Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

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Weihnachtsgeschichten

aus Rußland

ERZÄHLUNGEN

VON NIKOLAI GOGOL,

FJODOR M. DOSTOJEWSKIJ,

NIKOLAI LESKOW UND

ANTON TSCHECHOW

ARTEMIS VERLAG ZÜRICH UND MÜNCHEN

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DIE ERZÄHLUNGEN DIESES BANDES ENTSTAMMEN

DEN IN DER WINKLER-DÜNNDRUCKBIBLIOTHEK

DER WELTLITERATUR ERSCHIENENEN

WERKAUSGABEN DER EINZELNEN AUTOREN.

EINBANDMOTIV UND ILLUSTRATIONEN IM INHALT:

CELESTINO PIATTI.

TEXTAUSWAHL: MARTIN MÜLLER.

GESTALTUNG: PETER RÜFENACHT, ARTEMIS

© I984 ARTEMIS VERLAG AG ZÜRICH

PRINTED IN GERMANY

ISBN 3 7608 0642 2

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4 Erzählungen russischer Schriftsteller des 19.

Jahrhunderts, den diversen Winkler-Dünndruck-

Werkausgaben entnommen. Ihre zeitliche

Ansiedlung in der Weihnachtszeit bildet den

Rahmen für stilistisch und inhaltlich sehr

unterschiedliche Geschichten: Gogols aus der

ukrainischen Volksüberlieferung schöpfende,

durch märchenhafte Züge und den Einbruch des

Übernatürlichen in die Handlung gekennzeichnete

Erzählung „Die Weihnacht“, 2 kurze Geschichten

von Dostojewskij („Der Christbaum und die

Hochzeit“), Tschechows „Zur Weihnachtszeit“ und

Leskovs realistische Erzählung „Das Tier“.

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Nikolai Gogol

Die Weihnacht

Deutsch von Josef Hahn

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DER LETZTE TAG vor dem Fest war vergangen. Eine kalte, helle

Nacht brach herein. Es blinkten die Sterne. Der Mond zog

majestätisch am Himmel auf, um den guten Menschen und der

ganzen Welt zu leuchten, damit alle fröhlich Weihnachtslieder

singen und Christum preisen könnten. Es fror stärker als am

Morgen; aber dafür war es so still, daß das Krachen des Frostes

unter den Stiefeln eine halbe Werst weit zu hören war. Noch

hatte sich keine einzige Schar von Burschen unter den Fenstern

der Hütten gezeigt; nur der Mond allein blickte verstohlen

durch die Scheiben, als ob er die geputzten Mädchen

auffordern wollte, rasch in den knirschenden Schnee

hinauszulaufen. Da stiegen aus dem Schornstein einer Hütte

dichte Rauchschwaden auf und wälzten sich als Wolke gegen

den Himmel, und zugleich mit dem Rauch fuhr eine Hexe

rittlings auf einem Besen heraus. Wäre in diesem Augenblick

der Sorotschinsker Gerichtsassessor in seiner von

Einwohnerpferden gezogenen Troika vorbeigefahren, die nach

Ulanenart gemachte Mütze mit dem Lammfellbesatz auf dem

Kopf, in dem blauen, mit schwarzem Lammfell gefütterten

Pelz und mit der teuflisch geflochtenen Peitsche, mit der er

gewöhnlich seinen Kutscher antrieb, dann hätte er sie

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wahrscheinlich bemerkt, weil dem Sorotschinsker

Gerichtsassessor keine einzige Hexe auf der ganzen Welt

entging. Er konnte nämlich jedem Frauenzimmer an den

Fingern herzählen, wieviel Ferkel ihre Sau werfen werde und

wieviel Leinwand in der Truhe liege und was namentlich ein

braver Mann von seinen Kleidern und aus seiner Wirtschaft am

nächsten Sonntag in der Schenke versetzen werde. Aber der

Sorotschinsker Gerichtsassessor fuhr nicht vorbei, und was

gingen ihn auch fremde Leute an, er hatte seine eigene

Gemeinde. Die Hexe hatte sich indessen so hoch erhoben, daß

sie nur noch als schwarzes Pünktchen oben schwebte. Wo sich

aber dieses Pünktchen zeigte, dort verschwand ein Stern nach

dem anderen vom Himmel. Alsbald hatte die Hexe deren einen

ganzen Arm voll gesammelt. Nur drei oder vier blinkten noch.

Plötzlich zeigte sich von der entgegengesetzten Seite ein

anderes Pünktchen, wurde größer, dehnte sich aus und war

bald kein Pünktchen mehr. Ein Kurzsichtiger hätte sich statt

einer Brille die Räder von der Britschka des Kommissars auf

die Nase setzen können und noch immer nicht erkannt, was es

war. Von vorne sah es ganz wie ein Deutscher aus: das spitze,

unaufhörlich zuckende und alles, was ihm unterkam,

beschnüffelnde Schnäuzchen lief wie bei unseren Schweinen

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in ein rundes Kopekenstück aus, die Beine waren so dünn, daß

sie dem Dorfoberhaupt von Jarewskowo, hätte er die gleichen

gehabt, beim ersten Kasatschok abgebrochen wären. Aber

dafür sah es von hinten wie ein echter Gouvernementsfiskal in

Uniform aus, weil es einen Schwanz hängen hatte, so spitz und

lang, wie die Frackschöße an den neumodischen Uniformen;

höchstens an dem Bocksbart unter der Schnauze, an den

kleinen Hörnern, die aus dem Kopf ragten, und daran, daß es

nicht weißer als ein Schornsteinfeger war, konnte man erraten,

daß es sich nicht um einen Deutschen und nicht um den

Gouvernementsfiskal handelte, sondern einfach um den Teufel,

für den die letzte Nacht gekommen war, sich auf Gottes

schöner Welt herumzutreiben und die guten Menschen das

Sündigen zu lehren. Morgen, mit den ersten Glockentönen zur

Frühmesse, mußte er spornstreichs, mit eingezogenem

Schwanz, in seiner Höhle verschwinden.

Mittlerweile hatte sich der Teufel verstohlen an den Mond

herangeschlichen und streckte schon die Hand aus, um ihn zu

packen, aber plötzlich riß er sie zurück, als ob er sich verbrannt

hätte, lutschte an den Fingern, strampelte mit den Beinen und

lief von der anderen Seite heran und sprang wiederum zurück

und riß die Hand weg. Doch ungeachtet aller Mißerfolge ließ

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der schlaue Teufel von seinen Streichen nicht ab. Er nahm

einen Anlauf, packte plötzlich den Mond mit beiden Händen

und warf ihn zappelnd und blasend aus einer Hand in die

andere, wie ein Bauer, der mit bloßen Händen Feuer für seine

Pfeife holt; schließlich steckte er den Mond geschwind in eine

Tasche und lief, als ob nichts geschehen wäre, davon.

In Dikanka hatte niemand bemerkt, daß der Teufel den Mond

gestohlen hatte. Der Gemeindeschreiber freilich, der auf allen

vieren aus der Schenke kam, hatte wohl gesehen, daß der

Mond mir nichts, dir nichts am Himmel umhertanzte, und

versuchte davon unter hochheiligen Beteuerungen das ganze

Dorf zu überzeugen; aber die Leute schüttelten die Köpfe und

lachten ihn sogar aus. Doch welchen Grund hatte der Teufel

eigentlich, sich zu einem so gesetzwidrigen Werk zu

entschließen? Folgenden: er wußte, daß der reiche Kosak

Tschub vom Vorsänger zur Kutja eingeladen worden war, an

der außerdem das Dorfoberhaupt, ferner ein soeben

eingetroffener Verwandter des Vorsängers aus der

bischöflichen Sängerkapelle in einem blauen Rock und mit

einer unwahrscheinlich tiefen Baßstimme, der Kosak

Swerbyhus und noch dieser und jener teilnehmen sollten, und

daß außer der Kutja noch Warenucha, auf Safran angesetzter

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Wodka und vielerlei andere Leckerbissen bereitstanden.

Indessen würde aber Tschubs Töchterlein, das schönste

Mädchen im Dorf, allein zu Hause sein und zum Töchterlein

wahrscheinlich der Schmied kommen, ein Kraftriese und

Kindskopf, welcher dem Teufel widerwärtiger war als die

Predigten des Vaters Kondrat. In seinen Mußestunden pflegte

der Schmied sich nämlich mit der Malerei zu beschäftigen, und

er galt als der beste Maler in der ganzen Umgebung. Der

damals noch lebende Kosakenhetman L…ko hatte ihn eigens

nach Poltawa kommen lassen, um sich von ihm den

Bretterzaun vor seinem Haus streichen zu lassen. Alle

Schüsseln, aus denen die Kosaken von Dikanka ihren

Borschtsch schlürften, waren vom Schmied ausgemalt. Der

Schmied war ein gottesfürchtiger Mann und malte oft

Heiligenbilder: auch jetzt noch kann man in der Kirche von

T… seinen Evangelisten Lukas finden. Aber der Triumph

seiner Kunst war ein Bild, das er an die Kirchen wand in der

rechten Vorhalle gemalt hatte und das den heiligen Petrus am

Tage des Jüngsten Gerichts darstellte, wie er, mit den

Schlüsseln in der Hand, den bösen Geist aus der Hölle

vertreibt; der erschrockene Teufel rennt, sein Verderben

ahnend, nach allen Seiten, aber die bislang in der Hölle

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eingesperrten Sünder jagen und schlagen ihn mit Knuten,

Holzscheiten und allem, was ihnen gerade in die Hände

kommt. Schon während sich der Maler mit diesem Bilde plagte

und es auf eine große Holztafel malte, hatte ihn der Teufel aus

Leibeskräften zu stören versucht: er stieß ihn unsichtbar am

Arm und holte aus der Schmiede Ruß und streute ihn über das

Bild; aber trotz alledem wurde die Arbeit vollendet, die Tafel

in die Kirche getragen und an der Wand der Vorhalle befestigt,

und seitdem hatte der Teufel dem Schmied Rache geschworen.

Nur eine Nacht war ihm noch verblieben, sich auf Gottes

Welt herumzutreiben; und in dieser Nacht mußte er Mittel und

Wege finden, an dem Schmied seine ganze Wut auszulassen.

Deshalb hatte er beschlossen, den Mond zu stehlen, in der

Hoffnung, daß der alte Tschub, faul wie er war, nicht leicht auf

die Beine zu kriegen sein würde, zumal es von seiner Hütte bis

zum Vorsänger nicht sehr nahe war: der Weg führte hinterm

Dorf an den Windmühlen und am Friedhof vorbei und mußte

einer Schlucht ausweichen. In einer Mondnacht hätten die

Warenucha und der auf Safran angesetzte Wodka den alten

Tschub vielleicht noch betören können, aber bei dieser

Finsternis würde es wohl kaum jemand gelingen, ihn vom

Ofen herunterzulocken und aus der Hütte zu bringen. Und der

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Schmied, welcher schon lange nicht im besten Einvernehmen

mit ihm lebte, würde es um keinen Preis wagen, zu seiner

Tochter zu kommen, ungeachtet all seiner Kraft.

Auf diese Weise geschah es, daß es im selben Augenblick,

als der Teufel seinen Mond in die Tasche steckte, plötzlich so

finster wurde auf der ganzen Welt, daß kaum jemand in die

Schenke, geschweige denn zum Vorsänger gefunden hätte. Als

die Hexe ringsum die Finsternis gewahrte, stieß sie einen

Schrei aus. Da faßte sie der Teufel, der als kleiner Unhold

dahergefahren kam, am Ellenbogen und begann ihr das

nämliche ins Ohr zu flüstern, was die Männer gewöhnlich dem

ganzen Weibergeschlecht ins Ohr flüstern! Gar seltsam ist es

eingerichtet auf unserer Welt! Alles, was auf ihr lebt, strengt

sich nach Leibeskräften an, die anderen nachzuahmen und

nachzuäffen. Früher liefen in Mirgorod nur der Richter und das

Stadtoberhaupt wintersüber in tuchbezogenen Schafpelzen

herum, während die ganze kleine Beamtenschaft einfach

gegerbte Schafpelze trug; jetzt haben sich auch der

Gerichtsassessor und der Rentmeister neue Pelze aus feinstem

Lammfell mit Tuchbezug anmessen lassen. Der Kanzlist und

der Gemeindeschreiber haben sich vor zwei Jahren

Nankingstoff zu sechzig Kopeken die Elle gekauft. Der

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Kirchendiener hat sich für den Sommer gar eine Pluderhose

aus Nanking und eine Weste aus gestreiftem Kammgarn

gemacht. Mit einem Wort, alle wollen zu den feinen Leuten

gehören! Wann werden die Menschen nicht mehr eitel sein?

Man könnte wetten, daß es vielen absonderlich vorkommen

wird zu hören, daß der Teufel genau die gleichen Manieren

annimmt. Doch am ärgerlichsten ist, daß er sich

wahrscheinlich einbildet, ein schöner Mann zu sein, während

er ein Gestell hat, daß man sich schämt, einen Blick zu

riskieren. Seine Fratze ist, wie Foma Grigorjewitsch sagt, die

Abscheulichkeit aller Abscheulichkeiten – und dennoch will

auch er die Cour schneiden! Doch am Himmel und unter dem

Himmel wurde es so finster, daß man nicht mehr sehen konnte,

was zwischen den beiden weiter vorging.

«Also, Gevatter, du bist noch nicht beim Vorsänger in der

neuen Hütte gewesen?» sagte der Kosak Tschub, aus der Tür

seiner Hütte tretend, zu einem hageren, baumlangen Bauern in

kurzem Schafpelz, dessen struppiger Stoppelbart bekundete,

daß ihn seit gut zwei Wochen nicht mehr das Sensenstück, mit

dem sich die Bauern gewöhnlich in Ermangelung eines

Barbiermessers das Kinn schaben, berührt hatte. «Dort wird

schon die schönste Sauferei im Gange sein!» fuhr Tschub fort,

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wobei sich sein Gesicht zu einem breiten Schmunzeln verzog;

«daß wir nur nicht zu spät kommen.»

Damit rückte Tschub seinen Gürtel zurecht, der seinen

Schafpelz fest zusammenhielt, drückte sich die Mütze tiefer in

die Stirn und nahm die Knute – die Angst und der Schrecken

aller zudringlichen Hunde – fester in die Hand; doch als er

nach oben blickte, blieb er stehen…

«Ja zum Teufel! Schau doch, so schau doch, Panaß…»

«Was denn?» sagte der Gevatter und hob ebenfalls seinen

Kopf in die Höhe.

«Was denn! Der Mond ist weg!»

«Zum Kuckuck noch einmal! Tatsächlich, der Mond ist

weg.»

«Davon rede ich doch», sagte Tschub einigermaßen verärgert

über die unerschütterliche Gleichgültigkeit des Gevatters. «Das

schert dich wohl gar nicht!»

«Was soll ich denn tun dagegen?»

«Da hat es doch ausgerechnet jetzt», fuhr Tschub fort und

wischte sich mit dem Ärmel seinen Schnurrbart, «so ein Teufel

wieder nötig gehabt – daß er nie mehr, der Hundesohn, sein

Gläschen Schnaps am Morgen zu trinken bekäme! –, sich in

irgend etwas einzumischen! Wahrhaftig, wie zum Hohn… Als

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ich in der Hütte saß, habe ich noch absichtlich zum Fenster

hinausgeschaut: eine Nacht – wie ein Wunder! Hell, der

Schnee blitzte im Mondlicht. Alles war zu sehen wie am Tag.

Und man ist noch nicht zur Tür heraus, schon sieht man die

Hand vor den Augen nicht mehr!»

Tschub knurrte und schimpfte noch lange, dachte jedoch

gleichzeitig darüber nach, wozu er sich entschließen sollte. Er

hätte für sein Leben gern ein wenig über dies und das beim

Vorsänger geplaudert, wo, ohne jeden Zweifel, schon das

Dorfoberhaupt, der angereiste Baß und der Teersieder Mikita

saßen, welch letzterer alle zwei Wochen nach Poltawa auf den

Markt fuhr und solche Possen trieb, daß sich alle Leute im

Dorf den Bauch vor Lachen hielten. Schon sah Tschub im

Geiste die Warenucha auf dem Tisch stehen. Dies alles war

höchst verlockend, aber die Finsternis der Nacht erinnerte ihn

auch an jene Trägheit, die allen Kosaken teuer ist. Wie schön

wäre es jetzt, mit eingezogenen Beinen auf der Ofenbank zu

liegen, friedlich seine Pfeife zu rauchen und im berauschenden

Halbschlaf die Koljadki und Lieder der lustigen Burschen und

Mädchen zu hören, die sich in Scharen vor den Fenstern

drängen würden. Er hätte sich ohne jeden Zweifel für letzteres

entschlossen, wenn er allein gewesen wäre; aber jetzt, zu

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zweit, war es nicht mehr so langweilig und schrecklich, durch

die finstere Nacht zu gehen, und er wollte auch vor den

anderen nicht faul oder ängstlich erscheinen. Als er mit dem

Schimpfen fertig war, wandte er sich erneut an den Gevatter.

«Der Mond, Gevatter, ist also nicht da?»

«Nein.»

«Seltsam, wirklich! Laß mich einmal schnupfen. Du hast

immer einen so herrlichen Tabak, Gevatter! Woher hast du

ihn?»

«Den Teufel was ist er herrlich!» antwortete der Gevatter,

indem er die Tabaksdose aus Birkenholz mit den eingeritzten

Mustern wieder zuklappte. «Keine alte Henne bringt er zum

Niesen.»

«Ich erinnere mich», fuhr Tschub im gleichen Ton fort, «daß

mir der verstorbene Schankwirt Susulja, Gott hab ihn selig,

einmal einen Tabak aus Neschin mitgebracht hat. Ach, das war

ein Tabak! Ein guter Tabak war das! Also, Gevatter, wie sollen

wir es halten? Es ist finster hier draußen.»

«Dann bleiben wir meinetwegen zu Hause», sagte der

Gevatter und griff nach der Türklinke.

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Hätte der Gevatter das nicht gesagt, so würde sich Tschub

wahrscheinlich entschlossen haben, daheim zu bleiben, aber

jetzt schien ihn geradezu etwas zu reizen, trotzdem zu gehen.

«Nein, Gevatter, gehen wir! Das gibt’s nicht, wir müssen

gehen!»

Kaum hatte er das gesagt, war er schon wütend auf sich, es

gesagt zu haben. Es war ihm sehr unangenehm, in einer

solchen Nacht umherirren zu müssen; aber es tröstete ihn der

Gedanke, daß er selber es so gewollt und gerade das Gegenteil

von dem getan habe, was man ihm geraten hatte.

Der Gevatter, dessen Gesicht nicht die kleinste Regung von

Ärger bekundete, weil es ihm völlig gleichgültig war, ob er zu

Hause saß oder sich außer Haus herumtrieb, schaute sich noch

einmal um, kratzte sich mit dem Peitschenstiel die Schultern,

und die zwei Gevattern machten sich auf den Weg.

Jetzt wollen wir zusehen, was Tschubs allein gebliebenes

schönes Töchterlein macht. Oxana war noch keine siebzehn

Jahre alt, als schier auf der ganzen Welt, sowohl auf der einen

Seite von Dikanka als auch auf der anderen Seite von Dikanka,

von nichts anderem als von ihr die Rede war. Die Burschen

erklärten einstimmig, daß es ein schöneres Mädchen im Dorfe

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noch niemals gegeben habe und niemals mehr geben werde.

Oxana wußte und hörte alles, was über sie gesprochen wurde,

und war kapriziös, wie ein schönes Mädchen eben ist. Wäre sie

nicht in Kopftuch und Joppe gegangen, sondern in einem

Kapot, hätte sie alle paar Wochen ihre Dienstmädchen und

Zofen davongejagt. Die Burschen liefen ihr scharenweise nach,

verloren jedoch allmählich die Geduld, blieben langsam aus

und wandten sich anderen, nicht so verwöhnten Mädchen zu.

Nur der Schmied blieb hartnäckig und gab seine Scharwenzelei

nicht auf, ohne sich darum zu scheren, daß er kein bißchen

besser behandelt wurde als die übrigen.

Nachdem ihr Vater gegangen war, putzte und zierte sie sich

noch lange vor dem kleinen Spiegel im Bleirahmen und konnte

sich an ihrer Schönheit nicht satt sehen. «Was fällt den Leuten

nur ein, überall herumzuschreien, daß ich schön sei?» sagte sie

wie zerstreut, nur um einen Vorwand zu haben, über irgend

etwas mit sich selber schwätzen zu können. «Die Leute lügen,

ich bin überhaupt nicht schön.» Doch das im Spiegel

aufleuchtende frische, lebhafte, kindlich junge Gesicht mit den

blitzenden schwarzen Augen und dem unaussprechlich

reizenden Lächeln, welches einem das Herz erwärmte, bewies

das Gegenteil. «Sind denn meine schwarzen Brauen und

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Augen», fuhr das schöne Mädchen, ohne vom Spiegel

abzulassen, fort, «so schön, daß es ihresgleichen auf der Welt

nicht gibt? Was ist da schön an dieser nach oben gebogenen

Nase? und an den Wangen? und an den Lippen? Sollen meine

schwarzen Zöpfe etwa schön sein? Hu! abends könnte man

erschrecken vor ihnen: sie haben sich wie zwei lange

Schlangen um meinen Kopf gewunden und geschlungen. Ich

sehe jetzt, daß ich überhaupt nicht schön bin!» Und indem sie

den Spiegel etwas weiter weg hielt, schrie sie auf: «Nein,

schön bin ich! Ach, wie schön! Ein Wunder! Was für eine

Freude werde ich dem ins Haus bringen, dessen Weib ich

werde! Wie wird sich mein Mann an mir berauschen! Er wird

nicht zu sich kommen. Er wird mich zu Tode küssen.»

«Ein wunderbares Mädchen!» flüsterte der leise eintretende

Schmied, «und keine Spur von Eitelkeit und Prahlerei! Seit

einer Stunde steht sie da, schaut in den Spiegel und kann sich

nicht satt sehen und lobt sich auch noch laut!»

«Ja, ihr Burschen, gefalle ich euch so? Ihr schaut mir nach»,

fuhr die schöne Kokette fort, «wie ich geschmeidig dahingehe;

mein Hemdchen ist mit roter Seide bestickt. Und was für

Bänder ich auf dem Kopf habe! Euer Lebtag werdet ihr keine

reicheren Goldborten sehen! All dies hat mir mein Vater

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deshalb gekauft, damit mich der schönste Bursch auf der Welt

heiratet!» Und lächelnd wandte sie sich auf die andere Seite

und erblickte den Schmied…

Sie schrie auf und blieb strenge vor ihm stehen.

Der Schmied ließ die Arme sinken.

Es ist schwer zu sagen, was das dunkle Gesicht des

wunderbaren Mädchens ausdrückte: auch Strenge war zu

bemerken, und durch die Strenge hindurch ein gewisser Spott

über den verdutzten Schmied, und eine kaum wahrnehmbare

Zornesröte ergoß sich über das Gesicht; und dies alles

vermischte sich und machte sie so unbeschreiblich schön, daß

man sie hätte millionenmal abküssen mögen… das war das

Beste, was man in diesem Augenblick hätte tun können.

«Weshalb bist du hergekommen?» begann Oxana. «Willst du

vielleicht, daß ich dich mit der Ofenschaufel zur Tür hinaus

jage? Sie verstehen es meisterhaft, sich an uns heranzumachen.

Im Nu schnüffeln Sie aus, wann der Vater nicht daheim ist.

Oh, ich kenne Sie! Nun, ist meine Truhe fertig?»

«Sie ist bald fertig, mein Herzchen, nach den Feiertagen wird

sie fertig. Wenn du wüßtest, was für Mühe ich mir gegeben

habe: zwei Nächte lang bin ich nicht aus der Schmiede

gekommen; dafür wird auch keine Popentochter eine solche

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Truhe haben. Eisen für die Beschläge habe ich ein so gutes

darangemacht, wie ich es nicht einmal für das Kabriolett des

Hetmans genommen habe, als ich noch nach Poltawa in die

Arbeit ging. Und wie schön bemalt sie erst sein wird! Auch

wenn du die ganze Umgebung mit deinen weißen Füßchen

abgehst, wirst du keine zweite solche finden! Über den ganzen

Grund werden rote und blaue Blümchen verstreut sein.

Leuchten wird sie wie Feuer. Ärgere dich nicht über mich!

Erlaube mir wenigstens, mit dir zu reden und dich

anzuschauen!»

«Wer verbietet dir das? Rede und schau!»

Damit setzte sie sich auf die Bank und schaute wieder in den

Spiegel und begann die Zöpfe auf ihrem Kopf zu ordnen. Sie

warf einen Blick auf den Hals, auf das neue, seidenbestickte

Hemd, und ein angenehmes Gefühl der Selbstzufriedenheit

spiegelte sich auf den Lippen und auf den frischen Wangen

wider und leuchtete in ihren Augen auf.

«Erlaube, daß ich mich neben dich setze!» sagte der Schmied.

«Setz dich», sagte Oxana, ohne daß die Lippen und die

Augen den selbstzufriedenen Ausdruck verloren hätten.

«Wunderbare, herzallerliebste Oxana, gestatte mir, dich zu

küssen!» sprach der ermutigte Schmied und drückte sie an

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sich, in der Absicht, ihr einen Kuß zu rauben. Doch Oxana

drehte ihr Gesicht weg, das sich schon in einem winzigen

Abstand von den Lippen des Schmiedes befunden hatte, und

stieß ihn weg.

«Was du nicht alles möchtest! Kaum hat er den Honig,

braucht er auch einen Löffel! Geh fort, deine Hände sind härter

als Eisen. Außerdem stinkst du nach Rauch. Ich glaube, du

hast mich ganz mit Ruß beschmiert.»

Damit nahm sie den Spiegel zur Hand und begann sich vor

ihm aufs neue zu verschönern.

Sie liebt mich nicht, dachte der Schmied bei sich und ließ den

Kopf hängen. Für sie ist alles nur Spielzeug; ich stehe wie ein

Narr vor ihr und kann kein Auge von ihr wenden. Und ich

möchte immer vor ihr stehen und mein Lebtag kein Auge von

ihr wenden. Ein wunderbares Mädchen! Was würde ich dafür

geben, wenn ich in Erfahrung bringen könnte, was in ihrem

Herzen vorgeht und wen sie liebt! Aber nein, sie braucht ja

überhaupt keinen. Sie liebt nur sich selber und quält mich

Armen; und ich sehe vor Traurigkeit die Welt nicht mehr; aber

ich liebe sie so, wie noch kein Mensch auf der Welt geliebt hat

und jemals lieben wird.

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«Ist es wahr, daß deine Mutter eine Hexe ist?» fragte Oxana

und lachte; auch der Schmied spürte, daß in seinem Innern

alles zu lachen begann. Ihr Gelächter schien auf einmal im

Herzen und in den leise erschauernden Adern Widerhall zu

finden; und mit alledem zog der Ärger in seine Seele ein, daß

er nicht imstande war, ein so reizendes lachendes Gesichtlein

zu küssen.

«Was geht mich meine Mutter an? Du bist mir Mutter und

Vater und alles, was es Teures auf der Welt gibt. Wenn mich

der Zar rufen ließe und sagte: ‹Schmied Wakula, du darfst

mich um alles bitten, was es Schönes in meinem Zarenreich

gibt, ich will dir alles geben. Ich lasse dir eine goldene

Schmiede bauen, und du wirst mit silbernen Hämmern

schmieden.› – ‹Ich will›, würde ich dem Zaren antworten,

‹weder kostbare Edelsteine noch eine goldene Schmiede noch

dein ganzes Zarenreich: gib mir lieber meine Oxana!›»

«Da schau, so einer bist du also! Nur läßt sich mein Vater

auch nicht foppen. Du wirst sehen, daß er deine Mutter

heiratet», sagte Oxana und lächelte spöttisch… «Aber warum

kommen die Mädchen nicht?… Was soll das bedeuten? Es ist

höchste Zeit zum Koljadkisingen. Mir wird es allmählich

langweilig.»

