Wenn der Darm zum Feind wird
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Wenn der Darm zum Feind wirdUNTERLAND. «Sie leiden unterMorbus Crohn»: Mit dieser Diagnose müssen immer mehrUnterländer leben. Obwohl die chronische Darmkrankheit Betroffene wie Peter K.* täglich quält, spricht kaum jemand über sie.
KATHRIN MORF
Wenn Peter K.* unterwegs ist und seinMagen grimmig zu rumoren beginnt,dann muss der 50-jährige Unterländereine Toilette finden, unverzüglich,denn seine Krankheit erlaubt keinTrödeln. Peter K. leidet an der chro-nischen Darmentzündung MorbusCrohn – wie immer mehr Schweizerin-nen und Schweizer (siehe Kasten).
Vor vier Jahren kehrte Peter K. ausZentralamerika zurück – und ver-brachte mehr Zeit auf der Toilette alsbeim Sortieren von Ferienfotos. «Ichwar mir sicher, ein paar Medikamentewürden das wieder gerade biegen», er-zählt er. Doch weit gefehlt. Eine Tro-penärztin und ein Magen-Darm-Spe-zialist nahmen zahlreiche Tests vor,bis Peter K. nach sechs Monaten end-lich Gewissheit hatte. «Ich begriff nurlangsam, was Morbus Crohn bedeu-tet», sagt er. «Ich habe vielleicht malwochenlang nur wenige Bauchkrämp-fe pro Tag, muss aber jederzeit mit ei-nem heftigen Schub der Krankheitrechnen. Mein Leben lang.»
Das ganze Leben ändert sichWährend dieses ersten Schubs überfie-len Peter K. ein Dutzend Mal täglichheftige Schmerzen, starke Medika-mente sollten diese dämpfen, sein gan-zer Alltag wurde von seinem Darmdiktiert. Musste der kaufmännischeAngestellte einen Kunden besuchen,brachte er zum Beispiel in Erfahrung,wo öffentliche Toiletten zu finden wa-ren und plante seine Route entspre-chend. «Begannen die Krämpfe, muss-te ich in fünf Minuten ein WC gefun-den haben», erklärt er. «Spätestens.»
Auch wenn der Schub vorüberging:Die Erkenntnis, dass er seinen Körpernicht mehr im Griff hatte, nagte an Pe-ter K. «Ich fühlte mich meinem Darmausgeliefert, war niedergeschlagen»,sagt er, «und wütend. Aufs Schicksal,auf die Ärzte und auf mich, weil ichdachte, ich hätte das alles durch un-gesunde Ernährung verursacht.» Erblieb immer häufiger zu Hause, wo erproblemlos eine Toilette aufsuchenkonnte und keine unangenehmen Fra-gen fürchten musste; Stück für Stückzerfiel sein Sozialleben.
Diese unheilvolle Entwicklungstoppte erst, als Peter K. einer Selbst-hilfegruppe beitrat. «Ich fühlte michnicht mehr allein mit meinem Pro-blem», erinnert er sich. Zudem habe er
von Leidensgeschichten erfahren, dieihm die «Haare zu Berge stehen lies-sen» – solche von jahrzehntelangenSchmerzen, operativ entfernten Darm-stücken, künstlichen Darmausgängen.Angesichts dieser Schicksale empfander seine Niedergeschlagenheit jäh alsübertrieben. «Diesen Menschen gehtsviel schlechter als mir. Und sie akzep-tierten ihr Schicksal dennoch.»
Ihm hilft die BirkeLangsam gewann er seine Lebensfreu-de zurück – bis ihn vor sieben Mona-ten ein erneuter Schub heimsuchte. ImStundentakt überfielen ihn schmerz-hafte Magenkrämpfe, seine Kraft ver-liess ihn, nächtelang sass er auf derToilette. «Das war schlimm», sagt erkopfschüttelnd. Als er sich zu fühlenbegann, als würde ihm jemand Messerin den Unterleib rammen, begab ersich ins Spital. Dort traf er Ärzte, diealternativen Ansätzen zugetan waren.«Sie schlugen mir vor, neben derSchulmedizin die Heilkräfte der Naturin Anspruch zu nehmen», erzählt derUnterländer, der herausfand, dass ihmBirkenextrakte Linderung verschaf-fen. Ausserdem erklärten ihm die Me-diziner, er müsse mit Morbus Crohnleben lernen – und das tat er.
Diszipliniert schluckt er seither di-verse Medikamente, kümmert sich«auch um Geist und Seele» und lernt,was die Krämpfe auslöst. «Kaffee soll-te ich zum Beispiel nicht trinken. Damuss ich sofort losrennen», sagt er.Zudem quält er sich nicht mehr mitSelbstvorwürfen. «Niemand kennt diegenauen Ursachen der Krankheit. Ichmusste lernen, keine Fragen zu stellen,wo keine Antworten existieren.»
