Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als...

30
Verlag Traugott Bautz Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Regine Kather/ Peter Gerdsen (Hrsg.) Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten — Differenzen Interdisziplinäre Dimensionen

Transcript of Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als...

Page 1: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege z

ur

Kultur

Verlag Traugott Bautz

Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Regine Kather/ Peter Gerdsen (Hrsg.)

WWeeggee zzuurr KKuullttuurr

Gemeinsamkeiten — Differenzen Interdisziplinäre Dimensionen

ISBN 978-3-88309-436-6Verlag Traugott Bautz

Was heißt Kultur und wem gehört sie? Darüber besteht im Kon-text der Geschichte und Gegenwart alles andere als Einigkeit. Dervorliegende Band dokumentiert nicht nur die Pluralität des Phä-nomen- und Themenbereichs des Kulturbegriffs, sondern auchdie Pluralität möglicher analytischer und hermeneutischer sowienormativer Zugangsweisen zu diesem Bereich. In diesem Rahmengeht es um eine kritische Auseinandersetzung mit unterschied-lichen Dimensionen dieses Begriffs. Jede dieser Zugangsweisenhat Vor- und Nachteile, manche erscheinen besser begründet alsandere, aber keine von ihnen kann als Königsweg gelten. DieseVielfalt ist nicht nur unter dem Blickwinkel zu begrüßen, daß siedie Zahl der verfügbaren Optionen vergrößert, sie hat auch einewichtige heuristische Funktion. Auf der Ebene des Gegenstands-bereichs führt sie zu einer Erleichterung des kulturellen Aus-tauschs und der Diffusion kultureller Praktiken und Deutungenüber Grenzen hinweg. Auf der Ebene des analytisch-hermeneuti-schen Zugangs öffnet sie den Blick für alternative Interpretationenund wirkt somit theoretisch befruchtend. In evolutionärer Sichtsorgt sie für eine Erweiterung des kognitiven ›Genpools‹, der fürkreative Neukombinationen zur Verfügung steht. Die Offenheit füralternative Deutungen bildet die Grundlage sowohl von Kultur alsPraxis als auch von Kulturanalyse als Theorie dieser Praxis.

Page 2: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Regine Kather/Peter Gerdsen (Hrsg.)

— Wege zur Kultur

Page 3: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser
Page 4: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur

Gemeinsamkeiten – Differenzen – Interdisziplinäre Dimensionen

herausgegeben und eingeleitet von

Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer, Regine Kather und Peter Gerdsen

unter Mitwirkung von Anne Marie Plaisant, René Jaquett, Aisha Eickelbeck

Josiane Römer und André Biermann

Traugott Bautz Nordhausen 2008

Page 5: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH

99734 Nordhausen 2008 Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 978-388-309-436-6

www.bautz.de

Page 6: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Inhaltsübersicht 

Einleitung der Herausgeber .................................................................................9

Hamid Reza Yousefi Phänomenologie des Eigenen und des Fremden ............................................25

Klaus Fischer Interpretative Offenheit als Grundlage des Kulturbegriffs ...........................53

Raúl Fornet-Betancourt Die Debatte um den Kulturbegriff ....................................................................67

Hans Waldenfels Kultur als Grundbegriff ......................................................................................77

Joachim Renn Performative Kultur. ...........................................................................................97

Michael Klemm Medienkulturen .................................................................................................127

Alexander Thomas Wege zur Kultur aus Sicht der Psychologie...................................................151

Georg Auernheimer Kommt die Interkulturelle Pädagogik ohne den Kulturbegriff aus? .........171

Peter Gerdsen Dimensionen der kulturellen Struktur ...........................................................195

Heinz Kimmerle Appiahs Weg zum Kosmopolitismus und die ›neue Internationale‹ der Kosmopoliten ..........................................213

Page 7: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Inhaltsübersicht 6 

Franz Gmainer-Pranzl ›Rationale Kulturreform‹ ..................................................................................233

Hubert Knoblauch Kommunikationskultur, Kulturalismus und die Diskursivierung der Kultur ...............................................................261

Regine Kather Der Mensch – ein ›animal symbolicum‹ .........................................................285

Klaus Wiegerling Widerständigkeit und Fremdheit ....................................................................303

Norbert Meuter Ist Kultur mehr als Kartoffelwaschen und Nüsseknacken?.........................325

Elmar Holenstein Zur Relativität des sprachlichen Relativismus ..............................................343

Herausgeber, Autorinnen und Autoren .........................................................361  

Page 8: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Eine skeptisch verstandene Kulturphilosophie zeichnet sich unter anderem auch  durch Offenheit  für  interkulturelle  Fragestellungen  aus.  Sie  nimmt fremde Erfahrungswelten ernst und setzt sich  für eine pluralistische Auf‐fassung von Philosophie ein. Unser Freund und Kollege Rudolf Lüthe, der im Mai 2008 seinen 60. Geburtstag  feiern wird, arbeitet  in diesem Geiste. Ihm ist dieses Buch in Verbundenheit gewidmet. 

Page 9: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser
Page 10: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber ›Wege zur Kultur‹  ist neben den bereits  erschienenen Bänden  ›Wege zur Philosophie‹,  ›Wege zur Wissenschaft‹,  ›Wege zur Religionswissenschaft‹, ›Wege zur Kommunikation‹ und  ›Wege zu Menschenrechten‹ der sechste Band der Veröffentlichungsserie ›Wege zu ...‹. Wie dies bisher der Fall war, soll der  vorliegende  Band  nicht  nur  die  Pluralität  eines  Phänomen‐  und Themenbereichs,  sondern  auch  die  Pluralität möglicher  analytischer  Zu‐gangsweisen zu diesem Bereich dokumentieren.  Jede dieser Zugangswei‐sen hat Vor‐ und Nachteile, manche erscheinen besser begründet als ande‐re, aber keine von ihnen kann als Königsweg gelten. Diese Vielfalt  ist nicht nur unter dem Blickwinkel zu begrüßen, daß sie 

die Zahl der verfügbaren Optionen vergrößert, sie hat auch eine wichtige heuristische Funktion. Auf der Ebene des Gegenstandsbereichs führt sie zu einer Erleichterung des kulturellen Austauschs und einer Diffusion kultu‐reller Praktiken und Deutungen über Grenzen hinweg. Auf der Ebene des analytischen Zugangs öffnet  sie den Blick  für alternative  Interpretationen und wirkt  somit  theoretisch befruchtend.  In  evolutionärer  Sicht  sorgt  sie für eine Erweiterung des kognitiven ›Genpools‹, der für kreative Neukom‐binationen zur Verfügung  steht. Die Offenheit  für  alternative Deutungen bildet die Grundlage sowohl von Kultur als Praxis als auch von Kulturana‐lyse als Theorie dieser Praxis. Etymologisch  wird  Kultur  in  unterschiedlichen  Kulturgebieten  als 

bebauen,  bewohnen,  pflegen,  ehren, Ausbildung,  huldigende Verehrung sowie geistige Pflege verstanden. Die ›moderne‹ Verwendung des Kultur‐begriffs stimmt im wesentlichen damit überein, aber es gibt Nuancierungen und Schwergewichtsverlagerungen. Eine neuere, von Wilfried von Bredow gegebene  Definition  versucht  bspw.  alle  wesentlichen  Dimensionen  des Kulturbegriffs  folgendermaßen  zusammenzufassen:  »Eine Kultur  besteht aus einem Ensemble von besonders unterschiedenen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Zügen einer sozialen Gruppe oder Gesell‐schaft. Sie umfaßt Kunst und Literatur, Lebensstile und gemeinschaftliche Lebenspraktiken,  Werte,  Überlieferungen,  gemeinsame  Wahrnehmungs‐