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«Gott mit Ihnen, meine Schönste!»

«Warum nicht gar! Mit Ihnen werden sicher auch die

Burschen kommen. Dann geht es los. Ich stelle mir schon vor,

was für lustige Geschichten sie erzählen werden!»

«Du findest es also lustig in ihrer Gesellschaft?»

«Lustiger schon als mit dir. Ha! es hat jemand geklopft;

wahrscheinlich kommen die Mädchen mit den Burschen.»

Was soll ich noch länger warten? sprach der Schmied zu sich

selber. Sie macht sich doch nur lustig über mich. Ich bin ihr

ebensoviel wert wie ein verrostetes Hufeisen. Aber wenn es

wirklich so ist, dann soll wenigstens kein anderer dazu

kommen, über mich zu lachen. Wenn ich nur genau wüßte, wer

ihr besser gefällt als ich; den würde ich lehren…

Pochen an der Tür und eine schroff in die Kälte erklingende

Stimme: «Aufmachen!» rissen den Schmied aus seinen

Gedanken.

«Bleib da, ich mache selber auf», sagte der Schmied und ging

in den Flur hinaus, fest entschlossen, dem ersten ihm unter die

Finger geratenden Menschen aus Ärger alle Rippen zu

brechen.

Der Frost hatte zugenommen, und in der Höhe war es so kalt

geworden, daß der Teufel von einem Huf auf den anderen

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hüpfte, sich in die Fäuste blies und nichts sehnlicher wünschte,

als sich ein wenig die erfrorenen Hände aufwärmen zu können.

Es war aber auch kein Wunder, wenn es ihn so fror, da er sich

ja tagaus, tagein in der Hölle herumtrieb, wo es bekanntlich

nicht so kalt ist wie bei uns im Winter und wo er mit einer

weißen Mütze auf dem Kopf wie ein richtiger Küchenmeister

vor dem Herd stand und die Sünder mit demselben

Wohlbehagen briet, mit dem gewöhnlich die Weiber zu

Weihnachten Würste braten.

Auch die Hexe spürte, daß es kalt war, ungeachtet dessen,

daß sie warm angezogen war; deshalb hob sie die Arme in die

Höhe, schob ein Bein vor, nahm die gleiche Haltung an wie ein

Mensch, der Schlittschuh laufen will, und fuhr, ohne ein Glied

zu rühren, durch die Luft wie von einem steilen Eisberg herab,

schnurstracks in den Schornstein.

Der Teufel folgte ihr auf dieselbe Weise nach. Weil aber

dieses Tier viel gewandter als jeder Geck in Seidenstrümpfen

ist, war es kein Wunder, daß er gerade beim Eintritt in den

Schornstein seiner Geliebten um den Hals fiel, und beide

befanden sich in einem geräumigen Backofen zwischen den

Töpfen.

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Die Luftreisende schob vorsichtig das Ofenblech zur Seite

und schaute nach, ob ihr Sohn Wakula keine Gäste in die Hütte

gebeten hätte; als sie jedoch sah, daß niemand da war,

ausgenommen ein paar Säcke, die mitten in der Stube lagen,

kroch sie aus dem Ofen, warf ihren warmen Pelz ab, machte

sich zurecht, und niemand hätte erkannt, daß sie noch vor einer

Minute auf dem Besen geritten war.

Die Mutter des Schmieds Wakula war nicht älter als vierzig

Jahre. Sie war weder schön noch häßlich. Es ist auch

schwierig, in diesem Alter noch schön zu sein. Dennoch

verstand sie es, selbst die angesehensten und ehrbarsten

Kosaken (denen es, nebenbei bemerkt, weniger um die

Schönheit zu tun war) so zu behexen, daß sowohl das

Dorfoberhaupt als auch der Vorsänger (freilich nur dann, wenn

seine Vorsängerin nicht daheim war) als auch der Kosak

Kornij Tschub und der Kosak Kasja Swerbyhus zu ihr gingen.

Zu ihrer Ehre muß allerdings gesagt werden, daß sie mit allen

ausgezeichnet umzugehen verstand. Nicht einem von ihnen

wäre es in den Sinn gekommen, daß er einen Nebenbuhler

hatte. Ging ein frommer Bauer oder ein Edelmann, wie sich die

Kosaken selbst nennen, angetan mit Mantel und Kapuze, am

Sonntag in die Kirche oder, wenn schlechtes Wetter war, in die

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Schenke – warum sollte er nicht bei Solocha einkehren, ein

paar fette Quarktaschen mit Rahm essen und in der warmen

Stube mit der gesprächigen und gefälligen Hausfrau plaudern?

Auch die Edelleute machten eigens zu diesem Zweck einen

großen Umweg, bevor sie in die Schenke einfielen, und

nannten dies – unterwegs einkehren. Wenn aber Solocha

zuweilen an einem Feiertag in ihrem grellen Kopftuch und der

Nankingschürze samt der blauen Joppe darüber, auf der hinten

goldene Bänder aufgenäht waren, in die Kirche ging und sich

gerade neben dem rechten Chor aufstellte, begann der

Vorsänger sicherlich zu hüsteln und schielte unwillkürlich zur

Seite; das Dorfoberhaupt strich sich den Schnurrbart, wickelte

sich seine Kosakenlocke ums Ohr und sagte zu dem neben ihm

stehenden Nachbarn: «Ach, ein gutes Weib! Ein Teufelsweib!»

Solocha grüßte jeden, und jeder glaubte, daß sie nur ihn allein

grüße. Doch jeder, der sich gerne in fremder Leute

Angelegenheiten mischte, hätte sofort erkannt, daß Solocha am

freundlichsten mit dem Kosaken Tschub tat. Tschub war

Witwer. Acht Schober Getreide standen immer vor seiner

Hütte. Zwei Paar fette Ochsen streckten ihre Köpfe durch den

Flechtzaun des Schuppens auf die Straße hinaus und muhten,

wenn sie eine vorbeigehende Gevatterin, eine Kuh, oder ihren

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Onkel, den dicken Stier, erblickten. Ein bärtiger Ziegenbock

kletterte hoch oben auf dem Dach herum und meckerte von

dort mit barscher Stimme, just wie ein Stadthauptmann,

herunter, um die auf dem Hof herumstolzierenden Truthähne

zu reizen, oder er kehrte das Hinterteil hervor, wenn er seine

Feinde, die Dorfbuben, erblickte, die sich über seinen Bart

lustig machten. In Tschubs Kasten und Truhen lagen viele

Ellen Leinwand, Schupane und altertümliche Kontuschen mit

goldenen Borten: sein verstorbenes Eheweib war eine

Putznärrin gewesen. Im Gemüsegarten wurden außer Mohn,

Kraut und Sonnenblumen jedes Jahr noch zwei Beete Tabak

angebaut. Dies alles erachtete Solocha keineswegs als

unwürdig, ihrer eigenen Wirtschaft einverleibt zu werden, und

sie überlegte schon im voraus, welche Ordnung sie einführen

wollte, falls es in ihre Hände überginge, und verdoppelte ihr

Wohlwollen gegen den alten Tschub. Damit sich aber ihr Sohn

Wakula nicht irgendwie an dessen Tochter heranmachte und

alles für sich einheimste und sie dann – wie es wahrscheinlich

war – hinderte, sich in etwas einzumischen, nahm sie ihre

Zuflucht zu dem gewöhnlichen Mittel aller vierzigjährigen

Gevatterinnen und hetzte möglichst oft Tschub und den

Schmied gegeneinander auf. Vielleicht waren eben diese ihre

Page 29: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Listen und Machenschaften schuld daran, daß die alten Weiber

da und dort, besonders wenn sie bei einer fröhlichen

Zusammenkunft ein Gläschen zu viel getrunken hatten, zu

munkeln anhuben, daß Solocha wirklich eine Hexe sei, daß der

Bursche Kisjakolupenko bei ihr hinten einen Schwanz nicht

größer als eine Flachsspindel gesehen habe, daß sie erst

vorvorigen Donnerstag in Gestalt einer schwarzen Katze über

die Straße gelaufen sei, wie ein Hahn gekräht habe, sich die

Priestermütze des Vaters Kondrat aufgesetzt habe und wieder

davongelaufen sei.

Der Zufall wollte es, daß gerade bei einer Gelegenheit, als die

alten Weiber wieder einmal darüber tuschelten, ein Kuhhirte

namens Tymisch Korostjawyj dazukam. Er versäumte nicht zu

erzählen, daß er im Sommer, just vor Petrifasten, als er sich im

Stall schlafen gelegt und ein Bündel Stroh unter den Kopf

gebreitet hatte, mit eigenen Augen gesehen habe, wie eine

Hexe mit aufgelöstem Zopf und im bloßen Hemd die Kühe zu

melken angefangen habe; er dagegen habe sich nicht rühren

können, weil er ganz verzaubert gewesen sei; und nach dem

Kühemelken sei sie zu ihm gekommen und habe ihm die

Lippen mit etwas so Widerlichem beschmiert, daß er noch

einen ganzen Tag danach gespuckt habe. Doch dies alles ist

Page 30: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

einigermaßen zweifelhaft, weil nur der Sorotschinsker

Gerichtsassessor Hexen zu sehen vermag. Und so winkten

denn auch alle angesehenen Kosaken verächtlich ab, wenn sie

solche Reden vernahmen. «Sie lügen, die Hundeweiber!» war

ihre gewöhnliche Antwort.

Nachdem Solocha aus dem Ofen gekrochen und sich

zurechtgemacht hatte, begann sie als gute Hausfrau

aufzuräumen und alles an seinen Platz zu stellen; nur die Säcke

rührte sie nicht an. «Hat sie Wakula gebracht, soll er sie auch

wieder hinaustragen!» Indessen hatte sich der Teufel, als er

zum Schornstein hereinflog, zufällig umgeschaut und Tschub

Arm in Arm mit dem Gevatter erblickt, schon weit von seiner

Hütte entfernt. Augenblicklich fuhr er wieder aus dem Ofen

hinaus, lief ihnen über den Weg und begann von allen Seiten

Haufen gefrorenen Schnees aufzuwirbeln. Es erhob sich ein

Schneegestöber. In der Luft wurde alles weiß. Der Schnee

wirbelte vorne und hinten wie eine Wand empor und drohte

den Fußgängern Augen, Mund und Ohren zu verkleben. Und

der Teufel flog wieder in den Schornstein hinein, in der festen

Überzeugung, daß Tschub mit dem Gevatter umkehren, den

Schmied bei seiner Tochter antreffen und so traktieren werde,

Page 31: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

daß er lange nicht imstande sein dürfte, einen Pinsel in die

Hand zu nehmen und beleidigende Karikaturen zu malen.

Tatsächlich! Kaum daß sich das Schneegestöber erhoben und

der Wind angefangen hatte, ihm gerade ins Gesicht zu

schneiden, da bekundete Tschub auch schon Reue; er zog sich

die Mütze tiefer über die Ohren und traktierte sich selber, den

Teufel und den Gevatter mit allerhand kräftigen

Schimpfwörtern. Im übrigen war dieser Ärger nur geheuchelt.

Tschub freute sich höchlichst über das plötzliche

Schneegestöber. Bis zur Hütte des Vorsängers war es immer

noch das Achtfache der Strecke, die sie bis jetzt zurückgelegt

hatten. Die Wanderer kehrten um. Der Wind blies ihnen jetzt

zwar in den Nacken, aber durch den wirbelnden Schnee

hindurch war nichts zu sehen.

«Bleib stehen, Gevatter! Ich glaube, wir sind auf dem

falschen Weg», sagte Tschub, nachdem sie ein Weilchen

gegangen waren. «Ich sehe keine einzige Hütte. Äh, was für

ein Schneegestöber! Schau doch ein wenig auf die andere

Seite, Gevatter, ob du nicht den Weg findest; ich werde

inzwischen hier suchen. Daß uns auch der Leibhaftige reiten

mußte, bei so einem Schneesturm auszugehen! Vergiß nicht zu

Page 32: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

schreien, wenn du den Weg findest. Ach, was für einen Batzen

Schnee mir der Satan in die Augen geblasen hat!»

Aber von einem Weg war nichts zu sehen. Der Gevatter, der

auf die andere Seite gegangen war, irrte in seinen langen

Stiefeln vor und zurück und stieß zu guter Letzt direkt auf die

Schenke. Diese Entdeckung freute ihn dermaßen, daß er alles

vergaß, den Schnee von sich klopfte und in den Flur

hineinging, ohne sich um den auf der Straße

zurückgebliebenen Gevatter im geringsten zu kümmern.

Tschub glaubte indessen den richtigen Weg gefunden zu

haben; er blieb stehen, begann aus Leibeskräften zu schreien,

doch als er merkte, daß der Gevatter nicht zum Vorschein kam,

beschloß er, allein weiterzugehen. Nach kurzer Zeit erblickte

er seine Hütte. Berge von Schnee lagen ringsherum und auf

dem Dach. Er schlug die in der Kälte erstarrten Hände

gegeneinander, begann an die Tür zu klopfen und rief seiner

Tochter gebieterisch zu, aufzumachen.

«Was hast du da verloren?» schrie ihn der herauskommende

Schmied grob an.

Tschub, der die Stimme des Schmieds erkannte, trat einige

Schritte zurück. Hm, nein, das ist nicht meine Hütte, sagte er

sich, in meine Hütte verirrt sich der Schmied nicht. Doch wenn

Page 33: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

ich sie mir genauer betrachte, so ist es auch nicht die Hütte des

Schmieds. Wem könnte sie nur gehören? Aber natürlich! Daß

ich sie nicht gleich erkannt habe! Das ist die Hütte des lahmen

Lewtschenko, der unlängst eine junge Frau geheiratet hat.

Lediglich seine Hütte sieht der meinen so ähnlich. Deshalb ist

es mir zuerst auch ein wenig seltsam vorgekommen, daß ich so

schnell daheim war. Aber der Lewtschenko sitzt doch jetzt

beim Vorsänger, das weiß ich; weshalb also der Schmied?…

Eh-hehe! er geht zu seiner jungen Frau. So ist es! Sehr schön…

Jetzt habe ich begriffen!

«Wer bist du, und weshalb treibst du dich vor fremden Türen

herum?» sagte der Schmied noch gröber als vorher und trat auf

ihn zu.

Nein, ich sag es ihm nicht, wer ich bin, dachte Tschub, sonst

verdrischt er mich gar noch, die verdammte Mißgeburt! Und

die Stimme verstellend, sagte er: «Ich bin es, guter Mann! Bin

gekommen, euch zum Vergnügen ein paar Koljadki zu singen

vor den Fenstern.»

«Scher dich zum Teufel mit deinen Koljadki!» schrie Wakula

zornig. «Was stehst du noch da? Hörst du, scher dich

augenblicklich von der Stelle!»

Page 34: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Tschub hatte schon selber diese vernünftige Absicht gehegt;

aber es ärgerte ihn, daß er gezwungenermaßen den Befehlen

des Schmiedes gehorchen sollte. Es war, als stieße ihn ein

böser Geist vorwärts und nötigte ihn, etwas dagegen zu sagen.

«Was schreist du denn so?» rief er mit der nämlichen

Stimme. «Ich will singen und sonst nichts!»

«Aha! Worte allein können dich also nicht zur Vernunft

bringen…» Unmittelbar nach diesen Worten verspürte Tschub

einen überaus schmerzlichen Hieb auf die Schulter.

«Du willst also gleich zu raufen anfangen, wie ich sehe!»

sagte er, einen Schritt zurückweichend.

«Pack dich, verschwinde!» schrie der Schmied und versetzte

Tschub einen zweiten Schlag.

«Was machst du!» rief Tschub mit der nämlichen Stimme, in

der Schmerz und Wut und Angst zum Ausdruck kamen. «Du

haust wirklich nicht im Spaß zu, sondern haust recht

schmerzlich zu!»

«Pack dich, verschwinde!» schrie der Schmied und schlug die

Tür zu.

«Schau einer an, wie tapfer er tut!» sprach Tschub, als er auf

der Straße allein war. «Trau dich nur und komm her! So einer

bist du also! Tut wie ein großes Tier! Du glaubst wohl, daß für

Page 35: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

dich kein Richter zu finden ist? Nein, mein Täubchen, ich

gehe, gehe auf der Stelle zum Kommissar. Ich werde dir den

Herrn zeigen! Was schert es mich, daß du ein Schmied oder

ein Maler bist… Aber ich muß mir den Rücken und die

Schultern ansehen: ich glaube, daß ich blaue Flecken habe. Er

muß nicht schlecht zugeschlagen haben, der Räubersohn!

Schade, daß es so kalt ist und ich meinen Pelz nicht ausziehen

mag! Aber warte nur, du Satansschmied, daß dich der Teufel

samt deiner Schmiede in Grund und Boden hauen möge, ich

werde dich tanzen lassen! So ein verdammter Galgenstrick!

Aber wenigstens ist er jetzt nicht zu Hause. Solocha, glaube

ich, sitzt allein daheim. Hm… es ist nicht weit von hier; man

könnte hingehen! Um diese Zeit wird uns niemand

überraschen. Vielleicht wird es auch möglich sein… Auweh,

hat mich der verdammte Schmied verdroschen!»

Darauf kratzte sich Tschub den Rücken und schlug eine

andere Richtung ein. Die Annehmlichkeiten, die seiner bei

einem Wiedersehen mit Solocha schon im voraus harrten,

verringerten seine Schmerzen etwas und ließen ihn sogar

gegen den Frost unempfindlicher werden, der in allen Straßen

krachte und nicht einmal vom Heulen und Pfeifen des

Schneesturmes übertönt wurde. Von Zeit zu Zeit nahm sein

Page 36: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Gesicht, dessen Kinn und Schnurrbart das Schneegestöber

flinker mit Schnee eingeseift hatte als jeder Barbier, der sein

Opfer tyrannisch an der Nase packt, eine süßsaure Miene an.

Wenn einem aber der Schnee nicht kreuz und quer vor den

Augen herumgewirbelt wäre, hätte man noch lange sehen

können, wie Tschub stehenblieb, sich den Rücken kratzte und

vor sich hinmurmelte: «Gehörig verdroschen hat mich der

verdammte Schmied!» und sich erneut auf den Weg machte.

In dem Augenblick, als der pfiffige Galan mit Schweif und

Bocksbart aus dem Schornstein hinausfuhr und dann wieder in

den Schornstein hineinfuhr, blieb der an seiner Seite mit einer

Schnur befestigte Schusterbeutel, in welchen er den

gestohlenen Mond hineingesteckt hatte, irgendwie unversehens

am Ofen hängen, der Beutel ging auf – und der Mond, der sich

diese Gelegenheit zunutze machte, flog durch den Schornstein

von Solochas Hütte hinaus und stieg geschwind zum Himmel

empor. Alles wurde hell. Das Schneegestöber war wie

weggeblasen. Der Schnee leuchtete als großes, silbernes Feld

auf und war von kristallenen Sternen übersät. Der Frost schien

nachgelassen zu haben. Scharen von Burschen und Mädchen

mit Säcken tauchten auf. Lieder erklangen, und es gab keine

Hütte, vor deren Fenstern sich nicht Sänger gedrängt hätten.

Page 37: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Wundervoll glänzte der Mond! Es läßt sich schwer erzählen,

wie schön es ist, in einer solchen Nacht mitten in einer Schar

lachender und singender Mädchen und Burschen

einherzuziehen, die zu allerlei Späßen und Streichen aufgelegt

sind, wie sie nur eine fröhlich lächelnde Nacht eingeben kann.

Unter dem dicken Pelz ist es warm; vom Frost glühen die

Wangen noch frischer; und zur Ausgelassenheit scheint der

Leibhaftige selbst die Gemüter hinterrücks anzuspornen.

Scharen von Mädchen mit Säcken brachen in Tschubs Hütte

ein und umringten Oxana. Geschrei, Lachen und allerlei

Schnurren betäubten den Schmied. Alle beeilten sich, einander

unterbrechend, der Schönen etwas Neues zu erzählen, kramten

ihre Säcke aus und prahlten mit den Schinken, Würsten und

Quarktaschen, deren sie für ihre Koljadki schon ziemlich viele

eingeheimst hatten. Oxana schien überaus zufrieden und

fröhlich zu sein, schwatzte bald mit der einen und bald mit der

anderen und lachte ohne Unterlaß. Mit welchem Ärger und

Neid betrachtete der Schmied diese ganze Fröhlichkeit und

verfluchte er diesmal alle Koljadki, obwohl er sonst ganz

versessen auf sie war.

«He, Odarka!» sagte die lustige Dorfschönheit zu einem der

Mädchen gewandt, «du hast neue Schuhe an! Ach, wie schön

Page 38: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

die sind! Und mit Gold bestickt! Du hast es gut, Odarka, du

hast jemanden, welcher dir alles kauft; aber mir bringt niemand

so herrliche Schuhe.»

«Gräme dich nicht, meine herzallerliebste Oxana!»

unterbrach sie der Schmied, «ich werde dir Schuhe besorgen,

wie kein Edelfräulein sie trägt.»

«Du?» sagte Oxana rasch und blickte ihn hochmütig an. «Ich

möchte doch sehen, wo du Schuhe hernimmst, die ich anziehen

könnte. Vielleicht bringst du mir gar solche, wie unsere Zarin

sie trägt?»

«Sieh einer an, was sie haben möchte!» schrie lachend die

ganze Mädchenschar.

«Ja», fuhr die Schöne stolz fort, «ihr seid alle meine Zeugen:

wenn mir der Schmied Wakula die gleichen Schuhe bringt,

welche die Zarin trägt, so habt ihr mein Wort darauf, daß ich

ihn sofort zum Manne nehme.»

Die Mädchen zogen die kapriziöse Schöne mit sich fort.

«Lach nur, lach nur!» sagte der Schmied, der hinter ihnen

einherging. «Ich lache ja selber über mich. Ich denke und kann

mir’s nicht denken, wohin mein Verstand gekommen ist. Sie

liebt mich nicht, nun, Gott mit ihr! Als ob es nur Oxana allein

auf der Welt gäbe. Gott sei Dank gibt es außer ihr noch viele

Page 39: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

schöne Mädchen im Dorf. Was soll ich schon mit Oxana? Aus

ihr wird doch niemals eine gute Hausfrau; sie versteht es nur

meisterhaft, sich zu putzen. Nein, Schluß damit, es ist Zeit, mit

der Narretei aufzuhören!»

Doch im selben Augenblick, als der Schmied sich anschickte,

einen festen Entschluß zu fassen, führte ihm irgendein böser

Geist Oxanas lachendes Bild vor Augen, das spöttisch zu ihm

sagte: «Bring mir die Schuhe der Zarin, Schmied, dann nehme

ich dich zum Mann!» Sein ganzes Inneres geriet in Wallung,

und er dachte nur mehr an Oxana.

Scharen von Sängern, die Burschen allein und die Mädchen

allein, eilten von einer Gasse in die andere. Nur der Schmied

ging dahin, sah nichts und hörte nichts und beteiligte sich nicht

an dem fröhlichen Treiben, das er einst mehr denn alle anderen

geliebt hatte.

Der Teufel wurde indessen allen Ernstes zärtlich zu Solocha:

er küßte ihr mit denselben Grimassen die Hand wie der

Gerichtsassessor der Popentochter, griff sich ans Herz, stöhnte

und erklärte ihr geradeheraus, daß er, falls sie nicht gewillt sei,

seiner Leidenschaft Genüge zu tun und ihn zu belohnen, wie es

sich gehörte, zu allem entschlossen sei: sich ins Wasser zu

stürzen und seine Seele schnurstracks zur Hölle fahren zu

Page 40: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

lassen. Solocha war aber nicht so hartherzig, zumal der Teufel,

wie uns bekannt ist, mit ihr zusammenarbeitete. Außerdem

liebte sie es, einen ganzen Schwarm von Verehrern um sich zu

sehen, und war selten ohne Gesellschaft; den heutigen Abend

allerdings gedachte sie allein zu verbringen, weil alle

angesehenen Dorfbewohner zur Kutja beim Vorsänger

eingeladen waren. Doch es kam alles anders: der Teufel hatte

kaum seine Forderungen gestellt, als sich plötzlich die Stimme

des dicken Dorfoberhaupts vernehmen ließ. Solocha lief, um

zu öffnen, während der pfiffige Teufel in einen der

herumliegenden Säcke schlüpfte.

Nachdem sich das Oberhaupt den Schnee von der Kapuze

geschüttelt und aus Solochas Hand ein Gläschen Wodka

getrunken hatte, erzählte er, daß er wegen des Schneegestöbers

nicht zum Vorsänger gegangen sei; da er jedoch Licht in ihrer

Hütte gesehen habe, sei er bei ihr eingekehrt, in der Absicht,

den Abend mit ihr zu verbringen.

Kaum hatte das Oberhaupt das gesagt, als sich an der Tür

lautes Klopfen und die Stimme des Vorsängers vernehmen

ließen.

«Verstecke mich irgendwo», flüsterte das Oberhaupt. «Ich

will jetzt mit dem Vorsänger nicht zusammentreffen.»

Page 41: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Solocha dachte lange nach, wo sie einen so vierschrötigen

Gast verstecken könnte; schließlich verfiel sie auf den größten

Kohlensack; die Kohlen schüttete sie in einen Zuber, und das

dicke Oberhaupt kroch samt Schnurrbart, Kopf und Kapuze in

den Sack.

Der Vorsänger kam ächzend und die Hände reibend herein

und erzählte, daß kein Mensch bei ihm gewesen sei und daß er

diese Gelegenheit mit herzlicher Freude wahrgenommen habe,

um ein wenig mit ihr zu scherzen, und daß er aus diesem

Grund nicht einmal das Schneegestöber gefürchtet habe.

Darauf trat er näher an sie heran, hüstelte, lächelte, berührte

mit seinen langen Fingern ihren entblößten, vollen Arm und

sagte mit einer Miene, die Arglist und Selbstzufriedenheit

gleichzeitig ausdrückte: «Was habt Ihr denn da, großartige

Solocha?» Und nach diesen Worten sprang er einige Schritte

zurück.

«Was soll es denn sein? Mein Arm, Osip Nikiforowitsch!»

antwortete Solocha.

«Hm! Der Arm! Hehehe!» sprach der mit diesem Anfang

herzlich zufriedene Vorsänger und ging in der Stube auf und

ab.

Page 42: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Und was habt Ihr denn da, teuerste Solocha?» sagte er mit

der gleichen Miene, indem er wieder an sie herantrat und mit

dem Finger leicht ihren Hals berührte und auf die gleiche Art

zurücksprang.

«Als ob Ihr das nicht wüßtet, Osip Nikiforowitsch!»

antwortete Solocha. «Den Hals, und um den Hals eine Kette.»

«Hm! Um den Hals eine Kette! Hehehe!» und der Vorsänger

ging wieder durch die Stube und rieb sich die Hände.

«Und was habt Ihr denn da, unvergleichliche Solocha?» Es

ist mir nicht bekannt, was der Vorsänger jetzt mit seinen

langen Fingern berührt hatte, als an der Tür plötzlich das

Pochen und die Stimme des Kosaken Tschub zu vernehmen

waren.

«Ach, mein Gott, eine fremde Person!» schrie der Vorsänger

erschrocken. «Was soll geschehen, wenn man plötzlich eine

Persönlichkeit meines Standes hier antrifft?… Es wird dem

Vater Kondrat zu Ohren kommen!…»

Aber die Ängste des Vorsängers waren anderer Art: er

fürchtete noch viel mehr, daß seine bessere Hälfte davon

erfahren könnte, die ohnehin schon mit schrecklicher Hand

seinen dicken Zopf in den dünnsten weit und breit verwandelt

hatte.

Page 43: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Um Gottes willen, wohltätige Solocha», sagte er, am ganzen

Leibe zitternd, «Eure Wohltaten, wie der Evangelist Lukas

sagt, Kapitel dreizehn… drei… es klopft, bei Gott, es klopft!

Ach, versteck mich irgendwo!»

Solocha schüttete aus dem zweiten Sack die Kohlen in den

Zuber, und der an Leibesumfang nicht sehr bedeutende

Vorsänger kroch hinein und kauerte sich ganz auf den Boden

des Sackes, so daß man auf ihn noch einen halben Sack Kohlen

hätte draufschütten können.