Immer am Rand sitzenZwar fühlt sich Peter K. heute fit undnimmt am «Leben draussen» teil; sei-ne Krankheit setzt ihm aber weiterGrenzen. So meidet er öffentlicheVerkehrsmittel ohne Toilette odersetzt sich während des Diavortragsvon Bekannten etwa abseits hin, damiter unbemerkt in Richtung Bad ver-schwinden kann. «Wird kein Heilmit-tel gefunden, gehört diese Behinde-rung für immer zu mir. Das habe ichakzeptiert.» Zudem geniesse er nundie kleinen Dinge des Lebens mehr.«So abgedroschen das klingt: MorbusCrohn hat mich demütig gemacht.»
Auch wenn er seine Krankheit ak-zeptiert hat – nur die Familie und diebesten Freunde wissen davon. «Siezeigen viel Verständnis.» Ansonstenbehält er geheim, dass ein entzündeterDarm seinen Alltag wesentlich mitbe-stimmt. «Die blöde Geheimnistuereibelastet mich», sagt er. «Ich will aberkein Mitleid. Und wer ein vollwertigesMitglied unserer Arbeitswelt sein will,muss fit sein. Zeigt jemand Schwäche,wird er bald einmal ausgetauscht.»* Name von der Redaktion geändert
Wie Messer im Bauch fühlt sich ein Morbus-Crohn-Schub an. Bild: Johanna Bossart
Bruno RaffaPräsident derPatientenvereinigung
«Sprechen wir überunsere Krankheit,brechen wir ein Tabu»Auch Bruno Raffa leidet an einerDarmkrankheit: Colitis Ulcerosaführt oft dazu, dass Betroffene sichisolieren. Als Präsident der Schwei-zerischen Morbus Crohn/Colitis Ul-cerosa Vereinigung (SMCCV) willRaffa dies verhindern.
Morbus Crohn und Colitis Ulcerosabehindern Betroffene stark. Darüberzu reden ist aber ein Tabubruch.Bruno Raffa: Ja, über Blähungenund Exkremente wird nicht geredetin der Gesellschaft. Jemand mussdas aber tun, damit Betroffene mer-ken, dass sie nicht allein sind. Man-che schliessen sich nämlich zu Hauseein. Ihnen will unsere Vereinigungaufzeigen: Da sind andere Betroffe-ne, und sie verrichten harte Arbeit,fahren Ski, geniessen das Leben.
Doch jedem Patienten sitzt dochstets die Angst vor der Blamage imNacken, weil er seine Verdauungnicht im Griff hat?Wir lernen die Signale unseres Kör-pers zu deuten. Aber klar, Ersatz-kleider haben wir stets dabei, weilwirs manchmal doch nicht zur Toi-lette schaffen. Das schadet demSelbstwertgefühl gewaltig. Auch ichschäme mich manchmal wegen mei-ner Behinderung. Reden wir nichtdarüber, können wir aber nicht aufVerständnis hoffen. So benutzenviele von uns Behinderten-WCs –und werden oft dumm angemacht,weil wir nicht behindert aussehen.
Manche Experten denken, dieKrankheit werde durch übertriebeneHygiene ausgelöst: Unsere Därmesind sozusagen hyperempfindlich.Das halte ich für möglich. In Län-dern mit tieferen Hygienestandardsist die Krankheit seltener. Viel-leicht wird sie dort aber auch nurseltener diagnostiziert. Die Wissen-schaft hat nun einmal keine siche-ren Antworten bereit, darum versu-chen wir, das Rätseln zu lassen.
Sie konzentrieren sich also auf Lin-derung für Kranke – jedem scheintaber etwas anderes zu helfen.Die Krankheit tritt wirklich un-glaublich unterschiedlich in Er-scheinung. Darum muss jeder her-ausfinden, welches Medikamentihm hilft oder ob sogar die Entfer-nung eines Teils seines Darms diebeste Lösung ist. Auch meidenmuss jeder Patient etwas anderes.Bei mir verstärken Schmerzmitteldie Krämpfe. Dafür kann ich zehnTassen Kaffee am Tag trinken.Zum Glück, denn ich liebe Kaffee.
