Was ist Informatik – Unser Positionspapier - gi.de · Was ist Informatik? Unser Positionspapier...

40
Was ist Informatik? Unser Positionspapier www.gi-ev.de Gesellschaft für Informatik e.V. (GI)

Transcript of Was ist Informatik – Unser Positionspapier - gi.de · Was ist Informatik? Unser Positionspapier...

Was ist Informatik?Unser Positionspapier

www.gi-ev.de

Gesellschaft für Informatik e.V. (GI)

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:25 Uhr Seite 1

Impressum

Gesellschaft für Informatik e.V. (GI) Wissenschaftszentrum · Ahrstraße 45 · 53175 Bonn Telefon 0228 / 302-145 · Telefax 0228 / 302-167 [email protected] · www.gi-ev.de

Gestaltung: mehrwert, Köln · www.mehrwert.de

Bildnachweise · Copyright, mit freundlicher Genehmigung:Archiv Horst Zuse: S. 6 oben | Braun, Gerda: S. 30, http://members.a1.net/gerda.braun/ |Casio-Europe GmbH: S. 21 | Deutsches Museum: S. 7: beide | Deutsches Zentrum für Luft-und Raumfahrt e.V. (DLR): S. 18 | Deutscher Wetterdienst (DWD): S. 17 unten | Dresden-Werbung und Tourismus GmbH: S. 32, Sylvio Dittrich (DWT) | HEIDELBERGER Druck-maschinen AG: S. 13: unten | Lengauer, Thomas: S.16 | Siemens Transportation Systems:S. 14, S. 15 | Springer-Verlag: S. 11: Informatik Spektrum, Band 27, Heft 4, 2004; S. 17:Informatik Spektrum, Band 27, Heft 2, 2004; S. 23: Informatik Spektrum, Band 25, Heft 4,2002, Ingo Wald, Philipp Slusallek; S. 35: Informatik Spektrum, Band 28, Heft 2, 2005 |Technische Universität München, Institut für Informatik: S. 12, S. 13 oben | Universitäts-klinikum Hamburg-Eppendorf: S. 33, Arbeitsgruppe VOXEL-MAN | alle anderenAbbildungen Copyright bei den Autoren, bzw. der Gesellschaft für Informatik e.V. (GI)

Stand: Mai 2006

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:25 Uhr Seite 2

Was ist Informatik?Positionspapier derGesellschaft für Informatik

Faszination Informatik – Prolog 4

Informatik – Die Disziplin 1 16

Innovation durch Informatik … 14

… für die Wissenschaft

… für die Wirtschaft

… für die Technik

… auf dem Bildungssektor

… für die Kultur

… für Individuum und Gesellschaft

Herausforderung Zukunft 36

Literatur zum Nachschlagen 38

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:25 Uhr Seite 3

Informatik – das ist die Faszination, sich die Welt derInformation und des symbolisierten Wissens zu er-schließen und dienstbar zu machen. Informatik schafft neueZugänge, neue Denkmodelle und zahllose automatisierte Helfer und Dienste. Infor-matik ermöglicht multimediale Kommunikation überall, zu jeder Zeit und sofort.Informatik überwacht, steuert und vernetzt Prozesse.

Beginnend mit dem Bau und der Programmierung reiner »Rechenmaschinen« hat sichdie Informatik rasch weiter Arbeitsbereiche in Produktion, Organisation und Verwal-tung angenommen. Inzwischen macht sie den Computer nicht mehr nur zur Arbeits-maschine, sondern auch zum Medium,Wissensträger, Manager, Unterhaltungskünst-ler und Steuerungsinstrument, ja sogar zu einer Art neuen Wahrnehmungsorgans fürdie meisten Wissenschaften.

Als Menschen nehmen wir die Veränderung unseres Lebens durch Informatiksysteme,durch den Computer, das Internet, die ständige Laptop-Netz-Verbindung, das Mobil-telefon und die hunderte eingebetteter Systeme in täglich benutzten Gebrauchsge-genständen nicht so rauschhaft schnell wahr, wie sie eigentlich ist. Schon jetzt erlau-ben es mobil vernetzte Geräte, sich überall und rund um die Uhr zu informieren, zukommunizieren und zu arbeiten. Allein dies eröffnet völlig neue Perspektiven im priva-ten, beruflichen und gesellschaftlichen Leben, die es auszuloten und vorzubereitengilt.

Die Veränderungen sind nachhaltig. Wir lernen, lehren und arbeiten anders. Zuneh-mend werden wir uns Meta-Wissen statt reine Sachinhalte aneignen. Die Wissen-schaften werden neue Erkenntnisse mehr und mehr unter Nutzung der Informatik ge-winnen. Mit der nächsten Welle von Informatikanwendungen werden wir in eine Weltder Sensoren eintreten, in der Information ständig erfasst wird und präsent ist.

Faszination Informatik Prolog

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:25 Uhr Seite 4

Wir werden die mühselige Dateneingabe und Datenpflege hinter uns lassen und allein durch Sprechen und Verhalten schnell und zielgerichtet kommunizieren undhandeln können. Und wieder neue Welten tun sich damit auf …

Im Zentrum dieses rasanten Wandels steht die Informatik: Kern und Motor vonWeiterbewegung und Innovation.

In welcher Verantwortung sieht sich die Informatik dabei? Kann und soll sie sich umdie Koordination der tiefgreifenden Veränderungen kümmern? Wie hält sie Kurs zwi-schen dem Weiterforschen, dem Impulsgeben, der Bereitstellung von Anwendungen?Welchen Beitrag kann und will sie im Rahmen der gesellschaftlichen Umwälzungenleisten? Diesen Fragen stellt sich im deutschsprachigen Raum die Gesellschaft fürInformatik. Sie ist die Vereinigung derjenigen Fachleute, die für die Informatik stehenund die sie ständig weiter entwickeln.

Heute entfallen bereits 60% der Wertschöpfung in der Flugzeugentwicklung aufSoftware und Kommunikationstechnik, 90% aller Innovationen im Auto haben mitInformatik zu tun. Software und Datenbanken sind zum zentralen Wirtschaftsgut dermeisten Firmen geworden. Informatikkonzepte bestimmen nicht nur die Grundstruk-turen in den Unternehmen, sondern auch zunehmend den Bildungssektor und immerstärker die Unterhaltungsbranche. Die Informatik löst hier schwierige Probleme, erar-beitet neue Modelle und Sichtweisen; sie stößt die Tür auf zu neuen Erkenntnissen,Werkzeugen und Systemen; sie entwickelt Beurteilungskriterien und Vorgehens-weisen für das zielgerichtete Zusammenwirken soziotechnischer Systeme. Hierauszieht sie ihr Selbstverständnis, ihre Attraktivität und ihre Faszination. Mit dieserBroschüre möchten wir Ihnen diese Informatik näher bringen.

5

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:25 Uhr Seite 5

Das Geburtsdatum der Informatik ist unbestimmt. Mankann das Jahr 1941 wählen, in dem Konrad Zuse seinen Rechenautomaten Z3 vorstell-te, oder das Jahr 1947, in dem die erste Informatikgesellschaft in den USA entstand,

oder man kann sich für das Jahr 1960 entscheiden, in dem derweltweite Informatik-Dachverband gegründet wurde. In Europawurde das Wort Informatik in den sechziger Jahren eingeführt.Im Jahr 1969 wurde in Bonn die Gesellschaft für Informatik ge-gründet.

Die Wurzeln der Informatik reichen jedoch weit in die Geschich-te der Menschheit zurück. Die Erfindung der Schrift als symboli-sche Darstellung von Information, die ersten Algorithmen,Rechenwerkzeuge wie der Abakus und erste Rechenhilfen, dieRechenautomaten von Pascal, Schickardt, Leibniz und Hahn,die »Analytical Engine« von Babbage und die Beschreibung ihrerEinsatzmöglichkeiten durch Augusta Ada Byron Lovelacekennzeichnen frühe Meilensteine der Informatik.

Im Zentrum der Informatik steht die Information. Sie beziehtsich auf Fakten,Wissen, Können, Austausch, Überwachen undBewirken; sie will erzeugt, dargestellt, abgelegt, aufgespürt, wei-tergegeben und verwendet werden; sie ist meist komplex undundurchschaubar mit anderen Informationen vernetzt.

In der Regel hat die Information sich selbst als Bearbeitungsob-jekt: Um Information zu nutzen, werden konkrete Gegebenhei-ten und Vorgänge, aber auch abstrakte Bereiche – mit Hilfe vonInformation – in geeigneter Weise modelliert und simuliert.