«Sei mir gegrüßt, Solocha!» sagte Tschub, als er die Stube

betrat. «Du hast mich vielleicht nicht erwartet, he? Nicht wahr,

du hast mich nicht erwartet? Vielleicht störe ich dich?» fuhr

Tschub fort, indem er eine fröhliche und bedeutungsvolle

Miene aufsetzte, die schon im voraus erkennen ließ, daß sein

schwerfälliger Kopf sich anstrengte und anschickte, einen

besonders witzigen und geistvollen Scherz von sich zu geben.

«Vielleicht hast du dich gerade mit einem anderen

unterhalten?… Vielleicht hast du schon jemand versteckt, he?»

Und begeistert über seine Bemerkung, begann Tschub aus

vollem Halse zu lachen, innerlich darüber triumphierend, daß

sich nur er allein der Gunst Solochas erfreute. «Nun, Solocha,

gib mir jetzt ein Gläschen Wodka zu trinken. Ich glaube, die

Page 44: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Kehle ist mir eingefroren von der verdammten Kälte. Daß uns

Gott eine solche Weihnacht bescheren mußte! Geweht hat es,

hörst du, Solocha, geweht hat es… ach, die Hände sind mir

ganz steif geworden: ich kann nicht einmal den Pelz

aufknöpfen! Wie der Schneesturm losging…»

«Mach auf!» ertönte auf der Straße eine Stimme, begleitet

von heftigem Pochen an der Tür.

«Es klopft jemand», sagte Tschub und hielt in seiner Rede

inne.

«Mach auf!» schrie es noch lauter.

«Das ist der Schmied!» rief Tschub und faßte sich an die

Mütze. «Hör zu, Solocha, versteck mich, wo du willst; ich will

mich um keinen Preis von dieser verdammten Mißgeburt sehen

lassen. Daß ihm, dem Teufelssohn, unter beiden Augen Blasen

so groß wie Heuschober auflaufen mögen!»

Solocha erschrak selber, stürzte wie von Sinnen davon und

gab Tschub ganz selbstvergessen ein Zeichen, in den gleichen

Sack zu kriechen, in dem schon der Vorsänger saß. Der arme

Vorsänger wagte es nicht einmal, durch ein Hüsteln oder

Ächzen seinen Schmerz zu bekunden, als sich ihm der schwere

Mann fast auf den Kopf setzte und ihm seine in der Kälte

hartgefrorenen Stiefel gegen beide Schläfen drückte.

Page 45: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Der Schmied kam herein und ließ sich, ohne ein Wort zu

sagen und ohne die Mütze abzunehmen, auf die Bank sinken.

Er war offensichtlich in der schlechtesten Laune.

Doch im gleichen Augenblick, als Solocha hinter ihm die Tür

zumachte, klopfte wieder jemand. Das war der Kosak

Swerbyhus. Diesen hätte sie nicht mehr in den Sack stecken

können, weil ein solcher Sack nicht zu beschaffen gewesen

wäre. Swerbyhus war an Leibesumfang mächtiger als das

Dorfoberhaupt und an Körpergröße beachtlicher als Tschubs

Gevatter. Und deshalb führte Solocha ihn in den

Gemüsegarten, um von ihm alles zu erfahren, was er ihr

mitteilen wollte.

Der Schmied betrachtete zerstreut die Ecken der Stube und

horchte von Zeit zu Zeit auf die in der Ferne erklingenden

Koljadki; schließlich blieben seine Augen an den Säcken

haften. «Weshalb liegen diese Säcke hier? Man hätte sie längst

wegräumen müssen. Dieser dummen Liebe wegen bin ich ganz

verblödet. Morgen ist Feiertag, und in der Hütte liegt noch

immer allerhand Plunder herum. Ich muß sie in die Schmiede

tragen!»

Damit hockte sich der Schmied neben die riesigen Säcke,

band sie fester zu und schickte sich an, sie auf die Schulter zu

Page 46: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

nehmen. Doch man merkte, daß seine Gedanken weiß Gott wo

herumspazierten, sonst hätte er hören müssen, wie Tschub

aufzischte, als die Haare auf seinem Kopf in den Knoten des

Stricks gerieten, mit dem der Sack zugebunden wurde, und wie

das dicke Oberhaupt ziemlich laut vom Schluckauf geplagt

wurde.

«Will mir denn diese abscheuliche Oxana gar nicht aus dem

Sinn?» sprach der Schmied. «Ich will nicht mehr an sie

denken; und dennoch muß ich, wie zum Trotz, immer an sie

denken. Weshalb ist es nur so, daß uns ein Gedanke gegen

unseren Willen in den Kopf steigt? Zum Teufel, die Säcke

scheinen schwerer geworden zu sein! Da liegt wahrscheinlich

noch etwas anderes als Kohlen darin… Ich bin ein Narr! Ich

habe ganz vergessen, daß mir jetzt alles schwerer vorkommt.

Früher konnte ich einen kupfernen Fünfer und ein Hufeisen

mit einer Hand zusammen- und auseinanderbiegen; aber jetzt

bin ich nicht mehr imstande, ein paar Kohlensäcke aufzuheben.

Bald wird mich der Wind umblasen. Nein», schrie er plötzlich,

nachdem er einen Augenblick lang überlegt und sich Mut

gemacht hatte, «was für ein Weib ich doch bin! Doch niemand

soll lachen über mich. Und wenn es zehn solche Säcke wären,

alle hebe ich sie auf.» Und trotzig warf er sich die Säcke, die

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keine zwei starken Männer fortgetragen hätten, über die

Schultern. «Den nehme ich auch noch», fuhr er fort und riß

den kleinen Sack hoch, in dessen Zipfeln zusammengekauert

der Teufel lag. «Da habe ich scheint’s mein Handwerkszeug

hineingetan.» Darauf verließ er die Hütte und pfiff vor sich

hin:

«Laß das Streiten mit den Weibern!»

Immer lauter und fröhlicher erklangen auf der Straße die

Lieder und das Gelächter. Die Scharen der umherziehenden

Burschen und Mädchen wurden durch Ankömmlinge aus den

Nachbardörfern noch vergrößert. Die Burschen tollten und

tobten nach Herzenslust. Schon ließ sich des öftern zwischen

den Koljadki ein lustiges Liedchen vernehmen, das soeben

einer der jungen Kosaken aus dem Stegreif verfaßt hatte. Und

auf einmal gab einer aus der Menge statt einer Koljadka ein

Silvesterliedchen zum besten und brüllte aus vollem Halse:

«Silvester, du bester!

Gebt Talken und Krapfen,

Ein Schüsselchen Grütze,

Dazu ein paar Würste!»

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Übermütiges Gelächter belohnte den Spaßvogel.

Die kleinen Fenster wurden emporgeschoben, und der dürre

Arm einer Greisin, die allein mit dem gesetzten Hausvater

daheimgeblieben war, streckte sich mit einer Wurst oder einem

Stück Pirogge in der Hand heraus. Die Burschen und Mädchen

hielten um die Wette ihre Säcke auf und haschten nach der

Beute. An einer Stelle schlichen sich die Burschen von allen

Seiten heran und umzingelten eine Schar Mädchen: Lärm,

Geschrei, einer warf einen Schneeball, ein anderer raubte einen

Sack mit allerhand ersungenem Zeug. An einer anderen Stelle

haschten die Mädchen einen Burschen, stellten ihm ein Bein,

und er flog samt seinem Sack kopfüber in den Schnee. Es war,

als hätten sie vereinbart, die ganze Nacht hindurch ihren Unfug

zu treiben. Und die Nacht schmolz geradezu vor Entzücken,

und das Licht des Mondes erschien durch das Glitzern des

Schnees noch heller.

Der Schmied blieb mit seinen Säcken stehen. Er glaubte in

einer Mädchenschar die Stimme und das feine Lachen Oxanas

vernommen zu haben. Alle Fasern in ihm zuckten; er warf die

Säcke zu Boden, so daß der Vorsänger, der zuunterst lag, von

dem Aufprall schmerzlich aufstöhnte und das Dorfoberhaupt

laut rülpste, dann warf er den kleinen Sack über die Schulter

Page 49: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

und schloß sich den Burschen an, die hinter der Mädchenschar

einhergingen, in welcher er Oxanas Stimme gehört zu haben

glaubte.

«Ja, das ist sie! Sie steht da wie eine Zarin und läßt ihre

schwarzen Augen blitzen! Ein stattlicher Bursche erzählt ihr

etwas; wahrscheinlich etwas Unterhaltsames, weil sie lacht.

Aber sie lacht ja immer…»Unwillkürlich, ohne selbst zu

begreifen wie, drängte sich der Schmied durch die Menge und

stand plötzlich neben ihr.

«Ah, Wakula, du bist hier! Sei uns gegrüßt!» sagte die

Schöne mit dem gleichen Lächeln, das Wakula beinahe um den

Verstand brachte. «Nun, hast du dir schon viel ersungen? Eh,

was für ein kleines Säckchen! Und die Schuhe, welche die

Zarin trägt? hast du sie schon? Besorge mir doch die Schuhe,

dann nehme ich dich!» Und lachend lief sie mit der

Mädchenschar davon.

Wie angewurzelt stand der Schmied auf einem Fleck. «Nein,

ich kann nicht mehr; ich bin mit meinen Kräften am Ende…»,

sagte er schließlich. «Aber, Herrgott im Himmel! warum ist sie

nur so verteufelt schön? Ihr Blick und ihre Rede und alles

brennt nur so in mir, brennt nur so und… Nein, ich kann mich

nicht mehr überwinden! Es ist Zeit, daß mit allem Schluß

Page 50: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

gemacht wird: so geh denn zugrunde, Seele, ich gehe und

ertränke mich in einem Eisloch; dann denkt nach, wie ich

geheißen habe!»

Mit ausholenden Schritten eilte er vorwärts, holte die Schar

ein, erreichte Oxana und sagte mit fester Stimme: «Leb wohl,

Oxana! Such dir einen Bräutigam, wo du willst, und halte zum

Narren, wen du willst; aber mich wirst du in dieser Welt nicht

mehr zu Gesicht bekommen!»

Die Schöne schien erstaunt zu sein, wollte etwas sagen, aber

der Schmied machte eine wegwerfende Handbewegung und

lief davon.

«Wohin, Wakula?» riefen die Burschen, als sie den Schmied

laufen sahen.

«Lebt wohl, Brüder!» rief ihnen der Schmied als Antwort zu.

«So Gott will, werden wir uns in jener Welt wiedersehen; aber

in dieser werden wir nicht mehr mitsammen bummeln. Lebt

wohl, gedenkt meiner nicht im Bösen! Sagt dem Vater

Kondrat, daß er eine Totenmesse für meine sündige Seele

singen soll. Die Kerzen zu den Ikonen des Wundertäters

Nikolaus und der Gottesmutter habe ich Sünder weltlicher

Dinge halber nicht mehr bemalen können. Alle Habe, die sich

in meinem Kasten findet, gehört der Kirche! Lebt wohl!»

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Nach diesen Worten lief der Schmied mit dem Sack auf dem

Rücken wieder weiter.

«Er ist verrückt geworden!» sprachen die Burschen.

«Eine verlorene Seele!» murmelte andächtig eine

vorübergehende Alte. «Ich muß es rasch erzählen, wie sich der

Schmied erhängt hat!»

Mittlerweile war der Schmied, nachdem er durch mehrere

Gassen gelaufen war, wieder stehengeblieben, um Atem zu

schöpfen. Wieso laufe ich eigentlich, dachte er, als ob schon

alles verloren wäre? Ich will noch ein Mittel versuchen: ich

gehe zu dem Saporoger Dickwanst Pazjuk. Er kennt, wie es

heißt, alle Teufel und macht alles, was er will. Ich gehe, meine

Seele ist ja so und so verloren!

Bei diesen Worten begann der Teufel, der lange Zeit

regungslos im Sack gelegen hatte, vor Freude zu hüpfen; aber

der Schmied, der da meinte, irgendwie mit dem Arm am Sack

hängengeblieben zu sein und diese Bewegung selbst verursacht

zu haben, schlug mit seiner mächtigen Faust auf den Sack,

schüttelte ihn auf der Schulter zurecht und begab sich zu dem

Dickwanst Pazjuk.

Dieser Dickwanst Pazjuk war tatsächlich einmal ein

Saporoger Kosak gewesen; ob man ihn jedoch aus Saporoschje

Page 52: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

verjagt hatte oder ob er selber davongelaufen war, das wußte

niemand. Er wohnte schon lange, so an die zehn oder gar

fünfzehn Jahre, in Dikanka. Anfangs lebte er wie ein echter

Saporoger: arbeitete nichts, verschlief drei Viertel des Tages,

aß für sechs Drescher und trank auf einen Zug schier einen

ganzen Eimer aus; übrigens hatte der auch bequem Platz in

seinem Bauch, weil Pazjuk trotz seiner kleinen Statur der

Breite nach ziemlich ansehnlich war. Außerdem waren seine

Pluderhosen so weit, daß man selbst beim größten Schritt, den

er machte, überhaupt nichts von den Beinen bemerkte, sondern

der Meinung war, da kollerte ein Branntweinzuber über die

Straße. Vielleicht gab dieser Umstand auch den Anlaß, ihm

den Spitznamen Dickwanst anzuhängen. Es war noch keine

Woche seit seiner Ankunft im Dorf vergangen, als schon

jedermann wußte, daß er ein Hexenmeister war. War einer

erkrankt, ließ er sogleich Pazjuk holen; und Pazjuk brauchte

nur einige Worte zu murmeln, und die Krankheit war wie mit

der Hand weggewischt. Wenn ein gefräßiger Edelmann an

einer verschluckten Fischgräte zu ersticken drohte, konnte ihn

Pazjuk mit der Faust so geschickt auf den Rücken schlagen,

daß sich die Gräte auf der Stelle dorthin begab, wo sie

hingehörte, ohne der adeligen Kehle den geringsten Schaden

Page 53: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

zuzufügen. In der letzten Zeit hatte man ihn selten zu Gesicht

bekommen. Der Grund dafür war vielleicht seine Faulheit,

vielleicht aber auch der Umstand, daß es ihm mit jedem Jahr

schwerer fiel, durch die Tür zu kommen. Deshalb mußten die

Dorfbewohner selbst zu ihm kommen, wenn sie seiner

bedurften.

Der Schmied öffnete die Tür nicht ohne Scheu und erblickte

Pazjuk, wie er nach Türkenart auf dem Fußboden vor einem

kleinen Fäßchen saß, auf dem eine Schüssel mit Knödeln

stand. Diese Schüssel stand ausgerechnet vor seinem Mund.

Ohne einen Finger zu rühren, neigte er den Kopf leicht über

die Schüssel, schlürfte die Brühe und schnappte ab und zu mit

den Zähnen nach einem Knödel.

Nein, dachte Wakula bei sich, der ist noch fauler als Tschub:

jener ißt wenigstens noch mit dem Löffel, während dieser nicht

einmal mehr eine Hand rühren will!

Pazjuk war offensichtlich stark mit seinen Knödeln

beschäftigt, weil er scheint’s das Kommen des Schmiedes

überhaupt nicht bemerkt hatte, der ihm, kaum daß er über die

Schwelle getreten war, eine ganz tiefe Verbeugung machte.

«Ich bin zu deiner Gnaden gekommen, Pazjuk!» sagte

Wakula und verbeugte sich von neuem.

Page 54: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Der dicke Pazjuk hob den Kopf und begann wieder seine

Knödeln zu vertilgen.

«Es heißt, daß du, nimm es mir nicht übel…» sagte der

Schmied und nahm seine ganze Courage zusammen, «ich

spreche nicht deshalb darüber, um dir eine Kränkung oder

Beleidigung anzutun, aber du sollst ein wenig mit dem Teufel

verschwägert sein…»

Kaum hatte der Schmied diese Worte gesagt, erschrak er

auch schon, weil er dachte, sich immer noch allzu deutlich

ausgedrückt und die kräftigen Worte nicht genügend gemildert

zu haben; und in der Erwartung, daß Pazjuk das Fäßchen samt

der Schüssel packen und beides geradewegs an die Adresse

seines Kopfes schicken werde, trat er etwas zur Seite und hielt

sich den Ärmel vor, damit ihm die heiße Knödelbrühe nicht

das Gesicht vollspritzte.

Doch Pazjuk schaute nur auf und begann wieder seine

Knödel zu vertilgen. Der ermutigte Schmied beschloß

fortzufahren: «Ich bin zu dir gekommen, Pazjuk, Gott schenke

dir alles Gute in Hülle und Fülle und Brot in Proportion…»

Der Schmied verstand es sehr wohl, gelegentlich ein

neumodisches Wort in seine Rede einfließen zu lassen; diese

Fertigkeit hatte er sich während seines Aufenthalts in Poltawa

Page 55: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

angeeignet, als er dem Sotnik den Bretterzaun strich. «Ich

sündiger Mensch bin verloren! Nichts in der Welt kann mir

noch helfen! Mag sein, was will, ich muß den Teufel selber um

Hilfe bitten. Sag mir, Pazjuk», fragte der Schmied, als er

dessen beharrliches Schweigen bemerkte, «was soll ich tun?»

«Wenn du den Teufel brauchst, dann geh zum Teufel!»

antwortete Pazjuk, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und

vertilgte weiterhin seine Knödel.

«Deshalb bin ich ja zu dir gekommen», antwortete der

Schmied und machte einen tiefen Bückling, «außer dir, glaube

ich, kennt niemand auf der Welt den Weg zu ihm.»

Pazjuk sagte kein Wort und aß die restlichen Knödel auf.

«Erweise mir die Gnade, guter Mensch, versag dich nicht!»

bedrängte ihn der Schmied. «Schweinefleisch, Würste,

Buchweizenmehl, auch Leinwand, Hirse oder sonstiges, falls

du Bedarf hast… wie es gewöhnlich unter guten Menschen der

Brauch ist… ich werde nicht geizig sein. Aber sage mir nur,

beispielsweise, wie man zu ihm hinfindet.»

«Wer den Teufel auf den Schultern hat, braucht nicht weit zu

gehen», sprach Pazjuk gleichgültig, ohne seine Stellung zu

verändern.

Page 56: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Wakula starrte ihn an, als stände die Erklärung dieser Worte

auf dessen Stirn geschrieben. Was hat er da gesagt? schien sein

Gesichtsausdruck wortlos zu fragen, während sein

halbgeöffneter Mund sich anschickte, das erste Wort Pazjuks

wie einen Knödel zu verschlingen. Aber Pazjuk schwieg.

Da bemerkte Wakula, daß sich weder die Knödel noch das

Faß mehr vor ihm befanden; statt dessen standen zwei hölzerne

Schüsseln auf dem Fußboden: die eine war mit Quarktaschen,

die andere mit Rahm gefüllt. Seine Gedanken und Augen

blieben unwillkürlich an diesen Speisen haften. Wollen wir

doch zuschauen, sagte er zu sich selber, wie Pazjuk die

Quarktaschen essen wird. Vorbeugen, um sie wie die Knödel

einzuschlürfen, wird er sich wahrscheinlich nicht wollen, und

es geht auch gar nicht: man muß die Quarktaschen zuerst in

den Rahm tauchen.

Aber kaum war er mit seinen Gedanken fertig, da riß Pazjuk

den Mund auf, blickte auf die Quarktaschen und riß den Mund

noch weiter auf. Im gleichen Augenblick schnellte eine

Quarktasche aus der Schüssel, platschte in den Rahm, drehte

sich auf die andere Seite, sprang in die Höhe und fiel ihm

geradewegs in den Mund. Pazjuk verspeiste sie und riß wieder

den Mund auf, und die nächste Quarktasche folgte auf die

Page 57: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

nämliche Weise. Er selber nahm sich nur die Mühe, sie zu

kauen und zu verschlucken.

Das sind Wunder! dachte der Schmied und sperrte vor

Verwunderung den Mund auf, und im selben Augenblick

bemerkte er, daß eine Quarktasche auch in seinen Mund

geflogen kam und schon die Lippen mit Rahm beschmierte. Er

stieß die Quarktasche beiseite, wischte sich die Lippen ab und

begann darüber nachzudenken, was für Wunder es auf der

Welt gibt und auf welche Kunststücklein die unreine Macht

den Menschen verfallen läßt, und kam zu der Einsicht, daß nur

Pazjuk ihm helfen könnte. Ich werde mich noch einmal

verbeugen, dann soll er mir alles schön erklären… Aber zum

Teufel! Heute gibt es doch nur Fastenkutja, und er ißt

Quarktaschen, Quarktaschen mit Fett! Was für ein Narr ich

doch bin! da stehe ich und belade mich mit Sünden! Zurück!

Und der fromme Schmied stürzte Hals über Kopf aus der

Hütte.

Der Teufel jedoch, der im Sack hockte und sich schon im

voraus gefreut hatte, konnte es nicht ertragen, daß ihm eine so

herrliche Beute entwischen sollte. Kaum daß der Schmied den

Sack fallen ließ, sprang er heraus und setzte sich ihm rittlings

auf den Nacken.

Page 58: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Dem Schmied lief es eiskalt über den Rücken; erschreckt und

totenblaß, wußte er nicht, was er tun sollte; er wollte sich

schon bekreuzigen… Aber da neigte der Teufel seine

Hundeschnauze an Wakulas rechtes Ohr und sagte: «Ich bin es,

dein Freund, ich tue alles für einen Genossen und Freund! Ich

gebe dir Geld, soviel du willst», wisperte er ihm ins linke Ohr.

«Oxana wird noch heute unser», flüsterte er und neigte seine

Schnauze ans rechte Ohr.

Der Schmied stand da und überlegte.

«Mit Verlaub», sagte er schließlich, «um diesen Preis bin ich

bereit, der Deine zu werden!»

Der Teufel klatschte in die Hände und begann vor Freude auf

dem Nacken des Schmiedes zu galoppieren. Jetzt ist mir der

Schmied in die Falle gegangen! dachte er bei sich, jetzt werde

ich dir, mein Täubchen, alle deine Schmierereien und

Flunkereien, mit denen du die Teufel bedacht hast, in barer

Münze heimzahlen! Was werden meine Genossen sagen, wenn

sie erfahren, daß der frömmste Mann des ganzen Dorfes in

meinen Händen ist? Der Teufel lachte vor Freude und stellte

sich vor, wie er in der Hölle die ganze geschwänzte Brut

necken würde und wie der hinkende Teufel, der sich, was

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Einfälle und Streiche betraf, der Erste unter ihnen dünkte, vor

Neid toben würde.

«Nun, Wakula!» piepste der Teufel, der noch immer nicht

von dessen Nacken herunterkroch, als befürchtete er, daß er

ihm entfliehen könnte, «du weißt, daß ohne Vertrag nichts zu

machen ist?»

«Ich bin bereit!» sagte der Schmied. «Bei euch, habe ich

gehört, wird mit Blut unterschrieben; verhalt dich still, ich hole

einen Nagel aus der Tasche!» Damit griff er mit der Hand nach

hinten – und packte den Teufel am Schwanz.

«Ei, was für ein Spaßvogel!» schrie der Teufel lachend.

«Nun, laß wieder los, genug der Possen!»

«Halt, mein Täubchen!» schrie der Schmied, «und wie gefällt

dir das?» Dabei machte er das Zeichen des Kreuzes, und der

Teufel wurde so still wie ein Lämmlein. «Warte nur», sagte er

und zerrte ihn am Schwanz zu Boden, «ich werde dir schon

beibringen, gute Menschen und ehrliche Christen zum

Sündigen zu verleiten!» Damit schwang sich der Schmied,

ohne den Schwanz loszulassen, auf des Teufels Rücken und

hob die Hand, um das Zeichen des Kreuzes zu machen.

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«Erbarmen, Wakula!» stöhnte der Teufel kläglich, «alles, was

du willst, alles will ich tun, nur laß meine Seele in Frieden: leg

mir nicht das schreckliche Kreuz auf!»

«Aha, jetzt singst du schon ein anderes Liedchen,

verdammter Deutscher! Jetzt weiß ich, was zu tun ist. Laß

mich sofort reiten auf dir! Hörst du, trage mich wie ein Vogel

dahin!»

«Wohin?» fragte der Teufel traurig.

«Nach Petersburg, geradewegs zur Zarin!»

Und der Schmied erstarrte vor Schreck, als er sich in die Luft

emporgehoben fühlte.

Noch lange stand Oxana da und dachte über die

merkwürdigen Reden des Schmiedes nach. Schon ließ sich in

ihrem Inneren eine Stimme vernehmen, daß sie ein wenig zu

grob mit ihm umgegangen sei. Was, wenn er sich tatsächlich

zu etwas Schrecklichem entschließt? Nichts ist unmöglich!

Vielleicht hat er gar vor, sich aus Gram in eine andere zu

verlieben, und fängt vor Ärger an, diese zur größten Schönheit

des Dorfes zu erklären? Aber nein, er liebt mich. Ich bin doch

so schön! Er wird mich um keinen Preis aufgeben; er treibt

Possen und verstellt sich. Ehe zehn Minuten vergehen, steht er

wahrscheinlich schon wieder da, um mich zu betrachten. Ich

Page 61: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

bin tatsächlich grausam. Ich muß mich einmal, wenn auch so,

als täte ich’s ungern, von ihm küssen lassen. Das wird ihn

freuen! Und die leichtsinnige Schöne scherzte schon wieder

mit ihren Gefährtinnen. «Bleibt einmal stehen», sagte eine von

ihnen, «der Schmied hat seine Säcke vergessen; schaut nur,

was für schreckliche Säcke! Er hat sich für seine Koljadki ganz

andere Geschenke ersungen als wir: ich glaube, man hat ihm

ein ganzes Hammelviertel hineingeworfen; und die Würste und

Brote lassen sich wahrscheinlich überhaupt nicht zählen.

Herrlich! daran kann man sich während der ganzen Feiertage

überessen!»

«Sind das die Säcke des Schmieds?» unterbrach sie Oxana.

«Schleppen wir sie rasch zu mir in die Hütte, und schauen wir

nach, was er alles hineingetan hat.»

Alle stimmten diesem Vorschlag lachend zu.

«Aber wir können sie nicht aufheben!» rief plötzlich die

ganze Schar und strengte sich an, die Säcke aufzurichten.

«Wartet einmal», sagte Oxana, «laufen wir schnell nach

einem Schlitten und fahren sie auf dem Schlitten weg!»

Und die ganze Schar lief nach einem Schlitten.

Den Gefangenen war inzwischen das Herumsitzen in den

Säcken höchst langweilig geworden, ungeachtet dessen, daß

Page 62: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

sich der Vorsänger mit den Fingern ein beachtliches Loch

gebohrt hatte. Wäre nicht soviel Volk herumgestanden, hätte er

vielleicht ein Mittel gefunden hinauszukriechen; aber vor aller

Augen aus einem Sack zu kriechen und sich dem Gelächter

preiszugeben… das hielt ihn davon ab, und er beschloß zu

warten und stöhnte nur mitunter leise unter Tschubs

unhöflichen Stiefeln. Tschubs selber lechzte nicht minder nach

der Freiheit, weil er spürte, daß unter ihm etwas lag, auf dem

zu sitzen ganz entsetzlich unbequem war. Doch als er den

Entschluß seiner Tochter vernommen hatte, beruhigte er sich

und wollte nicht mehr hinauskriechen, zumal ihm einfiel, daß

er bis zu seiner Hütte mindestens hundert Schritt, wenn nicht

gar zweihundert, zu gehen hatte. Außerdem hätte er sich nach

dem Hinauskriechen etwas herrichten, den Pelz zuknöpfen und

den Gürtel neu binden müssen – o viel Arbeit! und auch seine

Kapuze war bei Solocha liegengeblieben. Da sollten ihn doch

lieber die Mädchen auf dem Schlitten nach Hause fahren. Es

kam jedoch ganz anders, als es Tschub erwartet hatte.

