schöpfung will. Damit sollte klar sein: Dass sich der Mensch aus dem Tierreich hochentwickelt hat, schließt Gott als Schöpfer in keiner Weise aus. Die Evolutionstheorie ist alles andere als ein Beweis gegen Gott. Sie muss die Gottesfrage offen lassen.

1 Neben der jüngeren Erzählung in Gen 1,1 – 2,4a, in der Gott eher abstrakt dargestellt wird (er spricht und seine Worte werden Wirkli-chkeit), steht die ältere Schöpfungserzählung in Gen 2,4b – 25; hier wird von Gott auffallend anthropomorph gesprochen, zum Beispiel als Gärtner oder Töpfer. [JW]

2 Das meint: Gott ist keine „innerweltliche Ursache“, sein schöpferisches Handeln liegt außerhalb der kausalen Wechselwirkungen der Natur und ermöglicht diese. [JW]

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? UNTERSCHIEDLICHE MENSCHENBILDER IN THEOLOGIE UND NATURWISSENSCHAFTEN

Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.2

Das folgende didaktisch­methodische Konzept für das Kurshalbjahr E2 des hessischen Kerncurriculums (KCGO) geht von dem anthropologischen Fokus des Themenfeldes E2.2 aus.

Themenfeld E2.2 Unterschiedliche Menschenbilder in Theologie und Naturwissenschaften. Wie sehen wir den Menschen?

� eigene Erfahrungen des Menschseins in verschiedenen Kontexten

� Aspekte unterschiedlicher Menschenbilder in Naturwissenschaft und Theologie

Mit diesem Ausgangspunkt können Identitätsfragen aufge­nommen werden, die Schülerinnen und Schüler in der Ober­stufe häufig beschäftigen: Wer bin ich und wie kann ich den

Herausforderungen und Leistungsansprüchen gewachsen sein, die auf mich zukommen? Das vorliegende didaktische Konzept geht daher von einer erfahrungs­ und problemorien­tierten Basis aus, um auch den Themen der beiden folgenden Kurshalbjahre von eigenen Lebensfragen aus begegnen zu können: Inwiefern können Jesu Botschaft und Handeln (Q1) und biblisch­theologische Gottesvorstellungen (Q2) hilfreich für unser heutiges menschliches Selbstverständnis und Han­deln (Q3) und die christliche und kirchliche Lebensgestaltung (Q4) sein?

Die anthropologische Frageperspektive stellt ebenfalls Vernet­zungen innerhalb der Themenfelder des Halbjahres E2 her. Von Fragen nach dem „wirklichen“ und „wahren“ Ich ergeben sich Fragen danach, inwiefern wir überhaupt „Wirkliches“ und „Wahres“ erkennen können und inwiefern Religion und Bibel – neben anderen Wirklichkeitsperspektiven – lebensrelevante Perspektiven auf die menschliche Wirklichkeit ermöglichen:

Ursula Reinhardt

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

1. Selbstvermarktung um jeden Preis? Vom wachsenden Profilierungsdruck des modernen Menschen und den Herausforderungen, ein bestim­

mtes Bild von sich präsentieren zu müssen.

2. Wie Menschen und Weltbilder unsere Perspektiven auf die Wirklichkeit ausbilden

Worum geht es „wirklich“, wenn Natur und Menschen zum Leben erwachen? – Mehrperspektivische Wahrnehmungen

neuen Lebens

3. Wirklichkeitsfern oder worum geht es „wirklich“? – Biblische Perspektiven auf Gott, Mensch und Welt

Weiß die Naturwissen-schaft nicht genauer,

was „wirklich“ ist? – Wie ihre Weltbilder entstehen und inwiefern sie wahr

und wichtig sein können

Wer ist schon berechenbar? – Wenn Mensch und Welt auf

eindeutig Bestimmbares reduziert werden

1. Selbst­Vermarktung um jeden Preis?

Vom wachsenden Profilierungsdruck des modernen Menschen und den Herausfor­derungen, ein bestimmtes Bild von sich präsentieren zu müssen.

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können mögliche Auswirkungen des Drucks auf den modernen Menschen ausmachen, ein bestimmtes Bild von sich zu präsentieren und von daher grundlegende Fragen für die Wahrnehmung und Gestaltung menschlichen Lebens formulieren.

Das Potential des ersten Textes (M1) dieser Unterrichtsreihe, eines Auszugs aus Erich Fromms marxistisch geprägtem Werk „Haben oder Sein“ über den sogenannten „Marketing­Charak­ter“, ist vielfältig: Die Jugendlichen erkennen erfahrungsgemäß einiges von der Welt des „Marketing­Charakters“ in ihrer eige­nen wieder, etwa den Druck, „seine Persönlichkeit vorteilhaft präsentieren zu können“, nach dessen Lebensmotto: „Ich bin so, wie du mich haben möchtest“. In einer Meinungslinie, ob dieser Text aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts noch Aktualität besitze, zeigen die Jugendlichen oft große Zustim­mung. Fromms Forschungsinteresse teilen sie häufig auch und damit die Frage, inwiefern Menschen dafür anfällig sein können, sich bis hin zur Selbstaufgabe und ethischen Deso­rientierung autoritären Strukturen unterzuordnen. Aspekte der Lebenseinstellung des „Marketing­Charakters“ können auf Zusammenhänge hin untersucht werden: Zwischen sei­ner Verantwortungslosigkeit gegenüber der Schöpfung und Mitwelt, dem profitorientierten Denken und seiner potentiellen Beziehungslosigkeit und Naivität in „Gefühlsdingen“ sowie auf religiösem Gebiet. Aktuelle gesellschaftliche Bezüge zu Ten­denzen des Selbstmarketings können die Jugendlichen meist selbst herstellen. Dabei hilft auch die Analyse des Soziologen Andreas Reckwitz (M2) über den (spät­)modernen Profilie­rungszwang, fortwährend Einzigartiges darzustellen und zu erleben. Ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung (M3) führt mögliche Verschärfungen des Selbstdarstellungsdrucks in der digitalen Arbeitswelt vor Augen.1 Die Schülerinnen und Schüler können schließlich Profilbilder und weitere Selbstdarstellungen in den Sozialen Medien daraufhin analysieren, wie und mit wel­chen möglichen Motiven sich Menschen darin präsentieren.2

Wie kommt die Welt in unseren Kopf? – Warum es so schwierig ist, wahrzunehmen und auszudrücken, was „wirklich“ ist und

wir uns dabei immer Bilder machen

Worum geht es Religion „wirklich“? – Wirklichkeitsdeutungen aus

religiöser Perspektive

Worum geht es in der biblischen Erzählung von der Schöpfung „wirklich“? – Biblische Wirklichkeitsdeutungen am Beispiel von

Genesis 1,1-2,4a

Biblische Texte als Ermutigung für die Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung unseres Lebens? Wie lassen

sich biblische Deutungen der Wirklichkeit von Gott, Welt und Mensch besser verstehen und auf ihren Wahrheits-

gehalt hin prüfen? – Gemeinsame Arbeit an einer Lernaufgabe mit biblischen Texten

1 Die Schülerinnen und Schüler können hier auch ihr Wissen aus dem Unterricht in Politik und Wirtschaft einbringen. Vgl. KCGO Politik und Wirtschaft „E1.1 Leben und Arbeiten in einer sich wandel-nden Gesellschaft“ und „E1.4 Sozialwissenschaftliche Beschreibun-gen der heutigen Gesellschaft“.

2 Eventuell ergeben sich fächerübergreifende Bezüge zum Deutschunterricht. Vgl. das Themenfeld E2 „Formen der (Selbst-)Darstellung“ im KCGO Deutsch.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Diese Einstiegsphase (1.) bietet den Lernenden und der Lehr­kraft die Möglichkeit, erste halbjahresleitende Problem­ und Fragestellungen zu formulieren und festzuhalten, wie zum Beispiel: Warum sind Selbstdarstellungen so gefragt? Warum kreieren wir uns dabei Bilder und sind wir für sie so empfäng­lich? Warum können sich Menschen dem Profilierungsdruck so schlecht entziehen? Was können wir dem Druck entge­gensetzen, ständig auf unsere Außenwirkung bedacht zu sein, ohne wirklichkeitsfern zu werden? Wer bin ich denn – wirklich –, abgesehen von dem, wie ich „von außen“ wahrgenommen werde? Wie können wir überhaupt das Leben „wirklich“ wahr­nehmen und „Wahres“ entdecken? Welche Rollen können Religion und Bibel angesichts dieser Fragen spielen? Für eine übergeordnete Leitfrage kann die Formulierung des SZ­Artikels übernommen werden: „Haben wir keine andere Wahl, als künf­tig zu unserer eigenen digitalen Marke zu werden?“

2. Wie Menschen­ und Weltbilder unsere Perspektiven auf die Wirklichkeit ausbilden

Wie kommt die Welt in unseren Kopf? – Warum es so schwierig ist, wahrzunehmen und auszudrücken, was „wirklich“ ist und wir uns dabei immer Bilder machen

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können erklären, warum Menschen die Wirklichkeit nicht unmit-telbar wahrnehmen und darstellen können und inwiefern das Entwickeln von Bildern und Theorien für das Erken-nen konstitutiv ist. Sie können von daher mögliche Kon-sequenzen für den Umgang mit Menschen- und Weltbil-dern entdecken.

Mit der einfachen Frage „Wie kommt die Welt in unseren Kopf?“ können die Lernenden an erkenntnistheoretische Fragestellun­gen herangeführt werden. Sie tragen erste Vermutungen und Erkenntnisse in eine Zeichnung (M4) ein und ergänzen ihren Lernzuwachs sukzessive im Unterrichtsverlauf. Der Lehrkraft wird so ersichtlich, inwiefern Präkonzepte bereits über naiv realistische Annahmen hinausgehen und welche Kenntnisse – auch aus anderen Fächern3 für erkenntnistheoretische Fragen mitgebracht und erweitert werden.

Eine anschauliche Möglichkeit zum Entdecken grundlegender Aspekte des menschlichen Wahrnehmens von Wirklichkeit bietet ein Experiment (vgl. Abbildungen), in das alle Kursmit­

glieder einbezogen werden: Ein/e Schüler/in ist Assistent/in. Die anderen Schülerinnen und Schüler teilen sich in zwei etwa gleich große, jeweils in einer Reihe sitzende Gruppen auf. Die Lehrkraft und der/die Assistent/in zeigen parallel nur der jeweils ersten Person in der Reihe eine Minute lang eine Abbildung auf einem waagerecht gehaltenen DINA­4­Blatt mit wahllos verteil­ten Punkten. Die Punkteverteilung auf den Blättern für die bei­den Gruppen sollte identisch sein (also einfach vorher eine Kopie anfertigen). Nach einer Minute beginnen die jeweils ersten in der Sitzreihe damit, auf einem waagerechten DIN­A­4 Blatt, Punkte so zu verteilen, wie sie es von der Vorlage in Erinnerung haben, also ohne das Ursprungsbild noch anschauen zu dürfen. Wich­tig ist, dass die in der Reihe folgenden Versuchspersonen nicht auf das Blatt der Zeichnenden schauen. Das neu angefertigte Blatt der ersten in der Reihe erhalten nun die jeweils zweiten eine Minute lang zum Anschauen, bevor sie es wiederum aus dem Gedächtnis zu Papier bringen usw. Dadurch ergibt sich eine Art Stille­Post­Effekt. Die Lehrkraft und der/die assistierende Schü­ler/in achten darauf, die Blätter in der korrekten Reihenfolge und Ausrichtung einzusammeln. Nach dem parallelem Durchlauf können alle Blätter mit den jeweiligen Punkteverteilungen in der Reihenfolge ihrer Erstellung gezeigt werden. So wird in der Re­gel deutlich, dass aus der unregelmäßigen Punkteverteilung des Ausgangszettels der Lehrkraft Schülerprodukte mit immer stär­keren Anordnungen und vereinfachenden Formen entstanden sind, wie folgende Beispiele zeigen.