Page 11: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 10 

muster und Glaubenssätze. Ohne solch gemeinsame Kultur läßt sich keine einigermaßen stabile kollektive Identität denken.«1 Neben  diesem  umfassenden  läßt  sich  ein  engerer  Kulturbegriff  unter‐

scheiden,  der  auf  die  innere  Semantik  der  spezifischen  Kulturen  zielt. Hiernach  besteht  der Kern  von Kultur  in  der  (kanonischen)  Sinngebung der natürlichen und geschaffenen Welt. Sie wird geleistet durch perspekti‐vische, aktuell als relevant erachtete Deutung (Interpretation2) von Überlie‐fertem, Tradiertem und aus anderen Kulturen Diffundiertem.3 Viele Explikationen oder Definitionen von Kultur betonen die Einheit der 

Kultur  und  ihre  Funktion  für  die  Bildung  der  Identität  von  Gruppen, Ethnien und Nationen.4 Diese Vorstellung von der Einheit der Kulturen, von einem klar definierten Kanon von Normen, der die Individuen zu ei‐ner Einheit  (Nation) zusammenschweißt,  indem er den Kernbereich  ihrer Identität konstituiert, ist – wie der Soziologe René König bereits 1972 deut‐lich gemacht hat – empirisch unangemessen.5 Die Vorstellung von der ›Einheit der Kulturen‹ trifft am ehesten auf rela‐

tiv kleine, undifferenzierte und unter prekären Bedingungen lebende ›pri‐mitive‹ Gesellschaften zu. Je differenzierter eine Gesellschaft wird, je besser sie in ihrer Umwelt zurechtkommt, je größer ihre Innovationsfähigkeit und ihre  innere Dynamik  ist, umso schneller zerfällt die Einheit von Anschau‐ung,  Weltbild,  normativem  System  und  Verhalten.  Projiziert  man  An‐schauungen,  Weltbilder,  normative  Systeme  und  Verhalten  der  Gesell‐schaftsmitglieder aufeinander, dann kann man  feststellen, daß die Kontu‐ren der Resultate immer unschärfer und verwaschener werden. In komple‐xen differenzierten Gesellschaften  kann man  allenfalls noch von  ›Ballun‐gen‹ sprechen. Es gibt Gruppen von Menschen mit ähnlichen Einstellungen  1   Bredow, Wilfried von: Mehrwertigkeiten, in: FAZ, 6.5.2006, Nr. 105 S. 9. 2   Nicht von ungefähr trägt der am 19.6.2006 publizierte ›Streikaufruf an alle Gei‐

steswissenschaftler‹ von Mirjam Schaub den Titel ›Stoppt die Interpretation!‹. 3   Siehe z.B. Günther Dux: ›Historisch‐genetische Theorie der Kultur‹, Weilerswist 

2000 S. 74. 4   So  z.B.  Ronald  Inglehart:  Kultureller  Umbruch. Wertwandel  in  der westlichen 

Welt, Frankfurt/Main 1989 S. 29. 5   Vgl. König, René: Einleitung: Über einige Fragen der empirischen Kulturanthropolo‐gie,  in: Kulturanthropologie, hrsg. v. René König und Axel Schmalfuß, Düssel‐dorf 1972 S. 35. 

Page 12: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 11 

und Lebensstilen, die nur noch entfernte Abbilder einer primitiven Urhor‐de sind.  In den  ›Milieus‹ moderner Gesellschaften  ist der Lebensstil nicht mehr  in  gleichem Ausmaß wie  in  traditionellen Gesellschaften  von  den äußeren Bedingungen oder vom Gruppendruck der  anderen  aufgezwun‐gen.6 Er  ist ein Mittel zur Selbstfindung und Selbststilisierung geworden. Kulturelle  Identität wird unter solchen Umständen nicht mehr als Schick‐sal,  sondern  als Möglichkeit  empfunden.  Kultur  ist  ein  »verhandelbares Diskursfeld« geworden.7 Diese Pluralität der Deutungen betrifft auch die sogenannte Hochkultur. 

Obwohl man auch in diesem Bereich temporär bevorzugte Interpretationen beobachten kann, gibt es keine stabile kanonische Interpretation von ›Kul‐turgütern‹ mehr. Eher  ist von einem offenen Raum der Möglichkeiten zu sprechen,  der  ständige  Veränderungen  möglich  und  notwendig  macht. Damit  dieses  Potential  zur  wechselseitigen  Anregung  und  Befruchtung führen kann, bedarf es allerdings des Respekts und der Toleranz zwischen verschiedenen  Kulturen.  Beides  ist  (neben  einem  hinreichenden Wissen über die eigene und die fremde Kultur) die Grundlage einer nichtantagoni‐stischen  interkulturellen  (und  intrakulturellen)  Kommunikation  und  die Voraussetzung  für die Ausbildung  reziproker Wahrnehmungen und Ver‐haltensinterpretationen.  Nur  durch  die  Verstetigung  eines  zivilisierten interkulturellen  Dialogs  können  die  integrativen  Tendenzen  innerhalb eines  differenzierten  und  heterogenen  Gemeinwesens  gestärkt  und  die stets vorhandenen antagonistischen Kräfte kontrolliert werden. Auch die‐sem Ziel sollen die in diesem Band versammelten Beiträge dienen. Weniger durch  theoretische Reflexionen, als unter dem Druck der Um‐

stände tritt eine weitere, die Vielfalt der Kulturen übergreifende Dimension des menschlichen Lebens in den Blick. Die ökologische Krise erinnert dar‐an, daß die Menschen nicht nur durch Vernunft und kulturschöpferische Aktivitäten, sondern auch durch ihre leibliche Konstitution bestimmt sind. Sie sind ein Glied  im Netz des Lebens auf diesem Planeten. Sieht man  im Überleben  nicht  nur  des  Einzelnen,  sondern  der Menschheit  einen  ethi‐

6   Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 

Frankfurt/Main 1992 S. 262. 7   Vgl.  Schiffauer, Werner: Verhandelbare Diskursfelder,  in:  Frankfurter Rundschau 

vom 27.04.1999, Nr. 97 S. 18. 

Page 13: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 12 

schen Wert, dann entspringt daraus die Verpflichtung, die Bedingungen zu erhalten, die auch noch künftigen Generationen das Überleben ebenso wie ein menschenwürdiges Leben gestatten. Zu diesen Bedingungen gehören nicht nur eine soziale Ordnung, welche die Würde der Menschen schützt und der  genetische Code  als  biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser Einsicht bahnt sich ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von Natur und Kultur an: Diese stehen einander nicht wie zwei getrennte Sphären gegenüber, die man unabhän‐gig voneinander in ihrer Gesetzmäßigkeit analysieren kann. Um die Mög‐lichkeiten und Grenzen der kulturschöpferischen Aktivitäten zu verstehen, muss man auch die vielfältigen Verflechtungen der Menschen mit der Na‐tur berücksichtigen. Das Einbeziehen der Ordnung der Natur  in die Ziel‐setzungen der Kulturen ist eine Aufgabe für die Zukunft, die bislang ohne philosophisch‐ethisches und politisches Vorbild ist und die auch in diesem Band nur angedacht werden kann.9 Die Analyse des Eigenen und des Fremden auf der Grundlage einer dia‐

logischen  Theorie  der  Interkulturalität  bildet  das  zentrale  Anliegen  des Beitrags  von Hamid Reza Yousefi. Der Verfasser  thematisiert  neben den Rahmenbedingungen der  Interkulturalität auch die Bedeutung eines offe‐nen Kulturbegriffs. Die Problematik des Eigenen und des  Fremden wird anhand der Modelle von Karl Jaspers, Edmund Husserl, Max Scheler und Munasu L.  J. Duala‐M’bedy erläutert. Während Husserls  Idee der  ›Heim‐welt‹ und ›Fremdwelt‹ solipsitische Tendenzen aufweiset, kann für Scheler und  Jaspers die Fremdwahrnehmung unter keinen Umständen als Analo‐gieschluß  vom  eigenen  ›Ich‐Erlebnis‹  auf  ein  ›Fremd‐Ich‹  ausgelegt  sein. Duala‐M’bedy geht von Xenologie als eine ›Wissenschaft des Fremden‹ aus und weist  jeder Form von Hypostasierung des Fremden  zurück. Yousefi zufolge bilden das Prinzip der Unverfügbarkeit des Individuums und die Unantastbarkeit seiner Würde die tragenden Säulen einer solchen Theorie. Diesem Prinzip nach ist die Interkulturalität für Yousefi einer Kommunika‐

8   Vgl. Diamond, Jared M.: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder unterge‐

hen, Frankfurt/Main 32005. 9   Vgl. Nash, Roderick  Frazier: The Rights  of  nature. A History  of Environmental 

Ethics, London 1989, 5‐7. und Diefenbacher, Hans: Gerechtigkeit und Nachhaltig‐keit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie, Darmstadt 2001. 