Während die Mädchen nach einem Schlitten liefen, trat der

baumlange Gevatter verstört und in schlechtester Laune aus

der Schenke. Die Schankwirtin hatte sich durchaus nicht

entschließen können, ihm etwas anzuschreiben; er wollte

Page 63: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

deshalb warten, ob vielleicht nicht ein frommer Edelmann

käme, um ihn zu bewirten; aber wie zum Trotz blieben alle

Edelleute zu Hause und aßen als ehrliche Christen die Kutja im

Kreise der Ihrigen. Während nun der Gevatter über diese

Sittenverderbnis und das steinerne Herz der Jüdin nachdachte,

die den Schnaps verkaufte, stieß er auf die Säcke und blieb

verblüfft stehen.

«Schau an, was für Säcke da jemand auf die Straße geworfen

hat!» sagte er und hielt nach allen Seiten Ausschau; «da muß

Schweinefleisch drinnen sein. Was muß der für ein Glück

gehabt haben, daß er sich so viele schöne Sachen ersingen

konnte! Was für schreckliche Säcke! Nehmen wir an, daß sie

nur mit Buchweizenkuchen und Schmalzfladen vollgestopft

sind, auch das wäre gut. Selbst wenn sie lauter Brotlaibe

enthielten, auch das wäre nicht schlecht: die Jüdin gibt für

jeden Laib ein Achtel Wodka. Rasch weg mit ihnen, daß es

niemand sieht.» Damit warf er sich den Sack mit Tschub und

dem Vorsänger über die Schulter, merkte jedoch bald, daß er

ihm zu schwer war. «Nein, einer allein kann ihn kaum tragen»,

sagte er, «aber da kommt ja wie gerufen der Weber

Schapowalenko daher. Grüß dich, Ostap!»

«Grüß dich», sagte der Weber und blieb stehen.

Page 64: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Wohin gehst du?»

«Ach, nur so, wohin mich die Füße tragen.»

«Dann hilf mir, guter Mensch, die Säcke fortzuschleppen! Da

hat jemand seinen Lohn für das Singen mitten auf die Straße

geworfen. Wir wollen ihn redlich unter uns teilen.»

«Die Säcke? Was ist in den Säcken? Knisch oder Brot?»

«Ja, ich glaube, von allem genug.»

Darauf rissen sie eilends Stöcke aus einem Flechtzaun, legten

den Sack darauf und trugen ihn auf den Schultern fort.

«Wohin sollen wir ihn denn tragen? In die Schenke?» fragte

der Weber unterwegs.

«Ich würde ja auch sagen: in die Schenke; aber die

verdammte Jüdin wird uns nicht glauben und am Ende gar

noch denken, daß wir ihn gestohlen hätten; obendrein komme

ich gerade aus der Schenke. Wir tragen ihn am besten in meine

Hütte. Dort stört uns niemand: mein Weib ist nicht daheim.»

«Ist sie auch wirklich nicht daheim?» fragte der vorsichtige

Weber.

«Gott sei Dank sind wir ja noch bei klarem Verstand», sagte

der Gevatter, «nur der Teufel könnte mich dort hinbringen, wo

sie ist. Ich glaube, sie wird sich bei ihren Weibern bis zum Hell

werden herumtreiben.»

Page 65: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Wer da?» schrie das Weib des Gevatters, als sie im Hausflur

den Lärm hörte, den die Ankunft der beiden Freunde mit dem

Sack verursachte, und öffnete die Tür.

Der Gevatter erstarrte.

«Da haben wir’s!» stieß der Weber hervor und ließ die Arme

sinken.

Das Weib des Gevatters war eines jener Kleinodien, wie es

deren nicht wenige auf Gottes schöner Welt gibt. Ebenso wie

ihr Mann saß sie fast niemals zu Hause und trieb sich fast den

ganzen Tag bei allerlei Gevatterinnen und wohlhabenden

Greisinnen herum, lobte sie und aß mit großem Appetit und

raufte lediglich des Morgens mit ihrem Mann, weil sie ihn nur

um diese Tageszeit hin und wieder zu Gesicht bekam. Ihre

Hütte war doppelt so alt wie die Pluderhosen des

Gemeindeschreibers, das Dach war an mehreren Stellen ohne

Stroh. Vom Zaun waren nur mehr Reste zu sehen, weil keiner,

der von zu Hause fortging, einen Stock gegen die Hunde

mitnahm, denn er hoffte am Gemüsegarten des Gevatters

vorbeizukommen und sich dort den passenden aus dem Zaun

herausreißen zu können. Der Ofen wurde oft drei Tage lang

nicht geheizt. Alles, was die zärtliche Gemahlin bei guten

Menschen zusammenbettelte, versteckte sie möglichst sicher

Page 66: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

vor ihrem Mann und nahm ihm auch häufig eigenmächtig

seine Beute ab, wenn es ihm noch nicht gelungen war, sie in

der Schenke zu vertrinken. Trotz seiner unerschütterlichen

Kaltblütigkeit wollte ihr der Gevatter doch nicht nachgeben

und verließ deshalb das Haus fast jedesmal mit braun und blau

geschlagenen Augen, während sich die teure Ehehälfte

ächzend zu ihren alten Weibern trollte, um ihnen Märchen über

die Liederlichkeit ihres Mannes und die von ihm erhaltenen

Prügel zu erzählen.

Jetzt kann man sich vorstellen, wie verblüfft der Weber und

der Gevatter über diese unerwartete Erscheinung waren. Sie

ließen den Sack zu Boden fallen, stellten sich davor und

bedeckten ihn mit ihren Rockschößen; aber es war bereits zu

spät: des Gevatters Weib sah zwar schon ziemlich schlecht mit

ihren alten Augen, aber den Sack hatte sie trotzdem erblickt.

«Das ist aber schön!» sagte sie mit einem Blick, in welchem

die Raubgier eines Habichts zu erkennen war. «Das ist schön,

daß ihr euch so viel ersungen habt! So machen es gute

Menschen immer; nur glaube ich, daß ihr den Sack irgendwo

mitgenommen habt. Zeigt mir sofort, hört ihr, zeigt mir sofort,

was drin ist!»

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«Ein glatzköpfiger Teufel wird es dir vielleicht zeigen, aber

nicht wir», sagte der Gevatter und nahm eine würdevolle

Haltung an.

«Was geht es dich an?» sagte der Weber. «Wir haben es uns

ersungen und nicht du.»

«Nein, du wirst es mir zeigen, nichtsnutziger Säufer!» schrie

das Weib, versetzte dem baumlangen Gevatter einen

Faustschlag unter das Kinn und drängte sich an den Sack

heran.

Der Weber und der Gevatter verteidigten indes männlich

ihren Sack und nötigten sie, den Rückzug anzutreten. Aber sie

hatten sich noch nicht besonnen, als auch schon die Gemahlin

mit der Ofengabel in der Hand in den Hausflur stürzte. Flink

schlug sie ihren Mann auf die Hände, den Weber auf den

Rücken und stand schon neben dem Sack.

«Weshalb haben wir sie herangelassen?» sagte der Weber, als

er wieder zu sich gekommen war.

«Ja, weshalb haben wir sie herangelassen! Weshalb hast du

sie denn herangelassen?» fragte der Gevatter kaltblütig.

«Ihr habt scheint’s eine eiserne Ofengabel!» sagte nach

kurzem Schweigen der Weber und kratzte sich den Rücken.

«Mein Weib hat im vorigen Jahr auf dem Jahrmarkt eine

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Ofengabel gekauft, fünfundzwanzig Kopeken hat sie gekostet,

die ist besser… tut nicht so weh…»

Mittlerweile hatte die triumphierende Gemahlin den Kahanez

auf den Boden gestellt, den Sack aufgebunden und

hineingeschaut. Aber ihre alten Augen, die so gut den Sack

wahrgenommen hatten, trogen sie wohl diesmal.

«Äh, da liegt ja ein ganzer Eber!» schrie sie auf und klatschte

vor Freude in die Hände.

«Ein Eber! Hörst du, ein ganzer Eber!» rief der Weber und

stieß den Gevatter in die Seite. «Und an allem bist du schuld!»

«Was tun?» sagte der Gevatter achselzuckend.

«Was tun? Weshalb stehen wir da? Wir nehmen ihr den Sack

ab! Nun, vorwärts! – Scher dich fort! Scher dich! Das ist unser

Eber!» schrie der Weber und ging zum Angriff über.

«Pack dich, pack dich, du Teufelsweib! Das ist nicht dein

Eigentum!» sagte der Gevatter und rückte vor.

Die Gemahlin griff wiederum nach der Ofengabel, doch in

diesem Augenblick kroch Tschub aus dem Sack, blieb mitten

im Flur stehen und streckte sich wie ein Mensch, der soeben

aus einem langen Schlaf erwacht ist.

Des Gevatters Weib schrie auf, schlug die Hände über dem

Kopf zusammen, und alle rissen unwillkürlich die Mäuler auf.

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«Was redet die Närrin da: ein Eber? Das ist kein Eber!» sagte

der Gevatter mit vorquellenden Augen.

«Da schau, wen sie da in den Sack gesteckt haben!» sagte der

Weber, vor Schreck zurückweichend. «Sag, was du willst, aber

ich will platzen, wenn das ohne den Leibhaftigen zustande

gekommen ist. Der da kann doch durch kein Fenster,

geschweige denn in einen Sack kriechen!»

«Das ist der Gevatter!» schrie der Gevatter, als er genauer

hinblickte.

«Was hast denn du geglaubt?» sagte Tschub lächelnd. «Da

habe ich euch ein schlaues Stücklein geliefert, was? Und ihr

wolltet mich schon als Schweinefleisch verspeisen? Aber halt,

ich will euch eine Freude machen: im Sack liegt noch etwas,

wenn nicht ein Eber, so doch wahrscheinlich ein Ferkel oder

ein anderes Lebewesen. Unter mir hat sich fortwährend etwas

gerührt.»

Der Weber und der Gevatter stürzten sich auf den Sack, die

Frau des Hauses klammerte sich auf der entgegengesetzten

Seite fest, und die Rauferei hätte von neuem begonnen, wäre

nicht der Vorsänger, als er merkte, daß er sich nirgends

verstecken konnte, ebenfalls aus dem Sack gekrochen.

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Des Gevatters Weib erstarrte und ließ entsetzt den Fuß los, an

dem sie eben noch den Vorsänger hatte aus dem Sack ziehen

wollen.

«Da ist noch einer!» schrie der Weber entsetzt auf. «Der

Teufel mag wissen, was auf der Welt vorgeht… Der Kopf

schwindelt einem… Nicht Würste und nicht Brote, sondern

Menschen werden als Sängerlohn in die Säcke geworfen!»

«Das ist der Vorsänger!» rief Tschub, noch mehr verdutzt als

die übrigen. «Da haben wir’s also! Ei, diese Solocha!

Menschen in Säcke pferchen… Und ich wunderte mich noch,

daß die Hütte voller Säcke war… Jetzt weiß ich alles: in jedem

Sack hockten zwei Männer. Und ich dachte, daß sie nur mich

allein… Da hast du also deine Solocha!»

Die Mädchen wunderten sich nicht wenig, als sie den einen

Sack nicht mehr fanden. «Nichts zu machen, wir werden auch

an dem anderen genug haben», schwatzte Oxana. Alle packten

zu und wälzten den Sack auf den Schlitten.

Das Dorfoberhaupt beschloß zu schweigen, denn es

überlegte: Wenn ich schreie, mich hinauszulassen und den

Sack aufzubinden, werden die dummen Mädchen davonlaufen

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und glauben, daß der Teufel im Sack sitzt, und ich werde

vielleicht bis zum Morgen auf der Straße liegen müssen.

Die Mädchen flogen indes, einander einträchtig an den

Händen haltend, wie der Sturmwind mit dem Schlitten über

den knirschenden Schnee. Viele setzten sich mutwillig auf den

Schlitten, manche suchten sich dazu das Oberhaupt selber aus.

Das Oberhaupt beschloß, alles zu ertragen. Endlich kamen sie

an, rissen die Tür zum Flur und die Stubentür sperrangelweit

auf und schleppten den Sack lachend und kreischend hinein.

«Schauen wir nach, was alles drin ist», schrien alle und

stürzten sich auf den Sack, um ihn zu öffnen.

In diesem Augenblick wurde der Schluckauf, welcher das

Oberhaupt während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes im

Sack nicht zu quälen aufgehört hatte, so heftig, daß er aus

vollem Hals zu schlucken und zu husten anfing.

«Ach, da sitzt jemand drin!» schrien alle und stürzten

erschrocken zur Tür hinaus.

«Was zum Teufel! wohin rennt ihr denn wie die

Verrückten?» sagte Tschub, der gerade zur Tür hereinkam.

«Ach, Väterchen!» rief Oxana, «in dem Sack sitzt jemand!»

«In dem Sack? Woher habt ihr diesen Sack?»

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«Der Schmied hat ihn mitten auf die Straße geworfen»,

sagten alle auf einmal.

Na also, habe ich es nicht gesagt? dachte Tschub bei sich.

«Worüber seid ihr denn so erschrocken? Schauen wir hinein.

Heda, Menschenskind, bitte sei nicht ungehalten, daß wir dich

nicht bei deinem Vornamen und Vaternamen nennen, aber

kriech aus dem Sack heraus!»

Das Oberhaupt kroch heraus.

«Ach!» schrien die Mädchen auf.

«Auch das Oberhaupt ist hineingekrochen», sagte Tschub

bestürzt vor sich hin und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen,

«sieh mal an!… he, he…!» Mehr konnte er nicht sagen.

Das Oberhaupt war nicht weniger bestürzt und wußte nicht,

was er tun sollte.

«Draußen ist es wohl recht kalt?» sagte er zu Tschub

gewandt.

«Es friert ganz schön», antwortete Tschub. «Aber gestatte

mir die Frage: Womit schmierst du gewöhnlich deine Stiefel,

mit Talg oder mit Teer?»

Er wollte das gar nicht sagen, er wollte fragen: Wie bist du,

das Oberhaupt, in diesen Sack gekommen? verstand jedoch

selber nicht, weshalb er etwas ganz anderes gesagt hatte.

Page 73: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Mit Teer ist es besser!» sagte das Oberhaupt. «Nun, leb

wohl, Tschub!» Und er zog sich die Kapuze über die Ohren

und verließ die Hütte.

«Weshalb habe ich so dumm gefragt, womit er sich die

Stiefel einschmiert?» stieß Tschub hervor und blickte nach der

Tür, durch welche das Oberhaupt hinausgegangen war. «Ei,

diese Sochola! so einen Menschen in den Sack zu stecken!…

Dieses Teufelsweib! Und ich Narr… Aber wo ist denn dieser

verdammte Sack?»

«Ich habe ihn in die Ecke geworfen, es ist nichts mehr drin»,

sagte Oxana.

«Ich kenne diese Witze schon, nichts mehr drin! Bringt ihn

wieder her: es sitzt noch einer drin! Schüttelt ihn nur

ordentlich… Was, nichts mehr? So ein verdammtes Weib!

Aber dem Aussehen nach wie eine Heilige – als ob sie nur

Fastenspeisen zu sich nähme…»

Doch lassen wir Tschub in aller Muße seinem Ärger Luft

machen und wenden wir uns dem Schmied zu, weil es draußen

sicherlich schon auf die neunte Stunde zugeht.

Anfänglich kam es Wakula schrecklich vor, als er von der

Erde weg in solche Höhen getragen wurde, daß er unten nichts

mehr sehen konnte, und wie eine Fliege so dicht am Mond

Page 74: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

vorbeiflog, daß er, wenn er sich nicht ein wenig gebückt hätte,

mit der Mütze an ihm hängengeblieben wäre. Alsbald faßte er

jedoch Mut und begann mit dem Teufel seine Kurzweil zu

treiben. Es belustigte ihn außerordentlich, wie der Teufel nieste

und hustete, wenn er sein Kreuzlein aus Zedernholz vom Hals

nahm und es diesem unter die Nase hielt. Absichtlich hob er

die Hand, um sich den Kopf zu kratzen, während der Teufel in

der Meinung, daß er sich anschickte, das Kreuzzeichen zu

machen, noch schneller zu fliegen begann. Alles war licht in

der himmlischen Höhe. Die Luft in dem leichten silbernen

Nebel war durchsichtig. Alles war zu sehen, und man konnte

sogar erkennen, wie ein Zauberer, in einem Topf sitzend, wie

der Wirbelwind an ihnen vorbeisauste; wie die Sterne, zuhauf

versammelt, Blindekuh spielten; wie sich etwas abseits ein

ganzer Geisterschwarm wolkenartig dahinwälzte; wie ein im

Mondenschein tanzender Teufel die Mütze zog, als er den

rittlings dahingaloppierenden Schmied erblickte; wie ein

Besen, auf dem scheint’s gerade eine Hexe zum

Versammlungsort geritten war, allein nach Hause

zurückflog… und noch mancherlei ähnlichem Gesindel

begegneten sie. Alle, die den Schmied gewahrten, verhielten

einen Augenblick, schauten ihm nach und sausten wieder

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weiter und setzten ihr Treiben fort. Der Schmied flog noch

immer; und plötzlich blitzte vor ihnen Petersburg auf, ganz in

Feuerschein gehüllt. Es fand gerade aus irgendeinem Anlaß

eine Illumination statt. Der Teufel flog über den Schlagbaum,

verwandelte sich in ein Pferd, und der Schmied erblickte sich

auf einem feurigen Renner mitten auf der Straße. Mein Gott!

Rasseln, Getöse, Licht; zu beiden Seiten türmten sich

vierstöckige Mauern; Stampfen von Pferdehufen, Rasseln von

Wagen donnerte und hallte von allen vier Seiten wider; Häuser

wuchsen und schossen gleichsam auf Schritt und Tritt aus der

Erde empor; Brücken zitterten; Kutschen flogen vorbei;

Kutscher und Vorreiter schrien; der Schnee pfiff unter den

Tausenden von allen Seiten vorbeiflitzenden Schlitten;

Fußgänger drängten und drückten sich an die von

Illuminationslampen übersäten Häuser, und ihre riesigen

Schatten huschten über die Mauern und streiften mit dem Kopf

Schornsteine und Dächer. Bestürzt blickte der Schmied nach

allen Seiten. Es war ihm, als hefteten alle Häuser ihre

zahllosen, feurigen Augen auf ihn und schauten. Herren in

tuchüberzogenen Pelzen erblickte er so viele, daß er nicht

wußte, vor wem er zuerst die Mütze ziehen sollte. Mein Gott,

wieviel Herrschaften es hier gibt! dachte der Schmied. Ich

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glaube, daß jeder, der in einem Pelz über die Straße geht, ein

Gerichtsassessor, zumindest ein Gerichtsassessor ist und daß

jene, welche in diesen seltsamen Britschen mit Fensterscheiben

vorüberfahren, wenn nicht schon Stadthauptleute, so doch

Kommissare oder vielleicht gar noch etwas Höheres sind.

Diese Gedanken wurden von der Frage des Teufels

unterbrochen: «Geradewegs zur Zarin?» Nein, das ist zu

schrecklich, dachte der Schmied. Da sind doch, ich weiß nicht,

irgendwo die Saporoger eingekehrt, welche im Herbst durch

Dikanka fuhren. Sie reisten aus der Setsch mit Papieren zur

Zarin; mit denen könnte ich mich immerhin beraten.

«He, Satan, kriech mir in die Tasche und führe mich zu den

Saporogern!»

Der Teufel magerte im Nu ab und machte sich so klein, daß

er mühelos in seine Tasche kriechen konnte. Und ehe sich

Wakula dessen versehen hatte, befand er sich vor einem

großen Haus, ging, ohne selber zu wissen wie, die Treppe

hinauf, öffnete die Tür und prallte ein wenig zurück vor dem

Glanz, als er das herrlich ausstaffierte Zimmer erblickte; doch

er faßte ein wenig Mut, als er die nämlichen Saporoger, die

durch Dikanka gereist waren, erkannte, wie sie auf seidenen

Diwanen saßen, die mit Teer eingeschmierten Stiefel

Page 77: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

untergeschlagen hatten und den allerstärksten Tabak rauchten,

so man gewöhnlich Wurzelstrünke nennt.

«Seid mir gegrüßt, ihr Herren! Helft euch Gott! Das ist ein

Wiedersehen!» sagte der Schmied, indem er näher herantrat

und sich bis zur Erde verbeugte.

«Was ist das für ein Mensch?» fragte der unmittelbar vor

dem Schmied Sitzende einen anderen, der etwas weiter weg

saß.

«Ja, erkennt ihr mich denn nicht?» fragte der Schmied. «Ich

bin es, Wakula, der Schmied! Als ihr im Herbst durch Dikanka

kamt, habt ihr fast zwei Tage lang, Gott schenke euch die beste

Gesundheit und ein langes Leben, bei mir logiert. Und sogar

einen neuen Reifen habe ich euch damals auf das Vorderrad

eurer Kibitka aufgezogen!»

«Ah!» sagte der nämliche Saporoger, «das ist derselbe

Schmied, der so bedeutend malt. Sei uns gegrüßt, Landsmann,

weshalb hat dich Gott hergeführt?»

«Nur so, ich wollte mich nur ein wenig umsehen, man

sagt…»

«Nicht wahr, Landsmann», sagte der eine Saporoger, indem

er eine würdevolle Haltung annahm, weil er zeigen wollte, daß

er auch russisch sprechen konnte, «eine große Stadt?»

Page 78: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Auch der Schmied wollte sich nicht beschämen lassen und

sich nicht als Neuling zeigen, außerdem beherrschte er selbst,

wie zu sehen wir schon weiter oben Gelegenheit hatten, die

russische Schriftsprache. «Eine ansehnliche Goubernie!»

antwortete er deshalb kaltblütig. «Dagegen ist nichts zu sagen:

graßmächtige Häuser, bedeutende Bilder hängen herum. Viele

Häuser sind mit Buchstaben aus Blattgold bis zur

Außerordentlichkeit bemalt. Nichts dagegen zu sagen: eine

wundervolle Proportion!»

Als die Saporoger den Schmied sich so flüssig und gewandt

ausdrücken hörten, zogen sie daraus sehr vorteilhafte Schlüsse

für ihn.

«Später wollen wir uns mit dir, Landsmann, ausführlicher

unterhalten, aber jetzt müssen wir sogleich zur Zarin fahren.»

«Zur Zarin? Ach, seid doch freundlich, ihr Herren, und nehmt

mich mit!»

«Dich?» entgegnete ein Saporoger in einem Ton, wie etwa

ein Kinderwärter mit seinem vierjährigen Zögling redet, der

ihn bittet, ihn auf ein echtes, auf ein großes Pferd zu setzen.

«Was willst du denn dort? Nein, das geht nicht.» Dabei nahm

sein Gesicht eine gewichtige Miene an. «Wir müssen mit der

Zarin über unsere Angelegenheiten verhandeln, Bruder!»

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«Nehmt mich mit!» drängte der Schmied.

«Bitte du sie!» flüsterte er dem Teufel leise zu, indem er mit

der Faust auf die Tasche schlug.

Kaum hatte er es gesagt, als schon ein anderer Saporoger

ausrief: «Nehmen wir ihn trotzdem mit, Brüder!»

«Sei es denn, nehmen wir ihn mit!» riefen die übrigen.

«Zieh aber auch so ein Gewand an wie wir!»

Der Schmied beeilte sich, einen grünen Schupan anzuziehen,

als plötzlich die Tür aufging und ein mit Posamenten verzierter

Mann hereinkam und sagte, daß es an der Zeit sei zu fahren.

Abermals ward dem Schmied seltsam zumute, als er in der

riesigen Kutsche dahinfuhr, die auf ihren Sprungfedern

schaukelte, als an ihm zu beiden Seiten vierstöckige Häuser

vorbeiliefen und das Pflaster von selbst, mit lautem Donnern,

unter die Hufe der Pferde zu rollen schien.

Mein Gott, was für eine Welt! dachte der Schmied bei sich.

Bei uns ist es am Tag nicht so hell.

Die Kutschen hielten vor einem Palast. Die Saporoger stiegen

aus, betraten einen großartigen Hausflur und stiegen langsam

eine blendend beleuchtete Treppe empor.

«Was für eine Treppe!» flüsterte der Schmied vor sich hin.

«Zu schade, um mit den Füßen auf ihr herumzutreten. Was für

Page 80: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Verzierungen! Da sagt man, die Märchen lügen! Den Teufel

was lügen sie! Ach, du mein Gott, was für ein Geländer! Was

für eine Arbeit! Da ist schon das Eisen allein auf fünfzig Rubel

gekommen!»

Auf der Treppe oben angelangt, durchschritten die Saporoger

den ersten Saal. Schüchtern folgte ihnen der Schmied, bei

jedem Schritt in Ängsten, auf dem Parkett auszurutschen. Sie

durchschritten drei Säle, der Schmied hörte immer noch nicht

auf, sich zu wundern. Als sie in den vierten kamen, ging er

unwillkürlich auf ein an der Wand hängendes Bild zu. Es war

die allerreinste Jungfrau mit dem Kind auf dem Arm. «Was für

ein Bild! Was für eine wunderbare Malerei!» urteilte er.

«Ganz, als ob sie reden wollte! Als ob sie lebendig wäre! Und

erst das heilige Kind! Hat die Hände gefaltet und lächelt, das

Ärmste! Und die Farben! Ach, du mein Gott, was für Farben!

Da ist nicht für eine Kopeke Ocker verwendet worden, lauter

Grünspan und Karmin; und das Blau, wie es leuchtet! Eine

bedeutende Arbeit! Der Grund muß mit Bleiweiß gelegt

worden sein. Aber so bewunderungswürdig diese Malereien

auch sein mögen, diese kupferne Türklinke hier», fuhr er fort,

indem er an die Tür trat und das Schloß betastete, «ist der

Bewunderung noch würdiger. Ach, was für eine saubere

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Ausführung! Das alles haben, glaube ich, deutsche Schmiede

für sündteures Geld gemacht…»

Vielleicht hätte der Schmied seine Betrachtungen noch länger

fortgesetzt, wenn ihn nicht ein goldbetreßter Lakai mit dem

Ellenbogen angestoßen und ermahnt hätte, nicht hinter den

anderen zurückzubleiben. Die Saporoger durchschritten noch

zwei Säle und blieben stehen. Hier wurde ihnen zu warten

befohlen. Im Saale drängten sich einige Generale in

goldbestickten Uniformen. Die Saporoger verbeugten sich

nach allen Seiten und stellten sich dann nebeneinander auf.

Einen Augenblick später trat in Begleitung einer ganzen Suite

ein ziemlich beleibter Mann von majestätischem Wuchs in

Hetmansuniform und gelben Stiefeln ein. Seine Haare waren

zerzaust, ein Auge schielte ein wenig, auf dem Gesicht lag ein

überheblicher Stolz, allen seinen Bewegungen war die

Gewohnheit zu befehlen anzumerken. Alle Generale, die

ziemlich aufgeplustert in ihren goldenen Uniformen auf und ab

gingen, gerieten vor Aufregung ganz durcheinander und

lauerten scheint’s auf jedes seiner Worte und selbst auf den

kleinsten Wink, um ihm unter tiefen Bücklingen schleunigst

nachzukommen. Aber der Hetman schenkte ihnen nicht die

Page 82: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

geringste Aufmerksamkeit, nickte kaum mit dem Kopf und

ging auf die Saporoger zu.

Die Saporoger verbeugten sich bis zu den Füßen.

«Seid ihr alle da?» fragte er gedehnt, die Worte ein bißchen

durch die Nase aussprechend.

«Ja, alle, Väterchen!» antworteten die Saporoger und

verbeugten sich abermals.

«Werdet ihr nicht vergessen, so zu sprechen, wie ich’s euch

gelehrt habe?»

«Nein, Väterchen, wir werden es nicht vergessen.»

«Ist das der Zar?» fragte der Schmied einen der Saporoger.

«Was denn für ein Zar! Das ist Potjomkin in eigener Person»,

antwortete dieser.

Im Zimmer nebenan wurden Stimmen laut, und der Schmied

wußte nicht, wo er seine Augen hintun sollte vor der Menge

der eintretenden Damen in Atlaskleidern mit langen

Schwänzen und der Höflinge in goldbestickten Kaftanen und

mit Zöpfen hinten. Er sah nur einen Blitz und weiter nichts.