Die Lerngruppe kann jetzt eigene Wahrnehmungen und Deu­tungen dieses Befunds vornehmen, mithilfe möglicher lmpuls­fragen, wie zum Beispiel: Was fällt auf? Was sagen uns unsere Produkte darüber, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen? Welche Vorteile hat das Vereinfachen und Zuordnen? Welche Nachteile?

Das Punkteexperiment kann ferner gedanklich auf konkrete Wahrnehmungssituationen übertragen werden, etwa auf die Wahrnehmung eines Individuums in seiner Komplexität, auf die Aufgabe der Lehrerin oder eines Lehrers, die Diversität inner­halb eines Oberstufenkurses angemessen wahrzunehmen, bis hin zur generellen Wahrnehmung von Unterschieden innerhalb von Menschengruppen und der Gefahr schablonenhafter Zu­ordnungen.

Von daher kann auf grundsätzliche Bedingungen menschlicher Wahrnehmung von Wirklichkeit geschlossen werden: Auf ihren begrenzten, individuell­konstruktiven Charakter und ihr Ange­wiesensein auf (tradierte) Bilder und Formen.

3 Vgl. beispielsweise den vorgesehenen Kompetenzerwerb zum Thema „Sprache und Wirklichkeit“ im KCGO Deutsch E1 und die Themenfelder E1.4 „Gesetzmäßigkeiten der visuellen Wahrnehmung“ und E1.5 „Wahrnehmung als Selbstwahrnehmung“ im KCGO Kunst.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Wenigstens in groben Zügen kann an dieser Stelle auf die er­kenntnistheoretische Leistung Immanuel Kants verwiesen wer­den. Heinrich Heines vereinfachende Darstellung des Neuen an Kants Erkenntnistheorie (M5) hilft dabei.

Je nach Lernausgangslage und Interessen innerhalb der Lern­gruppe können wahlweise Vertiefungsmöglichkeiten eröffnet werden, beispielsweise auch mit Bezug auf das im Deutsch­unterricht erworbene sprachkritische Vorwissen. Exponate moderner und zeitgenössischer Kunst, die zahlreich Wahrneh­mung thematisieren, können ebenfalls erkenntnistheoretische Reflexionen veranschaulichen und vertiefen (vgl. auch die Vor­schläge H. Dams und J. Walldorfs).

Mit der Begrenztheit menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit konfrontiert zu werden, ist für viele Schülerinnen und Schüler noch eine kontraintuitive Herausforderung. Hinzu kommt die in der Moderne präsente Auffassung, zumindest die Naturwis­senschaften könnten „die Wirklichkeit“ exakt erfassen.

Um Voreinstellungen bewusst zu machen, bietet sich als Ge­lenkstelle zur Weiterarbeit ein kurzes Rollenspiel mit der Frage darüber an, welches Schulfach der Wahrheit über Welt und Mensch am nächsten stehe und damit auf das „wahre Leben“ am besten vorbereite: Etwa als kurzes Anspiel einer Diskussion auf dem Schulhof unter Gleichaltrigen oder im Lehrerzimmer, in der Lehrende naturwissenschaftlich­mathematischer Fä­chergruppen dafür plädieren, die „wirklichkeitsfernere“ Fächer­gruppe Religion/Ethik/Philosophie bei der Vergabe schulischer Ressourcen künftig geringer zu bedenken. Mit Rückbezug auf hier von Schülerinnen und Schülern artikulierte Argumentatio­nen können die Perspektiven der eingangs der Unterrichtsrei­he festgehaltenen Fragen im erkenntnistheoretischen Rahmen erweitert werden: Um Fragen nach naturwissenschaftlichen Wirklichkeits­ und Wahrheitstheorien und danach, was we­sentlich fehlen würde, wenn andere Perspektiven auf die Wirk­lichkeit Vernachlässigung erführen.

Weiß die Naturwissenschaft nicht genauer, was „wirklich“ ist? – Wie ihre Weltbilder entstehen und inwiefern sie wahr und wichtig sein können

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler gewinnen Einblicke in die Genese naturwissenschaftlicher Wirklich-keitstheorien. Sie können das wissenschaftstheoretische Verständnis von Wahrheit als Bewährung von Wirklich-keitshypothesen nachvollziehen. Sie reflektieren die Rele-vanz (natur-)wissenschaftlicher Forschung.

Im Anschluss an die Rollenspiele, mit Rückgriff auf die ersten erkenntnistheoretischen Einsichten und auf Erfahrungen mit forschend­entdeckendem Arbeiten im naturwissenschaftli­chen Unterricht können die Lernenden ihr Vorwissen bezüglich der Charakteristika naturwissenschaftlichen Arbeitens bis hin

zum Entwerfen von Theorien zusammentragen. Auf dieser Ba­sis können die Argumentationen von Popper (M6a) und Hei­senberg (M6b) erarbeitet und das wissenschaftstheoretische Verständnis von Wahrheit als Bewährung von Hypothesen nachvollzogen werden. Der Artikel des Physikers Carlo Rovelli (M6c) bietet umfassende Anschlussmöglichkeiten und ver­deutlicht vor dem Hintergrund aktueller Infragestellungen (etwa aus machtpolitischen, religiös­fundamentalistischen oder re­lativistischen Perspektiven) die Relevanz des (natur­)wissen­schaftlichen Objektivitätsanspruchs. Am aktuellen Beispiel der Diskussion um die Wahrheit klimaanalytischer Befunde kann die Orientierung an Tatsachen, an Mess­ und Berechenbarem, als ausgesprochen relevant für unser Wirklichkeitsverstehen und ­gestalten4 erkannt werden. Eigene Erfahrungen mit dem „Segen“ moderner Medizin, etwa bezüglich der Therapieerfol­ge von Krankheiten, können sich die Lernenden hier ebenfalls bewusst machen.

Wer ist schon berechenbar? – Wenn Mensch und Welt auf eindeutig Bestimm­ und Berechenbares reduziert werden

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können erklären, inwiefern Verluste und Gefahren für die Wahr-nehmung und Gestaltung der Wirklichkeit entstehen, wenn diese ausschließlich als exakt bestimm- und bere-chenbar gedeutet wird.

Moderne und zeitgenössische Kunst setzen sich in vielfältiger Weise mit dem Problem auseinander, wenn Mensch und Welt allein im Raster bestimm­ und berechenbarer Fixierungen wahrgenommen werden. Kurze Ausschnitte aus dem Roman „Stiller“ von Max Frisch5 (M7) nehmen den Roten Faden der Identitätsfrage wieder auf und lassen sie jetzt vor dem Hin­tergrund wirklichkeits­ und wahrheitstheoretischer Verständ­nisse durchdenken. Vor der Lektüre genügen kurze Hinweise zum Romanthema: Ein als verschollen geltender Schweizer

4 Vgl. auch Anschlussmöglichkeiten an die ethisch orientierten Themenfelder im KCGO Englisch („The Blue Planet“) und im KCGO Politik und Wirtschaft („Ökologische Herausforderungen der Gegenwart“) dieses Kurshalbjahres.

5 Der Schriftsteller ist Oberstufenschülerinnen und -schülern häufig durch die Schullektüren seiner Werke „Andorra“ und/oder „Homo faber“ bekannt.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Bürger namens Stiller wird von einem Schweizer Zöllner mit falschem Pass aufgegriffen. Der Protagonist gerät schließlich in Haft, weil er sich weigert, sich mit seinem „wahren“ Pass zu „identifizieren“ und zuzugeben, dass er „in Wirklichkeit“ der verschollene Stiller ist, worauf alle Indizien hinweisen, auch dessen Identifikation durch seine Frau und Freunde. Der Pro­tagonist aber hat gewichtige Zweifel daran, dass seine Mit­menschen ihn „wirklich“ kennen und meint, dass sie sich nur Bilder von ihm machen, die mit seinem „wahren“ Ich nichts zu tun haben. Frischs Roman regt zum Nachdenken darüber an, ob man Menschen überhaupt so erkennen kann, wie sie „wirklich“ sind.

Der Romanauftakt (M7, ers­ter Text) kann zu gemeinsa­men Überlegungen dazu an­leiten, warum es so schwierig ist, „die Wahrheit“ über sein eigenes Leben aufzuschrei­ben, wie es Stiller von sei­nem faktenorientierten amt­lichen Verteidiger verordnet wird, der gar kein Verständ­nis für Stillers Problem hat. Ein weiteres Zitat aus Frischs Roman (M7, zweiter Text) ak­zentuiert die Schwierigkeit der Bestimmbarkeit mensch­licher Identität. Die Schülerin­

nen und Schüler können darüber nachdenken, wie andere sie wahrnehmen und inwiefern sie dabei „wirklich“ erkannt werden.

Im Hinblick weltanschaulich geprägter Beschränkungen auf eindeutig Bestimm­, Mess­ und Berechenbares können Be­griffe wie „Szientismus“ oder „Reduktionismus“ eingeführt wer­den. Auch auf das Thema der Grenzen der Aufklärung kann fächerübergreifend verwiesen werden.6

Eine humorvolle Weise der Beschäftigung mit dem Fehl­schluss, menschliche Wirklichkeit lasse sich in ein Schema genauer Zuordnungen pressen, können Sequenzen aus der amerikanischen Fernsehserie „The Big Bang Theory“ vor Au­gen führen, beispielsweise der komische Versuch des Phy­sikers Sheldon Cooper, mithilfe eines Freundschaftsalgorith­mus, eine Freundschaft zu schließen.7 Hier lässt sich auch genauer ergründen, warum Fromms „Marketing­Charakter“ so „naiv in Gefühlsdingen“ ist. Schließlich sind gemeinsame Überlegungen dazu möglich, inwiefern sich der Einfluss von Mess­ und Berechenbarem in unserer Alltagsgestaltung (z. B. durch neue Möglichkeiten des „smart life“, Smartphones,

entsprechende Apps, Smart­Watches, …) vergrößert hat und welche Auswirkungen das auf unser Wirklichkeitserleben und ­gestalten haben könnte.

Worum geht es „wirklich“, wenn Natur und Menschen zum Leben erwachen? – Mehrperspektivische Wahrnehmungen neuen Lebens

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können die Relevanz mehrperspektivischer Zugänge zur Deutung der Wirklichkeit von Mensch und Welt wahrnehmen und zum Ausdruck bringen.

Die Jugendlichen sollen die Berechtigung mehrperspektivi­scher Wirklichkeitsdeutungen möglichst lebensnah erfahren können. Die Natur­ und die Geburtsthematik eröffnen dabei auch inhaltliche Bezüge zu den folgenden Reihensequenzen.

Die Mehrperspektivität in der Wahrnehmung von Wirklichkeit macht zum Beispiel das Thema „Frühling“ erlebbar. Passen­derweise liegt das Kurshalbjahr E2 in dieser Jahreszeit. Ein Brainstorming zum Thema „Frühling“, auch als Mindmap, lässt sehr unterschiedliche, berechtigte Wahrnehmungsperspekti­ven auf diese Jahreszeit assoziieren: Eindeutig Mess­ und Be­zeichenbares (wärmere, hellere Tage, Pflanzenwachstum, ein meteorologisch oder kalendarisch bestimmbarer Anfang), aber auch weniger eindeutig Bestimm­ und Bezeichenbares (wie „Frühlingsgefühle“ des Aufbruchs und Muts, individueller Liebe und Freude, aber auch gesellschaftlicher Aufbrüche, z. B. als „Prager Frühling“ oder „Arabischer Frühling“).