Page 14: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 13 

tion  verpflichtet,  welche  geschichtliche  und  gegenwärtige  Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt. Dabei bedingen sich Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen zwischen und innerhalb des Eigenen und des Fremden  gegenseitig.  Jede  Reglementierung  des  Menschen  durch  eine Dominanz der Macht  läuft dem Prinzip der  Interkulturalität zuwider.  Im Rahmen  einer  interkulturellen Kommunikation  spielen  für den Verfasser interkulturelle  Kompetenz,  interkulturelle  Semantik,  interkultureller Hu‐manismus,  interkulturelle Hermeneutik,  interkulturelle  Toleranz  und  in‐terkulturelle  Kommunikation  eine  bestimmende  Rolle.  Seiner  Ansicht nach, wird die Debatte um die Interkulturalität oft auf der Grundlage von emotionaler,  moralisierender  und  nützlichkeitsorientierter  Argumentati‐onsweise geführt. Eine offene Theorie der  Interkulturalität vermeidet  sol‐che Tendenzen und weist jeden geschlossenen Kulturbegriff zurück. Klaus Fischer vertritt  in seinem Beitrag einen Kulturbegriff, der auf der 

perspektivischen Deutung von Überlieferung, Artefakten und Wissen be‐ruht, ganz gleich, wo diese entstanden sind oder auf wen sie zurückgehen. Dieser Kulturbegriff  ist  insofern funktional zu verstehen, als er Kultur als Teilsystem der Gesellschaft begreift, das sich durch  spezifische Ziele und Codes von den anderen Teilsystemen abhebt. Da sich die  funktionale Be‐stimmung  nicht  auf  konkrete  Inhalte  und  Interpretationen  erstreckt,  ist dieser Kulturbegriff  insofern  offen,  als  er  kein Artefakt  und  keine Deu‐tungsvariante prinzipiell ausschließt. Dies impliziert, daß es keine kanoni‐sche Interpretationen, sondern nur einen offenen Möglichkeitsraum geben kann,  der  von  unvorhersehbaren  realgeschichtlichen  Entwicklungen,  der Kreativität der Kulturschaffenden,  ihrer Fähigkeit zur Konstruktion neuer Gedankenwelten, die das Potential zur Knüpfung neuer begrifflicher Netze und zur Neuausrichtung der Wahrnehmung haben, ständig  in Bewegung gehalten wird. Kultur braucht dieses chaotische, unvorhersehbare Moment, um kreativ zu bleiben. Monokulturen, aber auch Paradigmen, die andere dominieren und  verdrängen wollen,  trocknen das  kreative Potential  von Kulturen aus. Um sich nicht in postmoderner Beliebigkeit zu verlieren, die die Gefahr des Auflebens atavistischer Kulte und Glaubensformen  in sich birgt,  brauchen  offene Gesellschaften  jedoch  positive Werte,  die  offensiv verteidigt werden müssen: die Werte der  Freiheit, der Toleranz und des Pluralismus und ihre jeweiligen Rechtsformen. 

Page 15: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 14 

Raúl Fornet‐Betancourt  thematisiert den Kulturbegriff  im Kontext  inter‐kultureller  Philosophie.  Vertreter  des  transkulturellen  Ansatzes  werfen nach dem Verfasser der interkulturellen Philosophie vor, daß sie mit einem Kulturbegriff arbeitet, der Kulturtraditionen statisch betrachtet und so zu einer essentialistischen Auffassung von Kultur führt, die zudem nicht frei von  Dogmatismus  und  Fundamentalismus  ist.  Der  vorliegende  Beitrag geht von diesem Vorwurf aus und versucht, die Position der Interkulturali‐tät gegenüber den  in diesem Vorwurf  implizierten Mißverständnissen zu verdeutlichen.  Es  handelt  sich  daher weniger  um  eine  Debatte mit  der Transkulturalität  als  vielmehr  um  eine  »Klarstellung«  des Umgangs  der Interkulturalität mit dem Phänomen »Kultur«. Hierzu gehört zunächst die Betonung der These, daß  Interkulturalität von  einer geschichtlichen Auf‐fassung von Kultur ausgeht, die diese weder auf Tradition festlegt noch auf eine abstrakte, stabile Wertsphäre reduziert. Von daher wird weiter präzi‐siert, daß Kulturen immer im Zusammenhang mit kontextuellen und situa‐tiven Lebensverhältnissen  interpretiert werden müssen und zwar  so, daß ihre  Entwicklung  am  Leitfaden  der  inneren Dialektik  von  Traditionsbil‐dung und Innovation in realen Lebenswelten zu lesen ist. Daraus folgt für die hier versuchte Klarstellung die Unterstreichung  einer Dimension der Politik  in kulturkonstituierenden Prozessen. Die historische Dialektik von arm und reich, von Unterdrückung und Befreiung gehört so auch (als Mo‐ment der ›Entkulturalisierung‹ der Genese einer Kultur) zum historischen Verständnis der Kultur aus der Sicht der Interkulturalität, wie hier zuletzt gezeigt wird. Im Beitrag von Hans Waldenfels geht es um die Frage, ob das  im  inter‐

kulturellen Diskurs  benutzte Kulturverständnis  überall  ein  und  dasselbe ist. Schon ein kurzer Blick in die unterschiedliche Begriffsgeschichte mahnt zu  erhöhter Aufmerksamkeit. Der  in  den  Sprachen  der westlichen Welt verbreitete Kulturbegriff  rührt sprachgeschichtlich vom  lateinischen  colere her, das auf den pfleglichen Umgang mit der Erde  in der Landwirtschaft verweist. Demgegenüber erinnert der sino‐japanische Kulturbegriff an den Ursprung von Schrift und Sprache, damit an  intellektuelles Schaffen. Die chinesische ›Kulturevolution‹ beweist ihrerseits, daß sich die unterschiedli‐chen Verständnisse von Kultur spätestens seit dem 18./19. Jh. auf vielfältige Weise begegnet sind, dabei aber das westliche Denken eine gewissen Herr‐schaftsposition eingenommen hat. 