InformatikDie Disziplin

Konrad Zuse (1910 – 1995)Erbauer des ersten programmgesteuer-ten Rechners der Welt

Heinz Zemanek(* 1920) Erbauer des»Mailüfterl«,gezeichnet vonKonrad Zuse

6

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:25 Uhr Seite 6

7

Hierfür werden Werkzeuge konzipiert, entwickelt undeingesetzt. Es werden Sprachen und Systeme zur Rea-lisierung der abstrakten Vorgehensweisen und Verarbei-tungsvorschriften – mit Hilfe von Information – konstru-iert, hergestellt und genutzt. Alle auf diese Art gewonne-nen Erkenntnisse, Methoden und Ergebnisse werdenüberall dort, wo Information eine Rolle spielt, in ständig

wachsendem Maße verwendet – und kontrolliert, wiederum mit Hilfe von Informa-tion. Diese starke innere Vernetzung, der hohe Abstraktionsgrad, die digitale Darstel-lung, die Mischung aus Analyse und Synthese, aus Konstruktion und Integration be-herrschen das Denken und Arbeiten in der Informatik.

Die Wissenschaft Informatik befasst sich mit der Darstellung, Speicherung, Übertra-gung und Verarbeitung von Information. Dabei untersucht sie die unterschiedlichstenAspekte: elementare Strukturen und Prozesse, Prinzipien und Architekturen von Sys-temen, Interaktionen in kleinen, mittleren und weltumspannenden Netzen, die Kon-zeption, Entwicklung und Implementierung von Hardware und Software bis hin zuhochkomplexen Anwendungssystemen und der Reflexion über ihren Einsatz und dieAuswirkungen.

Die Informatik ist sowohl eine Grundlagenwissenschaft als auch eine Ingenieurwis-senschaft. Darüber hinaus besitzt sie Aspekte einer Experimentalwissenschaft. IhreProdukte sind zwar überwiegend abstrakt, haben aber sehr konkrete Auswirkungen.Ihre Denkweisen dringen in alle anderen Wissenschaften ein, führen zu neuen Model-len und Darstellungsweisen und lassen neuartige Hard- und Softwaresysteme ent-stehen.

Rekonstruktion der ersten programmgesteuerte Rechenanlage »ZUSE Z3«, 19414

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 7

8

Die Informatik ist wie die Mathematik eine auf alle anderen Wissensgebiete ausstrahlende Grundlagen-und Formalwissenschaft. Fasst man die Mathematik als die Wissen-schaft vom »formal Denkbaren« auf, so konzentriert sich die Informatik auf das »Reali-sierbare«, also auf Formalismen und Begriffe, die der maschinellen Verarbeitung zu-gänglich sind. Beispiele sind

> Programmiersprachen und ihre Semantik> Logiken, Kalküle und Beweisverfahren > Automaten, Schaltwerke und Maschinenmodelle> Datenstrukturen, Datentypen und Objekte> Algorithmen und ihre Komplexität> Programme und Prozesse > Künstliche Intelligenz> Naturanaloge Verfahren und Heuristiken> Sicherheit, Korrektheit und Zuverlässigkeit

und vieles mehr.

Informatik als Grundlagenwissenschaft

Links: Niklas Wirth (* 1934)Erfinder vieler Programmiersprachen

Rechts: John von Neumann (1903 – 1957)entwickelte ein Schaltungskonzeptfür Universelle Rechner

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 8

9

Die Informatik ist vorwiegend »diskret« – im Gegensatz zur meist »kontinuierlichen«Mathematik. Ihre Untersuchungsgegenstände sind klar gegeneinander abgrenzbarund lassen sich durch endlich viele Zeichen eindeutig identifizieren. Sie analysiert,strukturiert, modelliert und entwickelt Lösungen für reale Aufgabenstellungen inForm konkreter Systeme.

Grundlagenorientierte Untersuchungen klären auch die Möglichkeiten des techni-schen Einsatzes und befassen sich mit der Akzeptanz von Informatiksystemen, in denen die immense wirtschaftliche Bedeutung der Disziplin liegt.

Sie führen jedoch noch weiter. Es entstehen Fragen der Art:Wie verarbeitet derMensch Informationen? Wo bestehen Analogien zu Maschinen, etwa beim »Abspei-chern« von Information? Welche Probleme können Maschinen prinzipiell nicht lösen?Worauf beruht Kommunikation letztlich? Wie entstehen Erkenntnisse und wie kannman sie weiterverarbeiten? Wie können Systeme und Menschen reibungsfrei zusam-menwirken? Wie lässt sich Vertrauen gewinnen? Welche Folgen hat die automatischeInformationsverarbeitung für die Gesellschaft, für die Natur, für den Einzelnen, was istvertretbar und wo müssen Grenzen liegen?

Durch solche Fragen greift die Informatik bis in die Philosophie hinein, beeinflusst un-sere Vorstellungen vom Menschen und von der Natur und schärft die Verantwortungfür die menschliche Gemeinschaft und die Umwelt.

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 9

Unter einem Informatiksystem verstehen wir ein ausSoftware und/oder Hardware bestehendes System, dasAufgaben in der Informationsverarbeitung oder -über-tragung erfüllt. Es führt etwa Berechnungen durch, vermittelt Informationenund übt Kontrollfunktionen aus. Es verwaltet, plant, koordiniert und steuert. SolcheSysteme gibt es in allen Größenordnungen. »Sehr klein« sind etwa Algorithmen fürelementare Funktionen, einfache Überwachungsaufgaben oder einfache Protokolle.»Sehr groß« sind etwa das Fahndungssystem von Interpol, das Internet, weltumspan-nende Telefonnetze oder Weltraumprogramme. Informatiksysteme können isoliertauftreten, meist aber sind sie eingebettet in andere technische, wirtschaftliche odergesellschaftliche Systeme.

Die Ingenieurdisziplin Informatik befasst sich mit dem Entwurf, der Implementierungund dem Einsatz solcher Systeme für unterschiedlichste Anwendungsgebiete. ImZentrum steht dabei die Konstruktion, meist bezogen auf abstrakte Objekte und oftohne direkte Veranschaulichungsmöglichkeiten. Die Anforderungen reichen vomNeuentwurf über das Konfigurieren existierender Komponenten, die Kopplung, Inte-gration und Anpassung verschiedener Informatiksysteme bis hin zur Aktualisierungvon Altsystemen in Industrie,Wirtschaft und Verwaltung. Charakteristisch ist dabeidas Arbeiten im Team mit Anwendern und Fachleuten anderer Disziplinen.

Neue Methoden und Erkenntnisse der für die Praxis relevanten Techniken und Vorge-hensweisen werden heute vor allem in folgenden Teilbereichen der Informatik erar-beitet:

> Chipentwurf, Integrierte Hardware-Softwaresysteme, Migration> Rechnerarchitektur und hoch-parallele Hardware-Strukturen> Betriebssysteme und vernetzte Systemsoftware> Rechner- und Kommunikationsnetze, verteilte Systeme> Datenbanken und Informationssysteme> Eingebettete Systeme und Echtzeitsysteme> Modellierung und Simulation

Informatik als Ingenieurdisziplin

10

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 10

11

> Grafische Datenverarbeitung, Visualisierung und virtuelle Welten> Künstliche Intelligenz und Agententechnologie> Mensch-Maschine-Interaktion und Ubiquitous Computing> Formale Grundlagen, Logik und Algorithmentheorie> Software Engineering und Systemarchitekturen> Sicherheit, Zuverlässigkeit, Fehlertoleranz und Qualitätssicherung

Durch die vielfältigen Anwendungen haben sich neue Wissensbereiche wie Bio-, Geo-,Ingenieur-, Medien-, Medizin-, Rechts-, Verwaltungs- oder Wirtschaftsinformatik ent-wickelt. Diese Vielzahl demonstriert zum einen die unbegrenzt scheinenden Anwen-dungsmöglichkeiten, sie ist aber auch ein Ausdruck für das Zusammenwachsen vonWissenschaften. Diese fächerübergreifenden Kooperationen, zu denen die Informatikmit ihren Modellen und Methoden beiträgt, erfordern ingenieurmäßiges Arbeiten:konstruktives Vorgehen, präzise Analysen, Spezifikation, Modellierung und prototypi-sche Implementierung, Orientierung an Anwendern, systematische Planung, Arbeitim Team, rasche Umsetzung neuester Erkenntnisse, Erstellung und Nutzung vonWerkzeugen usw. Das Ergebnis sind »Informations- oder »Informatikprodukte«, die inder Regel in größere Systeme eingebaut werden.

