WERNER CONZE .HERMANN KELLENBENZ HANS POHL .WOLFGANG ZORN · 2013. 12. 3. · WERNER CONZE .HERMANN...

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e-: VIERTELJAHRSCHRIFT FÜR -- SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON WERNER CONZE . HERMANN KELLENBENZ HANS POHL . WOLFGANG ZORN SIEBZIGSTER BAND 1983 FRANZ STEINER VERLAG GMBH· WIESBADEN

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  • e-:VIERTELJAHRSCHRIFT FÜR--SOZIAL- UND

    WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

    HERAUSGEGEBEN VON

    WERNER CONZE . HERMANN KELLENBENZHANS POHL . WOLFGANG ZORN

    SIEBZIGSTER BAND

    1983

    FRANZ STEINER VERLAG GMBH· WIESBADEN

  • N bili ",,0 sDer Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit

    Von Hans- W emer Goe~ Bochum

    Seit die aristokratische Struktur von Herrschaft und Staat im Mittelalter er-kannt ist und der Adel folglich als die staatstragende. "herrschende" Schicht ne-ben dem König gilr', hat die historische Forschung ihm sowohl vom verfassungs-wie vom sozialgeschichtlichen Aspekt her ihre besondere Aufmerksamkeit zuge-wandt.? Dabei lag der Schwerpunkt vor allem auf den Anfängen in der frühfrän-

    1 Vgl. Kar! BOlI. Die Grundlagen der modernen Gesellschaft imMittelalter. Eine deutsche Ge-seIlschaftsgeschichte des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4). Stuttgart1972.S. 93 ff. Karl Ferdinand Wtrntr. BedeutendeAdelsfamilien im Reich Karls des Großen. in:Kar! der Große. Lebenswerk und Nachleben Bd. I. Düsseldorf 1965. S. 125 f.

    2 An grundlegenden Arbeiten seien genannt: Aloys Schulte. Der Adc! und die deutsche Kircheim Mittelalter, Stuttgart 21922 (ND. Darmstadt 1958); Otto von Dungtrn. Adelsherrschaft imMirtelaleer. München 1927 (ND. Darmsrade 1972);Eberhard F. 0110. Adel und Freiheit im deut-schen Staat des frühen Mittelalters. Studien über Nobiles und Ministerialen, Berlin 1937; HeinrichDannenbautr. Add. Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfas-sungsentwicklung. Hise. Jahrbuch 61. 1941. S. I-50 (abgedruckt in: Herrschaft und Staat imMittelalter. hg. Hellmut Kämpf. Wege der Forschung 2. Darmstadt 1956. S. 66-134); HeinrichMilleil. Formen der Adelsherrschaft imMittelalter. in: Festschrift Frirz Schulz, Weimar 1951.S.226-58 (abgedruckt in: Den .• Die Rechtsidee in der Geschichte. Weimar 1957. S. 636-68);Kar! BOIl. Die aristokratische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft. in: Dm ..• Die Gesell-schaft in der Geschichte des Mittelalters. Göttingen 1966. S. 25-43. - Auch in Frankreich wirdAdelsforschung intensiv betrieben; an neueren Arbeiten vg!. Georges Duby. Une enquere a poursu-ivre: La noblesse dans la France medievale, Revue historique 226.1961. S. 1-22 (abgedruckt in:Ders .• Hommes et structures du moyen age. Paris 1973. S. 145-66); Leopold Gmicot, La noblesseau moyen äge dans l'ancienne ..Prancie", Annales ESC. 17.1962. S. 1-22; Ders .• La noblesse aumoyen äge dans rancienne ..Francie": Continuite. rupture ou evolution? in: Comparative Studies inSociety and History 5. 1962/63. S. 52-59; RobertBoulruche. Seigneurie et feodalite. 2 Bde .• Pa-ris 1968/70; Philippe Conlamine (Hg.). La noblesse au moyen äge. XI

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    kisch-merowingischen Zeit.J Trotz jahrzehntelanger, intensiver Erforschung ge-rade der fränkischen Verhältnisse ließ sich bisher allerdings keine Einigkeit erzie-len, und es gibt eine Reihe offener Probleme: Seit wann gab es überhaupt einenfränkischen Adel? Handelte es sich um einen altfränkischen ..Uradel" (E. Otto)-den Chlodwig nach einer Nachricht Gregors von Tours jedoch beseitigt habensoll- oder um einen neuen, vom König geschaffenen ..Diensradel'S, wie die neue-re Forschung meist annimmt, MW. um einen ,.Amtsadel" (Wenskus), der altenwie neuen Adel- einschließlich des romanischen Senatorenadels - in sich verei-nigte?5 Beschränkte sich ,,Adel" überhaupt auf diesen Amtsadel als Träger desFränkischen Reichs, oder war der Adel als soziale Schicht breiter? Sprandel woll-te etwa zwischen einem Reichsadel und einem grundherrlichen Adel unterschei-den, der sich (vor 900) in einer dauernden Fluktuation befand", ist damit aber-weniger der Sache als der unangemessenen Begriffe wegen - auf Ablehnung ge-stoßen, denn gerade der Reichsadel war Grundbesitzer." Wie verhielt es sich

    aus französischer Sicht liefert Gmicot in: Moyen Age 71. 1965. S. 539-60. - Störmer hat mit demgenannten Werk eine erste umfassende Zusammenstellung. vornehmlich allerdings am bayerischenMaterial vorgelegt. Nützliche Zusammenfassungen liefern R. Scbeybing.Artikd ,,Adel". in: Hand-wörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 1. 197 I.Sp. 41-51; Reinhard W mskus. Artikd,,Adel", in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. 1.21973. S. 58-75; jetzt vor allemKar! Ferdinand Wtrner, Artikel ..Add", in: Lexikon des Mirtelalrers, Bd. 1, München-Zürich1980. Sp. 118-28. - Zur Ausbildung der ständischen Verhiltnisse in Oberitalien vg!. jetzt HagenKeller.Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien. 9.-12. Jahshundert (Bibliothekdes Deutschen Hist. Instituts in Rom 52), Tübingen 1979.

    3 Vgl. Rolf Sprandel, Der merovingische Adel und die Gebiete östlich des Rheins (Forschungenzur oberrhein, Landesgeschichte 5), Freihurg/B. 1957; Alexander Bergmgrum. Add und Grund-herrschaft im Merowingerreich. Siedlungs- und standesgeschichtliche Studie zu den Anlangen desfränkischen Adels in Nordfrankrcich und Belgien (VSWG Beiheft 41), Wiesbaden 1958; Rein-hard Wenskus, Amt und Adel in der frühen Merowingerzeit. Mitt. des Marburger U niversitä~bun-des 1959, S. 40- 56; Rolf Sprandel, Struktur und Geschichte des merowingischen Adds, Hist, Zs.193, 1961, S. B-71; vor allem Irsig/tr (Anm. 2); zuletzt Heike Grabn-Hotk, Die fränkischeOberschicht im6. ]h. Studien zu ihrer rechtlichen und politischen Stellung (Vorträge und Forschun-gen Sonderband 21), Sigmaringen 1976. - Die adlige Herkunft der merowingischen Bischöfe haterst kürzlich Martin He;~lmann, Bischofsherrschafe in Gallien. Zur Kontinuität römischer Füh-rungsschichten vom 4. bis zum 7.]h. Soziale. prosopographische und bildungsgeschichtlicheAspekte (Beihefte der Francia 5), Zürich-München 1976. untersucht.

    4 So vor allem Heinrich Brunntr. Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 1. 21906 (ND. Darmstadt1961 ). S. 349. Dagegen besonders Alfons Dopscb. Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der eu-ropäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Kar! den Großen, Bd. 2, Wien 21924(ND. Aalen 1961). S. 97 ff.

    S Wemer, Adelsfamilien, konnte noch für die Zeit Karls des Großen zeigen, daß der Add ver-schieden alten Schichten entsprang.

    6 Rolf Sprande/, Grundherrlicher Add. rechtsständische Freiheit und Königszins. Untersuchun-gen über die alemannischen Verhiltnisse in der Karolingerzeit, Deutsches Archiv 19. 1963. S. I ff.,der im Grunde aber nichts weiter nachweist als verschieden vermögende Grundbesitzer.

    7 Vg!. etwa Störmtr. Früher Add S. 23. - Josef Fleckens/ei". Die Entstehung des niederen Adelsund das Rittertum. in: Herrschaft und Stand. Untersuchungen zur Sozialgeschichte: im 13. Jh. (Ver-öffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 51). Göttingen 1977. S. 17 ff.• vertrittdie These. daß es einen niederen Add - im Sinne einer rechtlichen Abstufung - überhaupt erst mit

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    überhaupt mit der soziologischen Qualität des Adels? Bildete der Adel einenStand oder eine Klasse oder gar eine Kaste?8 Schließlich ist es sogar strittig, ob esin frühfränkischer Zeit überhaupt einen ,,Adel" (als Rechtsstand]? oder "nur" eineOberschicht gegeben hat (so jetzt wieder Grahn-Hoek), deren Existenz im Mit-telalter bisher noch niemand angezweifelt hat.'? Zotzll hat nun aber gegenüber

    &rEntstehung des Rittertums - im Sinne einer Abstufung lehnsrechtlicher Art - gegeben habe.V gl. vorher Ulrich Stun., Zum Ursprung und Wesen des niederen Adds (Sitzungsberichte der Preu-ßischen Akademie der Wissenschaften 1937. 27). Berlin 1937.