Page 16: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 15 

Kultur verweist stets auf den Menschen als Akteur. Wieweit er dabei sich selbst und der Welt ein Maßstab ist, ist vor allem im Verhältnis von Religi‐on und Kultur, Gottesglaube und  atheistisch‐säkularisierter Welt  zu prü‐fen. Die Vertreibung der Religion  aus dem öffentlichen Leben  führt  aber dann zur Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur und seinem Umgang mit deren Ressourcen, nach dem Verhältnis von Natur und Kul‐tur. Hinsichtlich des Menschen selbst ist die Diskussion um die Würde des Einzelnen (Individualität) und seine Verpflichtung in seiner Beziehung zu anderen Menschen (Relationalität) und damit ein ganzheitliches Verständ‐nis der menschlichen Person zu vertiefen. Ob es moralische Verantwortung ohne Beziehung  zu Gott gibt,  ist  eine offene  Frage, die  sich  letztlich mit dem  Interesse  am Anfang  der Menschheit  und  des Menschen  und  dem Ende der Welt, der Menschheit und des Menschen  (Tod und Untergang) verbindet. Nicht zu übersehen  ist nach wie vor das Ringen um den Vor‐rang von Geist und Materie im Prozeß der Evolution. Beispiel für ein Den‐ken auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Forschung und  inne‐rer Glaubensüberzeugung  sind  für unsere Tage nach wie vor Leben und Werk P. Teilhard de Chardins. Joachim Renn zieht aus den bekannten Schwierigkeiten, vermeintlich ab‐

geschlossene Kulturen  abzugrenzen und  zu bestimmen, die Konsequenz, explizite Kulturen (begriffliche Artikulationen) von performativen Formen der praktischen Vollzugs kultureller Orientierungen  strikt  zu unterschei‐den.  Im Zentrum der Überlegungen  stehen deshalb die Bestimmung des Begriffs  einer  performativen  Kultur  und  die  Analyse  der  tendenziellen Unzugänglichkeit des performativ eingesetzten impliziten Wissens, das für eine kulturelle Lebensform notwendigerweise in einer nicht explizierbaren Form  konstitutiv  sein muß.  Kulturelles Wissen  stellt  für  das  alltägliche (und das rituell hervorgehobene) Handeln eine notwendige Ressource dar; es erfüllt seine ›Funktion‹ allerdings primär als Hintergrund habituell ver‐fügbaren  impliziten Wissens. Der wissenschaftliche Kulturvergleich muß aufgrund der spezifischen Form dieses Wissens an einem praktischen Zu‐gangs zu  einer  ›anderen‹ Kultur ansetzen. Weil  es bei  einer mimetischen Anverwandlung  an  eine  ›nichtidentische‹ Kultur  allerdings  nicht  bleiben kann, muß der Übergang  von der  performativen Ebene  z.B. der  teilneh‐menden Beobachtung zur Ebene expliziter Beschreibungen und Vergleiche eigens rekonstruiert werden. Dieser Übergang erscheint zunächst unmög‐

Page 17: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 16 

lich, wenn die Explikation performativer Kultur diese prinzipiell ›verfehlt‹. Sofern, daß wir wissen können, daß das explizite Wissen eine ›performati‐ve Kultur‹ nicht adäquat repräsentieren kann, folgt zwingend, daß die Dia‐gnose  einer  radikalen Unzugänglichkeit  nicht das  letzte Wort  sein  kann. Denn zweifellos  ist es möglich, die Differenz zwischen explizitem Kultur‐wissen  und  performativer  Ebene  zu  beschreiben.  Und  daraus  folgt  die Möglichkeit, Übergänge  zwischen  performativer  und  begrifflich‐theoreti‐scher  Ebene  (hin  und  zurück)  als Übersetzungen  zu  begreifen  (und  eben auch performativ zu ›behandeln‹). Ziel  des  Beitrags  von Michael Klemm  ist  es,  über  eine  nähere  Bestim‐

mung der beiden recht undifferenziert und geradezu inflationär verwende‐ten  Schlüsselbegriffe  ›Medien‹  und  ›Kultur‹  besser  zu  erfassen, was mit dem Schlagwort Medienkultur im Rahmen der Kulturwissenschaft gemeint sein und erforscht werden könnte. Dabei kann es nicht darum gehen, diese Begriffe  definitorisch  zu  fixieren,  aber  sie  zumindest  einzugrenzen  und damit operationalisierbarer  zu machen.  So unbestreitbar das  enge Wech‐selverhältnis  von  (Massen‐)Medien  und Kultur  in  der modernen Gesell‐schaft  ist, umso wichtiger  erscheint  es, Medienkultur  nicht  zum  beliebten und beliebigen Modewort degenerieren zu lassen. Je mehr ›Medienkultur‹ auf  der  Grundlage  eines  handlungstheoretisch  fundierten Medien‐  und Kulturkonzepts, wie  es  etwa von den British Cultural Studies oder  einer pragmatisch orientierten Medienlinguistik vertreten wird, an empirischen Daten festgemacht werden kann, umso eher werden spekulative Pauschali‐sierungen vermieden. Einige Ansatzpunkte für die empirische Erforschung von Medienkulturen werden im Beitrag genannt: die vergleichende Analy‐se historischer Textkorpora und Textsorten; die ethnografische Erforschung unseres alltäglichen und beruflichen Umgangs mit einzelnen Medien; die kommunikative Aneignung  von Medieninhalten,  die  private Mediennut‐zung und gesellschaftliche Diskurse miteinander verbindet; und die Unter‐suchung globalisierter Medienformate im Hinblick auf deren kulturspezifi‐sche Adaption. Schon vor über hundert  Jahren hat die moderne Psychologie Wege zur 

Kultur entwickelt. Einer dieser Wege firmierte in der deutschen Psycholo‐gie unter dem Begriff ›Völkerpsychologie‹, dem zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung zukam. Unter dem Begriff  ›Kultur‐psychologie‹ formierte sich wiederum in Deutschland ein weiterer Weg der 

Page 18: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 17 

Psychologie in die Kultur. Zu diesem Zeitpunkt war in den USA bereits der Begriff  ›cross  –  cultural  psychology‹  entstanden  und  als  ›Kulturverglei‐chende Psychologie‹ in Deutschland eingeführt worden. Mit zunehmender Internationalisierung  und Globalisierung weiter  Bereiche  unserer Gesell‐schaft und den sich daraus ergebenden Anforderungen, entwickelte sich in Deutschland eine ›Interkulturelle Psychologie‹ oder spezifischer mit ›Inter‐kulturelle Handlungspsychologie‹  bezeichnet. Deren  primäres  Ziel  darin besteht nicht wie die kulturvergleichende Psychologie psychologische Ge‐setzmäßigkeiten auf ihre universelle Gültigkeit hin zu überprüfen, sondern die  in der Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulten zu er‐fassenden  psychologisch  relevanten  Prozessabläufe  zu  analysieren  und durch geeignete Ausbildungs‐ und Trainingsmaßnahmen so zu qualifizie‐ren, daß eine optimale Zielerreichung unter  für alle Beteiligten zufrieden‐stellenden Bedingungen möglich wird.  Diese verschiedenen Wege der Psychologie zur Kultur sind nicht nur un‐

ter historisch‐ und gesellschaftspolitischen unterschiedlichen Bedingungen entstanden,  sondern  haben  auch  jeweils  eigene  Ziele  mit  dazu  speziell entwickelten Methoden verfolgt. Zudem hat die mehr geisteswissenschaft‐lich‐ hermeneutisch orientierte Psychologie ebenso wie die experimentelle Psychologie  sowohl  im  nationalen  wie  im  internationalen  Rahmen  mit ihren Theorie‐ und Methodenentwicklungen ebenso wie mit ihren wissen‐schaftlich  fundierten  Forschungsergebnissen  erheblich  dazu  beigetragen diese vier Wege der Psychologie zur Kultur zu bereichern. Bedeutung ge‐winnt in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß die moderne Psy‐chologie schon seit Beginn ihrer Entstehung neben der allgemeinpsycholo‐gisch orientierten Grundlagenforschung gleichberechtigt eine angewandte psychologische  Forschungstradition  entwickelt  hat.  Dies  ermöglichte  es z.B. der Interkulturellen Psychologie nicht nur Begegnungs‐ und Koopera‐tionsprozesse  zwischen Menschen  aus verschiedenen Kulturen  zu  analy‐sieren, sondern auch auf wissenschaftlicher Basis Mittel und Wege zu ent‐wickeln, durch  geeignete  interkulturelle Ausbildungs‐ und Trainingspro‐gramme, durch Counseling‐ und Coaching‐Konzepte Erleichterungen und Verbesserungen  in der  interkulturellen Kommunikation und Kooperation für die beteiligten Personen zu erreichen. Georg Auernheimer will die  in der Pädagogik, und nicht nur dort, um‐

strittene  Verwendung  des  Kulturbegriffs  rechtfertigen  und  begründen. 