Informatikprodukte müssen nach ihrer erstmaligen Herstellung nicht mehr gefer-tigt, sondern nur noch elektronisch kopiert werden, sodass ihre Verbreitung besonderseinfach ist und sehr schnell abläuft. Sie lassen sich leichter als materielle Produkte an-passen und verändern – aber auch leichter manipulieren. Da es sich um »geistigeProdukte« handelt, greifen sie in den Alltag nachhaltiger ein als übliche »anfassbare«technische Produkte, die meist nur zu bestimmten Gelegenheiten benutzt werden.Die Informatik hat daher eine besondere Verantwortung für die »Sinnhaftigkeit«, diekulturelle Verträglichkeit und die am Menschen orientierte Nutzbarkeit ihrer Systeme.Daher spielen auch ergonomische Kenntnisse, Fragen des Einsatzes und der sozialenAuswirkungen, die Ontologie und ethische Anforderungen eine herausgehobene Rolle.

Interaktive Visualisierung eines hoch komplexen Boing 777 Modells4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 11

Informatik ermöglicht das Experimentieren in einemvirtuellen Labor, das auf Modellierung und Simulationberuht, auf der Formalisierung des Untersuchungs-raums und dem Durchrechnen von Modellen. Hier spieltman Szenarien durch, die sich dem physischen Experiment verschließen, wie etwaLandungen auf fremden Planeten, Schnitte durch lebende Wesen, etwa zur Diagnoseoder zur Vorbereitung von Operationen, Bevölkerungsentwicklungen unter verschie-denen Voraussetzungen, Auswirkungen von Katastrophen technischer oder natürli-cher Art, etwa den Ausfall von Steuerungen in Energiesystemen, Erdbeben oder Tan-kerunfälle. Auch dort, wo etwas entwickelt oder endgültig fertig gestellt werden soll,werden Situationen oder Strukturen voraus berechnet, um das weitere Vorgehen zuermitteln und abzusichern. Bei Simulation und Visualisierung wird mittlerweile eineso hohe Detailtreue erreicht, dass viele der hierbei gewonnenen Aussagen als zuver-lässig gelten dürfen, auch wenn sie nicht inder Realität nachgeprüft werden können.

Besonders präzise, meist in Naturwissen-schaft und Technik eingesetzte Simulationenwerden im Fachgebiet »Scientific Computing«(»wissenschaftliches Rechnen«) untersucht.Es kombiniert Methoden aus Mathematikund Informatik mit einer Anwendungswis-senschaft und stellt zusätzliche Anforde-rungen in den Bereichen Modellierungsme-thodik, Datenanalyse, parallele Algorithmen,Höchstleistungsrechnen, Visualisierung, wis-sensbasierte Systeme, Bildverarbeitung undanderen.

Informatik als Experimentalwissenschaft

12

Level-Of-Detail: verschieden Detaillierungs-stufen eines geometrischen Modells (dargestelltmithilfe von Oktalbäumen, Stadt > Gebäude >Büroeinrichtung) für unterschiedliche Simula-tionsaufgaben (z.B. Verkehrssimulation, Außen-umströmung, Innenraumklimatisierung).

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 12

13

Bedeutung der Informatik: Mit ihren Hauptausrich-tungen »Grundlagenwissenschaft« und »Ingenieur-wissenschaft« sowie ihren virtuellen Experimentier-möglichkeiten besitzt die Informatik eine ungewöhn-liche Breite. Hinzu treten die Dimensionen der Interdisziplinarität mit denAnwendungen und das Vermögen, Einsatzbereiche und Auswirkungen analysierenund abschätzen zu können.

Der Einsatz von Informatiksystemen hatenormes ökonomisches Potenzial, dennauf »Information« basieren alle wichti-gen Wirtschaftsbereiche. Hier sindHunderttausende neuer Arbeitsplätzeentstanden. Zugleich verändern sichArbeitsmittel und -methoden grundle-gend. Große Beschäftigungsfelder wiedas Verlagswesen, die Druckindustrie,Film, Funk und Fernsehen, Produktionund alle Dienstleistungen haben sichhierdurch in wenigen Jahrzehnten völlig umgestaltet. So ist die Informatik eine uni-versell angelegte Wissenschaft, die viel bewegt und in der sich viel bewegt.

Shortest path zur Gebäudenavigation (Kürzeste-Wege-Suche)4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 13

Innovation bezeichnet Erneuerung und Verbesserung,aber auch ganz neuartige Ideen für technische Pro-dukte, Verfahren und Vorgehensweisen. WissenschaftlicheErkenntnis bedeutet nicht zwangsläufig Innovation. Erst wenn wissenschaftlicheErkenntnis zur Wirkung kommt und in Veränderung und Verbesserung resultiert,kommt es zur Innovation.

Die Rolle der Informatik für die Innovationist augenfällig. Kaum eine andere Disziplinhat unsere Welt in den letzten 40 Jahren sovon Grund auf verändert wie die Informa-tik. Dabei ist gerade für die Informatik dasklassische Wechselspiel aus neuartigenwissenschaftlichen Erkenntnissen undtechnischen Möglichkeiten einerseits undBedürfnissen im Markt, in der Wirtschaft und bei den Menschen andererseits beson-ders ausgeprägt. Die Informatik hat in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von neuarti-gen Technologien hervorgebracht, aus denen sich viele zusätzliche Einsatzmöglich-keiten in der Wirtschaft bis hin zum Privatleben des Einzelnen ergeben haben. Einschlagendes Beispiel dafür ist das Internet. In seiner technischen Struktur entstand esaus militärischen Vorstellungen von robusten Kommunikationsnetzen. Hinzu kam dieIdee der Serverstrukturen mit einheitlichen Zugriffsverfahren, um Informationen überwenige Protokolle und gleichartige Datenstrukturen weltweit abrufbar zu machen.Diese Technik stellt für unzählige Anwendungen unerschöpfliche Möglichkeiten bereitund hat mit all ihren Facetten von der elektronischen Post über die Informationsbe-reitstellung in Netzen bis hin zu E-Business und elektronischem Handel eine Lawinevon Innovationen ausgelöst.

Darüber hinaus befriedigt die Informatik durch gezielte Entwicklung entsprechend zu-geschnittener Techniken immer wieder seit langem vorhandene Bedürfnisse in ver-

Innovation durch Informatik

14

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 14

15

schiedensten Anwendungsgebieten. So konnten beispielsweise in der Medizin vieleAnforderungen und Wunschvorstellungen erst durch die Informatik realisiert werden.Dazu gehören der Herzschrittmacher, die computergesteuerte Überwachung in In-tensivstationen sowie rechnergestützte Diagnostik und Therapie. Die Innovationender Informatik bewegen sich auf unterschiedlichsten Ebenen, angefangen bei den be-reits erwähnten Infrastrukturen wie einheitlichen Zugriffsstrukturen in Netzen, überGrundwerkzeuge zur Bearbeitung und Gestaltung von Dokumenten bis hin zurRevolutionierung der Musikindustrie und dem Siegeszug der digitalen Fotografie.Innovationen in vielen Wissensbereichen bekommen ihre Durchschlagskraft häufigerst durch die Informatik, die mithilfe von Software deren technische Realisierung undflexible Vernetzung ermöglicht. Basis sind dabei die inzwischen in den modernen In-dustriegesellschaften vorhandenen Informatikinfrastrukturen aus Netzen, aus Infor-matikgeräten wie PCs, Laptops, digitalen Assistenten (PDAs) und mobilen Telefonensowie aus Softwareapplikationen und zahllosen eingebetteten Softwaresystemen.

Eingebettete Softwaresysteme arbeiten auf programmierbaren Rechnern, die in tech-nische Systeme eingelagert sind. Sie erfassen über Sensoren Informationen, wertensie aus und setzen sie in Steuersignale für Steuergeräte um; sie sind untereinandervernetzt und gleichzeitig über komplexe Schnittstellen mit Menschen verbunden.Mehr als 98 % aller programmierbaren Rechner laufen heute eingebettet. Die Revo-lution eingebetteter Systeme in der Verkehrstechnik, in der Produktion und Automati-sierung einschließlich der Robotik, in Haushalts- und Unterhaltungselektronik, in derLogistik und in medizinischen Geräten ist atemberaubend. Die Tendenz geht dazu, im-mer mehr dieser Geräte zu vernetzen und sie mit höherer Flexibilität zu versehen. Sokönnen sie sich geänderten Umgebungen anpassen und die Nutzenden in ihren Auf-gaben in einer Art und Weise unterstützen, die weit über die heutigen Möglichkeitenhinausgeht.