    • Vgl. die Diskussion in: Problemes de stratification sociale, Acres du Colloques International(1960). hg. Roland Mousnier. Paris 1968: Karl Bosl. Castres. ordres et classes en Allemagne, S.13-29 [erweiterte Fassung unter dem Titel: Kasten. Stände. Klassen im mittelalterlichen Deutsch-land. Zur Problematik soziologischer Begriffe und ihrer Anwendung auf die mittelalterliche Gesell-schaft. Zs. für bayer, Landesgeschichte 32. 1969. S. 477-94). hält diese Termini überhaupt fürunangemessen für die mittelalterlichen Verhältnisse und zieht für eine Übergangszeit allgemeinereBegriffe vor; Leopold Gmicot, Naissance, Fonction et Riebesse dans l'Ordonnance de la Societemc:dievale: Le Cas de la Noblesse du Nord-Ouest du Continent, S. 91 f.• stellt fest. der Adel sei we-der eine Kaste noch ein Stand noch eine Klasse. sondern eine weit komplexere Wirklichkeit in sei-nen religiösen. sozialen und rechtlichen Aspekten; daher könne man sich schlecht andere Fachbe-griffe als die zeitgenössischen vorstellen. Mousnier wandte in der Diskussion ein. daß auf zeitgenös-sische Begriffe wegen der regionalen Vielfalt kein Verlaß sei. '

    9 Schon Georg Wain., Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2,1. Berlin 31882 (ND. Darm-stadt 1953). S. 365 f.• hat den Begriff .,Adel" für das frühere Mittelalter abgelehnt (zugunsten ei-ner "Aristokratie"). Gegen einen Adel als Stand spricht die Tatsache. daß die Adligen rechtlich -zumindest im fränkischen Recht - zunächst wohl den Freien zugezählt wurden. vg!. F/ec/t:mitein.Niederer Adel S. 19 f. (vg!. auch unten Anm. 72). Zu den Schichten in der Lex Silica vg!. RuthSch11lidt-Wiegand. Fränkische und frankolateinische Bezeichnungen für soziale Schichten undGruppen in der Lex Silica, Nachrichten der Akademie der Wiss. Göttingen 1972, S. 217- 58.

    10 So Frantisek Graus. Sozialgeschichtliche Aspekte der Hagiographie der Merowinger- undKarolingerzeit. Die Viten der Heiligen des südalemannischen Raumes und die sogenannten Adels-heiligen. in: Mönchtum. Episkopat und Add zur Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg. ArnoBorst (Vorträge und Forschungen 20). Sigmaringen 1914. S. 160 f.

    11 Thomas Zon., Adel, Oberschicht. Freie. Zur Terminologie der frühmittelalterlichen Sozialge-schichte, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125, 1977. S. 3-20. Zotz warnt davor, ausder Rechtsordnung Aussagen über die soziale Stellung abzuleiten(S. 13). Gegen Grahn-Hoek undfür eine Aufrechterhaltung des Adelsbegriffs jetzt auch Klaus Schreiner. Adel oder Oberschicht? Be-merkungen zur sozialen Schichtung der fränkischen Gesellschaft im 6. Jh., VSWG 68, 1981. S.225- 31. mit dem Hinweis. die rechtlichen Kategorien der Standesbildung seien gar nicht zeirge-mäß; der minelalterliche Adel sei vielmehr durch "Herrschaft über Leute" bestimmt. - Die Frage.ob es überhaupt einen Add gegeben hat, wenn niemand an der Existenz einer Oberschicht zweifelt,zeigt meines Erachtens aur, wie sehr Historiker sich zum Sklaven der "modernen". tatsächlich aberebenfalls historischen Terminologie machen können - das scheint gerade beim Addsbegriff. der janicht einmal von der eigenen Gegenwart her geprägt ist (zur Geschichte des Addsbegriffs vg!. Wer-ner C0n7J. Artikel ..Adel Aristokratie". in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1. 1972, S. 1-48),besonders problematisch - wenngleich nicht abgestritten werden kann, daß auch auf diesem Wegeder indirekten Abgrenzung wichtige Ergebnisse zutage treten (wie zum Beispiel die Tatsache, daßdem merowingischen Adel noch eine rechtliche Qualität als Stand fehlte). Der moderne Adelsbe-griffkann aber allenfalls als Maßstab dienen. um die Qualitäten einer früheren Oberschicht als demeigentlichen Forschungsziel deutlich zu machen; er ist niemals Selbstzweck. sondern ein methodi-sches Hilfsmittel. das zudem nur indirekte Aussagen aus dem Vergleich mit der jeweiligen Vergan-genheit zuläßt.

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    Grahn-Hoek zu Recht eingewandt, daß auch der Begriff "Oberschicht", der be-wußt allgemein gehalten ist, den Sachverhalt keineswegs zu klären vermag, solan-ge er nicht bestimmten Schichtungskriterien entspringt und die Oberschicht vonden unteren Schichten abzugrenzen vcrmag.12

    Die unterschiedlichen Ansichten beruhen nicht zuletzt auf höchst verschiede-nen Adelsdefinitionen. Genicot'? etwa sieht in der Geburt und in der rechtlichenPrivUegierung, Bosl14 im Grundbesitz, Scheyhing15 im HeU das entscheidendeKriterium; Wenskus16 setzt Adel und Führungsschicht gleich. In aller Regel wer-den verschiedene Elemente aufgezählt: Martindale'? nennt Geburt, Macht undReichtum, Genicor'f Geburt und Erblichkeit, Privilegien und Freiheit (Unabhän-gigkeit) als die wichtigsten Kriterien; Bos1'9betont vor allem Besitz und religiösesCharisma-Bewußtsein; nach Schreiner'? bestimmt sich der Adel nach zeitgenössi-scher Meinung durch reichen Grundbesitz, Ausübung von Herrschaft, Ansehenund Königsnähe als die Herrenschicht.

    Die Streitfrage, ob es einen ,,Ader' gegeben hat, mag zum Verständnis des ad-ligen Wesens beitragen, bleibt aber einseitig, solange neben vorgegebenen Adels-definitionen nicht gleichzeitig die Vorstellungen des Mittelalters von seiner eige-nen Gesellschaft erforscht sind, denn erst sie vermögen zu kontrollieren. wieweitdie Gesellschaftsgliederung den Zeitgenossen überhaupt bewußt und damit histo-risch wirksam geworden ist. Irsigler hat daher die anstehenden Fragen vor allemüber den Weg begriffsgeschichtlicher Untersuchungen zu klären versucht und dasBUd. das die zeitgenössischen Quellen von der eigenen Gesellschaft zeichnen.erarbeitet und dabei den meisten Zuspruch erfahren; Grahn-Hoek hat einengrundsätzlich ähnlichen Weg eingesch1agen.21 Gehen die Meinungen auch nochweit auseinander, so haben die Auseinandersetzungen der Forscher doch die Pro-bleme der Adelsforschung bewußtgemacht.

    Der intensive Forschungsstreit über den merowingischen Adel hat nun merk-würdigerweise im Hinblick auf den karolingischen Adel nie eine Parallele gefun-

    12 Vgl. auch Schreiner S. 231. - Über die Schwierigkeiten der Kriterienbestimmung und derenbegrenzte Aussagekraft im Mittelalter vgl. grundsätUich Michael Mitterauer, Probleme der Stratifi-kation in mittelalterlichen Gesellschaftssystemen. in: Theorien in der Praxis des Historikers, hg.Jürgen Kock_a(Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 3), Göttingen 1977, S. 13-43.

    J3 Gmicot, Noblesse S. H.14 Vgl. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte Bd. I, Stuttgart P1970, S. 706 f.IS Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte I, Sp. 42 f.16 Reallexikon der germanischen Altertumskunde I,S. 60.17 Jane Martindale, The French Aristocracy in the early Middle Ages: A Reappraisal, Past and

    Present 75, 1977, S. 45.la Genicot, Naissance S. 84 ff.IP Kar! Bosl, Leitbilder und Wertvorstellungen des Adels von der Merowingerseie bis zur Höhe

    der feudalen Gesellschaft [Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wiss., phil.-hist. Kl. 1974,5), S. 9 ff.

    20 Schreiner, Adel S. 230.21 Zur Rechtfertigung seiner Ergebnisse und zum einseitigen Blickwinkel Grahn-Hoeks vgl. Ir-

    sigler, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 27, 1977, S. 279-84.

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    den22, und eine begriffsorientierte Untersuchung im Stil Irsiglers fehlt für dieseZeit.23 Da die Forschung hier nicht mehr an der Existenz eines Adels oder eineradligen Oberschicht gezweifelt hat, hat sie sich nicht mit der Bestimmung von,,Adel" schlechthin befaßt, sondern die Stellung und Struktur des Adels unter-sucht. Ihr Interesse galt seit Tellenbachs Theorie einer "Reichsaristokratie"24 inerster Linie dieser obersten, "herrschenden" Adelsschicht und ihren führenden Fa-milien, die man vor allem prosopographisch in den adligen Personen selbst sowiein ihren genealogischen Bezügen untersuchte-t und dabei eine ursprünglich fränki-

    22 Vg!. auch Gmicot, Naissance S. 87.23 Nurvon germanistischer Seite gibt es zwei zeitlich übergreifende Begriffsuntersuchungen :

    Friedrich Vogt, Der Bedeutungswandd des Wortes edel (Rede beim Antritt des Rektorats. Mar-burger Akadem, Reden 20,1908), Marburg 1908, und HertaZutt, Adel undedel- Wortund Be-deutung - bis ins 13.Jh., Diss. (ms.) FreiburgIB. 1956. Beide Untersuchungen betrachten dieWortgeschichte und legen den Akzent daher einseitig auf neu auftretende Bedeutungen von ,.Adel"und "edel". Zutt findet in den karolingischen Quellen noch wenig Anhaltspunkte für eine Deutungder Adelsgesinnung, wohl aber für die ständische Bedeutung. Kürzlich suchte Johanna Maria vanWinter, Adel en aristocratie in de Middeleeuwen, Tijdschrift voor geschiedenis 93, 1980, S.357 -77, anband der unterschiedlichen Begriffe verschiedene Adelsgruppen in den mittleren Nie-derlanden zu erweisen.