Die Saporoger warfen sich plötzlich alle zu Boden und schrien

einstimmig: «Erbarme dich, Mütterchen, erbarme dich!»

Der Schmied, der völlig geblendet war, warf sich allein mit

voller Wucht seiner ganzen Länge nach zu Boden.

Page 83: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Steht auf!» erklang über ihnen eine gebieterische und

zugleich angenehme Stimme. Einige Höflinge gerieten in

Bewegung und stießen die Saporoger mit den Füßen an.

«Wir stehen nicht auf, Mütterchen! Wir stehen nicht auf! Wir

sterben lieber, als daß wir aufstehen!» schrien die Saporoger.

Potjomkin biß sich auf die Lippen, schließlich ging er selber

hin und flüsterte dem einen Saporoger gebieterisch etwas zu.

Die Saporoger erhoben sich.

Da wagte es auch der Schmied, den Kopf zu heben, und

erblickte vor sich eine Frauensperson mittlerer Statur, sogar

ein wenig beleibt, mit gepudertem Kopf und blauen Augen und

zugleich mit jenem majestätisch lächelnden Gesichtsausdruck,

der es so gut verstand, sich alles Untertan zu machen, und der

nur einer Frau auf dem Zarenthron gehören konnte.

«Durchlaucht hat versprochen, mich heute mit meinem Volk

bekannt zu machen, das ich bisher noch nicht gesehen habe»,

sprach die Dame mit den blauen Augen und musterte neugierig

die Saporoger. «Hat man euch hier gut untergebracht?» fuhr

sie fort und trat näher.

«Ja, vergelt’s Gott, Mütterchen! Die Verpflegung ist gut,

obwohl die hiesigen Hammel bei weitem nicht so sind wie bei

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uns daheim in Saporoschje… Warum sollte man nicht

irgendwie leben können…?»

Potjomkin runzelte die Stirn, als er merkte, daß die Saporoger

keineswegs das sagten, was er sie gelehrt hatte…

Ein Saporoger nahm eine würdevolle Haltung an und trat

einen Schritt vor: «Erbarme dich, Mütterchen! Warum richtest

du dein treues Volk zugrunde? Womit haben wir dich erzürnt?

Haben wir etwa dem heidnischen Tataren die Hand gereicht?

Haben wir etwa mit dem Türken gemeinsame Sache gemacht?

Haben wir dich etwa in Gedanken oder durch Werke verraten?

Weshalb denn die Ungnade? Zuerst hörten wir, daß du

befiehlst, überall Festungen gegen uns zu bauen; dann hörten

wir, daß du uns in Scharfschützen verwandeln willst; jetzt

hören wir von neuem Unheil. Wodurch hat sich das Heer der

Saporoger schuldig gemacht? Etwa dadurch, daß es deine

Armee über Perekop geführt und deinen Generalen geholfen

hat, die Krimtataren niederzuwerfen?»

Potjomkin schwieg und putzte mit einem kleinen Bürstchen

nachlässig seine Brillanten, mit denen seine Hände besät

waren.

«Was wollt ihr also?» fragte Katharina fürsorglich.

Die Saporoger schauten einander vielsagend an.

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Jetzt ist es Zeit! Die Zarin fragt, was wir wollen! sagte der

Schmied zu sich selber und warf sich plötzlich zu Boden.

«Eure zarische Majestät, befehlt nicht zu strafen, sondern

befehlt zu genaden! Woraus sind, nehmt es mir nicht übel,

Eure zarischen Gnaden, die Schuhe gemacht, die an Euren

Füßen sind? Ich glaube, nicht ein Schuster in irgendeinem

Zarenreich der Welt vermag so etwas zu machen. Ach, du

mein Gott, wenn mein liebes Weib solche Schuhe anziehen

könnte!»

Die Herrscherin lachte. Die Höflinge lachten ebenfalls.

Potjomkin trotzte, runzelte die Brauen und lachte zugleich. Die

Saporoger stießen den Schmied mit den Ellenbogen an, weil

sie dachten, er habe den Verstand verloren.

«Steh auf!» sagte die Herrscherin freundlich. «Wenn du

durchaus solche Schuhe haben willst, so ist das nicht so schwer

zu machen. Bringt ihm auf der Stelle die teuersten Schuhe, die

goldbestickten! Wahrlich, diese Einfalt gefällt mir sehr! Da

habt Ihr», fuhr die Herrscherin fort, indem sie ihre Augen auf

einen etwas abseits von den übrigen stehenden Mann mit

vollem, doch etwas blassem Gesicht richtete, dessen

bescheidener Kaftan mit großen Perlmutterknöpfen erkennen

Page 86: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

ließ, daß er nicht zur Zahl der Höflinge gehörte, «da habt Ihr

einen Eurer geistreichen Feder würdigen Gegenstand!»

«Kaiserliche Majestät sind zu gnädig. Hier bedürfte es zum

mindesten eines Lafontaine!» antwortete der Mann mit den

Perlmutterknöpfen, indem er sich verbeugte.

«Ich will Euch ehrlich sagen: ich bin noch ganz hingerissen

von Eurem ‹Brigadier›. Ihr könnt erstaunlich gut vorlesen. Im

übrigen», fuhr die Herrscherin fort und wandte sich erneut an

die Saporoger, «habe ich gehört, daß bei euch in der Setsch

niemand heiraten darf.»

«Wie das, Mütterchen! Du weißt doch selber, daß ein Mann

nicht ohne Weib leben kann», antwortete der nämliche

Saporoger, der mit dem Schmied gesprochen hatte, und der

Schmied wunderte sich, als er vernahm, daß dieser Saporoger,

der so gut die Schriftsprache beherrschte, gerade mit der Zarin

wie absichtlich in der gröbsten Mundart redete, die man

gewöhnlich Bauernsprache nennt. Ein schlaues Volk! dachte

der Schmied bei sich, das tut er sicherlich nicht ohne Absicht.

«Wir sind doch keine Mönche», fuhr der Saporoger fort,

«sondern sündige Menschen, der Fleischeslust verfallen wie

die ganze ehrliche Christenheit. Es gibt bei uns nicht wenige,

die ihre Weiber haben, nur leben diese nicht bei ihnen in der

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Setsch. Es gibt welche, die ihre Weiber in Polen haben; es gibt

welche, die ihre Weiber in der Ukraine haben; es gibt welche,

die ihre Weiber sogar in der Türkei haben.»

In diesem Augenblick wurden dem Schmied die Schuhe

gebracht.

«Ach, du mein Gott, was für eine Zier!» schrie der Schmied

vor Freude und packte die Schuhe. «Eure zarische Majestät!

Wenn Ihr solche Schuhe an den Füßen habt und wenn Euer

Gnaden in ihnen, wie zu vermuten steht, gar noch über das Eis

schlittern, wie müssen da erst die Füßchen selber sein? Ich

glaube, zum wenigsten aus reinstem Zucker.»

Die Herrscherin, die tatsächlich die zierlichsten und

reizendsten Füßchen hatte, konnte sich eines Lächelns nicht

enthalten, als sie ein solches Kompliment aus dem Mund eines

einfältigen Schmieds vernahm, der in seinem Saporoger

Gewand, ungeachtet des braunverbrannten Gesichts, als

schöner Mann gelten konnte.

Hocherfreut über diese wohlgeneigte Aufmerksamkeit, wollte

der Schmied die Zarin gleich über alles ordentlich ausfragen:

ob es wahr sei, daß die Zaren nur Honig und Speck äßen und

dergleichen mehr; als er jedoch spürte, daß ihn die Saporoger

in die Rippen pufften, beschloß er zu verstummen. Und als die

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Herrscherin sich den Ältesten zuwandte und sie auszufragen

begann, wie man in der Setsch lebe und was dort Sitte und

Brauch sei, trat er zurück, neigte sich zu seiner Tasche hinab

und sagte leise: «Bring mich so schnell wie möglich von hier

fort!» Und plötzlich befand er sich hinter dem Schlagbaum.

«Er ist ertrunken! bei Gott, er ist ertrunken! Ich soll mich nicht

mehr von der Stelle rühren können, wenn er nicht ertrunken

ist!» schwatzte die dicke Weberin, die inmitten eines Haufens

von Dikanker Weibern auf der Straße stand.

«Was? Bin ich denn eine Lügnerin? Habe ich denn jemand

eine Kuh gestohlen? Habe ich denn jemand behext, daß mir

nichts geglaubt wird?» schrie eine Alte in einem Kosakenkittel

und mit einer violetten Nase, indem sie wild mit den Armen

fuchtelte. «Keinen Tropfen Wasser soll ich mehr trinken

mögen, wenn die alte Perepertschicha nicht mit eigenen Augen

gesehen hat, wie sich der Schmied erhängt hat!»

«Der Schmied hat sich erhängt? Da haben wir es!» sagte das

Oberhaupt, das gerade von Tschub kam und stehengeblieben

war und sich an die keifenden Weiber herangedrängt hatte.

«Sag lieber, daß du dein Lebtag keinen Tropfen Wodka mehr

trinken möchtest, alte Säuferin!» antwortete die Weberin. «Da

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müßte er ja genauso verrückt sein wie du, um sich

aufzuhängen! Ertrunken ist er! Ertrunken im Eisloch! Das weiß

ich so gewiß wie das, daß du soeben bei der Schankwirtin

warst.»

«Schandweib! da schau, wie sie mich verleumden möchte!»

entgegnete wütend die Alte mit der violetten Nase. «Hättest du

lieber geschwiegen, Nichtsnutzige! Als ob ich nicht wüßte, daß

der Vorsänger jeden Abend zu dir kommt!»

Die Weberin wurde brandrot vor Zorn.

«Was tut der Vorsänger? Zu wem kommt der Vorsänger?

Was lügst du über den Vorsänger daher?»

«Der Vorsänger?» krähte die Vorsängerin, indem sie sich in

ihrem Hasenpelz, der mit blauem Nankingtuch bezogen war,

auf den Streitplatz drängte. «Ich werde euch gleich den

Vorsänger zeigen! Wer sagt etwas über den Vorsänger?»

«Da sieh, zu wem dein Vorsänger geht!» sagte die Alte mit

der violetten Nase und zeigte auf die Weberin.

«Also du bist es, du Hündin», sagte die Vorsängerin und ging

auf die Weberin los, «also du bist es, du Hexe, die ihm einen

Nebel vormacht und allerhand unheiliges Kraut zu trinken gibt,

daß er zu dir kommt?»

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«Weiche von mir, Satanas!» sagte die Weberin

zurückweichend.

«Sieh einer die verdammte Hexe an; daß du doch deine

Kinder nie mehr wiedersehen mögest, Nichtsnutzige! Pfui!»

Dabei spuckte die Vorsängerin der Weberin mitten in die

Augen.

Die Weberin wollte dasselbe tun, spuckte aber statt dessen

auf das unrasierte Kinn des Oberhaupts, das sich, um alles

besser zu hören, mitten unter die Streitenden gestellt hatte.

«Ach, du abscheuliches Weibsbild!» schrie das Oberhaupt,

wischte sich mit dem Rockschoß das Gesicht ab und hob die

Knute. Diese Bewegung veranlaßte alle, schimpfend

auseinanderzugehen. «So was Ekelhaftes!» wiederholte er und

wischte sich noch einmal ab. «Also der Schmied ist ertrunken!

Ach, du mein Gott, und was für ein bedeutender Maler er war!

Was für feste Messer, Sicheln und Pflüge er schmieden

konnte! Was für eine Kraft er hatte! Ja», fuhr er nachdenklich

fort, «solche Leute haben wir wenige im Dorf. Ich hab’s ja

schon gemerkt, als ich in dem verdammten Sack saß, daß der

arme Kerl gar nicht bei Laune war. Da haben wir nun den

Schmied! Er war – und aus ist’s mit ihm! Und ich wollte noch

meine scheckige Stute von ihm beschlagen lassen…»

Page 91: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Und solcher christlicher Gedanken voll, trottete das

Oberhaupt langsam seiner Hütte zu.

Oxana erschrak aufs tiefste, als die Gerüchte über das Ende

des Schmiedes zu ihr drangen. Sie schenkte den Augen der

Perepertschicha und dem Geschwätz der Weiber wenig

Glauben; sie wußte, daß der Schmied viel zu fromm war, um

den Entschluß zu fassen, seine Seele dem ewigen Verderben

preiszugeben. Was aber, wenn er tatsächlich in der Absicht

weggegangen war, niemals wieder in das Dorf

zurückzukehren? Und anderswo war ein so braver Bursche,

wie der Schmied einer war, schwerlich zu finden! Er hatte sie

so geliebt! Er hatte am längsten von allen ihre Launen

ertragen! Die Schöne drehte sich die ganze Nacht unter ihrer

Decke von der rechten Seite auf die linke und von der linken

Seite auf die rechte – und konnte nicht einschlafen. Bald warf

sie sich in ihrer berückenden Nacktheit, welche das nächtliche

Dunkel sogar vor ihr selber verbarg, fast laut ihre Dummheit

vor, bald verstummte sie und beschloß, an nichts mehr zu

denken – und dachte weiter. Sie glühte wie im Fieber; und

gegen Morgen war sie bis über beide Ohren in den Schmied

verliebt.

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Tschub äußerte über Wakulas Los weder Freude noch Trauer.

Seine Gedanken waren nur mit einer Angelegenheit

beschäftigt: er konnte und konnte nicht den Treubruch

Solochas vergessen und hörte auch im Traum nicht auf, sie zu

beschimpfen.

Der Morgen brach an. Die ganze Kirche war schon vor dem

Hellwerden voller Menschen. Bejahrte Frauen in weißen

Kopftüchern und weißen Tuchkitteln bekreuzigten sich schon

andächtig beim Kircheneingang. Die Edelfrauen in grünen und

gelben Joppen und manche sogar in blauen Kontuschen mit

goldenen Schleifen hinten standen vor ihnen. Die Mädchen,

welche sich einen ganzen Kramladen voll Bänder um den Kopf

und Perlen, Kreuze und Dukaten um den Hals gewickelt

hatten, trachteten noch näher an den Ikonostas

heranzukommen. Doch am weitesten vorne standen die

Edelleute und die gewöhnlichen Bauern mit Schnurrbärten,

Haarschöpfen, dicken Hälsen und frischbalbierten Kinnen, fast

alle in Kapuzenmänteln, unter denen ein weißer oder bei

manchen auch ein blauer Kittel hervorschaute. Auf allen

Gesichtern, wohin man schaute, war der Feiertag zu sehen. Das

Oberhaupt leckte sich die Lippen, wenn er daran dachte, wie

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gütlich er sich an den Würsten tun wollte; die Mädchen

dachten darüber nach, wie sie mit den Burschen über das Eis

schlittern würden; die alten Weiber murmelten inbrünstiger

denn je ihre Gebete. Durch die ganze Kirche war zu hören, wie

der Kosak Swerbyhus seine Verbeugungen machte. Nur Oxana

stand völlig geistesabwesend da: sie betete und betete auch

nicht. Ihr Herz bedrängten so viele unterschiedliche Gefühle,

eins verdrießlicher als das andere, eins trauriger als das andere,

daß ihr Gesicht nur eine starke Verwirrung ausdrückte; Tränen

zitterten in ihren Augen. Die Mädchen konnten deren Ursache

nicht begreifen und hatten keine Ahnung, daß sie dem Schmied

galten. Doch war nicht nur Oxana allein mit dem Schmied

beschäftigt. Alle Dorfbewohner fühlten, daß der Feiertag kein

richtiger Feiertag war, daß sozusagen etwas fehlte. Zu allem

Unglück hatte den Vorsänger nach seiner Reise im Sack auch

noch die Heiserkeit befallen, und seine Stimme knarzte und

quietschte wie ein schlecht geschmiertes Wagenrad; freilich

meisterte der zugereiste Sänger gar prächtig den Baß, aber

weitaus schöner wäre es gewesen, hätte man auch den Schmied

zur Hand gehabt, der sonst immer, wenn das «Vaterunser»

oder die «Himmlischen Heerscharen» angestimmt wurden, den

Chor betrat und von dort beides mit derselben Melodie vortrug,

Page 94: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

wie es in Poltawa gesungen wurde. Dazu versah er allein das

Amt des Kirchenvorstehers. Schon war die Frühmesse aus;

nach der Frühmesse war die Mittagsmesse aus… wohin war

denn nur der Schmied verschwunden?

Noch schneller flog in den letzten Stunden der Nacht der

Teufel mit dem Schmied zurück. Und im Nu befand sich

Wakula vor seiner Hütte. Da krähte der Hahn. «Wohin?»

schrie der Schmied und packte den Teufel, der davonlaufen

wollte, am Schwanz, «bleib stehen, Freundchen, das ist noch

nicht alles: ich habe dir noch nicht gedankt.» Damit griff er

nach einer langen Rute, versetzte ihm drei Hiebe, und der arme

Teufel begann zu laufen wie ein Bauer, dem soeben der

Gerichtsassessor tüchtig eingeheizt hat. Und so war der Feind

des Menschengeschlechts, statt andere zu foppen, zu verfuhren

und zu narren, selbst genarrt worden. Darauf ging Wakula in

den Hausflur, vergrub sich ins Heu und schlief bis zum

Mittagessen. Als er endlich erwachte, erschrak er nicht wenig,

als er sah, daß die Sonne schon hoch am Himmel stand. «Ich

habe die Frühmesse und die Mittagsmesse verschlafen!» Da

verfiel der gottesfürchtige Schmied in tiefe

Niedergeschlagenheit, denn er vermeinte, Gott habe ihm

absichtlich, zur Strafe für sein sündhaftes Verlangen, seine

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Seele der ewigen Verdammnis zu überantworten, einen Schlaf

geschickt, der ihn verhinderte, an einem so hohen Feiertag die

Kirche zu besuchen. Er beruhigte sich jedoch damit, in der

kommenden Woche dem Popen alles zu beichten und von

heute an ein ganzes Jahr lang täglich fünfzig Kniefälle zu

machen. Dann warf er einen Blick in die Hütte; aber es war

niemand da. Vermutlich war Solocha noch nicht aus der

Kirche zurück. Behutsam zog er die Schuhe aus dem Busen

und wunderte sich von neuem über die wertvolle Arbeit und

über die seltsamen Ereignisse der vergangenen Nacht; er

wusch sich, kleidete sich möglichst schön, zog das nämliche

Gewand an, das er von den Saporogern bekommen hatte, nahm

aus der Truhe die neue Lammfellmütze mit dem blauen Deckel

heraus, die er seit der Zeit, da er sie während seines

Aufenthalts in Poltawa gekauft, noch kein einziges Mal

aufgehabt hatte, nahm auch einen neuen, bunten Gürtel heraus,

wickelte alles, samt einer Nagaika, in ein Tuch und begab sich

schnurstracks zu Tschub.

Tschub traute seinen Augen nicht, als der Schmied bei ihm

eintrat, und wußte nicht, worüber er sich mehr wundern sollte:

darüber, daß der Schmied von den Toten auferstanden war,

oder darüber, daß der Schmied es wagte, zu ihm zu kommen,

Page 96: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

oder darüber, daß er sich in einen solchen Stutzer und

Saporoger verwandelt hatte. Aber noch mehr staunte er, als

Wakula das Tuch aufband und vor ihm eine funkelnagelneue

Mütze und einen Gürtel, wie man seinesgleichen noch nie im

Dorf gesehen hatte, auf den Tisch legte, während er selbst ihm

zu Füßen stürzte und mit flehentlicher Stimme ausrief:

«Erbarmen, Väterchen! Zürne mir nicht! Da hast du die

Nagaika: schlag zu, soviel dein Herz begehrt, ich stelle mich

selber; alles bereue ich; schlag zu, aber zürne nicht mehr! Du

hast vor Zeiten mit meinem seligen Vater Brüderschaft

geschlossen, ihr habt zusammen Salz und Brot gegessen und

den Bund mit einem Umtrunk begossen.»

Tschub sah nicht ohne heimliche Genugtuung, daß der

Schmied, dem niemand im Dorf auch nur ein Schnurrbarthaar

zu krümmen gewagt hätte, der mit einer Hand Fünfer und

Hufeisen wie Pfannkuchen zusammendrückte, daß dieser selbe

Schmied zu seinen Füßen lag. Um sich nicht noch mehr zu

vergeben, nahm Tschub die Nagaika und schlug ihn dreimal

über den Rücken.

«Nun, das wird reichen, steh auf! Auf die alten Leute soll

man stets hören! Vergessen wir alles, was zwischen uns war!

So, und jetzt sag mir, was du willst!»

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«Gib mir, Väterchen, Oxana zum Weib!»

Tschub überlegte ein wenig und blickte auf die Mütze und

den Gürtel: die Mütze war wunderbar, und der Gürtel stand ihr

nicht nach; dann erinnerte er sich der treulosen Solocha und

sagte entschlossen: «Gut! Schick die Brautwerber her!»

«Ah!» schrie Oxana auf, als sie über die Schwelle trat und

den Schmied erblickte, und richtete verblüfft und freudig ihren

Blick auf ihn.

«Schau her, was für Schuhe ich dir mitgebracht habe!» sagte

Wakula, «genau dieselben, welche die Zarin trägt.»

«Nein, nein! Ich brauche keine Schuhe!» sagte sie und winkte

mit den Händen ab, ließ jedoch kein Auge von ihm. «Ich

werde auch ohne Schuhe…» Weiter sprach sie nicht, sie

errötete.

Der Schmied trat näher und nahm sie bei der Hand; die

Schöne schlug die Augen nieder. Noch niemals war sie so

wunderbar schön gewesen. Der begeisterte Schmied küßte sie

leise, ihr Gesicht errötete noch mehr, und sie wurde noch

schöner.

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Fuhr da einmal der Bischof seligen Angedenkens durch

Dikanka, lobte die Gegend, in welcher das Dorf lag, und ließ,

als er die Dorfstraße entlangfuhr, vor einer neuen Hütte halten.

«Wem gehört denn diese bemalte Hütte?» fragte der

Hochwürdigste eine schöne Frau, die mit einem Kind auf dem

Arm vor der Tür stand.

«Dem Schmied Wakula!» sagte mit einer Verbeugung

Oxana, denn keine andere als sie war es.

«Herrlich! Eine herrliche Arbeit!» sagte der Hochwürdigste

und betrachtete die Türen und die Fenster. Alle Fenster waren

nämlich ringsum mit roter Farbe angestrichen; auf der Tür

waren überall Kosaken zu Pferde, mit Pfeifen zwischen den

Zähnen, gemalt.

Aber noch mehr lobte der Hochwürdigste Wakula, als man

ihm berichtete, daß sich jener eine Kirchenbuße auferlegt und

ganz unentgeltlich den linken Chor mit grüner Farbe und roten

Blumen darauf gemalt habe. Das war aber noch nicht alles: an

die Wand zur Linken, wenn du in die Kirche hineinkommst,

hatte Wakula den Teufel in der Hölle gemalt, und zwar so

abscheulich, daß alle ausspuckten, wenn sie vorübergingen;

und die Weiber trugen ihre Kinder, wenn sie auf dem Arm zu

weinen anfingen, vor das Bild und sprachen: «Da schau, was

Page 99: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

da gemalt ist!» Und die Kinder hielten ihr Tranen zurück,

schielten nach dem Bild und drückten sich an die Brust ihrer

Mutter.

Page 100: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Fjodor M. Dostojewskij

Der Christbaum und die Hochzeit

Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten

Deutsch von Arthur Luther

Page 101: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

KÜRZLICH SAH ICH eine Hochzeit… aber nein! Ich will lieber

von einem Christbaum erzählen. Die Hochzeit war schön; sie

hat mir sehr gefallen, aber die andere Begebenheit ist schöner.

Ich weiß nicht, wieso mir bei der Erinnerung an diese Hochzeit

der Christbaum einfällt. Es trug sich so zu. Vor genau fünf

Jahren wurde ich am Vorabend des Neuen Jahres zu einem

Kinderball eingeladen. Der Gastgeber war eine bekannte

Persönlichkeit mit Beziehungen, Bekanntschaften und Intrigen,

so daß man annehmen konnte, daß dieser Kinderball nur ein

Vorwand für die Eltern sei, um zusammenzukommen und

gewisse interessante Dinge in harmloser, scheinbar

unbeabsichtigter Weise zu besprechen. Ich war ein

Außenstehender; Gesprächsstoff hatte ich keinen, und so

verbrachte ich den Abend ziemlich ungestört. Es war noch ein

Herr da, der scheint’s weder Namen noch Rang hatte und

gleich mir nur zufällig in dieses allgemeine Familienglück

geraten war… Er stach mir vor allen anderen in die Augen. Er

war ein großer hagerer Mann, sehr ernst, sehr gut gekleidet.

Aber man sah ihm an, daß ihm wenig an dem Vergnügen und

Familienglück gelegen war; wenn er in eine Ecke ging, hörte

er sofort auf zu lächeln und runzelte die dichten, schwarzen

Page 102: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Brauen. Bekannte hatte er außer dem Hausherrn keine lebende

Seele auf dem Ball. Man sah ihm an, daß er sich schrecklich

langweilte, aber daß er tapfer bis zum Schluß die Rolle eines

animierten und glücklichen Menschen spielte. Ich erfuhr

später, daß dieser Herr aus der Provinz sei, der irgendeine

entscheidende, halsbrecherische Angelegenheit in der

Hauptstadt zu erledigen habe, unserem Gastgeber einen

Empfehlungsbrief gebracht habe, dieser ihn keineswegs gerne

unterstütze und ihn nur aus Höflichkeit zu einem Kinderball

eingeladen habe. Karten wurden nicht gespielt, Zigarren

wurden ihm nicht angeboten, ins Gespräch ließ sich niemand

ein mit ihm, da man den Vogel vielleicht schon von weitem an

den Federn erkannte, und so blieb dem Herrn nichts weiter

übrig, als den ganzen Abend, um die Hände irgendwie zu

beschäftigen, seinen Backenbart zu streichen. Backenbart hatte

er tatsächlich einen sehr schönen. Aber er strich ihn mit einer

Sorgfalt, daß man, wenn man ihn beobachtete, tatsächlich

annehmen konnte, es sei zunächst nur dieser Backenbart

dagewesen und erst später ein Herr dazu geschaffen worden,

um ihn zu streichen.

Außer dieser Gestalt, die in der oben beschriebenen Weise an

dem Familienglück des Hausherrn teilnahm, der fünf dicke

Page 103: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

muntere Knaben hatte, gefiel mir noch ein anderer Herr. Dieser

war jedoch von ganz anderem Typ. Er war eine Persönlichkeit.

Er hieß Julian Mastakowitsch. Vom ersten Augenblick an

konnte man sehen, daß er ein geachteter Gast war und zum

Hausherrn in demselben Verhältnis stand wie dieser zu dem

Herrn, der sich den Backenbart strich. Der Hausherr und

dessen Frau sagten ihm eine Menge Liebenswürdigkeiten,

bemühten sich um ihn, nötigten ihn zum Essen und Trinken,

stellten ihm zur Empfehlung ihre Gäste vor, während sie ihn

selber niemandem vorstellten. Ich bemerkte, wie im Auge des

Gastgebers eine Träne erglänzte, als Julian Mastakowitsch

sagte, er habe seine Zeit selten auf so angenehme Weise

verbracht wie heute. Mir wurde die Gegenwart einer so

hochgestellten Persönlichkeit nachgerade unheimlich, und

daher ging ich, nachdem ich mich eine Weile über die Kinder

gefreut hatte, in den kleinen Salon, der völlig menschenleer

war, und setzte mich in den Efeuwinkel der Hausfrau, der fast

die Hälfte des Zimmers einnahm.