Page 19: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 18 

Ausgehend  von  fragwürdigen  Kulturvorstellungen  rekurriert  er  auf  ein alternatives  Kulturkonzept,  das  im  neomarxistischen  Diskurs  entwickelt wurde, um der Subjekthaftigkeit der Akteure gegenüber dem orthodoxen Determinismus Geltung zu verschaffen. Kultur als eine Seite gesellschaftli‐cher Praxis, so die Sichtweise der britischen Cultural Studies, hat verschie‐dene Funktionen, unter anderem eine Orientierungsfunktion, die die Dy‐namik kultureller Transformationen  zu  erklären vermag,  allerdings nicht verstanden als ein quasi naturhafter kultureller  ›Wandel‹, sondern als ein stets umstrittener, diskursiver Umarbeitungsprozeß,  in dem gesellschaftli‐che  Gruppen  um  »kulturelle  Hegemonie«  (Antonio  Gramsci)  ringen. Machtverhältnisse einer bestimmten Art sind nach Ansicht Auernheimers – er  verweist  auch  auf  Pierre  Bourdieu  –  ohne  den Kulturbegriff  nicht  zu fassen. Als weiteres Argument  für dieses Konstrukt führt er  ins Feld, daß die  Identitätsarbeit und besonders die  Identitätsdarstellung der einzelnen kultureller Ressourcen bedarf, wodurch das Postulat der Anerkennung erst begründbar wird. Im letzten Abschnitt erörtert der Verfasser die Möglich‐keit  des Dialogs  über  strittige  normative  Geltungsansprüche  ungeachtet kultureller Differenzen. Hier werden vier Möglichkeitsbedingungen ange‐führt: die pragmatischen Universalien nach Habermas, inhaltliche Univer‐salien, speziell transkulturelle menschenrechtliche Standards, die Relativie‐rung des westlichen Vernunftbegriffs und die Entwicklung zur Weltgesell‐schaft mit dem Zwang zur Verständigung. Peter Gerdsen wirft einen Blick auf Strukturmerkmale, die allen Kulturen 

der Welt  gemeinsam  sind,  indem  er  ihre  Innenperspektive  ausleuchtet. Beispielhaft wird an Hand der europäischen Kultur verdeutlicht, wie sie im historischen Werdeprozeß  zu  dem  geworden  ist, wie  sie  gegenwärtig  in Erscheinung tritt. In diesem Prozeß haben sich einzelne Schichten überein‐andergelegt,  so  daß  sich  eine  hierarchische  Schichtenstruktur  ergibt.  Für die  europäische  Kultur  wird  in  dem  Beitrag  ein  Sieben‐Schichten‐Strukturmodell angegeben, das für andere Kulturen zu modifizieren wäre. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Aufbaucharakter des Modells, das auf die Verletzlichkeit von Kulturen hinweist; denn Zerstörungen in einer unteren Schicht können in darüberliegenden Schichten zu überraschenden Verwerfungen  führen. Dieses Phänomen wird an Hand der europäischen Kultur herausgearbeitet, eine Anwendbarkeit auf andere Kulturen  ist hier ebenfalls gegeben. 

Page 20: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 19 

Heinz Kimmerle  thematisiert Kwame Anrthony Appiah, einen afrikani‐schen Philosophen, der wesentliche Beiträge zu der Frage  leistet, wie von philosophischer Seite aus kritisch und konstruktiv zum Prozeß der Globali‐sierung Stellung genommen werden kann. Von seinem Buch über Fragen der afrikanischen und afrikanisch‐amerikanischen Philosophie aus über die Studien zur Ethik der  Identität,  in denen persönliche  Identität und kultu‐relle Zugehörigkeiten miteinander verbunden werden, gelangt der Verfas‐ser  zu  einer  Präzisierung  seiner  Position  des Kosmopolitismus. Die  ver‐schiedenen Kulturen der Welt werden in einer selbstverständlichen Weise als gleichwertig behandelt und die Probleme zwischen  ihnen  in klarer ra‐tionaler Argumentation erörtert. Entscheidend für eine angemessene Form der Globalisierung ist die Praxis offener und kritischer Gespräche zwischen den  Vertretern  der  verschiedenen  Kulturen  (cross‐cultural  conversations). Mit dieser Position qualifiziert  sich Appiah als  ein Mitstreiter  in der von Jacques Derrida konzipierten neuen  Internationale der Kosmopoliten, die eine Gegeninstanz zur primär wirtschaftlich vorangetriebenen Globalisie‐rung bilden soll. In dieselbe Richtung denken Amartya Sen und Martha C. Nussbaum. Für  ihren Kosmopolitismus  ist der Ansatz wichtig, daß nicht nur die vertraglich zu sichernden Rechte der Menschen zu berücksichtigen sind, sondern auch  ihre Fähigkeiten  (capability approach). Es gilt nach Sen, die vielfältige Identität der Menschen ins Spiel zu bringen und sie nicht auf einen Aspekt  festzulegen, wie  etwa Moslem oder  alteingesessener Bürger eines westlichen  Staates  zu  sein,  damit  Anlässe  zur  Gewalt  vermindert werden. Nußbaum  legt den Nachdruck  neben den  Fähigkeiten  auch  auf Behinderungen (disabilities) von Menschen, die in ihrer besonderen Rolle in Gesellschaft und Staat ernstgenommen werden müssen. Ausgehend von der spannungsreichen Beziehung zwischen kulturellem 

Selbstverständnis (›Sinn‹ und  ›Identität‹) und der Herausforderung durch ›fremde‹  kulturelle  Ansprüche  (›Pluralität‹  und  ›Alterität‹),  von  der  her sich ein unterschiedliches Verständnis der  ›Kontextualität‹ sowie  ›Univer‐salität‹ von Kultur(en) ergibt, wirft der Beitrag von Franz Gmainer‐Pranzl einen Blick auf Husserls ›Fünf Aufsätze über Erneuerung‹ (die so genann‐ten Kaizo‐Artikel von 1923/24), die –  im Kontext einer Theorie von Philo‐sophie, Kultur und Ethik  –  einen  originellen Ansatz  ›kultureller Erneue‐rung‹ bieten. Dabei wird  (1) die Denkform der  (transzendentalen) Phäno‐menologie Husserls rekapituliert, um von daher (2) die ›Idee echter Huma‐

Page 21: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 20 

nität‹ als Lebensform zu explizieren. Weiters wird  (3)  ›Kultur‹ als Projekt rationalen  und  ethischen  Handelns  vorgestellt  und  auf  diesem  Hinter‐grund (4) die Husserlsche Sicht der abendländischen Tradition als ›Kultur aus  autonomer  Vernunft‹  (so  die  vieldiskutierte  ›Europäisierungsthese‹) nachgezeichnet. Auch wenn diese Denklinie nicht wirklich zu einem An‐satz  interkulturellen Philosophierens führt, kommt  in  ihr eine ›Utopie‹ kul‐tureller Erneuerung zur Geltung, deren Potential an Humanität und Ver‐nunft nicht aufgegeben werden sollte. ›Kultur‹ gewinnt eine  immer größere Bedeutung nicht nur  in den Wis‐

senschaften,  sondern  auch  in  der  Gesellschaft.  Der  Beitrag  von  Hubert Knoblauch  skizziert zunächst den Begriff der Kultur aus der Perspektive der Soziologie und Sozialwissenschaften. In der gegenwärtigen Diskussion läßt  sich hier eine Verallgemeinerung des Kulturbegriffes, der unter dem Begriff des Kulturalismus gefaßt und vom  ›Soziologismus‹ unterscheiden werden kann. Dabei sollte genauer zwischen einem subjektivistischen und einem  kollektivistischen  Kulturalismus  unterschieden  werden.  Um  die damit verbundenen Probleme zu überwinden, entwickelt der Beitrag eine Theorie der Kultur, die sowohl das Soziale wie das Kulturelle und das Kol‐lektive  wie  das  Subjektive  miteinander  verbindet.  Als  Bindeglied  dient dabei die Kommunikation, die  als Grundlage der Kultur dient.  In  einem weiteren Abschnitt werden dann die grundlegenden Aspekte der Kommu‐nikation – Zeichenhaftigkeit, Sozialität und Performanz – als Dimensionen der Kultur entwickelt. Abschließend wird dann die These der Diskursivie‐rung der Kultur vorgestellt: Die Kultur verflüssigt sich zur Kommunikati‐on, und zugleich wird sie selbst zu einem  Inhalt der Kommunikation der Akteure. Die Bestimmung des Menschen als ›animal symbolicum‹ beinhaltet nach 