    24 Gerd Tellmbacb, Vorn karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand. in: Adelund Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, hg. Theodor Mayer, Leipzig 1943, S. 22-73 (ab-gedruckt in: Herrschaft und Staat im Mittelalter S. 191-242); Dm., Königtum und Stämme inder Werdezeit des Deutschen Reiches (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deut-schen Reiches in Mittelalter und Neuzeit Bd. 7, Heft 4), Weimar 1939, S. 41 ff. Zum FreiburgerArbeitskreis vg!. Karl Schmid, in: Zs. für die Geschichte des Oberrheins 122, 1974, S. 331 ff. -Trotz massiver Einwände (vg!. Martin Linl7.!l, in: Deutsche Literatur-Zeitung 1941, Sp, 505 ff.;Dm., Zur Stellung der ostfränkischen Aristokratie beim Sturz Karls Ill. und der Entstehung derStammesherzogtümer, Historische Zs. 166,1942, S. 465 ff., abgedruckt in: Die Entstehung desDeutschen Reiches, hg. Hellmut KJimpf, Wege der Forschung I, Darmstadt 1956, S. 162 ff.;Horst Schul7,_,Die sogenannte Reichsaristokratie im 9. Jh., Diss. (ms.)Jena 1956. WalterSchlesin-ger,Die Auflösung des Karlsreiches, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben Bd. I, Düssel-dorf 1965, S. 839, weist daraufhin, daß die Masse der an den Reichstagen beteiligten "nobiles"gegen die Konstruktion eines "Reichsadels" spricht, und möchte den Begriff durch "Führungs-schicht" ersetzen) hat sich Telleubachs Begriff des Reichsadels, wenngleich modifiziert, durchge-setzt; dagegen hat man es aufgegeben, den Reichsadel im einzelnen namhaft zu machen; man weißinzwischen, daß die politisch bedeutenden Adelsfamilien sich von König zu König gewandelt haben(vg!. Kar! Schmid, Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, Jahrbuch für fränk. Landes-forschung 19, 1959, S. 21 f.).

    2' Vg!. Gerd Tellmbach (Hg.), Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischenund frühdeutschen Adels (Forschungen zur oberrhein, Landesgeschichte 4), Freiburg/B. 1957;Eduard Hlawitschlca, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774-962).Zum Verständnis der fränkischen Königsherrschaft in Italien (Forschungen zur oberrhein. Landes-geschichte 8), FreiburgIB. 1960; Irmgard Dimemann-Dietrich, Der fränkische Adel in Aleman-nien im 8. Jh., in: Grundfragen der alemannischen Geschichte (Vorträge und Forschungen 1), Sig-maringen 1955 (ND. Darrnstadt 1970), S. 149-92; Michael Mitterauer, Karolingische Markgra-fen im Südosten. Fränkische Reichsaristokratie und bayerisoher Stammesadel im österreichischenRaum, Archiv für österr. Geschichte 123, 1963; Werner, Adelsfarnilien; Eduard Hlawitscblca,DieAnfänge des Hauses Habsburg-Lothringen. Genealogische Untersuchungen zur Geschichte Lo-thringens und des Reiches im 9., 10. und 11. Jh. (Veroff. der Kommission für saarländ. Landesge-

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    sehe Herkunft. aber auch eine zunehmende Verschmelzung mit dem jeweiligenStammesadel feststellte. so daß sich weitreichende und weiträumige Bindungender einzelnen Zweige der Adelsfamilien beobachten ließen. Vom genealogisch-prosopographischen und besitzgeschichtlichen Aspekt her erforschte man dieStruktur einzelner Adelsgruppen oder die Gesellschaftsstruktur einzelner Land-schaften.26 Telleubachs Schüler. vor allem Karl Schmid, wandten ihrAugenmerk.ausgehend von der Entdeckung der Gedenkbucheinträge als einer neuen Quellezur Adelsgeschichte und Genealogic, der typischen Sippenstruktur des frühmit-telalterlichen Adels ZU27 und gewannen auf diesem Wege wichtige Erkenntnisseüber die Adelsstruktur wie über das Selbstverständnis des Adels. 28

    schichte und Volksforschung 4). Saarbrücken 1969; Reinhard Wms~us. Sächsischer Stammesadelund fränkischer Reichsadel (Abhandlungen der Akademie der WISS. Göttingen, phil.-hist. Kl.3,93), Göttingen 1976; Alfred Friese. Studien zur Hernchahsgeschichte des fränkischen Adels.Der mainländisch-thüringische Raum vom 7. bis 11. Jh. (Geschichte und Gesellschaft. BochumerHistorische Studien 18), Stuttgatt 1979. - Einen kritischen Überblick über die neueren Forschun-gen bietet Hans K. Schul7J. Reichsaristokratie. Stammesadel und Fränkische Freiheit. HistorischeZeitschrift 227. 1978. S. 353-73.

    26 Vg!. neben zahlreichen Arbeiten zu einzelnen Familien etwa Kar! SchmiJ, Königtum, Addund Klöster zwischen Bodensee und Schwarzwald (8.-12. Jh.), in: Studien und Vorarbeiten zurGeschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels. hg. Gerd Tellmbach (Forschungen zuroberrhein. Landesgeschichte 4), FreiburgIB. 1957, S. 225 - 334; Hans-Mattin Schwa'\,maier. Kö-nigtum. Add und Klöster im Gebiet zwischen Iller und Lech (Veroff. der Schwäbischen For-schungsgemeinschaft bei der Kommission für bayer. Landesgeschichte. Reihe 1: Studien zur Ge-schichte des bayer. Schwabens 7). Augsburg 1961; Joachim Fischer. Königtum, Adel und Kircheim Königreich Italien (774-875). Diss. Tübingen 1965. S. 7 ff.; HdmutMaurer. Das Land zwi-schen Schwanwald und Randen im frühen und hohen Mittelalter, Königtum. Add und Klöster alspolitisch wirksame Kräfte (Forschungen zur oberrhein, Landesgeschichte 16), Freiburg/B. 1965.S. 54 ff.; Karl Bosl, Franken um 800. Strukturanalyse einer fränkischen Königsprovinz, München21969. S. 63 ff.; Wilhelm StÖNner.Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Stu-dien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 4), München 1972; Franz Staab. Untersu-chungen zur Gesellschah am Mittelrhein in da Karolingerzeit (Geschichtliche Landeskunde 11).Wiesbaden 1975. bes, S. 380 ff.

    27 Grundlegend Kar! SchmiJ, Zur Problematik von Familie. Sippe und Geschlecht. Haus undDynastie beim mittelalterlichen Adel, Zs. für die Geschichte des Oberrheins 105. 1957. S. 1-62;Ders .• Über die Struktur S. 1-23; Dert •• Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußt-sein in frühmitteWterlichen Gedenkbucheinträgen, Deutsches Archiv 21. 1965. S. 18-81; Ders. ••Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im frühen Mittelalter. FrühmitteWterliche Stu-dien 1. 1967. S. 225 -49. Vgl. auch Joachim Wollasch, Eine adlige Familie des frühen Mittelalters.Ihr Selbstverständnis und ihre Wirklichkeit. Archiv für Kulturgeschichte 39. 1957. S. 150-8 8. _K. Leys«, The German Aristocracy from the ninth to the early twelfth century, Past and Present 41,1968. S. 36, wendet ein. daß die in Gedenkbüchern sichtbare Adelsstruktur nur einen Aspekt desAdels ausmacht.

    2' Das Standesethos des Adels in nachkarolingischer Zeit hat Hatto Kallftl7" Das Standesethosdes Adels im 1O.und 11. Jh.•Diss. WÜr7.burg 1960. untersucht. Zum Wandel des Selbstverständ-nisses im Laufe des Mittelalters vgl. Bosl. Leitbilder; zum Verständnis vom Add in da Geschichts-schreibung vgl, Ulrich Hoffmann. König. Add und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Hi-storiker des 9. bis 11. Jh.•Diss. FreiburgIB. 1968. da aber den Add nur inseinem VerhältniszumKönig. in seiner Teilhabe an da Herrschaft, untersucht.

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    Unter Hinzuziehung des reichhaltigen Materials an bayerischen Traditionsno-tizen ist Störmer unter Berücksichtigung aller Aspekte inzwischen zu ersten zu-sammenfassenden Ergebnissen gelangt:29 Als Kennzeichen des Adels erscheinenhier neben einem typisch adligen Selbstverständnis, das vor allem in der Namen-gebung, in standesgemäßen Heiraten und im Handgemal (dem am Stammsitz haf-tenden Rechtssymbol der adligen Familie) sichtbar wird (S. 29 ff.), der Grundbe-sitz (S. lIS ff.)30,das adelig-kriegerische Leben (S. 156 ff./462 ff.), die Teilhabean der königlichen Herrschaft (S. 253 ff.), die Besetzung von hohen Ämtern inKirche (S. 312 ff.) und Reich (S. 382 ff.) sowie die Herrschaftsrechte über eigene(S. 357 ff.) und, auf dem Weg über die Vogtei, allmählich auch über fremde Kir-chen (S. 424 ff.).

    Alle diese Merkmale sind zweifellos charakteristisch für die fränkische Ober-schicht, doch muß noch dahingestellt bleiben, inwieweit sie tatsächlich den,,Adel" erst bestimmen und sich als Abgrenzungskriterien zu anderen Schichteneignen. Besitz zum Beispiel war kaum auf den Adel beschränkt (wo aber lag dieGrenze in den Größenverhältnissen?), und das Monopol des Adels auf denKriegsdienst bildete sich erst allmählich aus und war zur Zeit Karls des Großennoch keineswegs verwirkliche", und auch ein Vorrecht des Adels auf Urkunden-testate32 galt kaum grundsätzlich. Die in sich verdienstvollen Forschungen haben .den Adel der Amtsträger oder der Namensgeber bei patronymischen Ortsnamennicht erst bewiesen, sondern stets vorausgesetzt, daß dieser "Adel" als politischeFührungsschicht33 mit dem ,,Adel" als soziale Oberschicht identisch war34 und ei-

    29 S/örmer, Früher Adel (oben Anm. 2).30 Bosl, in: Gebhardt Bd. I. S. 706 f.• hält an der sprachlichen Ableitung des •.Adels" von

    "odal". dem freien Erbgut. fest. Schon Otto Behaghel, Odal (Sitzungsberichte der Bayer. Akademieder Wiss .• phil.-hist. Kl. 1935.8). München 1935. hat aber gezeigt, daß sprachlich nirgends einBezug zwischen ..odal" und ..adal" erkennbar ist und die Grundbedeutung des Begriffs außerdemin ..Land, Heimat". nicht aber in "Stammgut. Grundbesitz" zu suchen ist.