Die Kinder waren lieb bis zur Unwahrscheinlichkeit und

wollten entschieden nicht den «Großen» ähnlich sein,

ungeachtet aller Vorstellungen der Gouvernanten und

Muhmen. Sie hatten im Nu den Christbaum bis zum letzten

Page 104: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Konfekt geplündert und bereits Zeit gefunden, die Hälfte der

Spielsachen zu zerbrechen, ehe sie überhaupt wußten, welches

ihnen gehörte. Besonders hübsch war ein schwarzäugiger

Knabe mit einem Lockenkopf, der mich fortwährend mit

seinem Holzgewehr zu erschießen drohte. Doch am meisten

fiel mir seine Schwester auf, ein Mädchen von etwa elf Jahren,

lieblich wie ein Amor, ein stilles, nachdenkliches, blasses Kind

mit großen träumerischen, etwas vorstehenden Augen. Die

Kinder hatten es irgendwie gekränkt, und deshalb zog es sich

in denselben kleinen Salon zurück, in dem ich saß, und machte

sich in einem Winkel mit seiner Puppe zu schaffen. Die Gäste

zeigten respektvoll auf einen reichen Branntweinpächter, ihren

Vater, und jemand bemerkte flüsternd, daß schon

dreihunderttausend Rubel Mitgift für sie zurückgelegt seien.

Ich sah mich um und konnte feststellen, wer sich so für diese

Angelegenheit interessierte. Mein Blick fiel auf Julian

Mastakowitsch, der, die Hände auf dem Rücken verschränkt

und den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, dem Geschwätz

dieser Herrschaften mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte.

Dann konnte ich nicht umhin, die Weisheit der Gastgeber zu

bewundern, die in der Verteilung der Geschenke unter die

Kinder zum Ausdruck kam. Dies Mädchen, das schon eine

Page 105: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Mitgift von dreihunderttausend Rubel hatte, bekam eine

äußerst kostbare Puppe. Dann folgten wertmindere Geschenke

– genau im Verhältnis zum verminderten Rang der Eltern aller

dieser glücklichen Kinder. Schließlich bekam das letzte Kind,

ein etwa zehnjähriger, magerer, kleiner, sommersprossiger,

rothaariger Junge, nichts als ein Buch mit Geschichten, in

denen von der Größe der Natur, von Tränen der Rührung und

ähnlichen Dingen die Rede war, ohne Bilder, ja sogar ohne

Titelvignette. Es war der Sohn der Gouvernante der Kinder

unseres Gastgebers, einer sehr armen Witwe, ein äußerst

verschüchterter und ängstlicher Knabe. Bekleidet war er mit

einer Jacke aus armseligem Nankingstoff. Als er sein Buch

erhalten hatte, ging er lange um die anderen Geschenke herum;

er hätte schrecklich gerne mit den anderen Kindern gespielt,

getraute sich aber nicht; man sah ihm an, daß er seine Lage

schon fühlte und verstand. Ich beobachte Kinder sehr gerne.

Sehr interessant ist ihre erste selbständige Betätigung im

Leben. Ich bemerkte, daß der rothaarige Junge so sehr von den

reichen Geschenken der anderen Kinder bezaubert war, vor

allem vom Theater, bei dem er durchaus irgendeine Rolle

spielen wollte, daß er sogar zu kriechen beschloß. Er lächelte

und spielte mit den anderen Kindern, er schenkte seinen Apfel

Page 106: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

einem dicken Knaben, der einen ganzen Sack voll Naschwerk

hatte, und ließ sogar einen auf seinem Rücken reiten, nur damit

man ihn nicht vom Theater wegtreibe. Aber eine Minute später

wurde er von einem unartigen Schlingel gründlich verprügelt.

Das arme Kind wagte nicht zu weinen. Da erschien die

Gouvernante, seine Mutter, und befahl ihm, die anderen

Kinder beim Spielen nicht zu stören. Das Kind begab sich in

denselben Salon, in welchem das Mädchen war. Es ließ ihn zu

sich heran, und beide begannen mit Eifer die kostbare Puppe

zu putzen. Ich saß schon seit einer halben Stunde in dem

Efeuwinkel und war über dem Geschwätz des rothaarigen

Jungen und der Schönen mit den dreihunderttausend Rubel

Mitgift fast eingeschlafen, als Julian Mastakowitsch ins

Zimmer trat. Er hatte sich die skandalöse Zankerei der Kinder

zunutze gemacht und war leise aus dem Saal geschlichen. Ich

hatte bemerkt, daß er eine Minute vorher mit dem Vater der

künftigen glänzenden Partie sehr lebhaft gesprochen hatte. Er

hatte den Herrn eben erst kennengelernt und unterhielt sich mit

ihm sehr eingehend über den Vorzug des Dienstes in einem

Ressort gegenüber dem in einem anderen. Jetzt stand er

sinnend da und schien etwas an den Fingern abzuzählen.

Page 107: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Dreihundert… dreihundert…» flüsterte er. «Elf… zwölf…

dreizehn… sechzehn! Noch fünf Jahre! Nehmen wir vier

Prozent an – zwölf mal fünf ist sechzig; zu diesen sechzig

kommen also… sagen wir in fünf Jahren – vierhundert. Also…

aber er rechnet ja nicht mit vier Prozent, der Schuft! Er nimmt

vielleicht acht, wo nicht gar zehn Prozent. Nun, also

fünfhunderttausend werden es sicher; dazu kommt dann ein

kleiner Überschuß als Nadelgeld… Hm…»

Es brach seine Betrachtung ab, schneuzte sich und wollte

schon aus dem Zimmer gehen, als er plötzlich das kleine

Mädchen erblickte und stehenblieb. Mich sah er hinter den

Pflanzenkübeln nicht. Er schien mir sehr erregt zu sein. Ob nun

die Ergebnisse seiner Berechnungen so auf ihn wirkten oder

etwas anderes – er rieb sich die Hände und konnte nicht ruhig

stehen. Diese Erregung stieg bis zum non plus ultra, als er

stehenblieb und einen zweiten entschiedenen Blick auf die

künftige Partie warf. Dann wollte er einen Schritt vorwärts

machen, sah sich aber erst im Zimmer um. Dann ging er auf

den Zehenspitzen, wie wenn er sich schuldig fühlte, auf das

Kind zu. Er lächelte die Kleine an, beugte sich über sie und

küßte sie auf den Scheitel. Sie war auf den Überfall nicht

gefaßt gewesen und schrie erschreckt auf. «Was machen Sie

Page 108: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

denn hier, mein liebes Kind?» fragte er flüsternd, sich

umschauend und der Kleinen die Wange tätschelnd.

«Wir spielen…»

«Ah! Mit dem da?» Julian Mastakowitsch warf einen

schrägen Blick auf den Knaben.

«Du solltest doch in den Saal gehen, mein Lieber», sagte er

zu ihm.

Der Knabe schwieg und sah ihn mit weitgeöffneten Augen

an. Julian Mastakowitsch sah sich wieder im Kreis um und

beugte sich zu dem kleinen Mädchen.

«Was haben Sie denn da, mein liebes Kind? Wohl eine

Puppe?» fragte er.

«Eine Puppe», sagte die Kleine und runzelte etwas verlegen

die Stirn.

«Eine Puppe… Und wissen Sie, liebes Kind, woraus diese

Puppe gemacht ist?»

«Ich weiß nicht», sagte das Mädchen leise und mit traurig

gesenktem Köpfchen.

«Aus Lappen, mein Herzchen. Du solltest doch in den Saal

zu deinen Kameraden gehen, mein Junge», sagte Julian

Mastakowitsch und sah das Kind streng an. Das Mädchen und

Page 109: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

der Knabe machten erschrockene Gesichter und faßten sich an

den Händen. Sie wollten sich nicht trennen.

«Und wissen Sie, warum man Ihnen die Puppe geschenkt

hat?» fragte Julian Mastakowitsch, die Stimme immer mehr

senkend.

«Ich weiß nicht.»

«Deshalb, weil Sie die ganze Woche ein liebes und artiges

Kind gewesen sind.»

Hier sah sich Julian Mastakowitsch in höchster Aufregung

wieder um und fragte, die Stimme noch mehr senkend, ganz

leise, kaum hörbar, zitternd vor Erregung und Ungeduld: «Und

werden Sie mich auch liebhaben, gutes Kind, wenn ich zu

Ihren Eltern auf Besuch komme?»

Nachdem Julian Mastakowitsch das gesagt hatte, wollte er

das liebe Mädchen noch einmal küssen, aber der rothaarige

Knabe, der sah, daß es anfangen wollte zu weinen, faßte es an

der Hand und fing aus reiner Teilnahme für sie auch zu weinen

an. Julian Mastakowitsch wurde ernsthaft böse.

«Geh fort, geh fort von hier, geh fort!» rief er dem Knaben

zu. «Geh in den Saal! Geh hin zu deinen Kameraden!»

Page 110: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Nein, nicht nötig, nicht nötig! Gehen Sie fort!» sagte das

Mädchen, «lassen Sie ihn in Ruhe! Lassen Sie ihn in Ruhe!»

sagte sie, nun schon fast weinend.

Jemand erschien in der Tür. Julian Mastakowitsch richtete

sofort seinen majestätischen Korpus auf und erschrak. Aber

der rothaarige Knabe erschrak noch mehr als Julian

Mastakowitsch. Er ließ das Mädchen stehen und schlich leise

an der Wand entlang aus dem Salon ins Speisezimmer.

Um keinen Verdacht zu wecken, begab sich Julian

Mastakowitsch ebenfalls ins Speisezimmer. Er war rot wie ein

Krebs, und als er einen Blick in den Spiegel warf, schien er

sich vor sich selbst zu schämen. Es war ihm vielleicht peinlich,

daß er so hitzig und so ungeduldig gewesen war. Vielleicht

hatte ihn beim Abzählen an den Fingern das Ergebnis so

verblüfft, so bezaubert und begeistert, daß er bei all seiner

Würde und Solidität beschloß, wie ein Bube zu handeln und

seine Beute ohne weiteres zu apportieren, obgleich diese Beute

ihm frühestens in fünf Jahren wirklich zufallen konnte. Ich

folgte dem ehrenwerten Mann ins Speisezimmer und gewahrte

ein seltsames Schauspiel. Julian Mastakowitsch, ganz rot vor

Wut und Ärger, drang auf den armen Knaben ein, der vor

Page 111: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Angst nicht wußte, wo er hinsollte, und sich immer weiter

zurückzog.

«Geh weg! Was machst du hier? Geh weg, du Taugenichts!

Du willst wohl Obst stehlen, wie? Hinaus mit dir, du

Taugenichts, hinaus, du Rotznase! Geh zu deinen

Kameraden!»

Der entsetzte Knabe entschloß sich in seiner Angst zu einem

verzweifelten Mittel und versuchte unter den Tisch zu

kriechen. Da zog sein Verfolger in äußerster Wut sein langes

Batisttuch aus der Tasche und trieb den Jungen damit unter

dem Tisch hervor. Es muß gesagt werden, daß Julian

Mastakowitsch etwas dick war. Er war ein satter, rotbackiger,

rundlicher Mann mit einem netten Bäuchlein und dicken

Oberschenkeln, festgefügt wie eine kräftige Walnuß. Er war in

Schweiß geraten, ganz rot im Gesicht und schnaufte.

Schließlich geriet er fast in Raserei, so groß war in ihm das

Gefühl der Empörung und vielleicht auch (wer weiß es?)

seiner Eifersucht! Ich fing aus vollem Hals zu lachen an. Julian

Mastakowitsch drehte sich um und geriet, ungeachtet seiner

ganzen Würde, in Verlegenheit. In diesem Augenblick kam aus

der gegenüberliegenden Tür der Hausherr. Der Knabe kroch

unter dem Tisch hervor und wischte sich Knie und Ellenbogen.

Page 112: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Julian Mastakowitsch beeilte sich, sein Taschentuch an die

Nase zu halten, das er an einem Zipfel in der Hand hielt.

Der Hausherr sah uns drei etwas befremdet an; doch als

Mann von Welt, der das Leben kennt und es von einem ernsten

Standpunkt aus betrachtet, nutzte er sofort die Gelegenheit aus,

daß er seinen Gast allein antraf.

«Das ist jener Knabe», fing er an, auf den kleinen Rotkopf

zeigend, «für den Sie zu bitten ich die Ehre hatte…»

«Ah!» sagte Julian Mastakowitsch, der noch nicht ganz zu

sich gekommen war.

«Der Sohn der Erzieherin meiner Kinder», fuhr der Hausherr

in bittendem Ton fort, «eine arme Frau, Witwe, Gattin eines

ehrenwerten Beamten; und daher… wenn es irgend möglich

ist, Julian Mastakowitsch…»

«Ach nein, nein», schrie Julian Mastakowitsch hastig, «nein,

entschuldigen Sie, Filipp Alexejewitsch, aber das geht wirklich

nicht. Ich habe mich erkundigt, es sind keine Vakanzen

vorhanden, und wenn es auch eine gäbe, so sind doch schon

ein Dutzend Kandidaten da, die viel mehr Rechte darauf haben

als er… Bedaure sehr, aber…»

«Schade», sagte der Hausherr, «es ist ein so stiller,

bescheidener Knabe…»

Page 113: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Ein ziemlicher Schlingel, wie ich bemerkt zu haben

glaube», sagte Julian Mastakowitsch, und sein Mund verzog

sich hysterisch. «Geh zu deinen Altersgenossen, Knabe, was

stehst du da!» sagte er, sich an das Kind wendend.

Hier konnte er sich anscheinend nicht mehr beherrschen und

schielte mit einem Auge zu mir herüber. Ich konnte mich auch

nicht beherrschen und lachte ihm schallend ins Gesicht. Julian

Mastakowitsch drehte sich sofort weg und fragte den

Hausherrn ziemlich laut, so daß ich es hören konnte, wer dieser

sonderbare junge Mensch sei. Sie fingen an zu flüstern und

gingen zusammen aus dem Zimmer. Ich sah dann, wie Julian

Mastakowitsch dem Hausherrn mit ungläubiger Miene zuhörte

und den Kopf schüttelte.

Nachdem ich mich sattgelacht hatte, ging ich in den Saal

zurück. Da stand der große Mann, umringt von Vätern und

Müttern, dem Hausherrn und seiner Gattin, und redete eifrig

auf eine Dame ein, der man ihn eben vorgestellt hatte. Die

Dame hielt das kleine Mädchen an der Hand, mit dem Julian

Mastakowitsch vor zehn Minuten die Szene im Salon gehabt

hatte. Jetzt erging er sich in entzückten Lobpreisungen der

Schönheit, der Talente, der Grazie und der Wohlerzogenheit

des lieben Kindes. Er bewarb sich ganz offenkundig um die

Page 114: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Gunst der Mama. Die Mutter hörte ihm fast mit Tränen der

Rührung zu. Die Lippen des Vaters lächelten. Der Hausherr

freute sich über die allgemeine Freude. Sogar alle Gäste

bekundeten ihre Teilnahme, selbst die Spiele der Kinder

stockten, um die Unterhaltung nicht zu stören. Die ganze Luft

war mit Ehrerbietung durchtränkt. Ich hörte später, wie die bis

ins tiefste Herz gerührte Mama des interessanten Mädchens

Julian Mastakowitsch in den gewähltesten Ausdrücken

aufforderte, ihrem Haus die Ehre seines hochgeschätzten

Besuches zu erweisen; ich hörte, mit welcher unverhohlenen

Freude Julian Mastakowitsch die Einladung annahm und wie

dann die Gäste, dem Anstand gehorchend, nach verschiedenen

Seiten auseinandergingen, sich in ergreifenden Lobreden auf

den Branntweinpächter, seine Frau, das kleine Mädchen und

besonders Julian Mastakowitsch überschlugen.

«Ist dieser Herr verheiratet?» fragte ich beinahe laut einen

meiner Bekannten, der ganz nahe bei Julian Mastakowitsch

stand.

Julian Mastakowitsch warf mir einen prüfenden, zornigen

Blick zu.

«Nein!» erwiderte mein Bekannter, tief betrübt über die

Ungeschicklichkeit, die ich mit voller Absicht begangen hatte.

Page 115: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Kürzlich ging ich an der Kirche zu vorüber; die Menge und

die Wagen setzten mich in Erstaunen. Ringsum wurde von

einer Hochzeit gesprochen. Es war ein trüber Tag, es begann

schon zu frieren; ich drängte mich mit der Menge in die Kirche

hinein und erblickte den Bräutigam. Es war ein kleiner,

rundlicher, satter Mann mit einem Bäuchlein und

ordenbehangen. Er lief umher, tat geschäftig und gab

Weisungen. Endlich erhob sich ein Gemurmel: die Braut kam

angefahren. Ich drängte mich durch die Menge und erblickte

eine zauberhafte Schönheit, für die kaum der erste Frühling

angebrochen war. Aber die Schöne war bleich und traurig. Sie

blickte zerstreut um sich; es schien mir sogar, als wären ihre

Augen noch feucht von den soeben vergossenen Tränen. Die

antike Strenge jeder Linie ihres Gesichts verlieh ihrer

Schönheit eine ganz besondere Würde und Feierlichkeit. Aber

durch diese Würde und Feierlichkeit, durch diese Wehmut

schimmerte noch die ursprüngliche kindliche, unschuldige

Wesensart; es sprach daraus etwas unsagbar Naives,

Ungefestigtes, Junges, das durch sich selbst, ohne Worte, um

Erbarmen zu flehen schien.

Es hieß, sie sei erst sechzehn Jahre alt. Ich sah den Bräutigam

genauer an und erkannte plötzlich Julian Mastakowitsch, den

Page 116: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

ich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich warf einen

Blick auf die Braut… Mein Gott! Ich beeilte mich, aus der

Kirche hinauszukommen. In der Menge wurde davon geredet,

daß die Braut sehr reich sei, daß sie eine Mitgift von

fünfhunderttausend Rubel erhalte… dazu noch ein

beträchtliches Nadelgeld…

Die Rechnung hat also glänzend gestimmt! dachte ich, als ich

mich auf die Straße gedrängt hatte…

Page 117: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Nikolai Leskow

Das Tier

Deutsch von Wilhelm Plackmeyer

Page 118: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

1

MEIN VATER WAR zu seiner Zeit ein bekannter

Untersuchungsrichter. Viele wichtige Verfahren wurden ihm

anvertraut, und so kam es, daß er seine Familie oftmals allein

lassen mußte; zu Hause blieben dann nur meine Mutter, ich

und die Dienstboten zurück. Mein Mütterchen war damals

noch sehr jung und ich ein kleiner Junge. Zur Zeit jener

Begebenheit, von der ich jetzt berichten will, zählte ich ganze

fünf Jahre.

Winter war es, und zwar sehr strenger Winter. Es herrschte

eine Kälte, daß nachts die Schafe in ihren Ställen erfroren und

Spatzen und Dohlen erstarrt auf die frostharte Erde

herabfielen. Meinen Vater hielten damals dienstliche

Obliegenheiten in Jelez fest, und er konnte uns nicht einmal

versprechen, zu Weihnachten nach Hause zu kommen; meine

Mutter schickte sich daher an, zu ihm zu fahren, damit er an

diesem schönen und fröhlichen Fest nicht allein zu sein

brauchte. Wegen der furchtbaren Kälte wollte sie mich nicht

mit auf die weite Reise nehmen, sondern brachte mich lieber

zu ihrer Schwester, meiner Tante, die im Kreis Orjol mit einem

Page 119: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Gutsbesitzer verheiratet war, dem ein trauriger Ruhm

vorausging. Er war steinreich, alt und grausam. Sein ganzes

Wesen strotzte von Bösartigkeit und Unerbittlichkeit, was ihn

keineswegs anfocht, im Gegenteil, er brüstete sich sogar mit

diesen Eigenschaften, die nach seiner Meinung Ausdruck

männlicher Kraft und unbeugsamer Willensstärke waren.

Zu Mut und Willensstärke wollte er auch seine Kinder

erziehen, von denen ein Junge so alt war wie ich.

Alle hatten Angst vor dem Onkel und ich am meisten, weil er

auch meinen «Mut entwickeln» wollte und mich einmal, als

ich gerade drei Jahre alt war, während eines überaus heftigen

Gewitters, vor dem mir immer sehr bange war, auf den Balkon

gesperrt und die Tür abgeschlossen hatte, um mir mit dieser

Lektion die Gewitterfurcht abzugewöhnen.

So ist es nur allzu verständlich, daß ich im Haus eines

solchen Herrn nur sehr ungern und mit nicht geringer Angst zu

Gast weilte; aber, wie gesagt, ich war damals erst fünf Jahre

alt, und meine Wünsche wurden angesichts der Umstände, in

die es sich zu schicken galt, nicht berücksichtigt.

Page 120: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

2

Auf dem Anwesen des Onkels stand ein großes Steinhaus, das

einem Schloß ähnelte. Es war ein pompöses, jedoch

unschönes, ja sogar häßliches einstöckiges Bauwerk mit einer

runden Kuppel und einem Turm, von dem haarsträubende

Dinge erzählt wurden. Einst hatte dort der wahnsinnige Vater

des jetzigen Besitzers gehaust, später war in dessen Räumen

eine Apotheke eingerichtet worden. Auch das fand man aus

irgendeinem Grunde furchtbar, aber am furchtbarsten war eine

leere Fensterwölbung hoch droben, in die man Saiten gespannt

hatte, eine sogenannte Äolsharfe. Wenn der Wind über die

Saiten dieses eigentümlichen Instruments strich, gaben diese

unerwartete und oftmals auch sonderbare Laute von sich, die

von einem verhaltenen, dumpfen Surren in ein rastloses,

unharmonisches Gewinsel und hysterisches Geheul

übergingen. Es klang, als flögen ganze Heerscharen gehetzter,

von Grauen gepackter Geister dort oben vorbei. Jeder im

Hause haßte diese Harfe und glaubte, sie habe dem gestrengen

Herrn etwas zu sagen, dem er sich nicht zu widersetzen wage,

und daher werde er immer unbarmherziger und grausamer…

Page 121: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Man hatte auch sehr wohl bemerkt, daß jedesmal, wenn nachts

der Sturmwind heulte und die Harfe am Turm so laut tönte,

daß der Klang über Teiche und Park bis ins Dorf hinüber

drang, der Herr keinen Schlaf fand, am Morgen mißmutig und

finster aufstand und sogleich eine seiner grausamen

Anordnungen traf, die die Herzen seiner zahlreichen Knechte

erzittern ließen.

Zu den Bräuchen des Hauses gehörte es, daß dort niemals

jemandem eine Verfehlung vergeben wurde. Das war eine

Regel, von der nie abgewichen wurde und die nicht nur für die

Menschen, sondern auch für alle großen und kleinen Tiere galt.

Der Onkel wollte von Barmherzigkeit nichts wissen und tat sie

geringschätzig ab, denn er sah sie als Schwäche an. Von

unbeugsamer Strenge hielt er mehr als von Nachsicht.

Daher herrschte auch in seinem Hauswesen und in all den

weitverstreuten Dörfern, die diesem reichen Gutsbesitzer

gehörten, stets eine freudlose, gedrückte Stimmung, die von

Mensch und Tier geteilt ward.

Page 122: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

3

Mein seliger Onkel war ein leidenschaftlicher Liebhaber der

Jagd mit Hunden. Zu diesem Zweck hielt er sich Windhunde,

mit denen er Wölfe, Hasen und Füchse hetzte. Außerdem gab

es in seiner Meute besondere Hunde, die sogar Bären

angingen. Diese Hunde wurden «Blutegel» genannt, weil sie

sich derart in das Tier verbissen, daß man sie unmöglich

losreißen konnte. Es kam zwar vor, daß ein Bär, in dem sich

ein Blutegel festgebissen hatte, ihn mit einem Schlag seiner

schrecklichen Pranke tötete oder in Stücke riß, doch nie

geschah es, daß ein Blutegel lebend von dem Tier abgelassen

hätte.

Heute, da die Jagd auf Bären nur noch als Treibjagd oder mit

dem Jagdspieß ausgeübt wird, ist diese Hunderasse in Rußland

wohl gänzlich ausgestorben; in jener Zeit hingegen, von der

ich berichte, gehörte sie in jede gut zusammengestellte große

Meute. Bären waren damals in unserer Gegend sehr zahlreich,

und die Bärenjagd galt als erlesene Lustbarkeit.

Wenn es einmal gelang, eine ganze Bärenhecke aufzustöbern,

dann wurden die Jungen aus dem Lager genommen und ins

Page 123: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Haus gebracht. Man sperrte sie gewöhnlich in ein großes

steinernes Stallgebäude mit ein paar kleinen Fenstern dicht

unter dem Dach. Diese Fenster hatten keine Scheiben, sondern

starke Eisengitter. Mitunter kletterten die jungen Bären, immer

einer über dem anderen, zu ihnen hinauf und hielten sich mit

ihren kräftigen, krallenbewehrten Tatzen an den Eisenstäben

fest. Nur so konnten sie einmal einen Blick aus ihrem Verlies

in Gottes freie Natur hinaus werfen.

Wenn wir vor Tisch zum Spaziergang geführt wurden, gingen

wir am liebsten zu diesem Stall, um zu sehen, wie die kleinen

Bären ihre putzigen Schnäuzchen durch die Gitterstäbe

steckten. Unser deutscher Erzieher Kolberg verstand es, ihnen

an der Spitze seines Spazierstockes Brotstückchen zu reichen,

die wir beim Frühstück für diesen Zweck beiseite legten.

Pflege und Fütterung der Bären oblagen einem jungen Wärter

namens Ferapont; die dieser Name dem einfachen Volk aber

nur schwer von der Zunge ging, wurde er «Chrapon» oder

noch häufiger «Chraposchka» genannt. Ich kann mich noch gut

an ihn erinnern: Chraposchka war ein mittelgroßer Bursche,

äußerst flink, stark und wagemutig, er mochte fünfundzwanzig

Jahre alt sein. Er galt als sehr hübsch – sein Gesicht sah aus

wie Milch und Honig, das lockige Haar war tiefschwarz, und

Page 124: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

ebenso schwarz waren auch seine großen, ein wenig

hervorstehenden Augen. Überdies war er ein ungewöhnlicher

Draufgänger. Er hatte eine Schwester, Annuschka, die Gehilfin

der Kinderfrau war und uns immer die ergötzlichsten

Geschichten von der Kühnheit und Verwegenheit ihres

Bruders erzählte und seiner Freundschaft mit den Bären, bei

denen er sommers wie winters im Stall schlief, wobei sie ihn

von allen Seiten umringten und ihre Köpfe auf ihn legten wie

auf ein Kissen.

Vor dem Haus des Onkels lag, umzäunt von einem kleinen,

hübsch bemalten Gitter, ein großes, rundes Blumenbeet;

dahinter tat sich das breite Einfahrtstor auf, und diesem

gegenüber war inmitten des Blumenbeetes ein hoher, gerader,

entrindeter Baumstamm eingelassen, der «Mast» hieß. An der

Spitze hatte dieser Mast einen kleinen Holzverschlag, den man

«Laube» nannte.

Aus der Zahl der gefangenen jungen Bären wurde immer ein

«Schlaukopf» ausgesucht, der den gelehrigsten und

sanftmütigsten Eindruck machte. Dieser wurde von seinen

Gefährten getrennt und lebte in Freiheit, das heißt, er durfte

Hof und Park durchstreifen, sollte aber hauptsächlich

Wachtposten an dem Pfahl vor dem Tor sein. Hier hielt er sich

Page 125: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

auch meistens auf, entweder lag er im Stroh unmittelbar am

Fuß des Mastes, oder er kletterte zur «Laube» empor, wo er

dann saß oder schlief und vor zudringlichen Menschen und

Hunden verschont blieb.

Nicht alle Bären ließ man ein so freies Leben fuhren, nur

besonders kluge und zahme, und auch die nicht zeit ihres

Lebens, sondern nur, solange sich ihre Raubtierinstinkte nicht

regten, das heißt, solange sie sich friedfertig benahmen und

Hühnern, Gänsen, Kälbern und Menschen nichts zuleide taten.

Ein Bär, der den Frieden der Hausbewohner störte, wurde

unverzüglich zum Tode verurteilt, und vor diesem Urteil

konnte ihn nichts auf der Welt bewahren.