Man weiss doch aber nie, ob ein Me-dikament wirklich wirkt oder ob dieKrankheit im Moment bloss ruht.Das ist leider so. Ich kenne Leute,die leben seit 20 Jahren fast be-schwerdefrei. Aber ob sie nichtschon morgen ein Schub trifft – dasweiss niemand. (kam)
NACH-GEFRAGT
Morbus Crohn (MC) ist eine chroni-sche Darmentzündung, die Dünn-und Dickdarm befällt. Colitis Ulcero-sa (CU) ist MC sehr ähnlich, tritt abernur im Dünndarm auf. Die entzün-dete Darmschleimhaut macht sichdurch Durchfall und Bauchkrämpfebemerkbar, wobei deren Ausmassund die weiteren Symptome stark di-vergieren. Ob die Krankheiten ver-erbbar sind oder was sie auslöst – dar-über sind sich die Experten uneinig.Klar ist nur, dass MC und CU immerhäufiger diagnostiziert werden. Ins-gesamt 16 000 Schweizerinnen und
Schweizer sind heute betroffen, dar-unter viele Kinder. Helfen Medika-mente nicht, entfernen Ärzte auchmal Teile des Darms oder legen einenkünstlichen Darmausgang. Die Schweizerische Morbus Crohn/Colitis Ulcerosa Vereinigung(SMCCV) hilft durch Kontakte, Be-ratung und vieles mehr: Seit Kurzemstellt sie auch ein Programm zur Ver-fügung, mit dem sich Betroffene perInternet oder Handy über öffentlicheToiletten erkundigen können. Mehrunter www.smccv.ch oder dem Linkunter www.zuonline.ch. (kam)
MORBUS CROHN TRIFFT AUCH KINDER
Er prügelte und randalierte – nun zahlt er KLOTEN. Ein junger Kaufmannaus Kloten hat im April 2009nicht nur mehrere Jugendlicheverprügelt, nein – nur wenigspäter nahm er auch noch an einer illegalen Demonstrationteil und randalierte. Nun wirdsfür ihn teuer.
ATTILA SZENOGRADY
In seinem nun eröffneten Urteil hatdas Bezirksgericht Zürich einen heute22-jährigen Kaufmann aus Kloten we-gen Angriffs und Landfriedensbruchszu einer bedingten Geldstrafe von 150Tagessätzen zu 60 Franken sowie zueiner zu bezahlenden Busse von 3000
Franken verurteilt. Zudem soll derjunge Unterländer einen beträchtli-chen Teil der Gerichtskosten für über5000 Franken tragen und zwei Geschä-digten ein Schmerzensgeld von je 500Franken bezahlen.
Schlägerei und NachdemoMit diesem Urteil ist das Bezirks-gericht Zürich den Darstellungen derAnklage gefolgt. Demnach hatte sichder Klotener in der Nacht auf den 13. April 2009 mit zwei Kollegen in dasStadtzürcher Niederdorf begeben. Da-bei trug der Angeklagte einen Pullo-ver mit dem Logo eines Boxclubs.Kurz vor dem Central wurde er voneinem Jugendlichen auf ebendiesesLogo angesprochen. Die Worte desJugendlichen fasste der Unterländer
als Provokation auf, rastete aus – undschlug sogleich zu.
Der Jugendliche und seine seinebeiden Begleiter hatten gegen den An-geklagten keine Chance. Die drei Ge-schädigten – allesamt im Alter vonrund 20 Jahren – erlitten erheblichebis mittelschwere Verletzungen. Unteranderem schlug der Klotener ihnenZähne aus und brach Nasenbeine.
Der Schläger aus Kloten wurde kurznach dem Angriff von der Polizei fest-genommen. Eine eingeleitete Strafun-tersuchung schien ihn aber wenig zubeeindrucken. So nahm er keine dreiWochen später an einer illegalen 1.-Mai-Nachdemonstration im Stadt-zürcher Kreis 4 teil. An dieser De-monstration randalierte er nicht nur;er ging ausserdem auf einen Passanten
los, wie ein Polizeivideo unter Beweisstellt.
Wenig Respekt zeigte der aus derInnerschweiz stammende Angeklagteauch gegenüber der Justiz. So glänzteer an seinem Strafprozess im letztenSommer durch unentschuldigte Abwe-senheit.
Wenig glaubhafte AussagenIm schriftlich begründeten Urteil desBezirksgerichts Zürich ist von einemerheblichen Verschulden die Rede. Sohabe der Angeklagte mehrfach grund-los eine Person tätlich angegriffen,schrieb der Richter – und lastete demnicht geständigen jungen Mann wäh-rend der Untersuchung ein wenigglaubhaftes sowie widersprüchlichesAussageverhalten an.
BEZIRK BÜLACH I 5ZÜRCHER UNTERLÄNDERDIENSTAG, 11. JANUAR 2011
IN KÜRZEStimmgewalt im FlügelsaalBÜLACH. Wer am kommenden Frei-tag, 14. Januar, nichts vorhat und Klas-sik liebt, sollte den Auftritt von Mez-zosopranistin Christina Daletska imKalender dick unterstreichen: Sie singtum 20 Uhr im Bülacher Flügelsaal vonMusik Hug, Tickets gibts an derAbendkasse. (red)