    31 Vg!. Wail\, Verfassungsgeschichte Bd. 4. Berlin 21855 (Nd. Darmstadt 1955). S. 532 ff.;Bd. 8. Kiel 1878 (ND. Darmstadt 1955). S. 124 ff.; John Baler, Warfare in Feudal Europe730-1200. Ithaca-London 1971. S. 9 ff.

    31 So S/örmer S. 16.33 In diesem Zusammenhang zeigt jetzt Regine Hennebique. Structures familiales et politiques au

    IX' siecle: en groupe familiale du l'aristocratie franque, Revue historique 538. 1981. S. 289-333.an einem Beispiel den Einfluß der adligen Familienstruktur auf die politische Entwicklung auf. DieVerbindung mit dem Adel als Gesellschaftsschicht wurde dabei durch die familiären Bande ge-wahrt.

    34 Auch van Houtte betrachtet im Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschich-te Bd. 2. Stuttgart 1980. S. 98 ff.• die Aristokratie ganz vom politischen Aspekt. der Königsvasalli-tät, her (neben ihrer Grundlage der Grundhemchaft). Es ist bezeichnend. in wie vielen Untersu-chungen von •.Adelshemchaft" die Rede ist. obwohl es sich vornehmlich um geneslogische und be-sitzgeschichtliche Untersuchungen, allenfalls unter Berücksichtigung der Ämter, handelt (vg!. etwaSeverin Corstm, Rheinische Adelshcrrschaft im ersten Jalmausend. Rhein. Viertdjahresblätter 28,1963. S. 84-130 .• Wolf gang Me1\, Austrasische Addshemchaft des 8. Jh. MittelrheinischeGrundherren in Ostfranken. Thüringen und Hessen. Histor. Jahrbuch 87. 1967, S. 257-304):.,Adel" und "Hemchaft", .,Adel" und politische Führung werden von vornherein gleichgesetzt.

  • 160 Hans W~m~r Goees

    nen Stand badete35, ohne die jeweiligen Schichtungskriterien und deren Abgren-zung voneinander zu bestimmen36; die Frage nach dem Inhalt von ,,Adel" - ein-schließlich der Zweifel an seiner Existenz, jener Alternative ,,Adel" oder "Ober-schicht"? - wurde hinsichtlich der Karolingerzeit überhaupt vernachlässigt.l? Ha-ben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber der Merowingerzeit auchzweifellos konsolidiert, so muß man doch auch weiterhin über die Adelsstrukturhinaus das Wesen des Adels zu bestimmen suchen und, wie Zorz fordert, dieSchichtungskriterien herausarbeiten, die einen Adel schaffen und erkennen lassen,wieweit ,,Adel" als politische Führungsschicht und soziale Oberschicht überein-stimmen. Es ist also noch zu prüfen, ob eine solche Gleichsetzung berechtigt ist.Dieses Versäumnis der Ade1sforschung soll hier ansatzweise nachgeholt werden.Man wird also zunächst fragen müssen, ob es in karolingischer Zeit überhaupt ei-nen ,,Adel" bzw. eine "Oberschicht" gegeben hat, inwiefern sodann ,,Adel" und"Oberschicht" identisch waren38 und was schließlich diesen Ader ausmachte bzw.was ihn zur Oberschicht machte.

    Der Lösung einer solchen Aufgabe von den tatsächlichen Verhältnissen hersteht zunächst die Quellenlage entgegen, die jeweils nur einen Aspekt erkennenläßt und daher nur partielle Antworten erlaubt: Die Verbrüderungsbücher gebenAufschluß über familiäre Bindungen, die Traditionsnotizen führen uns die Grund-besitzerschicht im Reich vor, Urkunden und Chroniken berücksichtigen in derRegel nur den Reichsadel mit seinen Rechten und politischen Handlungen; ledig-lich in der Hagiographie werden gelegentlich vereinzelte, aspektübergreifendeEinblicke möglich39, doch legen die Verfasser, die völlig andere Intentionen ha-

    Bereits Dungtrn (S. 25 ff.) harte aber gezeigt, daß Amt und Titel vor dem 12. Jh. noch nicht ent-scheidend für das Adelsverständnis waren.

    35 Den Adel als Rechtsstand betrachtet Störmer S. 23 ff.36 Wenn SchmiJ. Übcrdie Struktur S. 21 f.• etwa feststellt. daß bei der Schaffung immer neuen

    Adels um den König die Kontinuität des Adds gesichen war. so bezieht sich das lediglich auf dieoberste Führungsschicht. Für Stö,."ttr S. 19 ist ,.nobilis" der allgemeine Oberbegriff rur die politi-sche und soziale Oberschicht; auch er nimmt hier keine genaueren Abgrenzungen vor.

    37 C01l7! •• .Add. Aristokratie" S. 11 ff.•streift das Mittelalter nur bc:iläufig; Bosl. Leitbilder. be-handelt einen größer~n Zeitraum im kurzen Üb~rblick und fragt weniger nach dem Verständnisv0m Add als nach dem Selbsrverständnls des Adels, wenn sich hier auch manche Berührungspunk-te ergeben. Leysers Belege stammen fast durchweg aus der nachkarolingischen Zeit. InteressanteAspekte enthalten die Aufsätze von Mareiodale und Zotz.

    38 Die neueren Sozialgeschichten unterscheiden Iieberzwischen "Herren" und "Knechten" (vg!.etwa Georges Duby. Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Winschaft und Gesellschafe imfrühen Mittelalter, Frankfun 1977. fram.. Originalausgabe: London 1973) bzw. :r.wischen einerHerren- und einer Unterschicht (Bosl) oder einfach einer Ober- und Unterschicht (so e:twa ErnstPil7" Wirtschafts- und Sozialgeschichte: Deutschlands imMittelalter. Wiesbade:n 1979. S. 37). Zurentsprechenden zeitgenössischen Schichtung in Fürstenspiegeln vg!. bereits Bernhard Langer. Die:Lehre von den Ständen im frühen Mirtelalter, Diss. (ms.) Wmburg 1953. S. 131.

    39 Zur sozialgeschichtlichen Auswatung der Hagiographie: vgl, vor allem Frantise:k Graus.Volk. Herrscher und Heiliger im Reich da Merowinger. Studienzur Hagiographie der Merowin-g~r:r.cit.Prag 1965; Den.• Sozialgeschichtliche Aspekte; Frie:drich Pri"" H~iligenkult und Ad~ls-

  • "Nobilis". Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit 161

    ben, hier auch andere Kriterien an. Es empfiehlt sich daher, bei unserer Fragestel-lung zunächst von einer Untersuchung des zeitgenössischen Selbstverständnissesauszugehen. um eine zeitgerechte Grundlage für eine Beurteilung eventuellerSchichtungskriterien zu gewinnen.t? Der lohnendste Einstieg gelingt hier von derBegriffsgeschichte her, die inzwischen als eine Teildisziplin der Geschichtswissen-schaft anerkannt ist und gerade auch sozialgeschichtliche Fragestellungen ver-folgr" und deren Bedeutung, auch und gerade in den der Gegenwart fernerenZeiten wie dem Mittelalter. an zahlreichen Beispielen belegt ist.42 Sie gestattet aufdem Weg über die Quellensprache Einblicke in die Vorstellungen der Menschen,läßt die Schichtungskriterien und damit das Wesen des Adels also im Selbstver-ständnis der Zeitgenossen erkennerr'! und bietet zugleich eine auf die Quellen ge-stützte Kontrolle moderner Theorien über die mittelalterliche Gesellschaft. Wieimmer die Gesellschaft der damaligen Zeit aufgebaut war, entscheidend für diegeschichtliche Wirkung war doch. wie die Menschen früherer Zeiten ihre eigeneGesellschaft gesehen. wie sie sich den Adel vorgestellt. was sie überhaupt unter,,Adel" verstanden haben.

    Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung setzt das Vorhandensein geeigneterTermini für den Adel in der Quellensprache voraus. Das lateinisch schreibendeMittelalter kannte verschiedene Ausdrücke für die oberen Gesellschaftsschichten- wir hören etwa von "proceres'" "primores", "primates", "optimates". "princi-pes" oder "maiores natu" - es hat den Adligen bekanntlich vor allem aber als "no-

    herrschaft im Spiegel merowingischer Hagiographie, Historische Zeitschrift 204. 1967. S.529-44. Martin He;n7!lma7l7l. Neue Aspekte der biographischen und hagiographischen Literaturin der lateinischen Welt (1.-6. Jh.). Francia 1.1973. S. 27-44. vertritt die These. daß die Hagio-graphie neben ihrem kultischen auch einen literarischen Zweck verfolgt. nämlich die Ehrung der(kirchlich~n) Amtsträg~r.