4

Es war Chrapons Aufgabe, einen «gelehrigen Bären»

auszusuchen. Da er sich am meisten mit den jungen Bären

abgab und überhaupt als großer Bärenkenner galt, versteht es

sich von selbst, daß allein er das tun mußte. Chrapon wäre

allerdings auch für eine mißglückte Auswahl verantwortlich

gewesen, indes hatte er gleich beim ersten Mal für diese Rolle

Page 126: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

einen erstaunlich befähigten und klugen Bären ausgesucht,

dem man einen ganz ausgefallenen Namen gegeben hatte. In

Rußland heißen Bären allgemein «Mischka», dieser jedoch

bekam den spanischen Namen «Sganarel». Er lebte schon fünf

Jahre in Freiheit und hatte noch niemals «Possen getrieben».

Hieß es aber von einem Bären, er «treibe Possen», so bedeutete

dies, bei irgendeinem Streich war seine Raubtiernatur zutage

getreten.

Dann warf man den «Possenreißer» erst einmal eine Zeitlang

in die «Grube», die man auf einer großen Waldwiese zwischen

einem Getreideschober und dem Waldessaum angelegt hatte;

einige Zeit später wurde er auf die Wiese hinausgelassen (er

mußte auf einem Balken herauskriechen) und mit «jungen

Blutegeln», halbwüchsigen Bärenhunden, gehetzt. Wenn diese

Hunde den Bären nicht zu packen vermochten und Gefahr

bestand, daß das Tier in den Wald entwich, stürzten sich aus

einem Hinterhalt zwei der besten Jäger mit einer ausgewählten,

erfahrenen Hundemeute auf das Tier, und damit fand die

Angelegenheit ein schnelles Ende.

Wenn diese Hunde sich aber so ungeschickt anstellten, daß es

dem Bären gelang, nach der «Waldinsel» durchzubrechen, die

in die weiten Brjansker Wälder überging, dann trat ein

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besonderer Schütze auf den Plan, der aus einem langen,

schweren Kuchenreuter-Stutzen, aufgelegt zielend, dem Bären

die todbringende Kugel nachsandte.

Es war noch nie geschehen, daß ein Bär all diesen Fährnissen

entronnen wäre, und schrecklich war allein der Gedanke, dies

könne sich einmal ereignen; denn dann hätten alle, die daran

schuld waren, tödlicher Strafen gewärtig sein müssen.

5

Sganarels Verstand und Artigkeit hatten bewirkt, daß es schon

fünf Jahre lang keine Belustigung der soeben geschilderten

Art, das heißt keine Bärenhinrichtung, mehr gegeben hatte.

Mittlerweile war Sganarel zu einem stattlichen Tier von

ungewöhnlicher Kraft, Schönheit und Gewandtheit

herangewachsen. Das Besondere an ihm waren seine runde,

kurze Schnauze und sein wohlgeformter Körper, der eher an

einen riesigen Pinscher oder Pudel als an einen Bären

erinnerte. Sein Hinterteil war schmal und mit kurzem,

glänzendem Fell bedeckt, während Schultern und Nacken

kräftig ausgebildet und von langen, zottigen Haaren bedeckt

Page 128: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

waren. Er war auch klug wie ein Pudel und beherrschte

mehrere für ein Tier seiner Art bemerkenswerte Kunststücke.

Er konnte beispielsweise vortrefflich und ohne alle Mühe auf

den Hinterbeinen gehen, wobei er sich mit dem ganzen Körper

voranschob; er konnte trommeln und mit einem großen,

gewehrähnlich zurechtgeschnitzten Stock einherstolzieren;

gern, ja mit dem größten Vergnügen schleppte er den Bauern

die schwersten Säcke zur Mühle, und urkomisch sah es aus,

wenn er sich mit eigenartigem Chic eine hohe spitze

Bauernmütze mit einer Pfauenfeder oder einem Strohbüschel

an Stelle eines Federbusches auf den Kopf stülpte.

Aber auch ihm schlug die Schicksalsstunde – die Natur des

Raubtiers forderte von Sganarel ihren Tribut. Kurz bevor ich

im Haus des Onkels eintraf, hatte sich der sanftmütige

Sganarel gleich mehrerer Vergehen schuldig gemacht, von

denen eines immer schwerer wog als das andere.

Sganarels Sündenregister war das aller anderen Bären: Zuerst

griff er nach einer Gans und riß ihr einen Flügel aus, dann

legte er seine Pranke einem Fohlen, das seiner Mutter nachlief,

auf den Rücken und zerschmetterte ihm das Rückgrat, und

schließlich erregten ein blinder Greis und dessen Begleiter sein

Mißfallen. Sganarel nahm sie sich vor und wälzte sie im

Page 129: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Schnee hin und her, wobei er ihnen arg auf Armen und Beinen

herumtrat.

Der Blinde und sein Begleiter wurden ins Krankenhaus

gebracht, aber Chrapon erhielt den Befehl, Sganarel

fortzubringen und in die Grube zu stecken, aus der heraus es

nur einen Weg gab, den zur Hinrichtung…

Als Anna am Abend mich und meinen damals ebenso kleinen

Vetter auskleidete, erzählte sie uns, was für rührende Szenen

sich abgespielt hätten, als Sganarel zur Grube abgeführt

werden sollte, in der er seiner Exekution zu harren hatte.

Chrapon hatte Sganarel nicht den schmerzhaften Ring durch

die Nase gezogen und nicht die geringste Gewalt gegen ihn

gebraucht, sondern nur gesagt: «Komm, mein Tier!»

Der Bär hatte sich erhoben, war losgetrabt, und das

komischste war, er hatte seinen Hut mit dem Strohbüschel

mitgenommen und Chrapon auf dem ganzen Weg

umschlungen gehalten, so daß sie wie zwei Freunde aussahen.

Und in der Tat, sie waren Freunde.

Page 130: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

6

Chrapon war es um Sganarel sehr leid, doch konnte er sein Los

in keiner Weise erleichtern. Ich erinnere daran, daß man dort,

wo sich dieses zutrug, noch nie jemandem eine Verfehlung

nachgesehen hatte und daher auch der schuldbeladene Sganarel

für seine Streiche unbedingt eines grauenhaften Todes sterben

sollte.

Die Bärenhatz wurde als Nachmittagsunterhaltung für die

Gäste angesetzt, die sich alljährlich zu Weihnachten beim

Onkel einfanden. Diese Anordnung traf der Onkel schon in

dem Augenblick, da er Chrapon den Befehl erteilte, den

schuldigen Sganarel aus dem Haus zu schaffen und in die

Grube zu stecken.

7

Es war ein leichtes, die Bären in die Grube zu werfen. Diese

wurde mit ein paar dünnen Holzstangen, Reisig und Schnee

abgedeckt. So getarnt, konnte der Bär die Falle unmöglich

Page 131: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

erkennen. Man führte das gehorsame Tier ganz nahe an die

Stelle heran und ließ es dann vorangehen.

Noch ein oder zwei Schritte, und es stürzte in die tiefe Grube,

aus der es kein Entkommen gab. Hier saß der Bär bis zu dem

Augenblick, da die Jagd auf ihn beginnen sollte. Dann ließ

man einen etwa sieben Arschin langen Balken schräg in die

Grube hinab, an dem der Bär hinaufkletterte. Darauf setzte die

Hetzjagd ein. Wenn ein Tier das Unheil witterte und nicht

herauskommen wollte, zwang man es dazu, indem man mit

langen Stangen, deren Enden durch scharfe Eisendorne

verstärkt waren, nach ihm stach, brennendes Stroh hinabwarf

oder aus Gewehren und Pistolen Blindschüsse auf das Tier

abgab.

Als Chrapon Sganarel fortgebracht und in der geschilderten

Weise eingekerkert hatte, kehrte er wütend und traurig nach

Hause zurück. Zu seinem Unglück erzählte er seiner

Schwester, wie «zärtlich» das Tier unterwegs zu ihm gewesen

sei und wie es sich, nachdem es durch das Reisig in die Grube

hinabgestürzt war, dort auf den Boden gesetzt, die

Vorderpfoten wie Hände zusammengelegt und dabei

gewimmert habe, als ob es weinte.

Page 132: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Chrapon bekannte Anna auch, daß er eiligst von der Grube

fortgelaufen sei, um Sganarels klägliches Wimmern nicht zu

hören, denn dieses Wimmern war für ihn unerträgliche Qual.

«Gott sei Dank», setzte er hinzu, «daß nicht ich, sondern

andere Befehl haben, auf ihn zu schießen, wenn er sich zur

Flucht wendet. Gäbe man mir diesen Befehl, würde ich eher

die größten Qualen auf mich nehmen als auf ihn schießen.»

8

Anna erzählte uns das, und wir erzählten es unserem Erzieher

Kolberg, der, in dem Bestreben, dem Onkel etwas

Unterhaltendes zu berichten, es diesem hinterbrachte. Der

hörte es sich an und sagte: «Ein trefflicher Bursche, dieser

Chraposchka.» Darauf klatschte er dreimal in die Hände.

Dies war das Zeichen für seinen Kammerdiener Ustin

Petrowitsch, einen alten Franzosen, der 1812 in

Gefangenschaft geraten war.

Ustin Petrowitsch, eigentlich Justin, erschien in seinem

reinlichen lila Frack mit Silberknöpfen, und der Onkel teilte

ihm seinen Befehl mit, daß bei der morgigen Hetzjagd auf

Page 133: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Sganarel als Schützen für das Versteck Flegont, ein

Meisterschütze, dessen Kugel nie fehlte, und Chraposchka zu

benennen seien. Es war offensichtlich, daß sich der Onkel am

Widerstreit der Gefühle des armen Burschen weiden wollte.

Gäbe Chraposchka keinen Schuß auf Sganarel ab oder

verfehlte er ihn absichtlich, würde er schwer dafür büßen

müssen, während Sganarel trotzdem von Flegont mit dem

zweiten Schuß zur Strecke gebracht würde, denn dieser traf

sein Ziel unfehlbar.

Ustin entfernte sich mit einer Verbeugung, um den Befehl zu

überbringen. Wir Kinder merkten, daß wir Unheil angerichtet

hatten und sich etwas Entsetzliches anbahnte, von dem Gott

allein wissen mochte, wie es ausgehen würde. Nach diesem

Vorfall konnten wir weder dem Weihnachtsessen, das erst

gereicht wurde, als schon die Sterne am Himmel standen, und

zugleich Mittagsmahl war, gebührend zusprechen, noch

vermochten wir uns über die zur Nacht eintreffenden Gäste zu

freuen, von denen einige auch ihre Kinder mitgebracht hatten.

Uns tat Sganarel leid und auch Ferapont, und im Grunde

wußten wir nicht einmal genau, wen wir mehr bedauerten.

Wir beide, das heißt mein gleichaltriger Vetter und ich,

warfen uns lange in unseren Betten herum. Beide schliefen wir

Page 134: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

erst spät ein, und auch dann waren wir unruhig und schrien

wiederholt auf, weil uns im Traum der Bär erschien. Als die

Kinderfrau uns beruhigen wollte und sagte, wir brauchten

keine Angst mehr vor dem Bären zu haben, weil er ja jetzt in

der Grube säße und ihm morgen der Garaus gemacht würde,

ergriff mich noch größere Unruhe.

Ich wollte sogar von der Kinderfrau wissen, ob ich nicht für

Sganarel beten dürfte. Doch diese Frage ging über das religiöse

Vorstellungsvermögen der alten Frau, und sie entgegnete

gähnend und ein Kreuz schlagend, darüber wisse sie nicht

Bescheid, denn danach habe sie den Geistlichen noch nie

gefragt, immerhin sei auch der Bär eine Kreatur Gottes und mit

auf der Arche Noah gewesen.

Die Erwähnung der Arche Noah brachte mich auf den

Gedanken, daß Gottes grenzenlose Barmherzigkeit sich

eigentlich nicht allein auf die Menschen, sondern auch auf alle

übrigen Geschöpfe Gottes erstrecken müsse, und daher kniete

ich mich voll kindlicher Gläubigkeit in meinem Bettchen hin,

preßte mein Gesicht ins Kissen und flehte Gottes Allmacht an,

mir meine heiße Bitte nicht zu verübeln und Sganarel zu

schonen.

Page 135: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

9

Der Weihnachtstag brach an. Wir alle waren feiertäglich

herausstaffiert und begaben uns mit Erziehern und Bonnen

zum Tee. Im Saal hatte außer einer Vielzahl von Verwandten

und Gästen auch die Geistlichkeit Aufstellung genommen: der

Priester, der Diakon und zwei Meßdiener.

Beim Eintritt des Onkels stimmten die Kirchenmänner

«Christ ist geboren» an. Dann wurde der Tee serviert, kurz

darauf ein kleines Frühstück, und bereits um zwei Uhr folgte

das Festmahl. Gleich nach dem Essen sollte die Jagd auf

Sganarel beginnen. Es galt, keine Zeit zu verlieren, denn in

dieser Jahreszeit bricht die Dunkelheit früh herein, und im

Finstern ist eine Hetzjagd ein Ding der Unmöglichkeit, wenn

man bedenkt, wie leicht der Bär außer Sicht geraten kann.

Alles verlief wie vorgesehen. Gleich nach Tisch wurden wir

umgezogen, damit wir auch zur Hetzjagd auf Sganarel fahren

konnten. Wir wurden in unsere Hasenpelze und in zottige

Ziegenfellstiefel mit Rundsohle gesteckt und dann in die

Schlitten verstaut. Auf den Zufahrtswegen zu beiden Seiten

des Hauses wartete schon eine große Zahl langer breiter

Page 136: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Troikaschlitten, die mit bunten Teppichen ausgelegt waren.

Hier standen auch zwei Reitknechte, die des Onkels Pferd,

einen englischen Fuchs namens «Modedame», am Zügel

hielten.

Der Onkel trat aus dem Haus im Fuchspelzrock und mit einer

spitzen Mütze aus dem gleichen Fell. Sobald er im Sattel saß,

über dem ein schwarzes Bärenfell lag, das am Schweif und an

der Brust des Pferdes von Riemen gehalten wurde, die mit

Türkisen und Drachenkopfmuscheln reich verziert waren,

setzte sich unser riesiger Zug in Bewegung und war zehn oder

fünfzehn Minuten später bereits am Ort der Bärenhatz

angelangt. Alle Schlitten hatten am Rande des weiten, ebenen,

schneebedeckten Feldes gewendet und einen Halbkreis

gebildet: das Feld war von einer Kette berittener Jäger

umzingelt und grenzte in der Ferne an den Wald.

Am Waldessaum standen, vom Gebüsch verdeckt, die

Ansitze, und dort mußten sich jetzt Flegont und Chraposchka

befinden.

Die Ansitze waren nicht zu sehen, allerdings deuteten einige

Anwesende auf ein paar kaum wahrnehmbare «Gabeln», mit

deren Hilfe die Schützen Sganarel besser aufs Korn nehmen

konnten, um ihn zur Strecke zu bringen.

Page 137: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Auch von der Grube, in der der Bär saß, war nichts zu

erkennen, und daher galten unsere Blicke zwangsläufig den

schmucken Reitersleuten mit ihren verschiedenen schönen

Waffen über der Schulter: da waren schwedische Strabuser,

deutsche Morgenröther, englische Mortimer und Warschauer

Colets.

Der Onkel, hoch zu Roß, hatte sich vor der Jägerkette

postiert. Man reichte ihm eine Leine, an der zwei der

schärfsten «Blutegel» zusammengekoppelt waren, und legte

ein weißes Tuch vor ihn auf den Sattelknauf.

Die Zahl der jungen Hunde, um deren Übung willen der

schuldbeladene Sganarel sein Leben lassen sollte, war sehr

groß, und aus ihrem siegesgewissen Gebaren sprach eigentlich

nur heißblütiger Übermut, aber keine wahre Zucht. Sie

winselten, bellten und wirbelten an ihren Leinen um die Pferde

herum, auf denen die livrierten Hundewärter saßen und

unablässig mit den langen Jagdpeitschen knallten, um die vor

Ungeduld außer Rand und Band geratene Meute zur Räson zu

bringen. Alles brodelte vor Verlangen, sich auf das Tier zu

stürzen, dessen Nähe die Hunde mit ihrer feinen Nase längst

gewittert hatten.

Page 138: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Es war an der Zeit, Sganarel aus der Grube herauszulassen,

damit das mörderische Treiben seinen Lauf nehmen konnte.

Der Onkel winkte mit dem weißen Tuch, das auf seinem

Sattel lag, und sagte: «Los!»

10

Aus der Jägerschar, die des Onkels Hauptgefolge bildete,

lösten sich etwa zehn Mann und schritten querfeldein.

Nach ungefähr zweihundert Schritt blieben sie stehen und

holten unter dem Schnee einen langen, nicht sonderlich dicken

Balken hervor, den wir bislang nicht hatten sehen können.

Dies spielte sich zwar unmittelbar an der Grube ab, in der

Sganarel saß, allein auch diese war von unserem entfernten

Standort aus nicht zu erkennen.

Man hob den Balken an und ließ ihn sofort in die Grube

hinab, und zwar so flach, daß das Tier mühelos, fast wie auf

einer Leiter daran emporklettern konnte.

Das andere Ende des Balkens wurde auf den Grubenrand

gelegt, über den es noch um eine Elle hinausragte.

Page 139: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Aller Augen verfolgten diese letzten Vorbereitungen, die den

aufregendsten Augenblick immer näher rücken ließen. Man

glaubte, Sganarel werde sogleich am Grubenrand auftauchen,

doch er hatte wohl das Spiel durchschaut und wollte um keinen

Preis herauskommen.

Nun begann man, ihn mit Schneeklumpen und spitzen

Stangen in der Grube hin und her zu treiben; ein Gebrüll

erscholl, aber das Tier kam nicht heraus. Etliche Blindschüsse

peitschten direkt in die Grube hinab, doch Sganarels Gebrüll

wurde nur wütender, und sehen ließ er sich nach wie vor nicht.

Da tat sich die Kette der Jäger auf, und ein Pferd mit einem

einfachen Lastschlitten galoppierte hindurch, auf dem ein

Haufen trockenes Roggenstroh lag.

Es war ein hochbeiniges, klappriges Pferd, eines von denen,

die nur noch auf dem Viehhof Verwendung finden, um aus der

Scheune Futter heranzuschaffen; doch trotz seines Alters und

seiner Magerkeit flog es mit erhobenem Schweif und

gesträubter Mähne nur so dahin. Allerdings ließ sich schwer

sagen, ob seine jetzige Munterkeit Rest einstigen jugendlichen

Ungestüms oder Ausgeburt der Angst und Verzweiflung war,

die die Nähe des Bären dem alten Pferd einflößte. Man mußte

letzteres annehmen, denn das Pferd war nicht nur mit der

Page 140: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

eisernen Kandare aufgezäumt, sondern auch mit einer scharfen

Schnur, die seine angegrauten Lefzen bereits blutig gescheuert

hatte. Das Pferd raste dahin und wollte mit so verzweifelter

Anstrengung seitlich ausbrechen, daß der Stallknecht alle

Hände voll zu tun hatte, ihm den Kopf an der Schnur

hochzureißen und mit einer starken Peitsche unbarmherzig

zuzusetzen.

Aber sosehr das Pferd auch an der Grube des Bären scheute,

man schaffte es, das Stroh auf drei Haufen zu verteilen, die

eiligst angezündet und brennend von drei Seiten in die Grube

hinabgeworfen wurden. Nur die Seite, an der der Balken

lehnte, blieb von den Flammen verschont.

Ein ohrenbetäubendes, rasendes Gebrüll ertönte, eine

Mischung aus Wut und Qual, aber… der Bär kam wiederum

nicht zum Vorschein.

Zu uns drang die Kunde, Sganarel sei ganz «versengt», halte

sich die Augen mit den Pfoten zu und habe sich in eine Ecke

verzogen, aus der «man ihn nicht herausbekomme».

Das Lastpferd vom Viehhof mit den aufgescheuerten Lefzen

preschte wieder zurück… Alle dachten, es solle eine neue

Fuhre Stroh holen. Inzwischen wurden unter den Zuschauern

vorwurfsvolle Stimmen laut. Warum hatten die Jagdherren

Page 141: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

nicht rechtzeitig daran gedacht, so viel Stroh bereitzulegen,

daß es jetzt in ausreichender Menge vorhanden war? Der

Onkel wurde wütend und schrie etwas. Bei dem allgemeinen

Stimmengewirr, das sich erhoben hatte, und dem immer lauter

werdenden Hundegewinsel und Peitschengeknall konnte ich

jedoch seine Worte nicht verstehen.

Allenthalben fehlte die rechte Zucht und Ordnung, wenn auch

alles seinen Gang ging; das alte Pferd kam schon wieder unter

Schnaufen und Ausbruchsversuchen zu Sganarels Grube

zurückgaloppiert, dieses Mal aber ohne Stroh, mit Ferapont auf

dem Schlitten. In seiner Wut hatte der Onkel verfügt,

Chraposchka in die Grube hinabzulassen, damit er selbst

seinen Freund von dort zur Hetzjagd treibe.

11

Ferapont war zur Stelle. Er machte einen sehr erregten

Eindruck, ging aber dennoch mit Umsicht und

Entschlossenheit ans Werk. Ohne sich dem Befehl seines

Gebieters auch nur im geringsten zu widersetzen, nahm er ein

Seil vom Schlitten, mit dem kurz vorher das Stroh

Page 142: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

zusammengebunden war, und schlang ein Ende des Seils um

eine Kerbe im oberen Teil des Balkens. Ferapont hielt sich an

dem Seil fest und ließ sich in die Grube hinab.

Sganarels furchteinflößendes Gebrüll verstummte und wich

einem tiefen Brummen. Es mutete an, als beklage sich das Tier

bei seinem Freund, daß die Menschen so grausam mit ihm

umgingen, dann hörte auch das Brummen auf, und völlige

Stille trat ein.

«Er umarmt Chraposchka und leckt ihn!» rief einer der

Männer, die an der Grube standen.

Einige der Leute auf dem Schlitten seufzten, manche

runzelten die Stirn.

Vielen tat der Bär leid, ihnen verhieß die Jagd kein

sonderliches Vergnügen. Da bot sich im raschen Ablauf des

Geschehens plötzlich ein neuer Anblick, der die Zuschauer

noch mehr überraschte und abermals in Rührung versetzte.

In der Öffnung der Grube tauchte, wie aus der Unterwelt,

Chraposchkas Lockenkopf mit der runden Jägermütze auf.

Ferapont kam in gleicher Weise herauf, wie er hinabgestiegen

war, das heißt, er lief auf dem Balken entlang und zog sich an

dem festgebundenen Seil in die Höhe. Aber Ferapont kam

nicht allein, mit ihm zusammen, ihn fest an sich drückend, die

Page 143: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

zottige Pranke um seine Schulter gelegt, kam auch Sganarel

heraus… Der Bär war übel gelaunt und wirkte wahrhaftig nicht

draufgängerisch. Zermürbt und abgezehrt, und das wohl nicht

so sehr von körperlichem Leiden als vielmehr von heftiger

seelischer Erschütterung, gemahnte er stark an König Lear.

Zorn, Gereiztheit und Mißtrauen funkelten aus seinen

blutunterlaufenen Augen. Wie auch Lear war er struppig und

an mehreren Stellen versengt, hier und da hingen Strohhalme

in seinem Fell. Außerdem hatte Sganarel, gleich jenem

unglücklichen Gekrönten, zufällig auch eine Art Krone

behalten. Vielleicht aus Liebe zu Ferapont, vielleicht auch nur

zufällig, trug er unter der einen Vorderpranke jenen Hut, den

Chraposchka ihm einst geschenkt und den er auch bei sich

hatte, als dieser ihn gezwungenermaßen in die Grube

hinabstürzen ließ. Der Bär hatte die Freundesgabe bei sich

behalten, und jetzt, da er den Freund umarmen konnte und sein

Herz für kurze Zeit Trost fand, holte er, oben angelangt,

sogleich den arg zerdrückten Hut hervor und setzte ihn auf…

Dieses Kunststückchen fanden zwar viele höchst komisch,

aber so manchem bereitete der Anblick rechte Pein. Einige

wandten sogar den Blick schnell ab, um das grausige Ende

Page 144: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

nicht mit ansehen zu müssen, das man dem Tier jetzt bereiten

wollte.

12

Während sich all das zutrug, heulte und tobte die Hundemeute

wie von Sinnen, auch der letzte Rest von Gehorsam war dahin.

Selbst die Peitsche hatte ihre sonst so unfehlbare Wirkung

eingebüßt. Junge und alte Blutegelhunde richteten sich, als sie

Sganarels ansichtig wurden, mit heiserem Geknurr auf, wobei

ihnen die weißgegerbten Lederhalsbänder fast die Luft

abschnürten. Inzwischen jagte Chraposchka auf seinem

einspännigen Gefährt schon wieder dem Versteck am

Waldesrand zu. Sganarel war abermals allein und machte

heftige Bewegungen mit der einen Pfote, um die sich zufällig

das an dem Balken verknotete und von Chraposchka

liegengelassene Seil geschlungen hatte. Das Tier war

offensichtlich bemüht, das Seil schnell von seiner Pfote zu

wickeln oder es zu zerreißen, um seinen Freund einzuholen,

aber die Geschicklichkeit des Bären war bei all seiner leichten

Auffassungsgabe doch nur die eines Bären, und so gelang es

Page 145: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Sganarel nicht, die Schlinge abzustreifen, sondern sie zog sich

nur noch fester um seine Pranke.

Als Sganarel sah, daß es nicht so ging, wie er wollte, zerrte er

an dem Seil, um es zu zerreißen, doch es war ein starkes Seil,

das nicht riß, nur der Balken tat einen Sprung und stand

nunmehr aufrecht in der Grube. Sganarel sah sich danach um,

und in diesem Augenblick waren zwei Hunde, die man als

erste losgelassen hatte, bei ihm, und der eine grub gleich mit

der vollen Wucht des Anpralls seine scharfen Zähne in

Sganarels Nacken.

Sganarel war so mit dem Seil beschäftigt gewesen, daß er mit

derartigem keineswegs rechnete, und er schien im ersten

Augenblick über diese Dreistigkeit mehr verblüfft als wütend

zu sein, dann aber, einen Herzschlag später, als der Blutegel

sein Maul kurz öffnete, um sich noch tiefer zu verbeißen, holte

er aus und schleuderte ihn mit aufgeschlitztem Bauch weit von

sich. Die hervorquellenden Eingeweide färbten den Schnee im

Nu rot, während Sganarel den anderen Hund im selben

Augenblick mit seiner Hintertatze zermalmte… Weitaus

entsetzlicher und unerwarteter war aber, was unterdessen mit

dem Balken geschah. Als Sganarel nämlich mit einem

gewaltigen Schwung seiner Pranke den Blutegel von sich

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schleuderte, riß er ruckartig den fest mit dem Seil verbundenen

Balken aus der Grube, der waagrecht ein Stück durch die Luft

flog. Dadurch straffte sich das Seil, und der Balken wirbelte

um Sganarel wie um seine eigene Achse; da das eine Ende im

Schnee schleifte, traf er gleich bei der ersten Umdrehung nicht

nur zwei oder drei Hunde, sondern das ganze herbeigeeilte

Rudel. Ein Teil der Meute wühlte sich winselnd aus dem

Schnee hervor, die anderen überschlugen sich und streckten

alle viere von sich.

13

Lag es nun daran, daß das Tier alsbald begriff, was für eine

vortreffliche Waffe ihm da plötzlich zur Verfügung stand, oder

daran, daß das um seine Pfote verschlungene Seil schmerzhaft

einschnitt, jedenfalls stieß der Bär ein Gebrüll aus und nahm

das Seil erst richtig in die Pranke, so daß der Balken mit einem

Satz in die Höhe flog, mit der Pranke, die das Seil hielt, eine

horizontale Linie bildete und dabei ein Sausen wie ein rasend

rotierender, gigantischer Kreisel erzeugte. Alles, was ihm in

die Quere käme, würde unweigerlich zerschmettert werden.

Page 147: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Und falls das Seil an einer Stelle gar schadhaft war und riß,

dann würde der zentrifugal davonsausende Balken Gott weiß

wohin fliegen und alles Leben auf seiner Bahn auslöschen.