Wahrnehmungsorientierte Erkundungen im Freien beleben das Verständnis für den Sinn übertragener Sprachverwen­dung. Frühlingsgedichte können verfasst und/oder gelesen werden und Reflexionen darüber, warum Lyrik die Wirklichkeit des Frühlings oder auch der Liebe8 auf ganz andere, aber nicht weniger wahre Weise zum Ausdruck bringen kann als etwa ein meteorologischer Bericht oder z. B. eine Erlebni­serzählung von einer Aufbruchsbewegung auf andere Weise Wahres davon vermitteln kann als ein Zeitungsbericht.

Die Wahrnehmung der Ereignisse um die Geburt eines Men­schen kann ebenfalls Mehrperspektivität von Wirklichkeit veranschaulichen (vgl. J. Walldorf). Im Zusammenhang die­ses didaktischen Konzepts dient die Geburtsthematik dazu, die Lernenden für den Wert des (menschlichen) Lebens zu sensibilisieren und Formen zu reflektieren, in denen Men­schen ihn zum Ausdruck bringen: Familienerinnerungen und ­erzählungen bewahren oft intensive Gefühle des Erstau­nens und der Freude sowie die dankbare Rede von einem „Geschenk“ oder „Wunder“ bezüglich des Neugeborenen. Je nach Kursatmosphäre können die Jugendlichen Ange­

6 Vgl. beispielsweise die Themenfelder E2.1 und E2.2 im KCGO Deutsch zur Auseinandersetzung mit der Epoche der Aufklärung und ihrer Kritik durch die literarische Bewegung des „Sturm und Drang“ oder der Thematisierung der „Französischen Revolution“ im Fach Geschichte (Themenfeld E3 im KCGO Geschichte).

7 Diese Anregung verdanke ich meiner Referendarin Beate Merkel. Vgl. dazu William Irwin/Dean A. Kowalski (Hg.), The Big Bang Theory und die Philosophie, Reinbek bei Hamburg 2015. 8 Vgl. das Themenfeld E2.2 „Liebeslyrik“ im KCGO Deutsch.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

hörigeninterviews dazu durchführen und aufbewahrte Erin­nerungen an ihren Lebensbeginn (z. B. in der Familie dazu eventuell mündlich Tradiertes, schriftlich Festgehaltenes, Armbändchen aus der Geburtsstation, den ersten Stram­pelanzug, Fotos, ...) mitbringen, deren Aufbewahrung zeigt, auf welch vielfältige Weise die Freude über die Geburt ei­nes Menschen und das Wissen um dessen einmaligen Wert tradiert und bewahrt werden kann. Die Betrachtung dieser Ausdrucksformen ermöglicht schließlich einen Zugang zur Spezifik religiöser Wirklichkeitsdeutungen:

Worum geht es Religion „wirklich“? – Wirklichkeitsdeutungen aus religiöser Perspektive

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können die spezifische Rolle von Religion als Wahrnehmungs- und Deutungsperspektive der Wirklichkeit von Mensch und Welt ausmachen.

Die Lektüre des Textes von Hans Küng (M8) kann an die­ser Stelle gewonnene Erkenntnisse und Fragen reflektie­ren helfen und damit die Überleitung zum Thema religiöser Wirklichkeitsperspektiven gestalten: Der Theologe verweist auf eine „Schichtentheorie der Wirklichkeit“ des Physikers Werner Heisenberg. Heisenbergs Vorstellung eines „letzten Grund[es] der Wirklichkeit“ kann – von der Geburtsthema­tik herkommend – Fragen in den Horizont rücken, die über biologisch­medizinische Erklärungen hinausreichen: Warum bezeichnet man Neugeborene oft als „Geschenk“ oder „Wun­der“? Was ist so erstaunlich? Warum ist im Zusammenhang einer Geburt so häufig von Dankbarkeit die Rede? Wem ge­genüber? Woher kommt das Neugeborene eigentlich? Von solchen Fragen her lassen sich auch die Identitätsfragen der Schülerinnen und Schüler mit Ursprungsfragen verbinden. Heisenbergs Formulierung, dass über den „letzten Grund der Wirklichkeit“ nur im übertragenen Sinn gesprochen werden könne, kann an die gemeinsamen Überlegungen zu Lyrik an­knüpfen.

Paul Tillichs (M9) Analyse des Identitätsverlusts des moder­nen Menschen als Folge seiner Verdrängung existentieller Grundfragen und damit der „religiöse[n] Dimension“ schließt hier inhaltlich an und vertieft die Kritik an reduktionistischen Wirklichkeitstheorien aus religionsphilosophischer Perspekti­ve. Rückbezüge auf das im Kurshalbjahr E1 erworbene Wis­sen zum Verständnis von Religion können an dieser Stelle einbezogen werden. Da die Vorstellungen Heisenbergs und Tillichs wesentliche, aber abstrakte Vorstellungen enthalten, empfiehlt sich die Arbeit mit Textvisualisierungen.

Auch mit Rückbezug auf die Auseinandersetzung mit Lyrik kann nachvollzogen werden, inwiefern der Theologe Her­mann Deuser (M10) den speziell religiösen Umgang mit exis­tentiellen Grundfragen in Abgrenzung zu Formulierungen wie

„beantworten“, „lösen“ oder „formulieren“ als „repräsentie­ren“ „in Bildern, Geschichten und Symbolen“ bezeichnet. Von daher kann ein erstes Verständnis für die Spezifik biblischer Wirklichkeitsperspektiven und deren „eigentümlichen Beant­wortungsformen“ (Deuser) gefördert werden. Ein weiterer, von Küng zitierter Text Heisenbergs (M11) verdeutlicht in diesem Zusammenhang Unterschiede zwischen naturwissenschaftli­cher und religiöser Wirklichkeitsdeutung.

Mit Blick auf literaturwissenschaftlich geprägte Auslegungs­methoden im Umgang mit dem Koran könnten hier Bezüge zum besonderen ästhetischen Charakter des Korans herge­stellt werden.9

3. Wirklichkeitsfern oder worum geht es „wirklich“? – Biblische Perspektiven auf Gott, Mensch und Welt

Worum geht es in der biblischen Erzählung von der Schöpfung „wirklich“? – Biblische Wirklichkeitsdeutungen am Beispiel von Genesis 1,1­2,4a

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können Genesis 1,1 -2,4a als planvoll komponierten religiösen Text wahrnehmen. Sie können dessen zentrale Inhalte textimmanent und im zeitgeschichtlichen Entstehungs-kontext deuten. Sie können beurteilen, ob und inwiefern seine Botschaft noch hilfreiche Deutungen von (mensch-licher) Wirklichkeit enthält.

Im letzten thematischen Block (3.) der Unterrichtsreihe wer­den nun alle wesentlichen Fragen und Erkenntnisse aus den vorangehenden Sequenzen zusammengeführt: Fragen da­nach, was den Menschen – jenseits des Profilierungsdrucks – „wirklich“ ausmacht, Erkenntnisse darüber, inwiefern na­turwissenschaftliche Perspektiven der Wirklichkeits­ und Weltdeutung wichtig sind, aber für sich genommen nicht ausreichen, Einsichten bezüglich der Notwendigkeit bildhaf­ter Ausdrucksformen und Sprache bezüglich solcher Wirk­lichkeitsdimensionen, die sich nicht exakt definieren und ent­sprechend darstellen lassen, grundsätzliche Einblicke in die Eigenart und Funktion religiöser und damit auch biblischer Ausdrucksformen und das erweiterte Verständnis von Wahr­heit als empirischer Bewährung, also auch im Sinne von exis­tentieller Bewährung im Leben von Menschen.

9 Zum Beispiel mit Blick auf den Ansatz des ägyptischen Islamwis-senschaftlichers Nasr Hamid Abu Zaid, den poetischen Charakter des Korans herauszustellen. Vgl. hierzu Katajun Amirpur: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauen-rechte, C.H. Beck, München 2013, S. 61ff.

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„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Aufgrund dieser reichen, mit den Lernenden noch einmal über­blickshaft rekapitulierten Voraussetzungen soll das Gefragte und Gelernte jetzt anhand der Auseinandersetzung mit dem Bibeltext Gen 1,1­2,4a Anwendung finden. Schließlich „reprä­sentiert“ der Text elementare Menschheitsfragen auf eine „ei­gentümliche“ religiöse Weise.

Es empfiehlt sich, die „eigentümlichen Beantwortungsformen“ (Deuser) der Religion anhand des Bibeltextes genau wahrzu-nehmen: Den Text als Text zu entdecken und Deutungsvor­verständnisse zunächst möglichst auszublenden.10 Die schein­bar banale Frage danach, wie der Text eigentlich geschrieben ist, eröffnet gerade bei einem (auch für die Schülerinnen und Schüler) meist schon bekannten Text neue, selbstentdecken­de Zugänge, ohne von vornherein auf exegetisches Experten­wissen angewiesen zu sein. Durch den Deutschunterricht sind die Jugendlichen mit Strategien der Textanalyse vertraut, um sogar in einer deutschen Übersetzung Auffälligkeiten bezüglich der Textstruktur, seines Aufbaus, grammatischer Strukturen und Verknüpfungen, sprachlich­rhetorischer Mittel, zentraler Wörter und Motive analysieren zu können. Mithilfe ihrer ent­sprechenden Textmarkierungen entdecken sie – häufig aus neuer Perspektive – einen kunstvoll aufgebauten, liedhaft kom­ponierten Text.

Von daher können erste Deutungen begründet werden, wie zum Beispiel die durch Wiederholung und Steigerung akzen­tuierte Wertschätzung der Schöpfung als (sehr) gut, die bereits auf textkonzeptioneller Ebene pointierte Stellung des von Gott gesegneten siebten Schöpfungstages als heiligem Tag der Ruhe und die besondere Stellung des Menschen. Von der die Unterrichtsreihe eröffnenden und leitenden Problemstellung her, ein bestimmtes Bild von sich präsentierten zu müssen, kann die biblische Vorstellung von der Schöpfung des Men­schen zum Ebenbild Gottes mit besonderem Interesse wahr­genommen werden (auch in Kombination mit dem Oberstufen­schülerinnen und ­schülern häufig schon bekannten biblischen Bilderverbot).

An die Analyseergebnisse und dabei entstehenden Fragen der Lernenden können jetzt die bekannten Informationen zum Ent­stehungskontext dieses Bibeltextes (wie sie sich auch in vielen Oberstufenmaterialien finden) thematisiert werden: Die Situa­tion angesichts des babylonischen Exils, neu aufkommende Identitäts­ und Sinnfragen diskreditierter Exilanten, auch mithil­fe der Informationen von Renate Wind (M12).

So kann dieser Bibeltext als Text entdeckt werden, der Men­schen damals Mut zur verantwortungsvollen Lebensgestaltung machen wollte. Von daher können die Schülerinnen und Schü­ler diskutieren, ob und inwiefern er für sie heute noch „Lebens­sinn“ (vgl. R. Wind) haben kann, er also in dem Sinne Wahres enthält, dass sich seine Deutungen in der heutigen Lebenssitu­ation (des Marketing­Drucks) noch bewähren können. Über die

Frage nach seiner Wahrheit kann jetzt also auf einem weitaus fundierteren Niveau diskutiert werden, als es etwa die häufig formulierte Frage erkennen lässt, ob man „an die Schöpfung oder die Evolution“ glaube.

Biblische Texte als Ermutigung für die Wahr­nehmung, Deutung und Gestaltung unseres Lebens? Wie lassen sich biblische Deutungen der Wirklichkeit von Gott, Welt und Mensch besser verstehen und auf ihren Wahrheits­gehalt hin prüfen? – Gemeinsame Arbeit an einer Lernaufgabe mit biblischen Texten

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können selbstständig prüfen und ausdrücken, ob und inwiefern exemplarisch ausgewählte Bibeltexte für das Leben heu-tiger Menschen Wahres in Bezug auf die Wahrnehmung, Deutung und verantwortungsvolle Gestaltung menschli-cher Lebenswirklichkeit enthalten. Dabei können sie auf-grund ihrer Auseinandersetzung mit Genesis 1,1-2,4a die grundsätzliche Relevanz hermeneutischer Reflexion für das Deuten und Verstehen biblischer Texte erkennen und generelle Anforderungen für die Auseinandersetzung mit biblischen Texten formulieren.