Val (Véhicule Automatique Léger) – vollautomatisches fahrerloses Stadtbahnsystem4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 15

Nicht nur die Bedeutung der Informatik als Wissen-schaft, auch ihre Rolle als Innovationsfaktor für anderewissenschaftliche Disziplinen ist inzwischen sprich-wörtlich. Neben der Mathematik hat sich die Informatik in den letzten Jahrzehn-ten als weitere Querschnittswissenschaft etabliert. Durch Softwarewerkzeuge undSysteme, die höchst komplexe Berechnungen und Simulationen erlauben, wirkt dieInformatik besonders nachhaltig und führt zu neuen Erkenntnissen und Methodenbis hin zu eigenen Teildisziplinen.

Die Informatik spielt in anderen Wissenschaften zu-nächst häufig die Rolle einer Basistechnologie, mit dersich große Mengen von Informationen besser struktu-rieren, verarbeiten und aufbereiten lassen. Aber nahezuimmer führt dieser Einsatz von Informatik zu eigenenModellbildungen in den Anwendungsgebieten, so dasssich sehr schnell neue Fragestellungen, aber auch neueErkenntnisse ergeben. Dadurch entstehen bisher nichtmögliche virtuelle Experimente, umfangreichere Analy-sen und neuartige Verfahren und Methoden der Unter-suchung und Entwicklung. Eindrucksvolle Beispiele hier-für finden sich in der Biologie, Medizin, Chemie undPharmazie, Meteorologie,Weltraumforschung undAstronomie, aber auch in den Künsten, der Architekturund den Wirtschaftswissenschaften.

Ein aktuelles Beispiel, wie Informatik nachhaltig in eineandere Wissenschaft hineinwirkt, ist die Bioinformatik.Hier verändert sich durch Informatiktechniken die Aus-wahl und Konfiguration von Laborexperimenten, ein-

Informatik für die Wissenschaft

HIV-Protease, ein HIV Protein(weiß-braun), mit einem Inhi-bitor (AIDS Medikament, klei-nes farbiges Molekül). Das HI-Virus verändert sich schnell.Damit ändert sich auch dieForm der HIV-Protease. AlsFolge werden Medikamenteschnell unwirksam. Die Bioin-formatik hilft sowohl bei Aus-wahl des Zielmoleküls (hier dieHIV-Protease), wie bei der Ent-wicklung von neuen Medika-menten (grünes Molekül), undbei der Auswahl geeigneterMedikamente nach Verän-derung des HI-Virus.

16

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 16

17

schließlich solchen, die genomische oder proteomische Hochtechnologie einsetzen.Vor allem aber liefert die Informatik Methoden zur Analyse der Daten, die bei diesenExperimenten anfallen. Durch solche Analysen lassen sich die von der Natur evolutio-när entwickelten Strukturen wie Moleküle oder molekulare Netzwerke besser verste-hen. Zugleich können Informatiksysteme als ausgesprochen mächtiges Vorschlags-instrument für weitere Experimente eingesetzt werden. So werden heute zum Bei-spiel Kandidaten für neuartige Medikamente unter intensivem Rechnereinsatz ge-sucht und geformt. Auch die Erkennung geeigneter »Zielmoleküle« im Körper, an diedie Wirkstoffe binden sollen, erfolgt verstärkt mit Rechnerunterstützung. Langfristigwerden biologische Prozesse immer besser rechnergestützt simuliert werden können,indem die biologischen Zusammenhänge durch den Einsatz der Informatikmethodenimmer besser verstanden werden. Dadurch können etwa Krankheitsprozesse, aberauch Prozesse, die zur Heilung der Krankheit führen, mit steigender Genauigkeit nach-vollzogen werden.

In der Meteorologie ermöglicht die Informatikneue, umfassende Erkenntnisse über den gesam-ten Wetterverlauf und die Klimaentwicklung aufder Erde. Durch die enorme Rechenleistung undSpeicherkapazität heutiger Rechner und entspre-

Computergeneriertes Mosaik4

Das Globale Modell (GME)des DWD liefert dem eingebetteten

und genaueren Lokalen Modell (LM) wichtigeInformationen zur Berechnung derWettervorhersage in Deutschland.

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 17

chende Entwicklungen in der Softwaretechnologie lassen sich zunehmend komplexeModelle zur Vorhersage aufstellen und simulieren. Aus großen Mengen kontinuierlichaufgezeichneter Wetterdaten wie Luftdruck, Temperatur,Windstärke, Niederschlags-menge und Sonneneinstrahlung werden umfangreiche Statistiken für nahezu beliebi-ge Orte erstellt und deren klimatische Eigenschaften erfasst. Neben Bodenwetterbe-obachtungen und Ballonaufstiegen dienen inzwischen vor allem Radar- und Satelli-tenbilder, die durch Bildverarbeitungsalgorithmen nachbearbeitet werden, der Ablei-tung meteorologischer Daten. Mit Informatiksystemen lassen sich Vorhersagen undBeobachtungen kontinuierlich überwachen, so dass Unwetter frühzeitig und zuverläs-sig erkannt und Warnungen rechtzeitig herausgegeben geben werden können. In derKlimaforschung erlauben computergestützte Klimamodelle Umwelteinflüsse wie denCO2-Ausstoß zu simulieren und dessen Einfluss auf künftige Klimaentwicklungen vor-herzusagen.

Auch in der Weltraumforschung und Astronomie sindneue Erkenntnisse ohne den massiven Einsatz vonInformatiktechnologie und -systemen undenkbar. Hierermöglichen die Methoden der Künstlichen Intelli-genz nicht nur den kostengünstigen Betrieb, eine opti-male Auslastung und die bestmögliche Auswertungvon Beobachtungsergebnissen moderner Satelliten,sondern auch die vollständig autonome Steuerungvon Raumsonden, Landefähren und Erkundungsrobo-tern. Damit sind Forschungen möglich, die mit derherkömmlichen Technologie der Fernsteuerung niedurchführbar wären. Ein Beispiel hierfür ist die Erkun-dung des Jupitermondes Europa, bei der ein Roboterselbstständig die Eisoberfläche durchdringt und dortnach Wasser oder gar organischen Substanzen sucht.Derartige Missionen lassen sich nur deshalb realisie-

Informatik für die Wissenschaft18

Shuttle Radar TopographyMission (SRTM). Das Bild zeigt, wiewährend der Mission SRTM dieOberfläche der Erde gescanntwurde. Ziel war die Herstellungeiner dreidimensionalen Welt-karte.

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 18

19

ren und auch wirtschaftlich rechtfertigen, weil sie mit Hilfe moderner Informatiksys-teme in fast allen Eventualitäten vorgeplant und simuliert werden können und weildie Steuerungssoftware den autonomen Betrieb aller Bordsysteme einschließlich deradäquaten Behandlung möglicherweise auftretender Fehlfunktionen gewährleistet.

Wie in diesen vorgestellten Beispielen entstehen in nahezu allen Wissenschaftsge-bieten durch die Informatik neue Methoden zur Analyse und Modellierung von Phäno-menen und dadurch oft völlig neue Dimensionen von Erkenntnissen. Denn die Infor-matik ermöglicht eine neuartige Sicht auf die Dinge. Dies hat häufig zur Folge, dasssich ein Gebiet selbst verändert, sobald Methoden und Sichtweisen der InformatikEingang gefunden haben, und nach einiger Zeit geht die Informatik mit dem Gebieteine enge, fast unauflösliche Verbindung ein.

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 19

Die Wirtschaft zieht aus Verfahren und Hilfsmitteln derInformatik einen derart unmittelbaren Nutzen, dasssich schon früh die Disziplin der Wirtschaftsinformatikherausgebildet hat. Sie nimmt heute, gemessen an der Zahl der Lernendenund Lehrenden, den ersten Platz unter den Angewandten Informatiken ein. Sie befasstsich mit der Konzeption und Entwicklung von Informatiksystemen im Unternehmen.In der Praxis beschäftigt sie sich zudem nicht nur mit der Einführung und Einbettungder Systeme, sondern auch mit deren Betreuung,Wartung und Nutzung sowie mitden damit verbundenen organisatorischen Herausforderungen. Dabei stehen die sogenannten betrieblichen Anwendungssysteme im Vordergrund, die Anwender imUnternehmen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben unterstützen.