    40 In der Diskussion des Genicot- Vortrags auf dem Internationalen Kolloquium von 1960 hat-te Bosl bereits eine Untersuchung des Selbstverständnisses der Zeit gefordere,

    41 Vg!. Reinhart Koselleclr.. Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1. Stuttgart 1972.S. XIX-XXIV; H. G. Meier. Artikel "Begriffsgeschichte" in: Historisches Wörterbuch der Philo-sophie Bd. 1. 1971 Sp, 788-808 (vom philosophischen Standpunkt aus); vor allem auch die Vor-tragssammlung: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. hg. Reinharr Koselleclr. [Sprache undGeschichte 1). Stuttgart 1979. darin besonders KOJelltC~. Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte.S. 19-36 (auch in: Den .• Vergangen~ Zukunft. Zur Sematik g~schichtlicher Zeiten. Frankfurt1979. S. 107-29). Koselleck legt dar. daß die Begriffsgeschicht~ sdbstzwar der "klassischen" hi-storisch-kritischen Methode folgt. aber als eigene Disziplin die Sozialgeschichte unterstützt und fUrdiese unabdingbar ist. weil sie den Zusammenhang zwischen Begriff und Wirklichkeit reflektiert,(Kritisch zu den Methoden Heiner Scb"l-z" B~griffsgeschichte und Argumemationsgeschichte, in:Historische Semantik und Begriffsgeschichte S. 43-74.) - Darüber hinaus aber spiegelt die Be-griffsgeschichte. die im übrigen keineswegs auf das Feld der Sozialgeschichte beschränkt ist. auchdie Vorstellungen der Menschen vergangener Zeiten wider; sie ist daher nicht nur diachron. son-dern auch synchron anzuwenden.

    41 Einen Forschungsüberblick gibt Hans K. Scb"I7.,!. Mediävistik und Begriffsgeschichte. in:Festschrift Helmut Beumann, Sigmaringen 1977. S. 388-405.

    43 Sie deckt daher mehr ab als das immer wieder angesprochene. wichtige Sdbstverständnis desAdds. nämlich die weiter verbreitete Vorstellung 110111 Adel.

  • 162 Hans Wemer Goetz

    bilis" bezeichnet."" Eine Untersuchung dieses Begriffs in karolingerzeitlichenQuellen bietet sich daher als Ausgangspunkt an, um die Assoziationen aufzudek-ken, die die Zeitgenossen mit dem Adel verbanden und die folglich die Vorstel-lung vom Gesellschaftsaufbau bestimmten, doch ist dabei dreierlei zu beachten:(a) Der Begriff eignet sich für eine sozialgeschichtliche Fragestellung erst dann,wenn zuvor seine soziale Bedeutung und seine Fähigkeit, die karolingische Gesell-schaft in Schichten einzuteilen, gesichert ist.(b) "Nobilis" trägt mehrere, keineswegs auf eine soziale Qualität beschränkte Be-deutungent"; die soziale Komponente ist also im Einzelfall jeweils erst zu erwei-sen, zugleich sind die Assoziationen zu den anderen Bedeutungsfeldern zu berück-sichtigen.(c) Die Bedeutung ergibt sich schließlich nicht aus dem Begriff selbst und wird so-gar gerade dadurch unsicher, daß diese lateinischen Begriffe einerseits häufig imRückgriff auf antike Autoren verwandt werden - es ist also zu prüfen, ob die anti-ke oder eine "moderne" Bedeutung zutrifft - und daß sie andererseits, wie seitlangem bekannt ist, nur Übersetzungen für volkssprachliche Termini bilden.46Auch zeitgenössische Definitionen fehlen, wenn man einmal von den Glossen ab-sieht.47 Historische Erkenntnisse ergeben sich folglich erst aus dem Umfeld derBegriffe; man wird deren Bedeutung daher vor allem aus dem Kontext zeitgenös-sischer Quellen erarbeiten müssen.

    Bevor ich zu einer systematischen Auswertung der wichtigsten Quellen kom-me, möchte ich exemplarisch ein bereits typisches Beispiel einer solchen Auswer-tung aus einer Anekdote der "Gesta Karoli Magni imperatoris" des St. GallerMönchs Notker Balbulus voranstellen (die Anekdote versteht sich als "Spiegel",den Notker mit ethischen Motiven seiner eigenen Gesellschaft vorhält):48 Ein

    .. Auch Flec/censte;n, Niederer Adel S. 18, bezeichnet ,,nobilis" als Leitwort der Addsforschung.4' Vg!. ZoI'tS. 10. '46 Darüber grundsät7lich Philipp Hede. Übersenungsprobleme im frühen Mittelalter, Tübingen

    1931, ~d Orto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsge-schichte Österreichs im Mittelalter, Wien-Wiesbaden 41959. S. 163 f. und 440. der eine quellen-gemäße Terminologie fordert, um moderne Mißverständnisse zu vermeiden. Vom Problem desMittellatein her vgl. Walter Stach. Wort und Bedeutung im mittelalterlichen Latein. Deutsches Ar·chiv 9. 1952. S. 332- 52; vom Rechtsverständnis her vg!. Hans Hattenhauer. Zum Übersetzungs-problem im hohen Mittelalter. Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 81.1964. S. 341-58. der hinter den Begriffen ..zwei verschiedene Welten" erblickt.

    41 Die Menschen selbst sahen wohl auch keine Veranlassung. hier Klarheit zu schaffen. weil dieBegriffe gar nicht umstritten waren. Auch in Bibelkommentaren wurde der biblische "nobilis"-Be-griff durchweg kommentarlos hingenommen: Er bedurfte keiner Erklärung. - Isidor lion Sevilla.Etymologiae sive Origines Kap. 10,184 [ed. W. M. Lindsay, Oxford 1911. ND. 1962). hatte de-finiert: Nobilis, non vilis, cuius et nomen et genus scitur. - Vg!. dazu Bosl, Leitbilder S. 12.

    41 Zu Notker vg!. Theodor Siegrist. Herrscherbild und WeItsicht bei Notker Balbulus. Untersu-chungen zu den Gesta Karoli (Geist und Werk der Zeiten 8). Zürich 1963; Heim Löwt. Das Karls-buch Notkers von St. Gallen und sein zeitgeschichtlicher Hintergrund. Schweizerische Zs. für Ge-schichte 20, 1970. S. 269-302 (besonders S. 277 ff.); Hans-Werner Gotn" Strukturen der spät-

  • "Nobilis". Der Add im Selbstverständnis der Karolingerzeit 163

    Klosterlehrer, der Ire Clemens, hatte pueros nobilissimos mediocres et infimos inseiner Schule aufgenommen49; bei einem Besuch der Klosterschule stellte Karl derGroße fest, daß es hier zwei Gruppen von Schülern, die Fleißigen und die Faulen,gab, die jener ständischen Gliederung entsprachen: Die mediocres et infimi brach-ten - wider Erwarten (praeter spem)l- gute Leistungen, die nobiles dagegen tru-gen ihre Gedichte und Briefe halbherzig und albern vor.so Karl fällte entsprechen-de Urteile. Bezeichnend ist nun die Anrede des Kaisers: ,Vos nobiles, vos prima-rum filii, vos delicati et formosuli, in natales vestros et possessionem confisi.' Indiesen Worten zeichnet sich ein vorgeprägtes Adelsbild ab, das N otker voraus-setzt, dem die Schüler aber nicht genügten:(1) Die nobiles hoben sich von sozial niedrigeren Gruppen ab: "Nobiles" warendie Söhne der Großen (filii primorum), der - wohl politischen - Oberschicht. IhrAdel war angeboren, beruhte also auf der Abstammung (natales).(2) Eine zweite Grundlage bildete der Besil7,. (possessio): Adlige Geburt und(Grund-)Besitz gehörten in Notkers Sicht offenbar zusammen.(3) Diese beiden Grundlagen brachten gewisse ständische Vorrechte mit sich, dadie Schüler glaubten, sich auf Stand und Besitz verlassen zu können (confisi). Sieverbürgten außerdem eine gewisse Lebensqualität: Karl nannte die adligen Schüler"elegant und hübsch" (delicati et formosuli)'l; dem entsprach ihre schöne äußereAufmachung und Kleidung, wenn der Kaiser ihnen entgegenhalten konnte, er ma-che sich nichts aus ihrer nobilitas und pulchritudo: Der Adel war also an seiner äu-ßeren Erscheinung erkennbar.(4) Schließlich aber verpflichtete Adel- und darin liegt der Aussagegehalt derAnekdote - auch zu Leistung: Nicht von den anderen, sondern von den adligenSchülern hätte man die guten Gedichte erwartet.

    Das in N otkers Erzählung gespiegelte Adelsbild wird von anderen Quellen be-stätigt und ergänzt. Die Grundzüge dieser Vorstellungen der Zeitgenossen sollenim folgenden unter Berücksichtigung der obigen Fragen, bereits nach Aussagein-halten geordnet, zusammengestellt werden: Wir werden zunächst nach der Adels-qualität des nobilis-Begriffs fragen müssen (A), dann die Stellung des Adels in derGesellschaft untersuchen (B) und schließlich die Kennzeichen seiner sozialen Qua-lität bestimmen (C), um auf diese Weise die Frage nach dem Inhalt und Wesendes Adels in der Sicht der Quellen zu beantworten.

    A. Um eine sozialgeschichtliche Untersuchung anhand des nobilis-Begriffsüberhaupt rechtfertigen zu können, muß zunächst gezeigt werden, daß dieser Ter-minus den Zeitgenossen grundsätzlich als Schichtungsbegriff diente, also soziale

    ~lingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpre-tation der "Gesta Karoli" Notkees von Sankt Gallen. Bonn 1981. zur Anekdote ebda, S. ~8.

    49 Nolleer. Gesta Karoli Magni imperatoris Kap. l.l (ed. Hans F. Haefil,. MG SSrG n.s. 12,München 1959. ND. 1980. S. 2.15 ff.).

    50 Ebda. Kap. 1.~ (S. 4.1 ff.).51 Die Wone sind hier vielleicht pejorativ verstanden, Rau (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnis-

    ausgabe Bd. 7, S. 325.33) übersetzt: "verzogen und verzärtelt".