Regine Kather  zwei  zusammen  gehörende  Seiten  der menschlichen  Exi‐stenz: die Zugehörigkeit zur Natur und zur Kultur. Menschen  sind Lebe‐wesen und daher wie diese vermittels ihres Leibes ein Teil der Geschichte und der Ordnung der Natur. Die Biosphäre ist  jedoch kein gleich bleiben‐des Gegenüber des Erkennens und Handelns, sondern räumlich und zeit‐lich  durch  die  Interaktionen  einer Vielfalt  von Arten  und  anorganischer Prozesse  strukturiert.  Auch  Menschen  können  nicht  aus  der  Biosphäre heraustreten,  sondern  sind  in  sie  eingebettet. Doch  durch  die  besondere Form  ihrer  Intelligenz  erzeugen  sie  durch  symbolische Akte  eine  eigene 

Page 22: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 21 

Lebenssphäre:  die  Kultur.  Entgegen  weit  verbreiteter  Ansichten  ist  die Natur  jedoch weder ein kulturelles Konstrukt, noch lassen sich Natur und Kultur als Sphären behandeln, die  sich  in  ihrer Dynamik nicht beeinflus‐sen. Ziele und Werte modifizieren die Dynamik der Biosphäre, die  ihrer‐seits  bestimmte Anforderungen  an menschliches Handeln  stellt. Um  die Möglichkeiten und Grenzen der kulturschöpferischen Aktivitäten zu ver‐stehen, muß man daher die vielfältigen Verflechtungen der Menschen mit der Natur berücksichtigen, die sich exemplarisch schon in der Entwicklung symbolischer Fähigkeiten  zeigen.  Jede Kultur besteht dabei  aus verschie‐denen symbolischen Formen, die in unterschiedlichen Kulturen in je ande‐rer Gewichtung  vorkommen. Doch  trotz der Ungleichzeitigkeit  verschie‐dener Kulturen müssen heute zumindest einige Werte formuliert werden, die universale Geltung haben und das Überleben und ein menschenwürdi‐ges  Leben  ermöglichen. Das  Einbeziehen  der Ordnung  der Natur  in  die Zielsetzungen  der Kulturen  bleibt  dabei  eine Aufgabe,  die  bislang  ohne philosophisch‐ethisches und politisches Vorbild ist. Klaus Wiegerling versucht zu klären, welche Rolle Widerständigkeit und 

Fremdheit  für die Ausbildung und  Stabilität  einer Kultur  spielen.  Insbe‐sondere sollen die logischen Beziehungen zwischen Fremdheit, Widerstän‐digkeit  und Kultur  herausgearbeitet werden. Kultur  zeichnet  sich  durch drei wesentliche Charakteristika aus: sie  ist widerstandsfähig, sie  ist  inte‐grationsfähig und sie vermag Sphären zu bestimmen, die öffentlichen oder heterogenen Zugriffen verschlossen bleiben. Kultur hat  eine Entlastungs‐ und Orientierungsfunktion.  In  komplexen Kulturen  spielen  nicht  zuletzt Medien,  insbesondere  auch  apparative Medien,  bei  der  Erfüllung  dieser Funktionen  eine  zentrale Rolle.  Es wird  gezeigt,  daß  die  Erfahrung  von Widerständigkeit  und  Fremdheit  eine  konstitutive  Rolle  für  die  Ausbil‐dung  und  Stabilität  einer  Kultur  sowie  das  kulturelle  Selbstverständnis einnimmt. Für die Ausdifferenzierung der Kultur  sind die  reflexive Aus‐einandersetzung mit dem Fremden und die Erfahrung der Begrenztheit der kulturellen Orientierungsfähigkeit von größter Bedeutung. Fremdheit und Widerständigkeit stehen in einem bedingenden Verhältnis zu elementaren Leistungen der Kultur. Zuletzt wird die Frage diskutiert, welche Auswir‐kungen eine durch moderne Informationstechnologien disponierte globali‐sierende Ökonomie  auf die Erfahrung von Widerständigkeit und Fremd‐heit und damit für die Kultur und für das kulturelle Selbstverständnis hat. 

Page 23: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Einleitung der Herausgeber 22 

Dabei wird gezeigt, daß Fremdheit und Widerständigkeit entweder als zu eliminierende Größen  gefaßt  oder  zu  strategischen Größen  transformiert werden, um Markthandlungen zu inspirieren. Der Beitrag Norbert Meuters geht von einem naturalistisch‐genetischen 

Kulturbegriff aus. Was immer man auch unter Kultur genauer versteht, sie muß sich im Evolutionsprozeß der Hominiden entwickelt haben. Eine der Implikationen eines solchen Kulturbegriffs besteht in der Frage danach, ob und inwieweit man bei rezenten Tierprimaten von kulturellen Verhaltens‐weisen  sprechen  kann. Anhand von  zwei  in der Primatologie gut unter‐suchten Beispielen  – das Kartoffelwaschen  japanischer Makaken und das Nüsseknacken ostafrikanischer Schimpansen – geht der Beitrag dieser Fra‐ge nach. Er kommt dabei zu  folgendem Ergebnis: wir haben es  in Bezug auf die Beispiele zwar mit der nicht‐genetischen Weitergabe von Verhal‐tensweisen durch Lernen zu tun, aber es handelt sich nur um Emulations‐ und nicht um Imitationslernen. Letzteres aber stellt die eigentliche Voraus‐setzung für die Ausbildung von kulturellen Leistungen in einem substanti‐ellen  Sinne dar. Bei den Tierprimaten  bleibt die Kultur nur  ›episodisch‹. Darüber hinaus wird die These vertreten, daß die Genese von Kultur pri‐mär nicht  in  funktionalen Verhaltensweisen wie  z.B. Werkzeuggebrauch, sondern in ›mimetischen Spielen‹ zu suchen ist. Wer  sich  für Kulturvergleich  interessiert,  ist  Elmar Holenstein  zufolge 

gut damit beraten, bei den Sprachwissenschaftlern in die Schule zu gehen. Kein  kultureller Bereich  ist  so modellhaft  erforscht worden wie die Ver‐schiedenheit der Sprachen, die Art  ihres Zusammenhangs und  ihres Ver‐hältnisses zum Wahrnehmen und Denken. »Gemäßigte Relativisten« ver‐treten die Meinung, daß eine Sprache eine gewisse Weltansicht nahelege. Heute  ist es möglich, solche vagen und pauschalen Urteile zu differenzie‐ren. Es  ist möglich, die Phänomenbereiche  anzugeben,  in denen  sich  ein Einfluß der Sprache bemerkbar machen kann, und die Phänomenbereiche, in denen die  Sprache wirkungslos bleibt. Das Fehlen gewisser Wörter  in einer Sprache verhindert nicht philosophische Einsichten, die mit ihnen in andern Sprachen eng verknüpft sind. Die menschliche Fähigkeit, alles auch anders  sagen  zu können, hebt den vermeintlichen Nachteil  auf. Einzelne Philosophen glauben, Erkenntnisse, die sie mit Eigenheiten ihrer Sprachen illustrieren,  auch  diesen  zu  verdanken. Die Wahrscheinlichkeit  ist  groß, 

Page 24: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Wege zur Kultur 23 

daß  ihre Erkenntnisse wirkungsmächtigeren  außersprachlichen Erfahrun‐gen zuzuschreiben sind. 

Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der  jeweiligen  individuellen Präferenzen  unserer Autoren  und Autorinnen  verzichtet. Auf  vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie facettenreich We‐ge zur Kultur sind.  

Die Herausgeber  

Page 25: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser
Page 26: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Phänomenologie des Eigenen und des Fremden 

Eine interkulturelle Perspektive 

von Hamid Reza Yousefi 

Der vorliegende Beitrag  thematisiert die Kategorie des  ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹. Neben den Rahmenbedingungen der  Interkulturalität  kommt auch  die  Bedeutung  eines  offenen,  dynamisch‐veränderbaren  Kulturbe‐griffs zur Darstellung. Diskutiert wird  im Zusammenhang mit dem Eige‐nen und dem Fremden auch die Frage nach der Problematik der Kompara‐tistik. Abschließend wird die Hermeneutik des Eigenen und des Fremden im Denken von Karl  Jaspers, Edmund Husserl, Max Scheler und Munasu L. J. Duala‐M’bedy kritisch analysiert. Ziel ist es, herauszuarbeiten, ob und inwieweit  unterschiedliche  Betrachtungsformen  des  Eigenen  und  des Fremden Auswirkungen auf den Umgang zwischen und  innerhalb dieser Kategorien haben. 

1. Theoretische Basis der Interkulturalität Die  Bezeichnung  ›Interkulturalität‹ wird  in  vielen  Diskursen  verwendet und  als  ein  neues  Paradigma  eingeführt.  Bei  näherer  Betrachtung  zeigt sich, daß viele, die diesen Begriff gebrauchen, häufig kaum mehr als eine vage Vorstellung dessen haben, was mit Interkulturalität zu verbinden ist. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein Konglomerat von  Ideen und Aus‐einandersetzungen, die sich häufig widersprechen. Bislang  fehlt eine  fun‐dierte Theorie der Praxis,  eine Praxis der Theorie1 und  eine methodische 

1   Die kontroverse Debatte um die  Interkulturalität verweist auf unterschiedliche 

Probleme: zum einen stellt sich die Frage,  inwiefern eine Umsetzung eines sol‐chen gesellschaftspolitisch relevanten Themas politisch erwünscht ist, zum ande‐ren zeigt dieses nicht unumstrittene Thema in besonderer Weise auf, daß häufig auf Kosten einer problem‐ und sachorientierten Diskussion akademische Spitz‐findigkeiten in den Vordergrund gerückt werden. In diesem Fall werden Auffas‐

Page 27: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

26 Hamid Reza Yousefi

Basis, welche das Wechselverhältnis dieser Theorien verdeutlichen könnte. Eine genuine Thematik der  Interkulturalität  ist die Suche nach  einer me‐thodischen Antwort auf die Frage, wie der lernende Umgang mit dem An‐ders‐ oder Fremdkulturellen  innerhalb sowie zwischen dem Eigenen und dem Fremden gestaltet und entfaltet werden kann. Interkulturalität  ist  ein  Jahrtausende  altes Phänomen.  Sie  ist weder  ein 

europäisches noch ein außereuropäisches Projekt, sondern ein weltumfas‐sendes. Sie  ist mit keinem Namen, keiner Epoche und keiner bestimmten Philosophie oder Tradition verbunden.  Sie  spricht unterschiedliche  Spra‐chen und läßt sich unterschiedlich begründen.2 Der persische Philosoph Abu Hamed Mohammad ibn Mohammad Gha‐

zali  (1058‐1111)  thematisiert  im  Rahmen  seines Werkes  ›Das  Elixier  der Glückseligkeit‹ die  anthropologische Grundlage der Menschenrechte und die des Humanismus:  »Der Mensch  ist  nicht  zum  Scherz und  für  nichts erschaffen, sondern hoch ist sein Wert und groß seine Würde.«3 Das Prin‐zip der Unverfügbarkeit des  Individuums und die Unantastbarkeit seiner Würde bilden gemäß dieser Forderung Ghazalis die  tragenden Säulen ei‐ner reflektierten Theorie der  Interkulturalität.  Ihr Konzept  fußt auf einem schnell  erklärten  Gerechtigkeits‐  und  Gleichheitsbegriff.  Aufgrund  der Tatsache, daß alle Menschen an Wert gleich sind, weil sie Menschen sind, haben  alle  das  gleiche  Selbstbestimmungsrecht.  Niemand  darf  sich  auf Kosten eines oder einer Anderen bereichern, sei es materiell oder immate‐riell. Jede Reglementierung des Menschen durch eine Dominanz der Macht läuft dem Prinzip der Interkulturalität zuwider. Damit wird die politische Forderung und mithin  ein  zentrales Hindernis der  Interkulturalität deut‐lich. Meine wissenschaftliche Aufgabe  ist  eine  faktenorientierte Analyse, 

sungen nicht mehr um der Sache willen vertreten, es spricht die Autorität, die keine weiteren als die eigenen Satrapen akzeptiert. 

2   Die Präsenz von Interkulturalität kann unter verschiedenen Aspekten wie histo‐rischen, pädagogischen,  kulturellen,  religiösen,  ethnologischen,  soziologischen, linguistischen,  politischen,  wirtschaftlichen  sowie  philosophischen  Gesichts‐punkten analysiert werden. 

3   Ghazali, Abu Hamed Mohammad ibn Mohammad: Das Elixier der Glückseligkeit, Köln 1979 S. 26. Auch  Jan Amos Comenius  (1592‐1670) hält alle Menschen  jen‐seits ihrer Kulturzugehörigkeit als gleichwertig. Vgl. Comenius, Jan Amos: Große Didaktik, hrsg. v. Hans Ahrbeck, Berlin 1957 S. 146. 

Page 28: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Phänomenologie des Eigenen und des Fremden

27

ob, wo und warum Theorie und Wirklichkeit auseinanderklaffen und wel‐che Alternativen es zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes gibt.4 Die  Idee  der  Interkulturalität  als  eine Denknotwendigkeit  entwickelte 

sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit der de facto‐Beendigung der Koloni‐alzeit.5 Das Adjektiv  ›interkulturell‹ beschreibt also das Zusammenkom‐men  von Völkern unterschiedlicher Kulturregionen und das Eintreten  in einen Dialog auf gleicher Augenhöhe.6 Ob wir uns in einer solchen herme‐neutischen Situation befinden, ist nicht leicht zu beantworten, aber wir sind innerhalb dieses Prozesses auf dem Weg dorthin. Eine offene Theorie der  Interkulturalität vermeidet  jede Form von emo‐

tionaler,  moralisierender  und  nützlichkeitsorientierter  Argumentations‐weise. Das Prinzip der Unparteilichkeit ist hier konstitutiv. Diesem Prinzip nach  ist  die  Interkulturalität  einer  Kommunikation  verpflichtet,  welche geschichtliche und gegenwärtige Dimensionen gleichermaßen berücksich‐tigt. Sie will bestehende Diskurse aus ihrer Monokausalität befreien. Dabei bedingen  sich  Verstehen‐Wollen  und  Verstanden‐Werden‐Wollen  zwi‐schen und  innerhalb des Eigenen und des Fremden gegenseitig. Wer ver‐standen werden will, muß bereit  sein zu verstehen. Dies  ist ein zentrales Problem der interkulturellen Praxis. Interkulturalität hat also mit Begegnung bzw. Begegnungen zu  tun, die 

auf Reziprozität hin angelegt sind. Das Eigene in Form von ›Wir‹ und das Fremde in Form von ›Anderen‹ sind dementsprechend in ihrer Subjektivi‐

4   Vgl.  Yousefi,  Hamid  Reza:  Theorie  und  Praxis  der Menschenrechte.  Historische 

Hintergründe und aktuelle Aporien, in: Wege zu Menschenrechten. Geschichten und  Gehalte  eines  umstrittenen  Begriffs,  hrsg.  v.  Hamid  Reza  Yousefi  u.a., Nordhausen 2008 (23‐52). 