Aus volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Sicht besteht das Ziel der Wirt-schaftsinformatik darin, substanziell und nachhaltig zur Steigerung menschlicherArbeitsproduktivität beizutragen, und dies bei geringst möglichem Verbrauch vor al-lem nicht erneuerbarer Ressourcen – ein Ur-Anliegen der Ökonomie. Der Weg dorthinführt über zunehmende Automatisierung der betrieblichen Funktionen und Prozesse.So beschleunigt beispielsweise das kontaktlose Auslesen von Chips an der Kasse einesSupermarktes in Verbindung mit rechnergestützten Warenwirtschaftssystemen denBezahlvorgang. Die dabei registrierten Daten helfen so zu disponieren, dass die benö-tigten Artikel mit hoher Wahrscheinlichkeit im Ladenlokal vorrätig sind, andererseitsaber möglichst wenig Ware verdirbt. Informatiksysteme in Lieferketten und -netzen(»Supply Chain Management«) und in der Logistik tragen dazu bei, dass die weltwei-ten Standorte der Produktionsstätten und Warenverteilzentren günstig gewählt, ihreKapazitäten richtig dimensioniert, Engpässe und Überbestände flexibel ausgeregeltsowie der Transportaufwand und die damit verbundene Umweltbelastung minimiertwerden. Elektronische Marktplätze ermöglichen Kunden herauszufinden, wie sie ihrenBedarf am besten decken können und fördern den effizienten Ausgleich von Angebotund Nachfrage.

Informatik für die Wirtschaft

20

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 20

21

Ursprünglich hatte die Informatik im Unternehmen vor allem die Aufgabe, bestehen-de betriebliche Funktionen und Prozesse teilweise oder ganz zu automatisieren. Heutespielt sie zunehmend die Rolle des »Enablers« und »Treibers«: Erst durch sie werdenmanche Entwicklungen möglich. Sie unterstützt nicht nur die Unternehmensfüh-rung, sondern treibt sie an, Informatikentwicklungen frühzeitig und nutzbringendaufzugreifen und umzusetzen. Dies gilt insbesondere für das so genannte »DigitalBusiness«.

Eine Zukunftsvision der Wirtschaftsinformatik ist die weitgehende Automation desUnternehmens. Auf dem Weg dorthin sind Etappen abzustecken, die jeweils sowohlgesellschaftliche Auswirkungen als auch darauf abgestimmte neue humane Arbeits-und Lebensformen berücksichtigen. Ein Aspekt ist die »menschenähnliche Informa-tionsverarbeitung«. Sie fußt auf der Überlegung, dass der Mensch seine exzellentenInformationsverarbeitungsfähigkeiten erworben hat. Wenn wir in Zukunft beispiels-weise Kleidungsstücke von einem »Automaten« kaufen, muss sich dieser wie ein»Verkäufer aus Fleisch und Blut« auf unsere Persönlichkeit, Stimmungslage undKaufbereitschaft einstellen können.

Dies führt zur »menschenzugänglichen Informationsverarbeitung«: Informatiksys-teme sollen sich auf den Menschen einstellen und nicht umgekehrt. Wege hierzu sinddie Personalisierung und Individualisierung der Informationsverarbeitung, die Ab-stimmung von Informationen und Methoden auf die Situation des Individuums unddes Betriebs, auf die objektive Rolle der Mitarbeitenden im Unternehmen und auf per-sönliche Präferenzen und Aversionen.

Solche langfristigen Entwicklungen müssen kurz- und mittelfristige Hindernisse über-winden. Dazu zählen unzureichend qualitätsgesicherte Systeme, unzureichendePlanung, mangelnde Benutzungsfreundlichkeit und Missbrauch.

Industrie- und außendiensttaugliches RFID-Handheld 4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 21

Die Informatik wirkt nachhaltig sowohl in die Entwick-lungs- und Herstellungsprozesse als auch in die Funk-tionalität und Qualität technischer Produkte hinein. Vieleinnovative Geräte und Verfahren der letzten Jahrzehnte hätten ohne die Rechnerun-terstützung des Entwurfsvorgangs nicht entwickelt werden können. Mit Informatik-methoden lassen sich die Eigenschaften eines künftigen Produkts frühzeitig untersu-chen, indem die Bestandteile in formale Modelle abgebildet und die zu untersuchen-den Vorgänge simuliert werden. Diese Technik lässt sich vielfältig einsetzen, etwa beiStatikberechnungen für Bauwerke, Berechnungen der Ergebnisse chemischer Reak-tionen, Simulationen elektronischer Schaltungen, Untersuchungen von Gehirnfunk-tionen, Analysen des Crashverhalten eines Autos oder des Brechungsverhaltens kom-plexer Optiken.

Inzwischen ist es möglich, eine vollständig virtuelle Entwicklung durchzuführen, beider das Produkt am Rechner entworfen und in einer Simulation der umgebendenUmwelt getestet wird. Hierfür sind keine Versuchsaufbauten oder Prototypen not-wendig, was die Entwurfszeit und die Kosten verringert. Dadurch, dass die Ergebnisseder Simulationen visualisiert werden, kann der Entwickler oft Probleme besser erfas-sen als bei einem realen Versuchsaufbau. Durch eine Finite-Elemente-Simulation kön-nen beispielsweise die Beanspruchung von Material optisch dargestellt und kritischeBereiche leichter erkannt werden.

Die Bedeutung von Informatiksystemen beschränkt sich nicht auf die Produktent-wicklung, sondern erstreckt sich über die eigentliche Produktion bis in die Qualitäts-sicherung. In der Produktion werden komplexe Steuerungsaufgaben übernommen,wie sie etwa in der chemischen Industrie anfallen. Dabei geht es sowohl um sicher-heitskritische Anwendungen, als auch um logistische Probleme wie die Optimierungdes Materialflusses und eine effiziente Maschinensteuerung. Ein Beispiel sind die vie-len hundert Bearbeitungsschritte bei der Fertigung von Mikrochips: Nicht nur ist der

Informatik für die Technik

22

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 22

23

Weg der Silizium-Wafer durch die Fabrik zu steuern, auf dem viele Bearbeitungsschrit-te mehrfach anfallen, auch die Qualität muss durch häufiges Testen sichergestelltwerden. Eine entscheidende Rolle in der Qualitätssicherung spielt die rechnergestütz-te Bildverarbeitung. Sie ermöglicht die automatische Inspektion von Objekten aller Artund erkennt zum Beispiel fehlerhaft gefertigte Bauteile oder Fehler in Schweißnähten.Solche Prozesse sind erst durch Bild- und Videoverarbeitungsalgorithmen möglich ge-worden, die unter Echtzeit-Bedingungen ablaufen.

In der Mikroelektronik wäre die rasante Entwicklung der letzten Jahre ohne die Infor-matik nicht möglich gewesen. Heutige Mikrochips bestehen aus mehr als 200 Milli-onen einzelner Transistoren und bald werden integrierte Schaltungen mit mehr als einer Milliarde Transistoren erwartet. Eine solche Komplexität kann nur noch mit ei-nem rechnergestützten Schaltungsentwurf beherrscht werden. Seit dem Beginn derSchaltungsintegration mussten immer neue Informatikwerkzeuge entwickelt wer-den, damit der Entwurfsprozess mit den Möglichkeiten der HalbleitertechnologieSchritt halten konnte. Mit den heutigen Werkzeugen kann die Funktion einer Schal-tung in einer Hardwarebeschreibungssprache angegeben werden, woraus dann auto-matisch eine Schaltung erzeugt wird.

Die Informatik erlaubt eine dramatische Erweiterung der Funktionalität aller techni-schen Produkte. So ermöglichen beispielsweise eingebettete Prozessoren, so genannteMikrocontroller, Sicherheits- und Komfortfunktionen im Auto wie die Antischlupf-regelung, die Airbag-Steuerung oder das Navigationssystem; der Einsatz von Prozes-soren in der Motorsteuerung senkt den Verbrauch bei gesteigerter Leistung und Navi-gationssysteme helfen Fahrzeiten zu minimieren. Durch die Programmierbarkeit der

Simulation von Reflektoren mit Ray-Tracing4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 23

Geräte wird eine bisher einzigartige Flexibilität erreicht. So kann ein PDA, der zumVerwalten von Adressen, Terminen und Telefonnummern dient, zum Navigationssys-tem oder zur elektronischen Zeitung erweitert werden.

Mittlerweile beträgt der Informatikanteil an den Produkten oft über 50 Prozent.Flugzeuge werden bereits als hochkomplex vernetzte Computersysteme mit Flügelnund angeschlossenem Frachtraum bezeichnet. Ähnliches gilt für manche medizini-sche Abteilung, für die meisten Verkehrsmittel und Haushaltsgeräte und für alleKommunikationsgeräte.