Nach dieser exemplarischen Auseinandersetzung mit einem Bibeltext können grundsätzliche Erfordernisse im Umgang mit biblischen Texten in den Blick genommen werden:

Zunächst werden Vorwissen und Präkonzepte bezüglich der Bibel mit einem „Fragebogen zur Bibel“ (M13) ermittelt. Der Austausch über mögliche relevante Begegnungen mit der Bi­bel, aber auch über gegenteilige Erfahrungen bringt individuelle Vorverständnisse ans Licht und lässt nach möglichen Gründen dafür fragen, warum uns biblische Texte ansprechen können oder warum uns ihre Vorstellungen als alltagsfern und unwahr­scheinlich erscheinen können.

10 Vgl. zur Semiotischen Bibelexegese: Michael Schneider/Michael Rydryck: Bibelauslegung. Grundlagen – Textanalyse – Praxisfelder, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2019.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

Der zweite Text von Renate Wind (M14) macht deutlich, inwiefern ein hermeneutisch reflektierter Umgang mit bib­lischen Texten Verständniserweiterungen bieten kann. Er schließt an die erarbeiteten Einsichten bezüglich der Mehr­dimensionalität von Wirklichkeit und eines differenzierteren Wahrheitsbegriffs an.

Und nicht zuletzt die neuen Erfahrungen mit Genesis 1,1­2.4a können den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, gene­relle Anforderungen an den Umgang mit biblischen Texten zu formulieren: Sie können jetzt möglichst selbstständig zusam­mentragen, über welches Wissen und Können sie verfügen müssen, um biblische Texte daraufhin zu deuten, welche Bot­schaften ihre Autoren weitergeben wollten. Von daher können sie prüfen, ob und inwiefern die Texte auch in unserer Zeit noch Wahres für die Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung menschlicher Wirklichkeit enthalten können.

Das kann zielorientierter und motivierter geschehen, wenn diese Aufgabe in die Konzeption einer umfassenderen Lern­aufgabe11 eingebettet ist: Wenn sie also von einer konkreten Anforderungssituation geleitet ist und von der Erstellung ei­nes am Ende der Unterrichtsreihe präsentierten Lernprodukts her gedacht ist, das für die Lernenden als persönliche Berei­cherung empfunden werden kann. Die Öffnung des Lernpro­zesses mittels der Lernaufgabe (vgl. den Überblick in M15) ermöglicht eine methodenreflektierte Auseinandersetzung: Biblisches Wissen und exegetische Fertigkeiten können so als konkrete Hilfestellungen im Interesse eigener Lese­ und Lebenserfahrungen wahrgenommen werden. Die Lernaufga­be integriert ferner gemeinsam Erarbeitetes sowie individuell Erfahrenes, was der Auseinandersetzung mit der Bibel allein von ihrer Anlage her gerecht wird.

Als das Kurshalbjahr abschließendes Lernprodukt kann ein (digitales) Heft mit Beiträgen aller Kursmitglieder anvisiert werden. Die Aufgabe lautet dann:

Wählen Sie einen Bibeltext und erstellen Sie auf Basis der Auseinandersetzung mit ihm einen Heftbeitrag, der Sie gegen den Selbstverlust im Druck der Anforderun-gen und zu einer verantwortungsvolle Lebensgestaltung ermutigen kann.

Die gemeinsame Suche nach einem Titel für das Heft (wie z. B.: „Wahres Leben oder als Ware leben? – Ermutigungen – mit Hilfe der Bibel?“) aktiviert erste Vorstellungen.

Anschließend werden Bibeltexte auf gesonderten Blättern auf die Schultische verteilt, im Galeriegang gelesen und individuell ausgewählt. Als Bibeltexte12 bieten sich an:

Ps 22; Ps 23; Ps 31,10­16; Ps 104,1­30; Ps 139,1­18; Jes 40,27­31; Jes 58,9­12; Jes 65,16­25; Mt 5,3­11; Mt 5,13­16; Mt 6,24­34; Mt 14,22­31; Mk 2,23­27; Lk 8,1­10; Lk 11,33f.; Lk 12,33f.; Lk 15,1­7; Lk 15,11­32; Lk 8,14­15; Rö 8,35­38; 1. Kor 3,16­17; 1. Kor 13 oder 1. Joh 2,9­11

Die Kursmitglieder können ebenfalls selbst Bibeltexte mitbrin­gen, die in ihrem Leben oder beispielsweise dem von An­gehörigen vielleicht schon einmal eine Rolle gespielt haben (zum Beispiel Tauf­, Konfirmations­ oder Trausprüche oder auch Bibelzitate auf Traueranzeigen).

Die Bearbeitung kann in Einzelarbeit, aber auch zu zweit oder dritt geschehen. Hinweise für die Bearbeitungsschritte gibt M16. Während der Auseinandersetzung mit dem Text kön­nen die Schülerinnen und Schüler auf biblisches Hintergrund­wissen zurückgreifen, das sie selbst recherchieren (z. B. über www.relilex.de) oder durch die Lehrkraft erhalten (z. B. zur Gattung der Psalmen, den Briefen von Paulus, …). Darüber hinaus kann eine Lerntheke Wissensüberblicke zur Geschich­te Israels und Entstehungsgeschichte der Bibel, biblischen Sprachformen und Textgattungen bereitstellen.13 Die Lernen­den können ihr Wissen so von dem Interesse an der Interpre­tation des gewählten Bibeltextes her gewinnen.

Anregungen für die Gestaltung der Ermutigungen können zusätzlich Passagen aus Jörg Zinks Text „An meine Enkel“14 geben.

Welche Form der Heftbeitrag haben sollte (ob als direkter Brief an die Kursmitglieder, als informierender Sachtext, in Kom­mentarform, …), wird je nach Kurszusammensetzung geklärt.

Über den zeitlichen Umfang und inhaltlichen Anspruch der Be­arbeitung sowie die Frage nach der Gewichtung der Lernauf­gabe für die Halbjahresnote entscheiden ebenfalls verbliebene zeitliche Ressourcen am Ende des Kurshalbjahres.

Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Arbeitsperspektiven bildet das Präsentieren und Diskutieren der Schülerprodukte – je nach Zeit noch als Redaktionssitzung für das gemeinsame Heft – mit einem evaluativem Rückblick auf die Unterrichtsreihe ihren Abschluss.

11 Zum Verständnis einer Lernaufgabe vgl. Josef Leisens Ausführun-gen (online verfügbar). Vgl. auch die Erläuterungen und Beispiele zu Lernaufgaben im Religionsunterricht von Christoph Terno: Lernen mit Lernaufgaben in der Oberstufe. Beispiele zum Thema „Chris-tologie“, RPI-Impulse 2/18, S. 27-29. Auf S. 28 stellt er zentrale Merkmale von Lernaufgaben zusammen.

12 Vgl. auch die Vorschläge für elementare Bibeltexte im Lehrplan Evangelische Religion Gymnasiale Oberstufe Rheinland-Pfalz, S.78.

13 Vgl. die zahlreichen Informationen in allen Oberstufenbüchern des Faches Religion, aber z. B. auch die anschaulichen Visualisierungen im Kursbuch Religion 1. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 5./6. Schuljahr, Calwer Verlag 2005, S. 142f u. S. 148f.

14 Jörg Zink: An meine Enkel, Kreuz Verlag, Stuttgart 1999.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M1Erich Fromm (1900­1980): Der „Marketing­Charakter“

Ich habe die Bezeichnung „Marketing­Charakter gewählt, weil der einzelne sich selbst als Ware und den eigenen Wert nicht als „Gebrauchswert“, sondern als „Tauschwert“ erlebt. Der Mensch wird zur Ware auf dem „Persönlichkeitsmarkt“. Das Bewertungsprinzip ist dasselbe wie auf dem Waren­markt, mit dem einzigen Unterschied, daß hier „Persönlich­keit“ und dort Waren feilgeboten werden […]. Der Erfolg hängt weitestgehend davon ab, wie gut sich ein Mensch auf dem Markt verkauft, ob er „gewinnt“ (im Wettbewerb …), wie anziehend seine „Verpackung“ ist […] und ob er die richtigen Leute kennt. […] Um Erfolg zu haben, muß man imstande sein, in der Konkurrenz mit vielen anderen seine Persönlich­keit vorteilhaft präsentieren zu können. […] [D]a der Erfolg weitgehend davon abhängt, wie gut man seine Persönlich­keit verkauft, erlebt man sich als Ware oder richtiger: gleich­zeitig als Verkäufer und zu verkaufende Ware. Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit. Das oberste Ziel des Mar­keting­Charakters ist die vollständige Anpassung, um unter allen Bedingungen des Persönlichkeitsmarktes begehrens­wert zu sein. Der Mensch dieses Typus hat nicht einmal ein Ich […], an dem er festhalten könnte, das ihm gehört, das sich nicht wandelt. Denn er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: „Ich bin so, wie du mich haben möchtest.“ Menschen mit einer Marketing­Charakterstruktur haben kein Ziel, außer ständig in Bewegung zu sein und alles mit größtmöglicher Effizienz zu tun […]. Philosophischen oder religiösen Fragen, etwa, wozu man lebt und warum man in die eine und nicht die andere Richtung geht, bringen sie (zumindest bewußt) wenig Interesse entgegen. Sie haben ihr großes, sich ständig wandelndes Ich, aber keiner von ihnen hat ein Selbst, einen Kern, ein Identitätserleben. Die „Identitätskrise“ der moder­nen Gesellschaft ist darauf zurückzuführen, daß ihre Mitglie­der zu selbst­losen Werkzeugen geworden sind […]. Wo kein echtes Selbst existiert, kann es auch keine Identität geben […].Da der Marketing­Charakter weder zu sich selbst noch zu anderen eine tiefe Bindung hat, geht ihm nichts wirklich nahe, nicht weil er so egoistisch ist, sondern weil seine Bezie­hung zu andern und zu sich selbst so dünn ist. Das mag auch erklären, warum diese Menschen sich keine Sorgen über die Gefahren nuklearer und ökologischer Katastrophen ma­chen, obwohl sie alle Fakten kennen, die eine solche Gefahr ankündigen. Daß sie keine Angst um sich selber zu haben

scheinen, könnte man durch die Annahme erklären, daß sie sehr mutig und selbstlos seien; aber ihre Gleichgültigkeit ge­genüber dem Schicksal ihrer Kinder und Enkel schließt eine solche Erklärung aus. Ihre Leichtfertigkeit in all diesen Berei­chen ist eine Folge des Verlusts an emotionalen Bindungen, selbst jenen gegenüber, die ihnen am „nächsten“ scheinen. In Wirklichkeit steht dem „Marketing­Charakter“ niemand nahe, nicht einmal er selbst […]. Aufgrund seiner allgemeinen Bezie­hungsunfähigkeit ist er auch Dingen gegenüber gleichgültig. Was für ihn zählt, ist vielleicht das Prestige oder der Komfort, den bestimmte Dinge gewähren, aber die Dinge als solche haben keine Substanz. Sie sind total austauschbar, ebenso wie Freunde und Liebespartner, die genauso ersetzbar sind, da keine tieferen Bindungen an sie bestehen. Das Ziel des Marketing­Charakters, optimales Funktionieren unter den je­weiligen Umständen, bewirkt, daß er auf die Welt vorwiegend verstandesmäßig […] reagiert. […] Die Herrschaft des rein verstandesmäßigen […] Denkens entwickelt sich parallel zu einem Schwund des Gefühlslebens. Da es nicht gepflegt und gebraucht wird, sondern das optimale Funktionieren eher behindert, ist das Gefühlsleben verkümmert […]. Die Folge ist, daß Marketing­Charaktere in Gefühlsdingen merkwürdig naiv sind. Oft fühlen sie sich von „emotionalen Menschen“ angezogen, aber aufgrund ihrer Naivität können sie nicht un­terscheiden, ob diese echt sind oder schwindeln. Das erklärt vielleicht, […] warum dieser nicht zwischen einem echt religi­ösen Menschen und einem Public­Relations­Produkt unter­scheiden kann, das religiöse Gefühle nur vortäuscht.