Alle Menschen, alle Pferde und Hunde, ob nun in der

Zuschauerreihe oder in der Jägerstaffel, schwebten in äußerster

Gefahr, und jeder von uns bangte natürlich um sein Leben und

wünschte nur, daß das Seil, an dem Sganarel seine

Riesenschleuder schwang, nicht riß. Was für ein Ende mochte

das alles nehmen? Mit Ausnahme einiger Jägersleute und der

beiden Schützen in ihren Verstecken am Waldesrand verspürte

keiner mehr das Verlangen, darauf zu warten. Das übrige

Publikum, das heißt alle Gäste und Familienangehörigen des

Onkels, die dieser Lustbarkeit als Zuschauer beiwohnen

wollten, fanden an dem, was sich jetzt ereignete, nicht mehr

den geringsten Spaß. In höchster Angst befahlen alle ihren

Kutschern, die gefahrvolle Stätte schleunigst zu verlassen, und

bald jagte alles in heilloser Unordnung, sich stoßend und

einander überholend, dem Hause zu.

Bei dieser übereilten und ungeordneten Flucht ereigneten sich

mehrere Zusammenstöße und Stürze, es wurde zaghaft gelacht,

und alle trugen einen gehörigen Schrecken davon. Die aus dem

Schlitten Gefallenen vermeinten schon, das Sausen des vom

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Seil abgerissenen Balkens über ihren Köpfen und hinter sich

das ihnen nachstellende rasende Tier zu hören.

Aber während die Gäste, zu Hause angelangt, sich beruhigen

und von dem Schrecken erholen konnten, mußten die wenigen,

die am Ort der Bärenjagd zurückgeblieben waren, viel

Schlimmeres mit ansehen.

14

Es wäre höchst unklug gewesen, noch mehr Hunde auf

Sganarel zu hetzen, denn jedermann sah ein, daß er, bewaffnet

mit dem schrecklichen Balken, die ganze riesige Meute

bezwingen konnte, ohne selbst den geringsten Schaden zu

erleiden. Unterdessen schritt der Bär, seinen Balken

schwingend und selbst hin und her taumelnd, geradewegs dem

Wald zu, wo der Tod auf ihn lauerte, denn hier saßen ja

Ferapont und der niemals das Ziel verfehlende Flegont im

Hinterhalt.

Ein gutgezielter Schuß hätte allem rasch und gefahrlos ein

Ende bereitet.

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Aber das Schicksal waltete in wunderbarer Weise über

Sganarel, als wolle es ihn jetzt, da es sich einmal ins Leben des

Tieres eingemischt hatte, auf keinen Fall im Stich lassen.

In dem Augenblick, als Sganarel in die Nähe der

Schneeverstecke gelangte, aus denen Chraposchkas und

Flegonts auf ihn gerichtete Kuchenreuter-Stutzen herausragten,

riß plötzlich das Seil mit dem schwingenden Balken, und so

wie sich der Pfeil vom Bogen löst, flog der Balken davon,

während der Bär, das Gleichgewicht verlierend, hinfiel und

kopfüber in die entgegengesetzte Richtung rollte.

Vor den Augen der auf dem Feld Zurückgebliebenen stand

ein neues grausiges Bild: Der Balken hatte die Gewehrstützen

zerschmettert und den Schneehaufen, hinter dem Flegont lag,

zerstört, machte einen Satz darüber hinweg und bohrte sich in

eine entfernte Schneewehe. Sganarel verlor keine Zeit.

Nachdem er sich drei- oder viermal überschlagen hatte, lief er

ausgerechnet zu dem Schneewall, hinter dem Chraposchka

lag…

Sganarel erkannte ihn augenblicklich, er keuchte ihm seinen

heißen Atem ins Gesicht und machte Anstalt, ihn zu lecken;

doch da krachte von dort, wo Flegont saß, ein Schuß, der Bär

Page 150: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

floh in den Wald, Chraposchka aber brach besinnungslos

zusammen.

Man hob ihn auf und untersuchte ihn; die Kugel hatte ihm

den Arm durchschlagen, doch fand man auch etwas

Bärenwolle in der Wunde.

Flegont verlor seinen Ruf als Meisterschütze nicht, allerdings

hatte er den Schuß aus dem schweren Stutzen zu hastig

abgegeben und ohne Unterlage, die ein besseres Zielen

ermöglicht hätte. Außerdem dämmerte es bereits, und der Bär

und Chraposchka waren eins gewesen.

Unter diesen Umständen mußte auch dieser Schuß, der nur

um Haaresbreite sein Ziel verfehlte, als Meisterleistung

angesehen werden.

Dennoch war Sganarel fort. Seine Verfolgung noch an

diesem Abend aufzunehmen war ein Ding der Unmöglichkeit,

am nächsten Morgen aber hatte eine ganz andere Stimmung

das Gemüt jenes Mannes erhellt, dessen Wille hier allen

Gesetz war.

Page 151: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

15

Als die mißlungene Jagd zu Ende war, kehrte der Onkel nach

Hause zurück, finsterer und unwirscher als sonst. Noch ehe er

an der Treppe vom Pferd stieg, ordnete er an, das Tier bei

Tagesanbruch unverzüglich aufzuspüren und so zu umzingeln,

daß es nicht wieder entkommen konnte.

Eine weidmännisch richtig abgehaltene Jagd hätte

selbstverständlich zu ganz anderen Ergebnissen fuhren

müssen.

Nunmehr erwartete man seine Anordnungen, was mit dem

verwundeten Chraposchka zu geschehen habe. Alle waren der

Meinung, ihn werde eine furchtbare Strafe treffen, denn seine

Schuld bestand zumindest darin, daß er versäumt hatte, sein

Jagdmesser Sganarel in die Brust zu stoßen, als dieser neben

ihm auftauchte und ihn dann unversehrt aus seiner Umarmung

entließ. Außerdem geriet Chraposchka in den starken und wohl

auch vollauf begründeten Verdacht, er habe etwas vorgetäuscht

und im entscheidenden Augenblick die Hand absichtlich nicht

gegen seinen zottigen Freund erhoben, um ihn auf diese Weise

entkommen zu lassen.

Page 152: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Das wohlbekannte innige Verhältnis zwischen Chraposchka

und Sganarel machte diese Vermutung sehr wahrscheinlich.

Dieser Ansicht waren nicht nur die an der Jagd unmittelbar

Beteiligten, sondern inzwischen auch alle Gäste.

Wir lauschten natürlich gespannt den Gesprächen der

Erwachsenen, die sich gegen Abend in dem großen Saal

einfanden, wo zu dieser Stunde ein reich geschmückter

Weihnachtsbaum für uns angezündet wurde, und teilten die

allgemeinen Mutmaßungen und die allgemeine Angst vor dem,

was Ferapont erwartete.

Zunächst gelangte allerdings aus dem Vorzimmer, das der

Onkel auf dem Weg von der Treppe zu «seinem Flügel»

durchschritten hatte, nur die Kunde in den Saal, daß bezüglich

Chraposchkas keinerlei Befehl ergangen sei. «Hoffentlich ist

das ein gutes Zeichen», flüsterte jemand, und inmitten der

trübseligen Stimmung, die auf allen lastete, drang dieses

Flüstern in jedermanns Herz.

Auch Vater Alexej, der alte Dorfpriester mit dem

Bronzekreuz aus dem Jahre 1812, hatte es vernommen. Der

alte Mann seufzte ebenfalls und sprach genauso flüsternd:

«Laßt uns beten, zu Christ, dem Neugeborenen.»

Page 153: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Mit diesen Worten bekreuzigte er sich, und alle, die wir hier

versammelt waren, Erwachsene und Kinder, Herren und

Knechte, taten ein Gleiches. Es war der rechte Augenblick;

denn kaum hatten wir die Hände sinken lassen, da ging die Tür

auf, und herein trat der Onkel, einen Stock in der Hand.

Begleitet wurde er von seinen beiden Lieblingshunden und

dem Kammerdiener Justin. Letzterer trug ihm auf einem

silbernen Tablett sein weißes Seidenschnupftuch und seine

runde Tabatiere mit dem Bildnis Pauls I. nach.

16

Vor dem Weihnachtsbaum stand inmitten des Raumes auf

einem kleinen Perserteppich ein Voltairesessel für den Onkel.

Wortlos nahm er in diesem Sessel Platz, und wortlos ließ er

sich von Justin sein Schnupftuch und seine Tabatiere reichen.

Die beiden Hunde legten sich sofort ihm zu Füßen und

streckten ihre spitzen Schnauzen auf dem Boden aus.

Der Onkel trug einen blauen Seidenrock mit gestickten

Schnüren, die mit weißen Filigranschnallen und großen

Türkisen reich verziert waren. In der Hand hielt er seinen

Page 154: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

dünnen, aber haltbaren Spazierstock aus echtem kaukasischem

Kirschbaumholz.

Dieser Spazierstock war für ihn jetzt unentbehrlich, hatte

doch bei dem Tumult, mit dem die Bärenhatz ausgegangen

war, auch die tadellos zugerittene «Modedame» den Kopf

verloren, war ausgebrochen und hatte dabei ein Bein des

Reiters heftig gegen einen Baum gedrückt.

Der Onkel verspürte große Schmerzen in diesem Bein und

lahmte sogar ein wenig.

Dieser neue Umstand war natürlich erst recht nicht dazu

angetan, in seinem verärgerten und zornigen Sinn freundliche

Regungen zu wecken. Außerdem war es auch unklug von uns,

daß wir alle beim Eintritt des Onkels verstummten. Wie die

meisten mißtrauischen Menschen konnte er das nicht

vertragen, und Vater Alexej, der ihn gut kannte, beeilte sich,

das unheilvolle Schweigen zu brechen, um die Lage zu retten,

so gut er es vermochte.

Und da gerade wir Kinder in der Nähe des Geistlichen

standen, stellte er uns die Frage, ob wir auch den Sinn des

Liedes «Christ ist geboren» verstanden hätten. Da erwies es

sich, daß nicht nur wir, sondern auch die Älteren ihn kaum

begriffen hatten. Der Priester hob nun an, uns die Bedeutung

Page 155: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

der Wörter «lobpreiset», «rühmet» und «erhebet euch» zu

erläutern, und als er zu besagtem letzten Wort kam, «erhob» er

sich förmlich selbst mit Herz und Verstand. Er sprach über die

Gabe, die auch jetzt, wie in «alter Zeit», jeder Geringe dem

Christkind in seiner Krippe darbringen könne, und zwar noch

kühner und würdiger als die Weisen aus dem Morgenland

Gold, Myrrhe und Weihrauch darbrachten. Unsere Gabe sei

unser Herz, das nach Seiner Lehre geläutert sei. Der alte Mann

sprach von Liebe, Vergebung und der Pflicht eines jeden,

Freund und Feind «in Christi Namen» zu trösten… Und ich

glaube, seine Worte hatten zu jener Stunde die Kraft der

Überzeugung. Wir alle verstanden, wem sie galten, und

lauschten sonderbar ergriffen, gleichsam betend, daß diese

Worte ihr Ziel erreichten, und an so mancher Wimper zitterten

gute Tränen…

Plötzlich fiel etwas zu Boden. Es war der Stock des Onkels…

Man hob ihn auf, doch der Onkel griff nicht danach. Er saß da,

ein wenig zur Seite geneigt, die eine Hand hing schlaff über

die Armlehne hinab, und in dieser Hand hielt er einen großen

Türkis von einer seiner Rockschnallen, er schien ihn ganz

vergessen zu haben… Da ließ er auch diesen fallen, doch

diesmal sprang niemand eilfertig hinzu, ihn aufzuheben.

Page 156: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Aller Augen waren auf sein Gesicht gerichtet. Etwas

Erstaunliches geschah: Er weinte!

Behutsam bahnte sich der Priester einen Weg durch die

Kinderschar, trat an den Onkel heran und segnete ihn

schweigend.

Der Onkel sah zu ihm auf, ergriff die Hand des Greises, küßte

sie unversehens vor aller Augen und sprach leise: «Danke!»

Gleich darauf wandte er sich zu Justin und befahl, Ferapont

herbeizurufen.

Jener erschien, bleich, den einen Arm verbunden.

«Stell dich hierher!» befahl ihm der Onkel und wies mit der

Hand auf den Teppich.

Chraposchka trat näher und fiel auf die Knie.

«Steh auf… Erhebe dich», sagte der Onkel. «Ich vergebe

dir.»

Wieder warf sich Chraposchka ihm zu Füßen. Mit unsicherer,

erregter Stimme sagte der Onkel: «Du hast ein Tier geliebt,

wie nicht jeder die Menschen liebt. Du hast mich damit gerührt

und an Großmut übertroffen. Du sollst daher einer Gnade

teilhaftig werden: Ich entlasse dich aus meiner Dienstbarkeit

und gebe dir hundert Rubel mit auf den Weg. Geh, wohin du

willst.»

Page 157: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

«Ich danke Euch, aber ich will nicht fort!» rief Chraposchka

aus.

«Wie das?»

«Ich gehe nicht fort», wiederholte Ferapont.

«Was willst du denn?»

«Für Eure Gnade will ich Euch aus freien Stücken ergebener

dienen, als ich es in der Knechtschaft und aus Furcht könnte.»

Der Onkel blinzelte, mit der einen Hand führte er sein weißes

Schnupftuch an die Augen, mit der anderen umarmte er, sich

vorbeugend, Ferapont, und wir alle merkten, daß wir uns zu

erheben hatten, und auch wir bedeckten unsere Augen.

Deutlich empfand es ein jeder, daß sich hier etwas zum Ruhme

des allerhöchsten Gottes vollzog und Schrecken und Finsternis

in Christi Namen einem lichten Frieden wichen.

Ein Abglanz davon fiel auch auf das Dorf, wohin man Kessel

mit Dünnbier geschickt hatte. Freudenfeuer loderten auf, alle

waren guter Dinge, und scherzend sagte es einer dem anderen:

«Heute haben wir erlebt, wie ein wildes Tier in die heilige

Nacht hinausgegangen ist, um Christus in der Stille zu

preisen.»

Von Sganarels Verfolgung wurde abgesehen. Ferapont, wie

versprochen freigelassen, trat bald beim Onkel an Justins

Page 158: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Stelle; er war ihm nicht nur ein ergebener Diener, sondern

auch ein treuer Freund bis ans Ende seiner Tage. Er drückte

dem Onkel die Augen zu, und er begrub ihn in Moskau auf

dem Wagankowsker Friedhof, wo das Grabmal bis zum

heutigen Tag unversehrt steht. An der gleichen Stelle liegt ihm

zu Füßen auch Ferapont.

Blumen bringt ihnen jetzt freilich niemand mehr, aber dort,

wo in Moskau das Elend haust, erinnert man sich heute noch

eines weißhaarigen alten Herrn, der immer auf wundersame

Weise in Erfahrung zu bringen wußte, wo wahres Leid

herrschte, um sich dort zur rechten Zeit einzustellen oder

seinen wackeren Diener mit den etwas hervorstehenden Augen

zu entsenden, und niemals mit leeren Händen.

Diese beiden guten Menschen, von denen sich noch vieles

erzählen ließe, waren mein Onkel und Ferapont, den der alte

Herr scherzhaft immer den «Tierbändiger» nannte.

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Anton Tschechow

Zur Weihnachtszeit

Deutsch von Gerhard Dick

Page 160: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

1

«WAS SOLL ICH schreiben?» fragte Jegor und tauchte die Feder

ein.

Wassilissa hatte ihre Tochter schon vier Jahre nicht mehr

gesehen. Nach der Hochzeit war die Tochter Jefimja mit ihrem

Mann nach Petersburg gefahren, hatte zwei Briefe geschickt

und war dann wie vom Erdboden verschluckt – sie ließ nichts

mehr von sich hören. Und ob die Alte am frühen Morgen die

Kuh melkte, ob sie den Ofen heizte, ob sie nachts schlaflos

dalag – immer dachte sie nur an das eine, wie es Jefimja dort

gehe und ob sie noch lebe. Man müßte ihr einen Brief

schicken, aber der Alte konnte nicht schreiben, und sie hatten

niemand, den sie hätten darum bitten können.

Nun aber war Weihnachten gekommen, Wassilissa konnte es

nicht länger aushalten und ging in die Schenke zu Jegor, dem

Bruder der Wirtin, der, seitdem er aus dem Militärdienst

heimgekehrt war, immer zu Hause in der Schenke saß und

nichts tat. Es hieß von ihm, er könne gut Briefe schreiben,

wenn man ihn anständig dafür bezahle. Wassilissa sprach in

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der Schenke erst mit der Köchin, dann mit der Wirtin und dann

mit Jegor selbst. Sie einigten sich auf fünfzehn Kopeken.

Und nun saß Jegor am zweiten Feiertag in der Küche der

Schenke am Tisch und hielt den Federhalter in der Hand.

Nachdenklich stand Wassilissa vor ihm, auf ihrem Gesicht

malten sich Sorge und Kummer. Mit ihr war Pjotr gekommen,

ihr Mann, ein sehr hagerer, hochgewachsener Alter mit einer

gebräunten Glatze; er stand da und schaute starr geradeaus, als

sei er blind. Auf dem Herd in einer Kasserolle brutzelte der

Schweinebraten; er zischte und schnaufte, als wolle er sagen:

flju-flju-flju. Es war schwül.

«Was soll ich schreiben?» fragte Jegor wieder.

«Was denn!» sagte Wassilissa und schaute ihn böse und

mißtrauisch an. «Hetz doch nicht so! Du schreibst doch nicht

umsonst, sondern für Geld! Nun, schreib. Unserem lieben

Schwiegersohn, Andrej Chrissanfytsch, und unserer einzigen

geliebten Tochter, Jefimja Petrowna, in Liebe herzliche Grüße

und den elterlichen Segen auf ewig unwandelbar.»

«Fertig. Schieß weiter!»

«Wir gratulieren auch noch zum Feiertag von Christi Geburt,

wir leben und sind gesund, was wir auch für euch vom

Herrn… dem himmlischen Herrscher… erflehen.»

Page 162: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Wassilissa überlegte und sah sich nach dem Alten um.

«Was wir auch für euch vom Herrn… dem himmlischen

Herrscher… erflehen», wiederholte sie und fing an zu weinen.

Mehr konnte sie nicht sagen. Vorher, als sie nächtelang

überlegt hatte, schien ihr, nicht einmal zehn Briefe würden

ausreichen, um alles zu schreiben. Seit die Tochter mit ihrem

Mann weggefahren war, war viel Wasser ins Meer geflossen,

die Alten lebten wie Waisen, und nachts seufzten sie tief, als

hätten sie die Tochter beerdigt. Und was hatte sich in dieser

Zeit im Dorf nicht alles ereignet, wie viele Hochzeiten und

Todesfälle hatte es gegeben! Wie lang waren die Winter

gewesen, wie lang die Nächte!

«Es ist heiß hier!» sagte Jegor und knöpfte die Weste auf.

«Es werden wohl siebzig Grad sein. Was weiter?» fragte er.

Die alten Leute schwiegen.

«Was macht dein Schwiegersohn dort?» fragte Jegor.

«Er war Soldat, mein Lieber, das weißt du doch», antwortete

der Alte mit schwacher Stimme. «Er ist zur gleichen Zeit wie

du vom Militärdienst zurückgekommen. Er war Soldat, und

jetzt ist er nämlich in Petersburg in einer Wasserheilanstalt.

Der Doktor nimmt Wasser für die Kranken. Da ist er nämlich

Pförtner bei dem Doktor.»

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«Hier steht’s geschrieben…» sagte die Alte und holte aus

ihrem Tüchlein einen Brief. «Von Jefimja haben wir ihn

bekommen, weiß Gott, wann das war. Vielleicht leben sie gar

nicht mehr.»

Jegor überlegte ein wenig und begann eilig zu schreiben.

«Heutzutage», schrieb er, «wo das Schicksal Sie für den

Militärdienst bestimmt hat, raten wir ihnen, in die

Dissiplinarordnung und in das Militärstrafgesetzbuch

hineinzuschauen, und Sie werden in jenem Gesetz die

Ziwilsazion der Angehörigen der Militärbehörde erkennen.»

Er schrieb und las dann das Geschriebene laut vor, Wassilissa

aber dachte bei sich, man müßte schreiben, was für eine Not

im vergangenen Jahr geherrscht, daß das Getreide nicht einmal

bis Weihnachten gereicht und daß man die Kuh hatte

verkaufen müssen. Man müßte um Geld bitten, man müßte

schreiben, daß der Alte häufig kränkele und wohl bald seine

Seele aushauchen werde… Wie sollte man das aber mit

Worten ausdrücken? Was sollte man zuerst sagen und was

nachher?

«Lenken Sie ihre Aufmärksamkeit», schrieb Jegor weiter,

«auf Band 5 der Kriegsartiekel. Soldat ist eine allgemeine

Page 164: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

Bezeichnung, ein berümter Name. Soldat heißt der Erste

General und der letzte Gemeine…»

Der Alte bewegte die Lippen und sagte leise: «Die

Enkelkinder einmal sehen, das wäre nicht schlecht.»

«Was für Enkelkinder?» fragte die Alte und sah ihn böse an.

«Ja, vielleicht sind gar keine da!»

«Enkel? Vielleicht haben wir doch welche. Wer soll das

wissen!»

«Und danach können Sie beurteilen», fuhr Jegor eilig fort,

«welches der Ausländische Feind ist und welches der Innere.

Unser erster Innerer Feind ist: Bachus.»

Die Feder kratzte und malte Schnörkel aufs Papier, die wie

Angelhaken aussahen. Jegor beeilte sich und las jede Zeile

mehrmals vor. Er saß auf einem Hocker, satt, gesund,

breitschnäuzig und rotnackig, die Beine unter dem Tisch weit

gespreizt. Es war die Gemeinheit selbst, die hier hockte, grob,

anmaßend, unüberwindlich und stolz darauf, daß sie in der

Schenke geboren und aufgewachsen war; Wassilissa begriff

sehr wohl, daß dies die Gemeinheit war, aber sie konnte das

nicht in Worten ausdrücken, sondern schaute Jegor nur böse

und mißtrauisch an. Von seiner Stimme, seinen

unverständlichen Worten, von der Hitze und der stickigen Luft

Page 165: Weihnachtsgeschichten Aus Russland -

begann ihr der Kopf zu schmerzen, ihre Gedanken verwirrten

sich, und sie sagte und dachte nichts mehr, sondern wartete nur

darauf, daß er zu kratzen aufhörte. Der alte Mann blickte

zuversichtlich drein. Er vertraute seiner Frau, die ihn

hierhergebracht hatte, und auch Jegor; und als er vorhin die

Wasserheilanstalt erwähnte, da merkte man seinem Gesicht an,

daß er auch an die Anstalt und die heilende Kraft des Wassers

glaubte.

Als Jegor mit Schreiben fertig war, stand er auf und las den

ganzen Brief noch einmal vor. Der Alte begriff nichts, aber er

nickte zustimmend.

«Nichts dagegen zu sagen, sehr flüssig…» meinte er, «Gott

schenke ihm Gesundheit. Nichts dagegen zu sagen…»

Sie legten drei Fünfkopekenstücke auf den Tisch und

verließen die Schenke, der Alte blickte wie ein Blinder starr

geradeaus, und auf seinem Gesicht malte sich volles Vertrauen.

Wassilissa aber hob, als sie aus der Schenke kamen, die Hand

gegen einen Hund und sagte böse: «Oh, du Kröte!»

Die ganze Nacht konnte die Alte nicht schlafen, die

Gedanken ließen sie nicht zur Ruhe kommen; in der

Morgenfrühe stand sie auf, betete und ging zum Bahnhof, um

den Brief abzuschicken. Bis zum Bahnhof waren es elf Werst.

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2

In Doktor B. O. Moselweisers Heilanstalt wurde am Neujahrs

tag genauso wie an gewöhnlichen Tagen gearbeitet, und nur

der Portier Andrej Chrissanfytsch trug eine Uniform mit neuen

Litzen, seine Stiefel glänzten ganz besonders, und er wünschte

jedem, der kam, viel Glück zum neuen Jahr.

Es war Morgen. Andrej Chrissanfytsch stand an der Tür und

las die Zeitung. Genau um zehn Uhr kam ein bekannter

General, einer von den ständigen Besuchern, und nach ihm der

Postbote. Andrej Chrissanfytsch nahm dem General den

Mantel ab und sagte: «Viel Glück zum neuen Jahr, Euer

Exzellenz!»

«Danke, mein Lieber. Das wünsche ich dir auch.»

Während der General die Treppe hinaufstieg, wies er mit dem

Kopf auf eine Tür und fragte (er fragte jeden Tag, vergaß es

aber immer wieder): «Und was ist in diesem Zimmer?»

«Das Massagekabinett, Euer Exzellenz!»

Als die Schritte des Generals verklungen waren, sah Andrej

Chrissanfytsch die eingegangene Post durch und fand dabei

einen Brief auf seinen Namen. Er öffnete ihn, las einige Zeilen

und ging dann gemächlich und in die Zeitung blickend in sein

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Zimmer, das ebenfalls unten, am Ende des Korridors lag. Seine

Frau Jefimja saß auf dem Bett und nährte ein Kind; ein zweites

Kind, das älteste, stand neben ihr und hatte seinen Lockenkopf

auf ihre Knie gelegt, ein drittes schlief im Bett.

Als Andrej das Zimmer betrat, gab er seiner Frau den Brief

und sagte: «Wahrscheinlich aus dem Dorf.»

Dann ging er wieder hinaus, ohne den Blick von der Zeitung

zu heben, und blieb im Korridor unweit der Tür stehen. Er

hörte, wie Jefimja mit zitternder Stimme die ersten Zeilen las.

Weiter kam sie nicht – ihr genügten schon diese Zeilen; sie

brach in Tränen aus, umarmte ihren Ältesten, küßte ihn und

fing an zu sprechen, und man wußte nicht, ob sie weinte oder

lachte.

«Das ist vom Großmütterchen, vom Großväterchen…» sagte

sie. «Von zu Hause… Himmelskönigin, o ihr Heiligen! Dort

hat es jetzt den Schnee bis unters Dach geweht… die Bäume

sind alle ganz weiß. Die Kinder fahren auf niedlichen kleinen

Schlitten… Und der kahlköpfige Großvater liegt auf dem

Ofen… und das gelbe Hündchen… Meine Lieben daheim!»

Als Andrej Chrissanfytsch dies hörte, fiel ihm ein, daß seine

Frau ihm drei- oder viermal Briefe gegeben und ihn gebeten

hatte, sie abzuschicken, aber irgendwelche wichtigen

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Angelegenheiten hinderten ihn daran, er hatte sie nicht

abgeschickt, die Briefe waren irgendwo liegengeblieben.

«Und auf den Feldern laufen die Häschen herum», wehklagte

Jefimja tränenüberströmt und küßte ihren Jungen. «Der

Großvater ist still und gütig, die Großmutter ist auch gütig und

mitleidig. Sie leben in Eintracht auf dem Lande und fürchten

Gott… Und ein Kirchlein steht im Dorf, die Bauern singen auf

dem Chor. Die Himmelskönigin müßte uns von hier wegholen,

die Beschützerin!»

Andrej Chrissanfytsch kehrte in sein Zimmer zurück, um zu

rauchen, bis jemand käme; Jefimja verstummte plötzlich und

wischte sich die Augen, nur ihre Lippen zuckten. Sie hatte

große Angst vor ihm, so große Angst! Sie zitterte und wurde

von Schrecken ergriffen, wenn sie seine Schritte hörte, wenn er

sie ansah, und sie wagte in seiner Gegenwart kein einziges

Wort.

Andrej Chrissanfytsch rauchte sich eine Zigarette an, aber

gerade in diesem Augenblick wurde oben geläutet. Er drückte

die Zigarette aus und eilte mit sehr ernstem Gesicht zur

Eingangstür.

Von oben kam der General herunter, rosig und frisch vom

Bad.

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«Und was ist in diesem Zimmer?» fragte er und zeigte auf

eine Tür.

Andrej Chrissanfytsch stand stramm, die Hände an der

Hosennaht, und antwortete mit lauter Stimme: «Die

Charcotdusche, Euer Exzellenz!»