Der Durchbruch in der Mobilkommunikation beruht auf der steigenden Integrations-dichte und Rechenleistung in mobilen Geräten. Während die ersten Mobiltelefonenoch die Größe eines Aktenkoffers besaßen, finden moderne Geräte bequem in derHosentasche Platz. Mit Hilfe der drahtlosen Vernetzung wird man in den nächstenJahren an jedem Ort Zugang zu allen wichtigen Informationen haben (»UbiquitousComputing«) und jede Rechnerinfrastruktur wird sich an die Bedürfnisse der Nutzen-den »intelligent« anpassen können. Ein Beispiel dafür ist das intelligente Haus, in demetwa die Lautstärke des Radios reduziert wird, sobald das Telefon klingelt, oder dieBeleuchtung sich den jeweiligen Aktivitäten der Bewohner anpasst.

Dienstleistungen durch Informatiksysteme können prinzipiell allgegenwärtig sein(»Pervasive Computing«): Computer werden so gut in den Alltag der Nutzer integriert,dass sie nicht mehr wahrgenommen werden, aber viele Anwenderwünsche erfüllen.Dies erfordert Weiterentwicklungen bei den Mensch-Maschine-Schnittstellen, derUmweltmodellierung, der drahtlosen Kommunikation und der Fehlertoleranz. Neuar-tige Schnittstellen werden erlauben, auf natürliche Weise mit dem Computer oder be-liebigen anderen technischen Geräten zu kommunizieren, etwa über gesprochenesWort oder Gesten. Vielerlei Dienste werden von spezifischen Modulen bereitgestellt

Informatik für die Technik24

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 24

25

werden, die ihrerseits über verschiedene Verbindungen kombiniert werden können:entweder drahtgebunden oder drahtlos, exklusiv oder unter Benutzung vorhandenerInfrastrukturen wie Stromleitungen oder Mobilfunknetze. Für die einzelnen Modulesind Fehlertoleranz und Adaptivität sehr wichtig, damit sich die Geräte tatsächlich un-auffällig in den Alltag integrieren und nicht nach jedem Fehler ein Neustart erforder-lich wird. Weiterhin müssen solche Systeme die oftmals mobilen Benutzer lokalisierenkönnen und über die Möglichkeit von Updates verfügen. Manche Realisierungen wieder auf seinen Inhalt reagierende Kühlschrank, die Orientierung in fremden Städten,die sich bei Verschmutzung meldende Bluse, der individuell an Kaffeetasse undKunden orientierte Brühvorgang oder der Eindringlinge abweisende Teppichbodenwerden bereits erprobt. Die Markteinführung der hierunter als sinnvoll einzustufen-den Neuerungen könnte das gesamte menschliche Handeln revolutionieren.

Die Informatik beschleunigt die Entwicklung von neuen Produkten und neuen Pro-duktionsverfahren und zeigt oft überraschende Innovationen auf. Zugleich vereinfachtsie die Schnittstellen zwischen Nutzern und der Technik und bringt auf diese Weisemoderne Produkte dem Verbraucher näher.

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 25

Die Informatik erschließt mit ihren Modellen, Sichtenund Werkzeugen Problemfelder in neuartiger Weise. Diesgilt bereits für so einfache Aufgaben wie Textbearbeitung oder die Gestaltung vonPräsentationen. Lernende müssen dabei neben der Bedienung entsprechender Syste-me vor allem die darauf ausgerichteten Arbeitsmethoden erkennen und beherrschen.Wichtiger sind aber die grundsätzlichen Beiträge und Inhalte der Informatik für unserBildungssystem wie etwa die mit der Strukturierung von Information verbundenenAbstraktionsmethoden oder die Verfahren zur systematischen Verarbeitung von Infor-mation. Diese sind unabdingbar für unsere Schulen, da sich die nachwachsendenGenerationen in einer zunehmend von Informatik geprägten Umwelt zurechtfindenmüssen: Neben Schreiben, Lesen und Rechnen wird die Beherrschung grundlegenderMethoden und Werkzeuge der Informatik zur vierten Kulturtechnik.

Der Wunsch, Informatiksysteme auch zur Unterstütz-ung des Lernens und Lehrens zu nutzen, begleitet dieInformatik von Anfang an. Beginnend mit spezifischenTrainingsprogrammen in den sechziger Jahren überdie Anfänge des »Computer- bzw. RechnergestütztenUnterrichts« in den Siebzigern kam der Durchbruchzum heutigen vernetzten multimedialen »E-Lear-ning«, das über erschwingliche und doch leistungs-starke Netze und Geräte einen nahezu ubiquitären

Zugang zu hochwertigen Angeboten ermöglicht. Die multimediale Präsentation vonBildungsgegenständen gilt dabei als attraktiver Mehrwert. Die Didaktik der Informatikerforscht die Nutzung dieser neuen Möglichkeiten und erarbeitet Konzepte zur Ge-staltung und Entwicklung von Lehrinhalten, Lernplattformen und Entwicklungsum-gebungen. Informatikerinnen und Informatiker, die hier mitwirken, müssen dabei weitüber ihr eigenes Fach hinaus denken; denn es kommt auf die richtige Einbettung vonSystemen in den Lernprozess an, um diesen etwa durch Lernerzentrierung, authenti-sche und komplexe Anwendungssituationen, Perspektiven- und Rollenwechsel zu

Informatik auf dem Bildungssektor

26

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 26

27

fördern. Als besonders Erfolg versprechend erweisen sich hierfür hybride Lernarrange-ments, die unter dem Schlagwort »Blended Learning« traditionelle Lehr-Lern-Szena-rien mit Elementen des E-Learning kombinieren und mit geeigneten Sozialformenoder Handlungsmustern verknüpfen.

Der Aufwand für die Entwicklung multimedialer Lernmaterialien liegt deutlich überdem Aufwand, der für die Vorbereitung traditioneller Lehre erforderlich ist und ersetztdiese auch nicht. Optimierungspotenziale liegen in der Mehrfachnutzung derartigerMaterialien und einer Unterstützung durch »Customizing«- und Konfigurationswerk-zeuge, die die Anpassung der modularen Lernobjektbestände an das jeweilige Ein-satzfeld erleichtern. Mit steigender Aktivität der Lernenden steigt aber in jedem Fallauch der Betreuungsaufwand.

Die Entwicklung guter Bildungssoftware stellt eine Herausforderung für die Infor-matik dar, die nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu meistern ist. Die sehr auf-wändigen Informatiksysteme unterstützen die Lernprozesse. Die Informatik entwik-kelt »Intelligente Lernsysteme«, die sich den Lernenden in Bezug auf ihre Handlungs-weisen und ihren Lernfortschritt einzeln anpassen. Die Herausforderung liegt in denindividuellen und vielschichtigen Lehr- und Lernprozessen, in denen es auf die eigeneAnstrengung des Lernenden, aber auch auf exzellente Lehrpersonen sowie die Kom-munikation und die Kooperation mit anderen Menschen ankommt.

Die von der Informatik zu erstellenden E-Learning-Systeme entlasten Lehrpersonenvon immer wiederkehrenden Präsentationsaufgaben, fordern aber erhöhten Einsatzhinsichtlich der Transparenz des Lernprozesses: von der Darlegung und Begründung

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 27

der Lehrziele, über die Vermittlung der erforderlichen Fundamente und Wahlmöglich-keiten bis zur Vorbereitung auf künftige Anforderungen und lebensbegleitendesLernen. Den Lernenden sind Alternativen aufzuzeigen, die sie zumindest teilweiseselbst organisieren müssen, wie etwa die Auswahl der geeigneten Lernorte undMedien, das Setzen von Schwerpunkten oder die Reflexion eigener Lösungen. Ein

Informatiksystem muss die Lehrenden bei all diesenFragen – auch den verwaltungstechnischen – unter-stützen. Es muss ihnen die notwendigen Spielräumefür die Gestaltung und Konfiguration des Lehrmateri-als geben, und Lehrende müssen auf eine mangelndeVorbereitung und typische Schwierigkeiten derLernenden reagieren können. Darüber hinaus musssich ein Informatiksystem an jahrgangsstufen- undkursübergreifendes Lernen anpassen können.

Jeder Bildungsprozess weist die von den Lernenden erwarteten Aktivitäten aus, nichtalle sind jedoch überprüfbar. Aus E-Learning-Projekten ist bekannt, dass aktiveLernende noch aktiver werden, passive dagegen noch weniger auffallen, wenn ihreAktionen nicht tatsächlich gemessen und analysiert werden. Bei »Blended Learning«findet nicht jede Aktivität unbedingt in der E-Learning-Phase statt; schwerpunkt-mäßig empfehlen sich dafür aber die Bereiche Übung, Test und Projektarbeit.

Dies alles gilt gleichermaßen für die zunehmend überlebenswichtige kontinuierlicheWeiterbildung, ohne die die individuelle Arbeitsfähigkeit im globalen Wettbewerbnicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Besondere Bedeutung kommt dabei dem»Learning on Demand«, also dem Wissenserwerb in konkreten, arbeitsbedingtenBedarfssituationen zu. Dies stellt nicht nur spezifische Anforderungen an die jeweili-gen Informatiksysteme, sondern erfordert auch eine wesentlich engere Kooperationvon Bildungsinstitutionen und Arbeitgebern.