Aufgaben

1. Nennen Sie Gründe für die „Beziehungsunfähigkeit“ des „Marketing-Charakters“.

2. Erläutern Sie Auswirkungen seiner „Beziehungsunfähigkeit“ auf seine Lebensgestaltung.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M3

M2 Andreas Reckwitz: Das Ich als Marktlücke

Die Netzkultur bietet den Subjekten offensichtlich die Chan­ce, sich als ein Selbst mit vielschichtigen, auch ausgefal­lenen Interessen zu präsentieren […] [N]un wird jedoch erwartet, dass man an seiner Originalität feilt, interessante Interessen und Aktivitäten und immer wieder neue überra­schende und reizvolle Details und Erlebnisse aus seinem eigenen Leben präsentiert. Es herrscht gewissermaßen ein Profilierungszwang, der zugleich ein Originalitäts­, Kreativi­täts­ und Erlebniszwang ist.

[...]

Die „Kultur der Spätmoderne [stellt] allerdings kaum kultu­relle Ressourcen zur Enttäuschungstoleranz und ­bewälti­gung zur Verfügung. Dies gilt auch für Enttäuschungen, die sich aus existentiellen „Unverfügbarkeiten“ ergeben. Hier sind an erster Stelle Tod und Krankheit – die trotz der spät­modernen Obsession mit der Gesundheit nicht überwunden werden können – oder Unglücks­ und Katastrophenfälle zu nennen […]. Kulturelle Muster wie Gelassenheit oder gar Demut scheinen in der Spätmoderne überholt; stattdessen neigt sie dazu, biografisches Scheitern in die Selbstverant­wortung des Einzelnen zu stellen.

Anne­Ev Ustorf: Schaut, was ich kann!

Wer erfolgreich sein will, muss zunehmend Werbung in eigener Sache machen. Zur Selbstvermarktung gehört auch ein gelungener digitaler Auftritt

Beim Thema Selbstvermarktung in den sozialen Medi­en haben die meisten Deutschen noch ordentlich etwas nachzuholen […]. In Zukunft wird der ein oder andere Deutsche vielleicht umdenken müssen. Denn im Zuge der Digitalisierung verändern sich der Arbeitsmarkt und da­mit die Stellensuche. Menschen werden sich zunehmend statt um Arbeitsplätze um individuelle Aufträge bewerben müssen, ergab eine aktuelle Studie des Fraunhofer­Insti­tuts für System­ und Informationsforschung in Karlsruhe im Auftrag der Vodafone­Stiftung. Die Forscher rechnen damit, dass die relativ rigide Berufsstruktur in Deutschland in absehbarer Zukunft aufweicht und Arbeitnehmer mehr zwischen den Branchen wechseln werden. Denn die digi­tale Wirtschaft macht es möglich, dass Abläufe in immer kleinere Arbeitsschritte unterteilt und leichter ausgelagert werden können. Arbeitnehmer werden künftig also ver­mutlich seltener sozialversicherungspflichtig angestellt sein und stattdessen häufiger an wechselnden Projekten arbei­ten. Einerseits steigen dadurch die individuellen Entwick­lungsmöglichkeiten, andererseits aber auch Unsicherheit und Konkurrenzdruck. Denn in der Arbeitswelt 2.0 müssen Berufstätige immer wieder Einzelaufträge ergattern – in der

Wissenschaft, im Handwerk, im Gesundheitswesen, sogar im pädagogischen Bereich. „Wir können die Zukunft zwar nicht vorhersagen“, sagt Simone Kimpeler, Studienleiterin des Karlsruher Fraunhofer­Instituts, „aber wir sehen zwei Entwicklungen, die mit großer Sicherheit das Berufsleben in den nächsten Jahren massiv beeinflussen werden: das Selbstmarketing wird wichtiger, und die Grenzen zwischen den Branchen verschwimmen.“ Um auf dem flexiblen Ar­beitsmarkt der Zukunft gut mithalten zu können und für neue Arbeitgeber sichtbar zu sein, wird der Fähigkeit zum digitalen Selbstmarketing eine Schlüsselrolle zukom­men. Denn Auftraggeber und Auftragnehmer werden aller Voraussicht nach in erster Linie über die sozialen Medien zusammenfinden. Sie werden entweder anhand ihrer Inter­netprofile identifiziert oder sogar mittels intelligenter Algo­rithmen […] vollautomatisch gematcht. Umso wichtiger wird es sein, einen professionellen Internetauftritt hinzule­gen, der vernetzt ist mit den wichtigsten Accounts, Porta­len und Netzwerken, um eine schlüssige digitale Identität zu haben. […] Haben wir keine andere Wahl, als künftig zu unserer eigenen digitalen Marke zu werden? Es sieht ganz so aus. […]

Aufgabe

Erläutern Sie mögliche Folgen des Profilierungsdrucks für das Individuum im digitalen Zeitalter.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M4Wie kommt die Welt in unseren Kopf?

M5Heinrich Heine über die Bedeutung von Kants erkenntnis ­theore tischen Einsichten

Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) untersuchte erstmals genauer die Bedingungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit und stellte fest:

„Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen,

bringen wir selbst hinein […]“.(Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA, IV, 92)

Der deutsche Dichter Heinrich Heine (1797-1856) würdigte die besondere erkenntnistheoretische Leistung Kants folgen-dermaßen:

Die Philosophen vor Kant haben zwar über den Ursprung un­serer Erkenntnisse nachgedacht […] über das Erkenntnisver­mögen selber, über den Umgang unseres Erkenntnisvermö­gens ist weniger nachgedacht worden. Diese ward nun die Aufgabe von Kant, er unterwarf unser Erkenntnisvermögen einer schonungslosen Untersuchung, er sondierte die ganze Tiefe dieses Vermögens und [entdeckte] alle seine Grenzen. Da fand er nun freilich, daß wir gar nichts wissen können von sehr vielen Dingen, mit denen wir früher in vertrautester Be­kanntschaft zu stehen vermeinten. Das war sehr verdrießlich.

Aber es war doch immer nützlich zu wissen, von welchen Dingen wir nichts wissen können […]. Kant bewies uns, daß wir von den Dingen, wie sie an und für sich selber sind, nichts wissen, sondern daß wir nur insofern von ihnen wissen, als sie sich in unserem Geiste reflektieren. […] Die bisherige Phi­losophie, die schnüffelnd um die Dinge herumlief, und sich Merkmale derselben einsammelte und sie klassifizierte, hörte auf, als Kant erschien, und dieser lenkte die Forschung zu­rück in den menschlichen Geist und untersuchte, was sich da kund gab […].

Aufgabe

Setzen Sie die Erkenntnisse Immanuel Kants in Beziehung zu Ihren Schlussfolgerungen aus dem „Punkteexperiment“.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M6a

M6b Werner Heisenberg (Physiker, 1901­1976):

Auch die Atomphysik kann die Wirklichkeit nicht losgelöst von der menschlichen Sicht untersuchen

Der Atomphysiker hat sich damit abfinden müssen, daß seine Wissenschaft […] nicht einfach von der Natur „an sich“ sprechen kann. Die Naturwissenschaft setzt den Menschen immer schon voraus, und wir müssen uns […] dessen bewußt werden, daß wir nicht nur Zuschauer, sondern stets auch Mitspielende im Schauspiel des Lebens sind.

Aufgabe

Setzen Sie Heisenbergs Erläuterung dazu, womit sich der Atomphysiker „abfinden“ muss, in Beziehung zu Immanuel Kants erkenntnistheoretischer Einsicht (M5).

1 Anfang des 20. Jahrhunderts bewirkten die Quantentheorie Max Plancks (1858-1947) und die Relativitätstheorie Albert Einsteins (1879-1955) eine radikale Wende in der modernen Physik.

2 Die „Falsifikation“ einer Theorie bedeutet den Nachweis, dass sie ungültig ist.

Karl Popper (Philosoph, 1902­1994) über Wissenschaft als Erfindung überprüfbarer Theorien

Es führt kein Weg mit Notwendigkeit von irgendwelchen Tatsachen zu irgendwelchen Gesetzen. Was wir „Gesetze“ nennen, sind Hypothesen, die eingebaut sind in Systeme von Theorien, die niemals isoliert geprüft werden können. Der Gang der Wissenschaft besteht im Probieren, Irrtum und Weiterprobieren. Keine bestimmte Theorie kann als absolut sicher betrachtet werden; jede, auch die am besten bewährte, kann unter Umständen wieder problematisch werden. Keine wissenschaftliche Methode ist sakrosankt. Man hat diese Tatsache oft vergessen […]. Die stürmische Entwicklung der Physik seit der Jahrhundertwende1 hat uns eines Besseren belehrt, der Tatsache nämlich, dass es die Aufgabe des Wissenschaftlers ist, seine Theorie immer neuen Prüfungen zu unterziehen, und dass man keiner Theorie Endgültigkeit zusprechen kann. Das Überprüfen geschieht, indem man die Theorie festhält […] und die Ergebnisse hierauf mit der Wirklichkeit vergleicht. Die Widerlegung, die Erwartungstäuschung, hat schließlich den Neubau der Theorie zur Folge. Diese Enttäuschung von Erwartungen, mit denen wir an die Wirklichkeit herantreten, ist ein sehr bedeutsames Moment. Sie gleicht der Erfahrung eines Blinden, der gegen ein Hindernis läuft und dadurch von dessen Existenz erfährt. Durch die Falsifikation2 unserer Annahmen bekommen wir tatsächlich Kontakt mit der „Wirklichkeit“. Die Widerlegung unserer Irrtümer ist die positive Erfahrung, aus der wir die Wirklichkeit gewinnen. […] Wir sehen so letzten Endes die Wissenschaft als grandioses Abenteuer des Geistes vor uns. Ein unermüdliches Erfinden von neuen Theorien und Ausprobieren von Theorien an der Erfahrung […]. Nicht auf die Entdeckung absolut sicherer Theorien geht die Bemühung des Wissen­schaftlers hinaus, sondern auf die Entdeckung oder, vielleicht besser, Erfindung von immer besseren Theorien […], die immer strengeren Prüfungen unterworfen werden können […]. Das heißt aber, die Theorien müssen falsifizierbar sein: Durch ihre Falsifikation macht die Wissenschaft Fortschritte.