5   Vgl. hierzu meine Ausführungen  in: Braun,  Ina und Hermann‐Josef Scheidgen: Interkulturalität Wozu? Hamid  Reza  Yousefi  und  Peter  Gerdsen  im  Gespräch, Nordhausen  2008.  Der  Begriff  der  ›Interkulturalität‹  läßt  sich  in  ein  ›vor‐koloniales‹, ein ›koloniales‹ und ein ›post‐koloniales Weltalter‹ unterteilen. Diese Problematik wird im Rahmen eines anderen Projekts behandelt. 

6   Der Begriff der  ›Interkulturalität‹ setzt sich von  ›Transkulturalität‹ und  ›Multi‐kulturalität‹  ab. Während  erstere  von  einer  radikalen Hybridität der Kulturen ausgeht,  intendieren  letztere  eine  kulturelle  Homogenisierung.  Vgl.  Yousefi, Hamid Reza und  Ina Braun:  Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen. Das  Is‐lambild im christlichen Abendland, Nordhausen 2005 S. 224 ff. 

Page 29: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

28 Hamid Reza Yousefi

tät an die gleichen Bedingungen der Leiblichkeit gebunden und sind keine geschlossenen Monaden.  Interkulturalität  kennt  unterschiedliche Dimen‐sionen und vollzieht sich im Rahmen dieser Begegnungen durch eine Viel‐zahl von Dialogen7: 

1. einem kulturellen, der keine Tradition bevorzugt, aber eine wechselseitige Berei-cherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert,

2. einem philosophischen, der die Einsicht kultiviert, daß das Wahre von allen ge-sucht wird, aber niemandes Besitz allein ist,

3. einem philosophiegeschichtlichen, der von einer Pluralität von Geschichten und einer Pluralität von philosophischen Denkwegen ausgeht und jede Privilegierung oder Verabsolutierung zurückweist,

4. einem religiösen, der aufzeigt, daß Religion in unterschiedlichen Erscheinungs-formen auftritt und daß Erlösung auch ohne Gott möglich ist,

5. einem religionswissenschaftlichen, der beinhaltet, wie Religionen und Kulturen in einer gemeinsamen ›Lebenswelt‹ verwurzelt sind, die sie miteinander verbindet,

6. einem historischen, der sich mit den kolonialgeschichtlichen Folgen beschäftigt und darauf ausgerichtet ist, Überlappungen und Differenzen in Geschichte und Gegenwart der Kulturen herauszuarbeiten,

7. einem wirtschaftlichen, mit dem Ziel, Grundprobleme der Globalisierung und Wirtschaftsethik wie Verteilungskonflikte im Kontext der Weltwirtschaft heraus-zuarbeiten,

8. einem pädagogischen, mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbil-dung eine Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern,

9. einem psychologischen, der die Grundzüge des seelischen Verhaltens der Men-schen auf der Ebene der Einstellung analysieren will,

10. einem soziologischen, der die Soziologie der Kulturen und die Auswirkungen in-tra- und interkulturellen Verhaltens auf gesellschaftliche Strukturen hin unter-sucht.

1. 1. Die Bedeutung des Kulturbegriffs Traditionelle Kulturtheorien haben oft die Homogenität von ›Kultur‹ bzw. ›Kulturen‹ zu sehr betont und durch grobe Verallgemeinerungen unverän‐derliche  Verhaltensweisen,  Wertvorstellungen,  symbolische  Ordnungen oder  Glaubenssysteme  identifiziert.  Kulturelle  Unterschiede  können  an solchen Merkmalen nicht ausschließlich verankert werden.  Intrakulturelle 

7   In einem  interkulturellen Kontext der Kommunikation müssen die Teilnehmer 

sich darüber im Klaren sein, wer sie sind. Hierbei ist die interkulturelle Kompe‐tenz von Bedeutung, die mit interkultureller Semantik, interkultureller Toleranz und  interkulturellem Humanismus einhergeht. Alle diese Komponenten setzen eine interkulturelle Hermeneutik voraus, die analogischen Charakter besitzt. 

Page 30: Wege zur Kultur Gemeinsamkeiten - download.e-bookshelf.de · und der genetische Code als biologische Basis des menschlichen Lebens, sondern auch die Ordnung der Natur.8 Mit dieser

Phänomenologie des Eigenen und des Fremden

29

›Unterschiede‹  zwischen Menschen  innerhalb  der  eigenen  ›Kultur‹  sind manchmal viel größer  als  zwischen Menschen, die  aus unterschiedlichen Kulturregionen  zusammenkommen.8  Dies  hängt  unter  anderem  damit zusammen,  daß Menschen  innerhalb  eines  Kulturgebiets  aufgrund  ver‐schiedener  sozialer Kriterien unterschiedliche  Sozialisationsformen  erfah‐ren. Intra‐ und Interkulturalität bedingen sich gegenseitig. Im Zentrum der Debatte um die Interkulturalität und ihre Themenfelder 

steht der Begriff der Kultur, der, ausgehend von unterschiedlichen Voraus‐setzungen, erläutert wird.9 Kultur wird gebildet durch eine Reihe von Pro‐zessen, die kognitiver, normativer, emotionaler und  religiöser Natur  sind und die  im Vergleich  und Verständnis der Kulturen  viele Ähnlichkeiten und  Differenzen  aufweisen.  Kultur  ist  somit  ein  offenes  Netzwerk  von Perspektiven und dynamischen Prozessen; ein offenes Sinn‐ und Orientie‐rungssystem; ein anthropologischer Ausdruck der Lebensweise der Völker, der  durch  Kommunikationsprozesse  hervorgebracht  und  reproduziert wird.  Kulturen  sind  keine  apriorischen Größen,  sondern  sie werden  als menschliche  Produkte  hervorgebracht,  die  sich  gegenseitig  beeinflussen und verändern. Kulturen  sind  vorläufige  und  bewegliche  Diskursfelder  mit  offenen 

Grenzen, die  sich  in Kommunikation miteinander entwickeln und verän‐dern.  Es  gibt  »keine  absolute  Kulturbestimmung,  sondern  nur  plurale Formen des kulturellen Menschseins.«10 Folglich ist der Mensch ein kultur‐geformtes Wesen, das sich in seinem historischen Lebensprozeß stets zwi‐schen  unterschiedlichen Kontexten  bewegt. Kulturen  besitzen  als  hetero‐gene  Netzwerke  integrativen  Charakter  mit  offenen  subkulturellen  Le‐benswelten.  Sie  entstehen  unter  bestimmten  kontextuellen  Bedingungen  8   Als Beispiel kann Mahatma Gandhi genannt werden, der als Hindu von einem 

Hindu ermordet wurde. Hier zeigt  sich, daß  intrakulturelle Differenzen  so ge‐wichtig sein können, daß sie Menschen zum Morden bringen. 

9   Andreas Reckwitz unterscheidet vier unterschiedliche Kulturkonzepte, ein nor‐matives,  ein  totalitätsorientiertes,  ein  differenzierungstheoretisches  sowie  ein bedeutungs‐  und  wissensorientiertes  Kulturkonzept.  Vgl.  Reckwitz,  Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Göttingen 2006 S. 64‐90. 

10  Krumpel,  Heinz:  Philosophie  in  Lateinamerika.  Grundzüge  ihrer  Entwicklung, Berlin 1992 S. 12.