Informatik auf dem Bildungssektor28

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 28

29

»Lernende Organisationen« und sogar »lernende Regionen« werden die gesellschaft-liche Landschaft der Zukunft prägen, in der sich private und öffentliche Bildungsanbie-ter in einem globalen freien Bildungsmarkt zunehmend profilieren und spezifischeKompetenzen entwickeln müssen. Hier bietet sich der Informatik ein großes und sehranspruchsvolles Anwendungsfeld, in welchem die klassischen Rollenverteilungennachhaltig verändert werden und die Lernerfolge der ständigen Wissenszunahmenachzuführen sind.

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 29

»Wir amüsieren uns zu Tode« schrieb Neil Postman vorbeinahe 20 Jahren und diagnostizierte damit einen tiefgreifenden Wandel in der US-amerikanischen Kulturvon einer inhalts- zu einer unterhaltungsorientiertenGesellschaft. Das Medium Buch, mithin die Schriftkultur, werde ersetzt durchdas Medium Fernsehen, also die Bildkultur. Showbusiness trete an die Stelle desDiskurses, Emotionen lösten die Ratio ab.

Diese Art der Kulturkritik findet ihre Fortsetzung in der Auseinandersetzung mit demneueren Medium, dem Computer. Die Erlebnisgesellschaft droht zur Spielgesellschaftzu werden, die ihre Zeit nicht mehr mit Zappen über Fernsehprogramme, sondern mitendlosen Computerspielen zubringt:Wir spielen uns zu Tode. Die Diskussion um dieFrage, ob Fernsehen brutalisierend und kriminalisierend wirkt, hat sich auf die Fragenach den Wirkungen von Computerspielen verlagert.

Die Möglichkeiten der Informatik, die Menschen mitComputerprogrammen zu beschäftigen, sind uner-schöpflich – unabhängig von Sinn und Nutzen. Infor-matik und Kultur scheinen in einer ebenso schwieri-gen Beziehung zueinander zu stehen wie Fernsehenund Kultur. Offensichtlich rufen mediale Umbrücheimmer auch Befürchtungen um den Fortbestand der»alten« Kultur hervor, bevor sie sich im neuen Ge-wand etablieren kann. Nur langsam setzt sich auf die-

ser Ebene der Kulturkritik die Vermutung durch, dass mit dem neuen Medium auch eine neue Kultur zu entstehen vermag, eine Spielkultur, deren Spieler das Genre Enter-tainment zu neuen Formen sozialer Interaktion in physikalischen und virtuellenWelten nutzen. Jenseits der so genannten Ballerspiele entstehen neue rhetorischeund ästhetische Ausdrucksformen. Kollektive Spieltechniken können soziales Handelnbefördern und zur Lösung von Problemen der realen Welt anleiten. Hier liegt eine

Informatik für die Kultur

30

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 30

31

Herausforderung an die Informatik, sich nicht auf die rein technischen Realisierungenzu beschränken, sondern sich in Kooperation mit den Geisteswissenschaften mit denWirkungen und dem Aufbruch zu neuen Zielsetzungen intensiv zu befassen.

Auf einer anderen Ebene findet die Diskussion um den interkulturellen Austauschstatt: Das Internet als Plattform zur Annäherung an fremde Kulturen oder zumKennen lernen kultureller Ausdrucksformen im eigenen Land, denen man bislangnicht begegnet ist. Auch in der aktuellen Diskussion um Zuwanderung wird dasInternet als Informationsbörse über die Kultur des Gastlandes eine wichtige Rolle spie-len. Nicht zuletzt bietet das Netz auch im nationalen Rahmen Möglichkeiten, sich mitkulturellen Ausdrucksformen auseinanderzusetzen, die bislang fremd oder finanziellunerreichbar sind; MP3-Spieler, Musikdateien und die Diskussion um Tauschbörsenmögen hierfür ein Beispiel sein.

Auch Künstler haben die Möglichkeiten des Internet längst als mögliche Befreiung ausden Zwängen eines Agenten, einer Plattenfirma, einer Galerie entdeckt und nutzen dieinformatischen Möglichkeiten zur Präsentation und Vermarktung ihrer Kunstformen.Als Vermittlerin kultureller Inhalte und Ausdrucksformen hat sich die Informatik in-zwischen ihre Daseinsberechtigung erworben. Als kulturelle (Mit-)Gestalterin ist sieaber derzeit noch zu wenig aktiv. Das mag an ihrer relativen Jugend und an der Skepsisetablierter Kulturschaffender gegenüber diesem neuen Medium liegen. Aber auch ih-re rasanten technologischen Sprünge mögen dazu beitragen:Während Bücher oftnoch nach Jahrhunderten lesbar sind, verblassen Videos und Magnetbänder deutlichschneller. So finden sich heute für digitale Produktionen der sechziger und siebziger

4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 31

Jahre gleich welchen Genres keine Lesegeräte mehr. Einige frühe Medien-Installa-tionen, musikalische Schöpfungen oder Grafiken gingen auf diese Weise bereits fürimmer verloren.

Der kurzen Halbwertszeit von Formaten, Speichermedien undLesegeräten wegen hat die UNESCO eine »Charter on thePreservation of Digital Heritage« verabschiedet. Zu den Aufga-ben gehört nicht nur die dauerhafte Konservierung der Werkenamhafter Kulturschaffender; auch die namenlosen, oft nichtweniger wichtigen Beiträge aus den Frühzeiten des Internetgehören zu diesem Erbe. Andererseits werden Computer schonseit längerem zur (Re-) Konstruktion von Bauwerken eingesetzt,die zum kulturellen Erbe gehören. Der Borobodur auf Java,

Angkor Wat in Kambodscha oder die Frauenkirche in Dresden sind nur einige Beispiele.In der virtuellen Welt des Mediums Computer entstehen verschollene Kunstwerke, jaganze Museen neu, die nie vollendet oder die zerstört wurden, wie etwa die Kunst-halle Oldenburg 1905 von Peter Behrens oder der Merzbau in Hannover von KurtSchwitters.

Inzwischen vereinigen sich im digitalen Medium alle künstlerischen Ausdrucksfor-men, die die Menschheit bislang hervorgebracht hat. Vieles ist heute in die digitaleForm übersetzt: die steinzeitlichen Höhlenbilder von Lascaux, Shakespeares Dramen,Enzyklopädien, klassische Musik, Videoclips oder ganze Filme. Doch auch neue Formenentstehen: In der eingangs erwähnten Spielewelt sind es die so genannten »MassiveMultiplayer Online Role-Playing Games«, Rollenspiele im virtuellen Raum.

Seit den späten sechziger Jahren gibt es eine Tradition in der bildenden Kunst, die sichauf ästhetische Weise algorithmischer Ausdrucksmöglichkeiten bedient. Deren Ver-treter malen, zeichnen, programmieren, produzieren Grafiken bzw. Bilder mittelsComputern, Programmen und Plottern. In der bildenden Kunst gestaltet man heute

Informatik für die Kultur32

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 32

33

mit Rechnern ganze Kunstinstallationen, in der Musik virtuelle Orchester und Klang-räume. Der virtuelle Raum des Internet, der Bildschirm als Bühne sowie Hypertexterlauben neue Formen des Erzählens. Im Cyberspace lassen sich beliebig viele Aus-drucksformen in einem einzigen Medium vereinen. Mit dem »Theater der Maschi-nen« wurden erste Versuche unternommen, mit Computern neue Formen auch in derdarstellenden Kunst zu finden. Gerade hier bietet die schöpferische Fantasie immerneue Herausforderungen für die Informatik.

Mumie trifft PC 4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 33

Wie in jeder innovativen Disziplin lassen sich auch inder Informatik die Folgen neuer Konzepte und Systemeselten vollständig abschätzen. Die Informations- und Wissensgesell-schaft wirkt heute noch wie hastig in Besitz genommenes riesiges Neuland, das es zukultivieren gilt. Anfänglicher Euphorie folgt die Ernüchterung, dass die Welt hart an einer neuen Ordnung zu arbeiten hat. Einerseits freuen sich Menschen über schier unbegrenzt erscheinende Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten, anderebeunruhigt, dass Daten zur unangemessenen Kontrolle oder zum Ausspionieren derPrivatsphäre genutzt werden bzw. genutzt werden können oder dass Teile der Mensch-heit ihre wertvolle Zeit an geistlose Computerspiele verschenken. Elektronischer Infor-mations-Müll ergießt sich in elektronische Postkörbe, wir werden zu Zielscheiben vonmehr oder weniger seriösen Angeboten aus aller Welt. Alles wird verfügbar und trans-parent – auch wir selbst? Im Einzelnen zeichnen sich große Veränderungen unseresLebens ab. Sie vollziehen sich meist nicht rasend schnell, sind aber veritable Revolu-tionen.