Aufgaben

1. Stellen Sie den „Gang der Wissenschaft“ nach Karl Popper dar.

2. Erläutern Sie Poppers Aussage: „Durch die Falsifikation unserer Annahmen bekommen wir tatsächlich Kontakt mit der ‚Wirklichkeit‘“.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M6cCarlo Rovelli (Physiker, *1956): Fluch und Segen spekulativer Theorien

[…] Neulich wurde ich nach einem Seminar mit Fragen be­drängt: „Ihr theoretischen Physiker […] sprecht […] von zu­sätzlichen Dimensionen, von Paralleluniversen […]. Muss man das alles glauben?“ Zweifellos: Die Grundlagenphysik entfernt sich von unserer alltäglichen Weltsicht und wird somit für viele unbegreiflich. Das wirft Fragen auf: Welche Realitäten rechtfertigen solche Theorien, wenn sie nicht mehr durch unmittelbare Erfahrungen bestätigt werden können? […]. Oft sind die Mitteilungen von Naturwissen­schaftlern falsch. Fasziniert von ihren Ideen, unterscheiden die Theoretiker in ihren Ausführungen nicht präzise zwi­schen bestätigten und spekulativen Theorien. Dabei gilt eine Theorie natürlich erst dann als etabliert, wenn mehre­re Experimente ihre spezifischen Vorhersagen verifiziert ha­ben. […] Fehlende Klarheit hinsichtlich des hypothetischen Charakters von vorgeschlagenen Theorien diskreditiert die Wissenschaft. […] Nachdem ich den hypothetischen Charakter moderner Theorien betont habe, will ich nun die These verteidigen, dass solche radikalen wissenschaftli­chen Hypothesen trotzdem legitim sind. Gewiss sind sie spekulativ, aber die Theoretiker haben nichts Besseres, um die Welt auch jenseits dessen zu begreifen, was wir gerade wissen. […] Naturwissenschaft ist eine ständige Suche nach neuen Denkmöglichkeiten für die Welt. For­scher ringen laufend darum, uns von unseren zahlreichen Vorurteilen zu befreien und bessere Weltsichten zu entwi­ckeln […]. Sind neue Weltsichten gut bestätigt, werden sie zu Allgemeingut. […] Können wir uns […] stets darauf verlassen, dass das, was die Naturwissenschaft von der Welt behauptet, auch wahr ist? Keine spekulative The­orie kann Tatsachen, die sie widerlegt, standhalten. […] Alle naturwissenschaftlichen Theorien wurden irgendwann einmal durch bessere ersetzt. […] Warum ist die Natur­wissenschaft dann vertrauenswürdig? Nicht deshalb, weil sie uns sagt, gewisse Dinge seien wahr, sondern weil ihre

Antworten die besten sind, die wir besitzen. Das ist fast Definitionssache: Erscheint eine Antwort, so ist eben diese neue Antwort ab sofort die „wissenschaftliche“. […] Das naturwissenschaftliche Denken weiß um unsere Unkennt­nis der Natur und damit um die Dynamik unseres Wissens. Der Zweifel und nicht die Gewissheit ist es, der uns wei­terkommen lässt. […] Wir müssen der Naturwissenschaft vertrauen – nicht weil sie uns Gewissheiten liefert, sondern weil sie uns keine gewährt. Ich weiß nämlich keineswegs, ob der Raum wirklich gekrümmt ist, wie das die Allgemei­ne Relativitätstheorie behauptet (ich bin noch nicht einmal sicher, was das ‚wirklich‘ in meiner Aussage bedeutet). Aber mir ist bis heute keine physikalische Sicht der Welt bekannt, die überzeugender wäre als diejenige, sich den Raum ‚gekrümmt‘ vorzustellen. […] Eine vernünftige Er­forschung der Welt beruht auf der Idee, dass Erkenntnisse über sie nicht auf der Hand liegen. Das Wissen über die Welt kann aber durch Beobachtung sowie durch vernünf­tige Konfrontation von Ideen und Hypothesen vergrößert werden: Also durch Diskussion und Dialog über eine ver­nünftige Interpretation der Fakten […]. Das Vertrauen der Gesellschaft in naturwissenschaftliche Erkenntnisse hat sich in den letzten Jahrzehnten verringert. Die Verteidigung des naturwissenschaftlichen Denkens und damit die Klar­heit über seine Grenzen und die Gründe, warum man an sie ‚glauben‘ soll, ist daher noch wichtiger geworden. Das betrifft zugleich die Verteidigung von Rationalität, Zweifel und Dialog – gegen die gefährlichen Gewissheiten von Irrationalismus und Fanatismus, gegen die Gewissheiten und die Arroganz der Macht. […] Meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist also komplex: Nein, man muss nicht alles glauben, was die entfesselte Einbildungskraft der Physiker uns vorschlägt. Dennoch schreitet unser Wis­sen nur dank dieser Einbildungskraft voran.

Aufgaben

1. Erläutern Sie Carlo Rovellis Behauptung: „Wir müssen der Naturwissenschaft vertrauen – nicht weil sie uns Gewissheiten liefert, sondern weil sie uns keine gewährt.“

2. Diskutieren Sie, inwiefern man unter den dargestellten Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung noch behaupten kann, eine Theorie sei „wahr“. Beziehen Sie sich dabei auf die wissenschaftliche Hypothese vom Klimawandel und deren Infragestellung als „Klimalüge“.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M7 Max Frisch: Stiller

Der Roman „Stiller“ des Schweizer Schriftstellers Max Frisch (1911­1991)

beginnt folgendermaßen:

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis […], sage ich es, schwöre ich es […] und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken […], da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin […], können sie mich verhören, wie sie wollen, es wird nichts dabei herauskommen, zumindest nichts Wahres. Vergeblich! Heute bringen sie mir dieses Heft voller leerer Blätter: Ich soll mein Leben niederschreiben! wohl um zu beweisen, daß ich eines habe, ein anderes als das Leben ihres verschol­lenen Herrn Stiller. „Sie schreiben einfach die Wahrheit“, sagt mein amt­licher Verteidiger, „nichts als die schlichte pure Wahrheit. Tinte können Sie jederzeit nachfüllen lassen!“

Der von seinen Freunden als Stiller identifizierte Protagonist

notiert in das Heft, das ihm sein Verteidiger gegeben hatte:

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Un­aussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: „Ich kenne dich“.

Aufgaben

1. Beschreiben Sie mögliche Schwierigkeiten, die damit verbunden sein können, „die Wahrheit“ über sein Leben aufzuschreiben.

2. Beurteilen Sie, ob und inwiefern Menschen einen anderen Menschen „wirklich“ erkennen können.

3. Diskutieren Sie, ob und inwiefern Menschen sich selbst „wirklich“ erkennen können.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M8Hans Küng: Vieldimensionale und vielschichtige Wirklichkeit

Der Theologe Hans Küng (*1928) erzählt, wie er als Oberstufenschüler im Rückblick auf einen gemein-samen Museumsbesuch im Freundeskreis zu dem Schluss gelangte, dass zur Wirklichkeit unterschied-liche Seiten gehören. Er nennt sie „Aspekte“, „Dimensionen“ oder „Schichten“ der Wirklichkeit.

Wissenschaftliche Forschung soll den Dingen auf den „Grund“ […] gehen. Aber echte Gründlichkeit […] ist nicht gleichzusetzen mit Einseitigkeit und Eindimensionalität. Gegenüber einer verabsolu­tierten Rationalität […] ist von vornherein mit der Vieldimensionalität und Vielschichtigkeit der Wirk­lichkeit zu rechnen: Wirkliches kann unbestreitbar in höchst verschiedener Weise begegnen, kann ei­nen ganz unterschiedlichen Charakter tragen. Ich erinnere mich an einen Besuch mit Freunden und Freundinnen aus meiner Luzerner Maturaklasse im Athener Nationalmuseum. Mich überraschte: Die Wirklichkeit desselben Museums ist eine andere für den Chemiker, der vor allem auf Probleme des Bronzegusses und andere technische Verfahren achtet, eine andere für den Historiker, der sich für die Entwicklung von der archaischen über die klassische bis zur hellenistischen Kunst interessiert, wieder eine an­dere für den Kunstliebhaber, den vor allem die Ästhetik der Objekte fasziniert. Dieselbe Goldmaske eines Fürsten aus Mykene kann aus höchst unterschiedlicher Perspektive beschrieben und beurteilt werden. Und wichtig: Jede Beschreibung und Beurteilung des Chemikers, des Historikers oder des Kunstliebhabers, kann wahr sein – je nach Perspektive. Offensichtlich differenziert sich dieselbe Wirklichkeit je nach Perspektive und Interesse, unter dem sie dem Betrachter erscheint. Offensichtlich gibt es nicht die Wirklichkeit „an sich“, offensichtlich gibt es viele verschie­dene Wirklichkeitsaspekte, Wirklichkeitsdimensionen, Wirklichkeitsschichten. […]

Schließlich bezieht sich Hans Küng in seinem Text auf eine „Schichtentheorie der Wirklichkeit“ des Physikers Werner Heisenberg (1901-1976):

Unter den großen Physikern war es vor allem WERNER HEISENBERG (bereits im Kriegsjahr 1942), der in einer „Schichtentheorie der Wirklichkeit“ von einer untersten Schicht sprach, wo die kausalen Zusammenhänge der Er­scheinungen und Abläufe in Raum und Zeit objektiviert werden können, und einer „obersten Schicht der Wirklichkeit ..., in der sich der Blick öffnet für die Teile der Welt, über die nur im Gleichnis gesprochen werden kann“: „den letzten Grund der Wirklichkeit.“

Aufgaben

1. Setzen Sie folgende Erkenntnis Hans Küngs in Beziehung zur Mehrdimensionalität des Frühlings: „Offensichtlich differenziert sich dieselbe Wirklichkeit je nach Perspektive und Interesse, unter dem sie dem Betrachter erscheint.“

2. Visualisieren Sie Heisenbergs Schichtentheorie in einer Skizze und erläutern Sie, welche Aspekte des Frühlings nach Heisenbergs Vorstellung eher zu oberen oder unteren Schichten der Wirklichkeit gehören.

3. Setzen Sie Heisenbergs Rede von einem „letzten Grund der Wirklichkeit“ in Beziehung zu der Frage nach dem Ursprung eines Neugeborenen.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M9 Paul Tillich: Die verlorene Dimension

Für den evangelischen Theologen Paul Tillich (1886-1965) gehört es ursprünglich zum Menschen, dass er Fragen nach dem Sinn des Lebens stellt und für entsprechende Antworten offen bleibt. Das nennt Tillich eine religiöse Haltung zum Leben. Er definiert Religion als das, was Menschen „unbedingt an-geht“, im Gegensatz zu allem, was nur von vorläufigem, also nur bedingtem Interesse für menschliches Leben ist. Nach Tillichs Analyse richtet der moderne Mensch sein Interesse zu sehr auf nur bedingt Wichtiges und hat damit das verloren, was Menschsein wesentlich ausmacht.

Es gibt zahlreiche Analysen des heutigen Menschen und der modernen Gesellschaft. Aber die meisten gehen nicht über eine Diagnose wichtiger Einzelzüge hinaus, und nur wenigen ist es gelungen, einen Schlüssel für das Gesamt­verständnis unserer gegenwärtigen Lage zu finden. […]

Das entscheidende Element in der gegenwärtigen Situation des westlichen Menschen ist der Verlust der Dimension der Tiefe. „Dimension der Tiefe“ ist eine räumliche Metapher – was bedeutet sie, wenn man sie auf das geistige Leben des Menschen anwendet? Es bedeutet, dass der Mensch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens verloren hat, die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod. Diese Fragen finden keine Antwort mehr, ja sie werden nicht mehr gestellt, wenn die Dimension der Tiefe verloren gegangen ist […].

Ich will die Dimension der Tiefe im Menschen seine „religiöse Dimension“ nennen. Religiös sein bedeutet, leiden­schaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief er­schüttern. Eine solche Auffassung macht die Religion zu etwas universal Menschlichem, wenn sie auch von dem abweicht, was man gewöhnlich unter Religion versteht […]. Der Mensch kann nicht erfahren, was Tiefe ist, ohne stille zu stehen und sich auf sich selbst zu besinnen […]. Solange die Sorge um das Vorläufige und Vergängliche […] nicht zurücktritt, kann die Sorge um das Ewige nicht Besitz von ihm ergreifen […].

Nachdem der Mensch sich von der Dimension der Tiefe abgeschnitten hat […], wird er selbst zu einem Teil der horizontalen Ebene. Er verliert seine Identität und wird zu einem Ding unter Dingen, zu einem Faktor in dem Prozess von errechneter Produktion und berechnetem Verbrauch.