  • 164 Hans Wttner Goers

    Implikationen enthielt. Das ist nicht selbstverständlich, da nobilis in seiner lateini-schen Grundbedeutung nicht "adlig", sondern "bekannt" (von noscere], daherauch "berühmt", meinte52 und für hervorragende Personen verwendet wurde; inGlossen hat man diese ursprüngliche Bedeutung noch vielfach weitertradierrü,und auch in der Bibel, die den Sprachgebrauch des christlichen Mittelalters ammeisten beeinflußt hat, diente nobilis(simus) oft zur Hervorhebung+' Danebenaber wurde nobilis schon früh auch als sozialer Begriff und bereits in der entwik-kelten römischen Republik als Standesbezeichnung für die politische Oberschicht,die Führungsschicht innerhalb des Senats (Meier), verwendet, die die höchstenBeamten stellte, zunächst für die kurulischen Magistrate, später nur noch die Kon-suln (seit ea, 200 v. Chr.)." Von hier war der Weg zur Bezeichnung einer breite-ren aristokratischen Schicht geebnet und die Verwendung in diesem Sinn schon inder römischen Kaiserzeit üblich56; und auch in der Bibel, wo von nobilitas zwarnur einmal", von nobiles aber häufig die Rede ist, erfahren wir entsprechend Vonden sapientes et nobiles Israels, die Gott zu Fürsten, Tribunen und Zenturionengemacht hat (Deut. 1,15), werden nobiles und ignobiles gegenübergestellt (Hiob14,21; Isa. 3,5; 1. Kor. 4,10), nobiles mit reges (Ps. 149,8), principes (Isa.34,12; Ezech. 22,5)und potenteseines Volkes (1. Kor. 1,26)58 zusammen aufge-

    51 Vg!. Oxford Latin Dictionary (OLD) Fase. 5, 1976, S. 1182.53 Nobilis wird zum Beispiel durch praeclara vel praedarus (Glossae Vergilianae, Corpus glos-

    sariorwn latinorwn Bd. 4, hg. Gcorg GOtn., Leipzig 1889, ND. Amsterdam 1965, S. 454) odermemorabile (ebda.), nota (Glossaria Amploniana 11, ebda, Bd. 5, Leipzig 1894, ND. Amsterdam1965, S. 314), omnibus notus et darus (Glossae I vvenalianae, ebda, S. 656), honestum vel praeda-rwn (Glossarium Ansileubi, Glossaria latina Bd. I. hg. W. M. Lint/say u. a .• Paris 1926. ND. Hil-desheim 1965. S. 393) oder notus [Festus, ebda, Bd. 4, S. 291) wiedergegeben. - Zur historischenAuswertung der Glossen vg!. vor allem Walter Schlesingtr.Die Entstehung der Landesherrschaft.Untersuchungen vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen. Dresden 1941 (ND. Darmstadt1969). S. 9 ff.; zur Anwendung auch Dm.•Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-dem,sehen Verfassungsgeschichte. Historische Zeitschrift 176. 1953. S. 225 ff. (abgedruckt in: Herr •.schaft und Staat im Mittelalter S. 135 ff.).

    54 Nobilissimus princeps (Num. 1,16; vg!. 2. Reg, 23.19; 1. Makk, 7,26) nobilis rex [Eccle,10,17; vg!. 1. Makk. 1.7; 10.1); vir nobilis etwa fUr den vir Dei Samuel (1. Reg, 9,6; vgl. Provo31.23; l.Makk. 3,32; Marc. 15.43; Act. 17.4; Rom. 16,7).

    " OLD 5. S. 1182 f. Der Begriff war nicht identisch mit ..patrizisch"] Patrizier und Plebejerbildeten im 4. oder 3. vorchristlichen Jahrhunden einen neuen .,Adel" (nobilcs). Zur Geschichte desBegriffs vgl, Christian Meitr. Artikel •.Adel. Aristokratie". in: Geschichtliche: Grundbegriffe Bd. I.1972. S. 8 ff.

    56 Vgl, dazu H. Hill. Nobilitasin the Imperial Period, Historia 18, 1969. S. 230-50. Zum Be.zug des nobilis-Begriffs zur Abstammung in römischer Vorstellung vg!. Gerhard Möbus. Nobilitas.Wesen und Wandlung der führenden Schicht Roms im Spiegel einer Wonprägung. Neue Jahrbü-cher für Antike und deutsche Bildung 5. 1942. S. 275-92.

    57 2. Makk. 6,23. Nach Herbat Gnl1lamann, Über die Welt des Mittelalters. in: Summa Hi.storica (Propyläen- W eltgeschichte 11). Frankfun- Berlin- Wien 1965 (ND. 1976). S. 40 I. istnobilitas hier keine Standesbeaeichnung, doch ist immerhin von ingenita nobilitas - als Vorzug ne.ben dem Alter und guten Lebenswandel - die Rede!

    58 Zur Auslegung von l. Kor. 1.26 ff. vgl. Klaus Sehnintr. Zur biblischen Legitimation desAdels. Auslegungsgeschichtliche Studien zu l.Kor. 1.26-29. Zs. fUr Kirchengeschichte 85. 1974.

  • ..Nobilis". Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit 165

    zählt und im Volk von der multitudo abgehoben (Isa. 5,1 3).59 Dieser Sprachge-brauch floß in das Mittelalter ein, so daß nobilis zumindest unter anderem eine so-ziale Stellung anzeigen konnte:

    (1) N obilis diente der so-rjalen Kenn7,!ichnung.Auch das bestätigt sich in den Glossen, in denen Iiobilis vom genus abhängig

    gemacht wurde.60 Es bleibt aber noch zu untersuchen, inwieweit der Terminus alsSchichtungsbegriff verwendet wurde und von welchen anderen Schichten sich dienobiles abhoben.

    Daß man in karolingischer Zeit in der eigenen Gesellschaft durchaus mehrereSchichten unterschieden hat, beweist schon jene recht unbestimmte Einteilung derKlosterschwer in nobiles (bzw. nobilissimi) mediocres et infimi in der vorange-stellten Anekdote Notkers von St. Gallen'", in der die nobiles die Spitze der "Klo-stergesellschaft" bilden. In den Quellen begegnen wir - abgesehen von der Stan-deseinteilung in Klerus und Laien62 - vor allem aber einer Zweiteilung der Gesell-schaft in eine Unterschicht, die ignobiles, in der man - von verschiedenen Aspek-ten her - plebs oder vulgus, pauperes und servi zusammenfaßte, und in eine davonabgehobene Oberschicht, die man häufig als nobiles bezeichnete.s! Wir stellen da-her weiter fest:(2) Die nobiles der 1Vzrolinger7,!it bildeten eine obere Gesellschaftsschicht.

    Nobiles und Oberschicht schienen den Zeitgenossen grundsätzlich durchausidentisch; die adlige Oberschicht wirkte dabei zunächst weit homogener als "dieanderen"64, die verschiedenen Unterschichten. Die Scheidung von Adligen undNichtadligen aber galt als eine so grundlegende Gliederung der Gesellschaft inzwei verschiedene Lebenskreise. daß man ein Zusammenwirken zu Ehren eines

    S. 317- 57, der zeigt, daß die mittelalterlichen Exegeten der Stelle die adelsfeindliche Tendenz neh-men und damit die Adelsherrschaft legitimieren wollten.

    39 Über nobiles eines Volkes vg!. ferner Jer. 39,6 (juda): Ezech. 26,11 ;Act. 17,11. Der nobiliseines Gleichnisses [esu hatte zehn Knechte und wollte König werden (Le. 19,12 f.)1

    60 N obilis wird etwa durch genere darus vel opere (Glossae Abavus, Corpus glossariorurn Lati-norum Bd. 4, hg. Georg Goen,. Leipzig 1889, NO. Amsterdam 1965, S. 369; Glossae Mfatim,ebda. S. 542; AA-Glossar, Glossaria latina, hg. W. M. Lindsay u. a., Bd. 5, Paris 1931, NO. Hil-deshcim 1965, S. 301), durch bono genere oder darae vd optimae (genere) (Glossarium Ansileubi,ebda. Bd. 1,1926, NO. 1965, S. 393) oder e bono genere(Abolita-Glossar, ebda. Bd. 3, S. 150)wiedergegeben.

    61 Not*er, Gesta Karoli Kap. 1,1 (S. 2,17 f.); 1,3 (S. 4,4 ff.).62 Vg!. dazu Georges Duby, Les trois ordres ou l'imaginaire du feodalisme, Paris 1978, S.

    99 ff.; Langer S. 15 ff.U Vg!. dazu Hans-Werner Goen,. "Unterschichten" im Gesellschaftsbild karolingischer Ge-

    schichtsschreiber und Hagiographen, in: Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unter-schichtenforschung (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Hist. Studien 24), Stuttgart 1981, S.112 ff. und 126 (dort auch weitere Belege).

    64 Nach den Normanneneinfällen lagen die Toten auf den Plätzen herum: Cadavers clericorum,laicorurn nobilium atque aliorurn, mulierurn, iuvenum et lactentiurn (Ann. Vedastini a. 884, ed. B.von Simson, MG SSrG, Hannover 1909, S. 54,26 ff.).

  • 166 Hans Waner G~tz

    Heiligen als außergewöhnlich herausstellte6', und vielfach wurde ignobilis, dasNicht-Adlig-Sein, zum Kennzeichen der Unterschicht.66

    In einem bekannten (volks-)rechtlich orientierten Gliederungsschema wurdenweiterhin (in Sachsen) nobiles, liberi, liberti und servi unterschieden'", und Nit-hard68 sowie (danach) die Vita Lebuini'" berichten von drei ordines (Ständen) derSachsen. die latina lingua nobiles, ingenuiles atque serviles. illorum lingua aber ed-hilingi, frilingi, lazzi genannt würden und jeweils einen Teil (pars) des Stammesbildeten." Die nobiles wurden im zeitgenössischen Verständnis also auch vomrechtsgeschichtlichen Aspekt her als eine ..Oberschicht" empfunden. die sich überdie Preien", Halbfreien und Unfreien oder über andere, nichtadlige Schichten er-

    65 Vgl, Translatio ss. Altxandri papat et Iustini presbyteri Kap. I [ed, W. WattmblUb, MG SS15,1, S. 287,26 ff., zu 834): Densabatur nichilominus constipatio catervarum, vulgus simul et no-biles, omnes in commune pergebant, una voce Dei laudes canebant, sanctorum suffragia postulantes;Translatio s. Viti manyris Kap. 29 (ed. Irene SdJ1lfalt-Ott,Veröffentlichungen der HistorischenKommission für Westfaltn 41. Pontes minores I, Münster 1979, S. 64): Aevera post hate, ut di-vulgata sunt et in omni rtgione manifestata, ceperunt magis ae magis undique concurrere tam nobi-les quam ignobiles, divites ae pauperes, sani atque infirmi, in tantum, ut nullus remansisse putarcturin omni illa provincia, qui non illue gratia orandi veniret sive venisset; Ulmar, Miracula s. VedastiKap. 2,1 (ed. O. Holger-Egger,MG SS 15,1, S. 399,31 f.): Quod dicam, quantus populorum con-ventus, quanta utriusque saus eonfluentia nobilium undique et plebialium eoncurrerant?