Arbeiten, Einkäufe, Behördengänge können mit Hilfe von Informatiksystemen zuneh-mend zeit- und ortsunabhängig über Fest- und Funknetze abgewickelt werden,»E-Anything« ist die Devise. Die Zahl klassischer ortsgebundener Arbeitsplätze nimmtbeständig ab, Arbeitsleistung kann global angeboten und angenommen werden,Löhne und Honorare werden weltweit vergleichbar. Was wie eine Bedrohung lokalerIdylle klingt, ist gleichzeitig aber auch Herausforderung und Chance: EuropäischeIngenieurskunst, die Fähigkeit zum Entwurf, zur Entwicklung und Beherrschung kom-plexer Systeme ist ein Wettbewerbsvorteil, den es nicht nur zu halten, sondern aus-zubauen gilt. Für Unternehmen bedeutet dies ein kontinuierlich beschleunigtes Inno-vationsstreben, für das Individuum die Notwendigkeit zu ständiger Weiterbildung.

Im Privaten genießen viele die Unterhaltungs- und Kommunikationsmöglichkeitenwie Film, Musik und E-Mail. Die Ansprüche an Qualität und Vielfältigkeit wachsen. Mitder überall verfügbaren Kommunikation und Information verschwinden räumliche

Informatik für Individuum undGesellschaft

34

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 34

35

und zeitliche Grenzen. Der Mensch ist also virtuell überall, physisch aber möglicher-weise öfter allein. Dem gilt es durch die Etablierung neuer und alter lokaler Bindungenund sozialer Netzwerke entgegenzuwirken.

Unser Verhältnis zum Wissen verändert sich. Wenn alles Wissen überall zugänglich ist,muss es nicht mehr unbedingt in der Schule erworben und in unseren Köpfen gespei-chert werden. Wir müssen lernen, mit der Informationsflut umzugehen und das Wert-volle in Wissen umzusetzen und aufzubereiten – und gleichzeitig ein ständig wach-sendes Basiswissen erwerben. Das gesamte Bildungswesen wird sich hierauf ausrich-ten, wobei erneut die Informatik eine zentrale Rolle spielt.

Die vollständige Vernetzung ermöglicht neue Formen der Mitwirkung in gesellschaft-lichen Entscheidungsprozessen. E-Voting, d.h. Wahlen oder andere Bürgerentschei-dungen über das Internet, sind nur die Spitze des Eisberges. Wie diese Möglichkeitenzum Nutzen der Menschen eingesetzt werden können und sollen, muss Gegenstandbeständiger diskursiver Erörterung sein.

Bildung, Arbeit und Kultur werden sich wie auch die Gesellschaftssysteme und dieStellung des Individuums neu formieren. Wir genießen einerseits die Segnungen derInformatik als verbessernde Technologie in Medizin, Technik und Kommunikation, wirerleben andererseits eine Phase der inneren Unsicherheit. Wir sehen neue Möglich-keiten der Komplexitätsausweitung und -beherrschung und erleben zugleich tief greifende Umstrukturierungen in der Arbeitswelt und ihren Unternehmen. Uneinge-schränkte Euphorie ist mit Sicherheit nicht angebracht, genauso wenig aber Kultur-und Zukunftspessimismus. Ob und welche Balancen gefunden und erreicht werdenmüssen, ist noch ungewiss. Sicher ist dagegen, dass die Informatik dabei wieder eineder Hauptrollen übernehmen wird.

Kaustikberechnung in Echtzeit4

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 35

Die Informatik – Grundlagenwissenschaft der Informa-tionsverarbeitung, Ingenieurdisziplin und virtuelleExperimentalwissenschaft – wird auch in diesemJahrhundert die Dynamik der Innovation weitgehendbestimmen. Ihre Interdisziplinarität, ihre wachsende Durchdringung andererWissenschaftsfelder, vor allem aber die allgegenwärtigen Informatiksysteme, die un-ser gesamtes Leben zunehmend prägen, stellen sie vor neue Herausforderungen undverlangen ihr Verantwortung ab.

Dazu gehört in erster Linie Vertrauenswürdigkeit. Informatiksysteme müssen nichtnur absolut zuverlässig funktionieren und so konzipiert und konstruiert sein, dass derSchutz von Persönlichkeit und Privatsphäre garantiert und Missbrauch verhindertwird. Sie müssen trotz ihrer oft enormen Komplexität stets beherrschbar bleiben –und benutzbar. Methoden und Verfahren, die das ermöglichen, gilt es daher in näch-ster Zukunft verstärkt zu erforschen, weiterzuentwickeln sowie technisch anspruchs-voll und mit Verantwortung umzusetzen – und damit die Entwicklung innovativer undqualitativ hochwertiger Informatiksysteme zu beschleunigen. Hierzu ist ein engerSchulterschluss von Forschung, Lehre, Ausbildung, Politik und Wirtschaft erforderlich.Nur über gut ausgebildete Informatikerinnen und Informatiker kann technologischesWissen neuesten Standes unmittelbar in die Entwicklung innovativer Informatikpro-dukte einfließen und damit entscheidend zur Zukunftsfähigkeit im internationalenWettbewerb beitragen. Im Sinne der Zukunftssicherung sind daher besondere Anreizezu schaffen, damit mehr junge Menschen für die Informatik und die von ihr eröffnetenattraktiven Berufsperspektiven gewonnen werden können.

Herausforderung Zukunft

36

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 36

37

Nach Methoden zur Beherrschung von Materie und Energie hat der Mensch Metho-den entwickelt, um auch die Information maschinell und mit Werkzeugen bearbeitenzu können. Dies greift tief in alle Bereiche menschlichen Daseins ein. Ein Leben ohneInformatik und Informatikkenntnisse ist nicht mehr vorstellbar. Informatik findet da-her schon seit einiger Zeit systematisch Eingang in die allgemeine Schul-, Berufs- undHochschulausbildung sowie in die lebenslange Weiterbildung.

Darüber hinaus ist es jedoch entscheidend, dass sich ein kollektives Bewusstsein dafürentwickelt, dass neben humanistischer und naturwissenschaftlicher Bildung die tech-nische Bildung – und hier vor allem die der Informationsverarbeitung – eine dritteSäule für die Entwicklung unserer Zukunft darstellt. Alle gesellschaftlichen Kräfte sinddaher aufgerufen, ihren Teil dazu beizutragen, dass dieses Bewusstsein tatsächlichentsteht.

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 37

bücherDuden Informatik.Volker Claus und Andreas Schwill, Dudenverlag Mannheim, 2001.

Informatik HandbuchPeter Rechenberger und Gustav Pomberger, Carl Hanser Verlag München, 2002.

Informatik – Grundlagen, Anwendungen, PerspektivenReinhard Wilhelm (Hrsg.), Verlag C.H. Beck München, 1996.

buchreihenLecture Notes in Informatics (LNI)Gesellschaft für Informatik Bonn

Lecture Notes in Computer Science (LNCS)Springer Verlag Heidelberg

zeitschriftenInformatik SpektrumSpringer Verlag Heidelberg

LOGINLOGIN-Verlag Berlin

Literatur zum Nachschlagen

38

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 38

39

RedaktionSusanne Biundo (federführend), Volker Claus, Heinrich C. Mayr

MitwirkendeSusanne Biundo, Universität UlmManfred Broy, TU MünchenVolker Claus, Universität StuttgartWolfgang Coy, Humboldt-Universität BerlinJörg Desel, Kath. Universität EichstättGunter Dueck, IBM DeutschlandManfred Glesner, TU DarmstadtLeandro Soares Indrusiak, TU DarmstadtThomas Lengauer, MPI SaarbrückenRalf Ludewig, TU DarmstadtJörg Maas, DVT BerlinHeinrich C. Mayr, Universität KlagenfurtPeter Mertens, Universität Erlangen-NürnbergKarl-Heinz Rödiger, Universität BremenSigrid Schubert, Universität SiegenTim vor der Brück, DWD OffenbachHeiko Zimmer, TU Darmstadt

KontaktProf. Dr. Susanne BiundoFakultät für Informatik · Universität Ulm · 89069 [email protected]

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 39

003336 WII DIN A5_RZ 14.07.2006 12:26 Uhr Seite 40