Aufgaben

1. Veranschaulichen Sie Paul Tillichs Vorstellung der Wirklichkeit mit der „Dimension der Tiefe“ in einer Skizze.

2. Setzen Sie Tillichs These, dass der Mensch durch den Verlust der Tiefe „zu einem Ding unter Dingen“ wird, in Beziehung zu Erich Fromms Analyse des „Marketing-Charakters“ (M1).

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M10Hermann Deuser: Das nicht Ersetzbare von Religion in der Frage nach dem Ursprung der Welt

Der evangelische Theologe Hermann Deuser (*1946) stellt die Frage, warum Religion trotz des Bedeu-tungsgewinns der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert nicht bedeutungslos wurde

Hätte nicht Religion […] ganz aussterben, einfach ent­behrlich werden müssen? Daß dies nicht geschah, da­für ist inzwischen der Grund durchaus zu erkennen: Es ist keine menschliche Kultur auch nur denkbar, die ihre Prinzipienfragen (vor allem die nach Anfang, Ende und Sinn von Welt und Leben) nicht in irgendeiner Weise „repräsentiert“ sehen muß. „Repräsentieren“ steht hier anstelle der mißverständlichen Worte „beantworten“, „gelöst“ oder bloß „formuliert“. Denn in den genannten Prinzipien geht es zwar auch um Fragen und Antworten, entscheidend aber ist, daß und wie mit diesen Dimen­sionen überhaupt umgegangen wird […]. Die Religion ist nun gerade an dieser Funktionsstelle jedes einzel­

menschlichen und jedes sozialen Selbstverhältnisses ganz und gar unentbehrlich, weil sie allein (zusammen mit und auf spezifische Weise unterschieden von Kunst und Philosophie) sich auf Prinzipienfragen versteht und deren eigentümliche Beantwortungsformen zu handhaben weiß, nämlich in Bildern, Geschichten und Symbolen […]. Darin repräsentiert die Religion die un­vermeidlich sich aufdrängenden Gründe und Abgründe allen Lebens, und hier liegt folglich das entscheidende Argument dafür, daß das Christentum der Neuzeit bei aller Kritik nicht untergehen konnte. Denn der Ersatz für Religion wäre wiederum Religion.

Aufgabe

Begründen Sie, warum Hermann Deuser die Aufgabe von Religion als das „Repräsentieren“ von Ursprungs-fragen „in Bildern, Geschichten und Symbolen“ bezeichnet. Nehmen Sie dabei Bezug auf die Vielfalt mögli-cher Formen, in denen Angehörige die Erinnerung an den Lebensbeginn eines Familienmitglieds bewahren.

M11Der Physiker Werner Heisenberg über den Unterschied zwischen biblischer und naturwissenschaftlicher Sprache

Die Unterschiede zwischen der religiösen und der naturwissenschaftlichen Perspektive auf die Wirk-lichkeit zeigen sich auch im Sprachgebrauch. Das macht der Theologe Hans Küng deutlich, indem er die Gedanken des Physikers Werner Heisenberg zu diesen Unterschieden zitiert:

Bei der Sprache der Bibel handelt es sich – wie der Physiker WERNER HEISENBERG formuliert – um eine Sprache, „die eine Verständigung ermöglicht über den hinter den Erscheinungen spürbaren Zusammenhang der Welt, ohne den wir keine Ethik und keine Werteska­la gewinnen könnten … Diese Sprache ist der Sprache der Dichtung näher verwandt als jener der auf Präzision ausgerichteten Naturwissenschaft.“ Daher bedeuten ja die Wörter in beiden Sprachen oft etwas Verschiede­nes: „Der Himmel, von dem in der Bibel die Rede ist, hat wenig zu tun mit jenem Himmel, in den wir Flugzeu­

ge oder Raketen aufsteigen lassen. Im astronomischen Universum ist die Erde nur ein winziges Staubkörnchen in einem der unzähligen Milchstraßensysteme, für uns aber ist sie die Mitte der Welt. Die Naturwissenschaft versucht, ihren Begriffen eine objektive Bedeutung zu geben. Die religiöse Sprache aber muß gerade die Spaltung der Welt in ihre objektive und subjektive Sei­te vermeiden; denn wer könnte behaupten, daß die objektive Seite wirklicher wäre als die subjektive. Wir dürfen also die beiden Sprachen nicht durcheinander­bringen […]“

Aufgabe

Setzen Sie Heisenbergs Unterscheidung zwischen religiöser und naturwissenschaftlicher Sprache in Bezie-hung zu unterschiedlichen Ausdrucksweisen der Wahrnehmung des Frühlings.

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AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M12 Renate Wind: Die Schöpfung oder eine erste Menschenrechtsproklamation

Fünfhundert Jahre nach der Niederschrift der Paradiesgeschichte wird noch einmal ein Bericht über die Erschaffung der Erde verfasst. Er unterscheidet sich in vieler Hinsicht von dem alten Schöpfungsbericht. Die Vorstellung vom Garten Eden spiegelt noch die begrenzte Weltsicht sesshaft werdender Halbnomaden wieder: Die unbewohnbare Welt ist eine Wüste, das lebensnotwendige Wasser die Voraussetzung für einen Lebensraum, in dem sich das Menschheitsgeschehen ereignet. In der Darstellung des jüngeren Schöpfungsberichtes wird der Urzustand umge­kehrt und als ungeordnetes Wasserchaos beschrieben, als ein „Tohuwabohu“, das dadurch bewohnbar wird, dass durch Gottes Handeln eine Ordnungsstruktur und damit ein geschützter Lebensraum entsteht. Die Scheidung von Licht und Finsternis ermöglicht die Strukturierung der Zeit, die Himmelsfeste hält das Wasserchaos von der Erde und ihren Bewohnern fern. Hier ist das Wasser eine lebensbedrohliche Macht, was darauf schließen lässt, dass diese Vorstellung vom Urbeginn der Welt in den alten Kulturländern am Nil, Euphrat und Tigris beheimatet ist und die Erinnerung an die zerstörerische Macht regelmäßig wiederkehrender Flutkatastrophen bewahrt.

So stehen nun also zwei völlig unterschiedliche Schöpfungsberichte nebeneinander in dem ersten Buch der Bibel. Für die Paradiesgeschichte hat ein früher Geschichtsschreiber in der salomonischen Aufklärung auf altes Sagen­material der Israelstämme zurückgegriffen. Der fünfhundert Jahre jüngere Bericht von der Weltschöpfung entwirft bereits eine ganze Kosmologie und ist wissenschaftlich auf der Höhe seiner Zeit. Im babylonischen Exil von jüdi­schen Priestern verfasst, nimmt er das Weltbild der Gelehrten Babylons auf, um es im Sinne des Glaubens an den Gott Israels umzuschreiben und neu zu deuten.

Hier wird deutlich, dass es den biblischen Schöpfungsberichten nicht darum geht, das „Wie“ der Entstehung der Welt für alle Zeiten festzuschreiben – passt doch die biblische Tradition selbst schon ihr Weltbild dem jeweils neu­esten Forschungsstand an. Vielmehr geht es darum, den Gott Israels immer wieder neu als Schöpfer und Erhalter der Welt zu bezeugen und damit zugleich deutlich zu machen, wie das Leben auf dieser Welt nach dem Willen Gottes gestaltet werden soll. […] Aufgeschrieben wurde dieses Bekenntnis zu einem menschenfreundlichen Gott von Menschen, denen diese Menschenrechte genommen worden waren: von den besiegten und verschleppten Israeliten, den rechtlosen Fremdarbeitern an den Ufern der Flüsse Babylons. Die Proklamation der Menschenrechte ist wohl immer am ehesten die Sache derer gewesen, denen sie vorenthalten werden.

Aufgabe

Interpretieren Sie Aussagen in Gen 1, 1,1-2,4a mit dem Wissen über den Entstehungskontext dieses Bibeltextes.

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75

WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M13Ein Fragebogen zur Bibel

1. Die Bibel – was ist das Ihrer Einschätzung nach überhaupt?

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2. Was stört / langweilt Sie / finden Sie komisch an der Bibel?

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3. Was finden Sie interessant an der Bibel?

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4. Wie würden Sie Ihre eigenen Bibelkenntnisse einschätzen?

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5. Hat jemals ein Bibeltext eine Rolle in Ihrem Leben gespielt? Wenn ja, welcher und warum?

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6. Falls Sie konfirmiert sind: Wissen Sie noch Ihren Konfirmationsspruch? War er von irgendeiner Bedeutung für Sie?

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7. Welche Themen, die in der Bibel vorkommen, erscheinen Ihnen bedeutsam? Warum?

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8. Welche Menschen aus der Bibel sind Ihnen in Erinnerung und welche Bedeutung haben sie Ihrer Meinung nach?

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9. Warum gibt es die Bibel Ihrer Meinung nach überhaupt? Was würde fehlen, wenn es sie nicht gäbe?

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10. Womit haben Sie sich bislang im Religionsunterricht zur Bibel beschäftigt?

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11. Was war im Religionsunterricht zur Bibel eher interessant, was weniger?

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN? WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M14 Renate Wind: Die Bibel – ein Tatsachenbericht oder ein Märchenbuch?

[Es gibt die]unter Christen und Nichtchristen weit verbreitete […] Ansicht, dass nur der ein guter Christ ist, der alles, was in der Bibel steht, für wahr im Sinne von „wirklich so passiert“ hält, gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis und gegen alle menschliche Vernunft. Dieses grundlegende Mißverständnis hat nun allerdings die Kirche selbst verur­sacht. Jahrhundertelang hat sie darauf bestanden, daß die Bibel unumstößliche Fakten über die Entstehung der Welt, die Wunder Jesu und über das Leben nach dem Tod enthalte. Und als Galilei im 15. Jahrhundert entdeckte, daß die Erde keineswegs so aussah, wie sie der erste biblische Schöpfungsbericht beschrieb, daß auch sie nicht der Mittelpunkt sei, sondern zusammen mit anderen kugelförmigen Gebilden die Sonne umkreise, da verbot die kirchliche Inquisition kurzerhand die Verbreitung dieser neuen Erkenntnisse. […] Die Tatsache aber, daß bereits in der Bibel zwei verschiedene, von unterschiedlichen Weltbildern geprägte Schöpfungserzählungen nebeneinander stehen, zeigt, daß es in der biblischen Überlieferung nicht um das Wie der Erschaffung der Erde geht, sondern um das Woher und Wozu. Die Schöpfungsberichte sind keine Tatsachenberichte, sondern Glaubensgeschichten.

Diese Feststellung gilt für große Teile der biblischen Überlieferungen. Es geht also dort nicht um Fakten, die man für wahr halten soll, sondern um Glaubensinhalte, die in verschiedenen Bildern und Formen ausgedrückt wurden […]. Die Bibel ist weder ein Tatsachenbericht noch ein Märchenbuch. In ihr finden sich zwar Tatsachenberichte und Märchen, aber auch noch viele andere literarische Formen, mit denen Menschen ihrer Erfahrung und ihrem Glauben Ausdruck verliehen haben. So finden wir in der Bibel neben historischen Tatsachenberichten und Märchen auch Sagen, mythische Erzählungen, Lieder und Gedichte. Dazu kommen Sprichwörter, Rechtssätze, Prophetensprü­che, Predigten, Gleichnisse, Fabeln und Briefe. Schließlich gibt es auch gottesdienstliche Texte wie Psalmen, Se­genssprüche und Bekenntnisse. Daß unterschiedliche literarische Formen unterschiedliche Arten der Aussage über die gleichen Dinge hervorbringen, kennen wir aus unserer eigenen Erfahrung recht gut. Niemand würde beispiels­weise auf die Idee kommen, die abendliche Wetterkarte mit poetischen Bildern über Regen, Schnee und Sonne zu kommentieren. Andererseits findet es jeder in Ordnung, wenn ein Dichter die gleichen Erscheinungen der Natur nicht mit meteorologischen Begriffen, sondern mit poetischen Bildern beschreibt, die zwar nichts Faktisches, aber ebensoviel Wahres über Regen, Schnee und Sonne sagen wie der meteorologische Kommentar der Tagesschau. Es ist nicht ganz einfach, sich daran zu gewöhnen, daß solche Unterscheidungen für die biblischen Texte genauso gelten wie für alle anderen. Man hat sich so lange damit herumgeschlagen, ob die Überlieferungen in der Bibel wahr im Sinne von „wirklich passiert“ sind, daß man darüber vergessen hat, daß Wahrheit nicht gleichbedeutend ist mit Faktizität. Es gilt daher, gerade für die biblischen Texte neu zu entdecken, was man von der „profanen Literatur“ her eigentlich längst weiß: daß auch solche Texte, die keine nachprüfbaren Fakten beinhalten, ihre Wahrheit haben.