    66 So bezeichnet Regina 1/011 Prii", die multitude peditum a agris et villis, die den NormannenWiderstand leisten wolltt, als ignobilt vulgus (Chron. a. 882, ed. Priedrich KMrT,!, MG SSrG,Hannover 1890, S. ll8).

    61 RudolfllOll Fulda, Translatio s. Alaandri Kap. I (ed. G. H. Per~ MG SS 2, S. 675,16 f.,und Bruno Krus,b, Die Übertragung des h. Alaander von Rom nach Wildeshaustn durch den En-kd Widukinds 851, Nachrichtrn derGtsellschaft der Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl. 2,13,1933,S.424).

    61 Nitbard, Historiat Kap. 4,2 (td. ErnstMiiller, MG SSrG 31907, S. 41,15 ff., undPhilippeLauer, Les dassiques de l'histoire de France aumoyrn age 7, Paris 1926, S. 120): Que gtns omnisin tribus ordinibus divisa eonsistit: sunt rttnim inter illos qui tdhilingui, sunt qui frilingi, sunt quilazzi illorum lingua dicuntur; latina vera lingua hoc sunt: nobilts, ingtnuiles atque serviles.

    69 Hucbald, Vita Lebuini (ed. G. H. p~ MG SS 2, S. 361,46 ff.): In Saxonumgente priscistemporibus neque summi cadestique regis inerat notitia, ut digna cultui eius txhibtrctur reverentia,neque ttrrtni a1icuiusregis dignitas rt honorificentia, cuius regerctur providentia, corrigeretur censu-ra, defenderctur industria: sed erat gens ipsa, sicuti nunc usque consistit, ordine tripartito divisa.Sunt denique ibi, qui illorum lingua edlingi, sunt qui frilingi, sunt qui lassi dicuntur, quod in latina so-nat lingua nobiles, ingenuiles atque serviles. - In der älteren Lebuinvita (ed. Adolf Hof",eister,MGSS 30) fehlt diese Stelle noch, wird abtr bei der Beschreibung der Versammlung zu Markl6 (Kap.4, S. 793,1 ff.) vorausgesetzt (hier treffrn aus jedem Gau je zwölf nobiles, hbtri und lati zusam-men); vg!. Heim Löwe, Entstehungszeit und Quellenwert der Vita Lebuini, Deutsches Archiv 21,1965, S. 348 f. Zu Quelle und Vorgangen vgl.: Entstehungund Verfassung des Sachsenstammes,hg. Walther La",men (Wege der Forschung SO), Darmstadt 1967 (besonders die Aufsätze vonHofmeister, S. 1 ff.; Lill~l, S. 164 ff.; La",men, S. 301 ff.; Drögereit,S. 381 ff.; Hagtmallll, S.402 ff.).

    10 NithardKap. 4,2 (S. 41.18 ff.; LauerS.120 f.): Sed pars illorum, quaenobiles inter illosha-betur, in duabus partibus in dissensione Lodharü ae fratrum suorum divisa. - Wenn die rtchtlicheAbgrenzung wohl auch als eine sächsische Besonderheit betrachtrt werden muß, so belegen die Bei.spiele doch die grundsätzliche Eignung des nobilis- Begriffs als Schichtungsbegriff.

    11 Vgi. auch Konzil von Tnbur Art. 38 (MG Capit. 2, Dr. 252, S. 235, 20ff.).

  • ..Nobilis". Der Add im Selbstverständnis der Karolingerzeit 167

    hob. Die zeitgenössische Übersetzung als edhelingi bei Nithard oder als (adjekti-visch) adallih72 bzw. (substantivisch) adales'? in Glossen berechtigt uns. dieseOberschicht als •.Adel" - im damaligen Sinn - zu verstehen und zu bezeichnen74 •

    . zumal •.Adel" auch in der althochdeutschen Dichtung. besonders im Heliand75und in Otfrids Evangelienbuch. eine soziale Bedeutung trug:76

    (3) Die nobiles waren im 7.!itgenässischen Verständnis mit dem "Adel" gleich'T,!lset-7,!n.

    Was •.Adel" damals allerdings bedeutete. muß erst genauer anband einer Be-griffsuntersuchung an zeitgenössischen Quellen bestimmt werden. um jede Rück-projizierung eines späteren Adelsbegriffs zu vermeiden. Soviel aber sagen die an-geführten Beispiele schon aus, daß der karolingische Adel sich sowohl in gesell-schaftlicher wie teilweise auch in rechtlicher Hinsicht über die übrigen Stände undSchichten erhob. Ist die soziale Einstufung des Adligen (nobilis) damit aufgezeigt.so bleibt nun seine Stellung innerhalb der Gesellschaft. die bereits als ..Ober-schicht" gekennzeichnet werden konnte. genauer zu klären.

    B. Die Kennzeichnung als nobilis diente stets dem Zweck, den Betreffendenaus seiner Umgebung herauszuheben und seinen Rang zu betonen: So legten dieBiographen Karls des Großen und Ludwigs des Frommen großen Wert auf dieFeststellung. daß die Gemahlinnen dieser Kaiser adlig waren 77 oder einem (hoch-)

    72 VgI. Abrogans.Glossar (Die althochdeutschen Glossen. bearb. Elias Steinmeyer und EduardSievers. Bd. 1. 1879. ND. Dublin-Zürich 1968. S. 128.23; 164.14/17; 174.7/18; 216.17).Die Glossenbelege sind auch bei Zutt S. 5 f. gesammelt. V gI. ferner die Althochdeutsche Benedikti-nerregel 59.6 (ed. Elias v. Steinmeyer. Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. 1916.ND. Berlin-Zürich 1963. S. 267.6); Murbacher Hymnen 19.3 [ed, Eduard Sievers. Halle 1874.S. 47). - ..Edel" wird aber gelegentlich sowohl (wenngleich zeitlich etwas später) mit ingenuus wiemit nobilis glossiert; vgI. Ht(*. S. 146 f.; Friedrich Maurer. über Add und edel in altdeutscherDichtung. in: Adel und Kirche. Festschrift Gerd Tellenbach, Freiburg-Basel-Wien 1968. S. 1;ZoftS. 16 (Ingenuität konnte potentiell auch adlige Herkunft umschließen).

    73 Steinmeyer-Sievers Bd. 1. S. 164.14. Ein Bibelglossar (Karlsruher Handschrift) zu I. Reg. 9.6(ebda. S. 410.1) gibt uir nobilis als comman adeles wieder; auch Tatian IB.I [ed, E. Sievers.21892. ND. Paderborn 1960. S. 227) übersetzt homo quidam nobilis mit sum edili mani; vg!. auchebda. 212.1 (S. 272); ähnlich setzt Od"" 4.3U (ed. Oskar Erdmann. Halle 1882. S. 255) edilesman für nobilis. VgI. Zutt S. 8 f. In anderer Bedeutung kommt ..edel" nicht vor.

    74 VgI. Hede S. 94. der den Add hier als Rechtsstand. allerdings für die ..Gemeinfreien", be-greih. Dagegen Alfons Dopscb. Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich inDeutschland. Weimar 1922, Bd. 2. S. H ff.•besonders S. 73.Auch Dopschhattenach den Adels-kriterien gefragt, sich dann allerdings allein auf die Widerlegung der Theorie Hecks konzentriert.r-Martindale S. 12 erschließt die Existenz eines Adds schon aus dieser Tatsache. daß nobilis eine so-ziale Position bezeichnet hat.

    " Ed. Eduard Sievers, Halle 1878.76 VgI. dazu Vogt S. 5 f., Zutt S. 5 ff. (zusammenfassend S. 27). sowie Maurer S. If.77 Vg!. Einhard. Vita Karoli Kap. 18 [ed. O. Holder-Egger. MG SSrG '1911, ND. 1940. S.

    22.7 f.): Hildigardam de gente Suaborum praecipuae nobilitatis feminam in matrimonium accepit;Thegan. Vita Hludowici Kap. 2 (ed. G. H. Pern" MG SS 2, S. 590.46 f.): supradictus imperatordesponsavit sibi nobilissimi generis Suavorum puellam nomine Hildigardam (aus der cognatio desdux Gotefrid); Astronomus, Vita Hludowici Kap. 2 (ebda. S. 607,44): Hildigarda nobilissima piis-

  • 168 HansWalla G

  • ..Nobilis". Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerseie 169

    diesen Beispielen kein Schichtungsbegriff, sondern wollte - bezeichnenderweisevorwiegend im Superlativ - die absolute Größe und, gemäß der lateinischenGrundbedeutung des Wortes und der G lossierung durch praeclarus (oben S. 164),die allgemeine Bekanntheit herausstellen - in diesem Sinn konnte nobilis auch be-stimmte Gegenstände und Orte wie Herrscher-Insignien, Burgen, Klöster undStädte hervorheben'" - aber es ist doch bezeichnend, daß der Begriff durchwegfür hochstehende Persönlichkeiten ausgespart blieb: Offenbar machte man garkeinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einer allgemeinen Hervorhebungeiner Person, um deren Bekanntheit auszudrücken, und ihrer sozialen Stellung,zwischen dem nobilissimus und dem höchsten Adel, der im Königtum gipfelte.Praeclari et nobiles viri wurde in diesem Zusammenhang zu einer kohärentenWendung.88 Wenn daher die Funktionsbezeichnung, die in den bisherigen Bei-spielen im Mittelpunkt stand, entfiel und die Quellen nur noch von nobilis vir89und nobilis mulier'° sprachen, so waren hier beide Elemente bereits zusammenge-flossen, und nobilis schien die betreffende Person hinreichend und nun offenbar,wie der Hinweis auf die unerlaubte Heirat einer adligen Frau nahelegt (Anm. 90),tatsächlich vom sozialen Standpunkt her als "adlig" - und damit herausgehoben-zu kennzeichnen:

    (4) Dieser Adel bekleidete eine herausragende Stellung.Grundbedeutung und sozialer Inhalt des nobilis-Begriffs flossen hier ineinan-

    der: Der nobilis war aus der Allgemeinheit herausgehoben und somit bekannt.Wir müssen sehen, inwelcher Hinsicht er sich über die anderen gesellschaftlichenGruppen erhob.