Die Frage, die man an einen biblischen Text stellen sollte, der offenbar keine nachprüfbaren Fakten enthält, lautet also nicht: Ist das wirklich so passiert? – sondern: Was soll mit diesem Text gesagt werden, welche Botschaft, welche Wahrheit will er vermitteln? […] Wir können nachvollziehen, was Menschen beim Erzählen, Aufschreiben, Überliefern dieses Textes mitteilen wollten. Insofern geht es mit der Bibel wie mit jeder Botschaft, die uns von Men­schen früherer Zeiten überliefert ist. Ob wir mit ihrer Botschaft etwas anfangen und was wir damit anfangen, das liegt in unserer Entscheidung.

Aufgabe

Entwickeln Sie aus Renate Winds Informationen über biblische Texte Schlussfolgerungen für einen angemessenen Umgang mit biblischen Texten.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M15Lernaufgabe zur Bibel

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M16 Hinweise zur eigenständigen Auseinandersetzung mit einem Bibeltext und Erstellung eines Heftbeitrages

1. Textauswahl

Wählen Sie einen Bibeltext aus, der aus Ihrer Sicht Ermutigungen zu einem anderen Leben als der des „Marketing­Charakters“ enthalten könnte.

2. Textanalyse

2.1 Was fällt Ihnen an der Textstruktur auf? WIE ist der Text geschrieben? Gibt es Auffälligkeiten (z. B. im Satzbau, in den Satzarten, besondere Wörter, auffällige Arten der Verknüpfung, rhetorische Mittel, …)? Zu welcher Textgattung passt die Textstruktur?

2.2 Was fällt Ihnen hinsichtlich der Textmotive auf? Suchen Sie mindestens einen Begriff oder eine Person und untersuchen Sie, wie sie innerhalb des Textes Verwendung finden.

2.3 Werten Sie die Ergebnisse von 2.1 und 2.2 zusammenfassend aus und überlegen Sie, welche Aussagen dieses Textes erkennbar werden.

3. Textinterpretation I mit Hilfe von biblischem Hintergrund­ und Kontextwissen

Erläutern Sie mögliche Aussagen des Textes

­ vor dem Hintergrund Ihres Wissens über die soziale, politische und/oder religiöse Situation zur Zeit der Textentstehung

­ eventuell mit Hilfe Ihrer Kenntnis anderer biblischer Geschichten oder Motive

4. Textinterpretation II vor dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher und individueller (Lebens­)Fragen

Welche Vorstellungen in dem Text

­ wirken heutzutage sehr fremd / unverständlich? Warum?

­ treffen eher Allgemeinmenschliches?

­ könnten auch heute noch hilfreich sein?

­ (Zusatz:) erinnern mich an Geschichten, Gedichte, Bilder, Filme, Musik, … aus unserer Zeit? Hier können Sie auch eigene kreative Auseinandersetzungen mit dem Text (z.B. Visualisierungen, Bilder, Gedichte, …) ergänzen oder zum Beispiel Ergebnisse von selbst geführten Interviews zu möglichen Bedeutungen des Textes diskutieren.

5. Erstellen eines Heftbeitrages aufgrund von 1. bis 4.

Drucken Sie zunächst Ihren Bibeltext ab (eventuell mit Hervorhebung besonderer Wörter oder mit eigenen Markie­rungen) und/oder in besonders schöner Textgestaltung.

Fassen Sie Erträge aus 2. bis 4. so zusammen, dass deutlich wird, auf welche menschlichen Fragen Ihr Text damals und heute reagieren kann.

Begründen Sie, warum Sie diesen Text ausgewählt haben und inwiefern er aus Ihrer Sicht Anregungen dazu bieten kann, Mut zu einer verantwortungsvollen Lebensgestaltung (jenseits des Selbstverlusts) zu gewinnen. Hier können Sie auch Perspektiven anderer Menschen auf den Text (mit denen Sie darüber gesprochen haben oder von denen Sie etwas dazu gelesen haben) einbringen.

Fügen Sie Ihrem Beitrag gegebenenfalls dazu gefundene (oder selbst erstellte) Texte, Bilder, ... hinzu.

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79„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

IMPRESSUMHerausgeber: Religionspädagogisches Institut der Evangelischen Kirche von Kurhessen­Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und NassauRudolf­Bultmann­Straße 4, 35039 Marburg

Telefon: 06421 ­ 969 100Fax: 06421 ­ 969 400 Mail: info@rpi­ekkw­ekhn.de

v.i.S.d.P.: Uwe Martini, Direktor des RPI der EKKW und der EKHN

Gestaltung: Grafikatelier A. Köhler, Eschwege, www.die­visiomaten.de

QUELLENVERZEICHNIS

H. Dam, Was ist eigentlich wahr?M1 Wise Guys, CD „Radio“ (2006), Romanze © VG Musikedition

M6 Aus: Hans-Peter Dürr, Das Netz des Physikers. Naturwissenschaftliche Erk-enntnis in der Verantwortung, S. 29 ff © Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München 1988 (gekürzt)

M7 Aus: Helmut Fischer, Alternativlos? Europäische Christen auf dem Weg zur Minderheit, S. 72-75 und 99-101 © Theologischer Verlag Zürich 2014 (gekürzt und leicht bearbeitet)

J. Walldorf, Was ist wirklich?M1 Rene Magritte, Schlüssel der Felder, 1933 © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

M2 Aus: © Hoimar v. Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt. Naturwissen-schaft, Religion und die Zukunft des Menschen, 1981, S.153-155, Verlag Hoff-mann und Campe, Hamburg

M3 Aus: Harry G. Frankfurt, Über die Wahrheit, aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer, S. 24-29 © Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München 2007 (gekürzt)

M5a/b Aus: Peter Kliemann, Glauben ist menschlich, Argumente für die Tor-heit vom gekreuzigten Gott, S. 51-53 © Calwer-Verlag GmbH, Stuttgart 17. Aufl. 2016; Abbildung aus: Evangelisch verstehen, 1. Aufl. 2016, Verlag Eu-ropa-Lehrmittel

M6a Aus: Peter C. Hägele, Warum glauben – wenn Wissenschaft doch Wissen schafft?, S. 70,74,85-87 © SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen 2003 (leicht bearbeitet)

M7 Aus: Abraham Heschel, Gott sucht den Menschen, S. 37ff (gekürzt) © Jü-dische Verlagsgesellschaft, Berlin 2. Aufl. 1989 / Rainer Oberthür, Das Buch vom Anfang von allem, S. 79 © Kösel-Verlag, München 2015, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

M8 Aus: Chrismon, Das evangelische Magazin, April 2009 (gekürzt)

M9 Aus: Gerhard Lohfink, Der neue Atheismus, Eine kritische Auseinandersetzu-ng, S. 20 ff © Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2014 (gekürzt und leicht bearbeitet)

M11 Aus: Irmintraud Eckard, Bibel kreativ. Eine Fundgrube für Gemeinde und Schule, S. 127-129 © Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2000, www.verlagsgruppe-patmos.de

M12 Aus: Gerhard Lohfink, Der neue Atheismus, Eine kritische Auseinander-setzung, S. 51 ff © Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2014 (gekürzt)

U. Reinhardt, Wie sehen wir den Menschen?M1 Aus: Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Deutscher Taschenbuchverlag, Stuttgart 1976, S.141-145 (gekürzt) © Erich Fromm, 1976. Abdruck mit Genehmigung der Liepmann AG, Zürich

M2 Aus: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Struktur-wandel der Moderne © Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, S. 266, S. 347f

M3 Aus: Anne-Ev Ustorf, Schaut mal, was ich kann! Wer erfolgreich sein will, muss zunehmend Werbung in eigener Sache machen. Zur Selbstvermarktung gehört auch ein gelungener digitaler Auftritt © Süddeutsche Zeitung, Nr. 34, 10./11. Februar 2018, S. 59 (gekürzt)

M4 Aus: Zugänge zur Philosophie 1, S. 17 © Cornelsen-Verlag, Berlin

M5 Aus: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Briegleb, Bd. 5, München und Wien 1976, S. 592ff

M6a Aus: Karl Popper: Kübelmodell und Scheinwerfermodell – zwei Theorien der Erkenntnis. Anhang 1 von Karl Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 2. Aufl. 1994, S. 374 f

M6b Aus: Werner Heisenberg, Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Künste, München 1960, S. 61

M6c Aus: © Spektrum der Wissenschaft, März 2006, S. 108-112 (gekürzt)

M7 Aus: Max Frisch, Stiller, S. 9, S. 64 © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1954

M8 Aus: Hans Küng, Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion, S. 48f © Piper Verlag GmbH, München 2005

M9 Aus: Paul Tillich, Die verlorene Dimension, in Ders.: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, Gesammelte Werke Band V, Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1964, S. 43-50

M10 Aus: Hermann Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie, S. 45f © Philipp Reclam Verlag Stuttgart 1999

M11 Aus: Hans Küng, Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion © Piper Verlag GmbH, München 2005, S. 137f

M12 Aus: Renate Wind, Oberstufe Religion 11: Die Bibel, S. 12 © Calwer Verlag GmbH, Stuttgart, 1. Aufl. 2002

M14 Aus: © Renate Wind, Befreiung buchstabieren. Basislektüre Bibel, Güterslo-her Verlagshaus, Gütersloh 1995, S. 17-22 (gekürzt)

Druck: Grafische Werkstatt von 1980 GmbH, Kassel

Auflage:1000 Exemplare

Bildquellen:©Pixabay.de, ©Monster Ztudio ­ shutterstock (7), ©Sara Calado – shutterstock (63), ©Schuppi – wikipedia, CC BY­SA 3.0 (71)

September 2018

Page 83: WAS IST EIGENTLICH WAHR?

www.rpi-ekkw-ekhn.de

„Bei meinem Unterricht in der E2 kommt es mir darauf an, dass die Schülerinnen und Schüler entdecken, dass es viele Zugänge zur Wirklichkeit und Wahrheit gibt. Ich hoffe Steine wegzuräumen, die verhindern, dass sie sich mit der Legitimität und Plausibilität des christlich-religiösen Zugangs auseinandersetzen.“

Dr. Harmjan Dam

„Aus meiner Sicht bietet das Kurshalbjahr E2 die Chance, wichtige Identitätsfragen der Schülerinnen und Schüler aufzugreifen und ihnen Erfahrungen mit der Vielschichtigkeit von Wirklichkeit zu ermöglichen, um neue Zugänge zu den großen Fragen und Wirklichkeits-deutungen der Bibel zu eröffnen.“

Dr. Ursula Reinhardt

„Nicht selten begegnet auch bei Schülerinnen und Schülern die Auffassung, dass vor allem Naturwissenschaft und Technik einen robusten Zugang zur Wirklichkeit haben, während Religion und Glaube bestenfalls subjektive Befindlichkeiten darstellen – ohne echten Realitäts bezug. Hier bietet die E2 die Chance, die vielen Dimensionen der Wirklichkeit in ihrer Bedeutung für das (eigene) Leben zu entdecken und darüber ins Gespräch zu kommen.“

Dr. Jochen Walldorf