    Die zeitgenössischen Quellen unterschieden häufig zwischen domini und servi,zwischen den Herren und den (von ihnen abhängigen) Knechten, über die derHerr seine Herrschaftsrechte ausübte.91 Interessant ist nun weniger die einsichtige

    16 Vg!. Astronom"s prol. (S. 607,27 ff.) zu seiner Quelle: Adhemari nobilissimi et devotissimimonachi relatione.n Vg!. ann. Bertiniani a. 865 (pub!. pour la Societe de l'histoire de France par Felix Grat. Jean.

    ne Vielliard et Suzanne Climencet, avec une introduction et des notes par Leon Ltvillain, Paris1964, S. 122): Karl dem Kahlen gingen tres coronas optimas et armilIas nobilissimas verloren; Ge-sta abbatum Fontanelleasium Kap. 10 (S. 33): Iuliobona, castro quondam nobilissimo ac firmissi-mo; Translatio s. Pusinnac Kap. 2 (ed, Roger Wilmans, Die Kaiserurkunden der Provinz Westfalen777-1313, Bd. I, Münster 1867,S. 542): duo nobilissima coenobia (Corvcyund Herford]: ann.Vcdastini a. 882 (S. 51,18 f.): Die Normannen zerstörten unteranderem die civitates Treveris no-bilissimam et Coloniam Agrippinam; ann. Puldenses a. 896 (S. 128): Arnulfhatte die firmissima etnobilissima urbs Rom nobiliter cum triumpho erobert. Vg!. auch Vogt S. 8 f.

    II Vg!. ann. regni Francorum a. 817 (S. 148) zu den Beteiligten an der Verschwörung Bern-hards,

    19 Vgl. Regino a. 883 (S. 121): nobilis vir (für Bernar, einen Getreuen des Lothatsohnes Hugo).90 Altfrid, Vita Liudgeri Kap. 2.4 [ed, G. H. Perf\, MG SS 2. S. 413.14. und Wilhdm Die-

    1c:a11lp. Kap. 1.28. Die Geschichrsquellen des Bisthums Münster 4. Münster 1881, S. 34): mulierquae dam [nobilis], quae illicito erat conubio suo copulata viro [Lesart: marito).

    91 Die Gegenüberstellung fmdet sich auch in den Volksrechten; vg!. Stormer S. 27. Zu den serviim Selbstverständnis der Karolingerzeit vgl. Gotf\, Unterschichten S. 121 ff.

  • 170 Hans Wcma Goees

    Tatsache, daß Adlige Knechte hatten'2, sondern vor allem, daß in manchen Quel-len nobiles und domini gleichgestellt und die Adligen den Knechten gegenüberge-stellt wurden: "Dienst" (servitium) stand dem Adligen nicht an'3; nur deshalbkonnte Wandalbert von Prüm betonen, daß Waltar, quidam homo secundum sae-culum nobilis, trotz seines freien Standes (in libertate propria maneat) sich frei alsservus des hl. Goar, dem er seine Heilung verdankte, bekannte:'· Nur der "Got-tesdienst", als Dienst gegenüber einem Höheren, war für den Adel denkbar, dersich folglich sozial völlig von der Gruppe der servi unterschied. So berichten dieXantener Annalen zum berühmten Stellinga-Aufstand von 842, in Sachsen sei dieMacht (potestas) der servi über ihre Herren hinausgewachsen und die nobilesseien von den servi aufs äußerste bedrängt und erniedrigt worden;" Die Adligenwaren also die bedrängten Herren, denen eigentlich und naturgemäß die Machtüber die servi - und das heißt hier: über alle übrigen Schichten wie Freie, Halb-freie und Unfreie - zustand, während diesen die Legitimation zur Herrschaft, dieauctoritas, wie Nithard schreibt, fehIte96; servus zu sein, gehörte zu ihrer proprianatura" und war daher unabänderlich; "Herren" konnten nur die Adligen sein:

    (5) Der Adel bildete die Schicht der Herren.98Herrschaft wurde damit zum Kennzeichen einer Herrenschicht, die mit dem

    Adel identisch war: Die Herren entstammten nicht nur dem Adel, Herrschaft galthier geradezu als ein Schichtungskriterium. 99 .

    92 Vgl. Wandalbtrlllon Priim, Miracula s, Goaris Kap. 4 (ed, O. Holder.E!l,er, MG SS 15, S.365,22 ff.): Ein servus Widos, cuiusdam de nobilibus, wird geheilt; sein dominus entläßt ihn dar-aufhin aus der Knechtschaft und gestattet, daß er Priester wird.

    93 Vgl. Störmer S. 27. In einer Glosse heißt es: nobiles sunt, quorum maiorum parentum suorumnemo servituti subiectus sit (dazu Doprcb, Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit Bd. 2, S.65 E.).

    94 Wandalbert lion Priim, Miracu1a s. Goaris Kap. 6 (5. 365,29 ff.).95 Ann. Xantenses a. 841 [ed, B. v. Simron, MG SSrG, Hannover-kipzig 1909, 5.12,6 ff.):

    Eodem anno per totam Saxoniam potestaS servorum valde excreverat super dominos suos ... Et no-biles illius patriae (= Sachsen) a servis valde afflicti et humiliati sunt. Nithard Kap. 4,2 (5. 41 E.;Lauer S. 122) spricht stattvon servi von Freien und Halbfreien. Diese Stände waren in dcnAugendes Xantener Annalisten offenbar gegenüber dem Add ebenfalls "Knechte". - Der Aufstand ist vonmarxistischer Seite vielfach, wenngleich mit unterschiedlicher Interpretation, als Beispiel £Ur einenKlassenkonflikt ausgewettet worden; vg!. Hans-Joachim Bartmuß, Zur Frage der Bedeutung desStdlingaaufstandes, Wiss. Zeitschrift der Martin Luther- U niversität Halle- Wittenberg 7,I, 1958,S. 113 ff.; Eckart Müller-Mertens, Der Stdlingaaufstand. Seine Träger und die Frage der politi-schen Macht, Zs. für Geschichtswissenschaft 20, 1972, S. 818-42; Wolf gang E!l,trI, Rebellionesservorum. Bewaffnete Klassenkämpfe im Früh- und frühen Hochminelalrer und ihre Darstellung inzeitgenössischen erzählenden Quellen, ebda, 23,1975, 5.1154 ff.- Vg!. Goen,.Unterschichten S.129.

    96 Der Aufstand brach zusammen, weil er sine auetorirare entstanden war, sagt Nitbard Kap.4,6 (5. 48,31 ff.; Lauer S. 142): ac sic auetoritäte interiit, quod sine auetorirate surgere praesump-sit.

    97 Ann. Xantenses a. 842 (5. 13,5 ff.): et servos Saxonum superbe elatos nobiliter afflixit et adpropriam naturam restituit. - Vg!. Nitbard Kap. 4,4 (unten Anm. 185).

    91 Dungern hatte von einem "Herrenstand" gesprochen.

  • "Nobilis". Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit 171

    Die Gesellschaftsordnung war nach Meinung der Zeitgenossen stabil; sozialeUmschichtungen schienen ausgeschlossen oder waren jedenfalls abzulehnen. Ausdiesem Grund verurteilte Thegan etwa - mit Blick auf den Erzbischof Ebbo vonReims - den Aufstieg der servi zu hohen Kirchenämtern und Beratern am Königs-hof als pessima consuetudo; solche Aufsteiger zwangen adlige Frauen zur Heiratmit den eigenen, niedriggeborenen Verwandten und erhoben sich über denAdel.1°O (Hier klingt bereits eine Absonderung des Adels als Stand an, denn dienobiles selbst billigten diese Heiraten offenbar nicht.) Nur Adlige konnten an-scheinend hohe Kirchenämter würdig bekleiden, wie es das Alte Testament (Ne-gativbeispiel König Jerobeams) lehrte, während die Aufsteiger ihren Charakteränderten und die gesellschaftlichen Verhältnisse umkehrten; ein armer Bischof(mit armen Eltern) würde sich am Kirchengut bereichern, seine Verwandten not-falls nicht gebührend bestrafen und nicht nach der Regelleben (Thegan sah alsoalle diese Tugenden auf den Adel beschränkt). Ganz ähnlich hatte nach dem Be-richt der Fuldaer Annalen Bischof Liutward von Vercelli, der Ratgeber KarlsIl l., der. ex infimo genere natus. zur höchsten Stellung im Reich gelangt war, ge-handelt. die Töchter von Adligen gewaltsam geraubt und mit seinen Verwandtenverheiratet. 101 Solche Invektiven lassen vermuten, daß gegen die Überzeugung,nur dem Adel ständen hohe Führungspositionen zu, in der Praxis zumindest gele-gentlich verstoßen wurde. In der Theorie aber fiel dem Adel der höchste Rang ineinem Maße zu. daß die Schriftsteller Menschen, denen sie nicht wohlgesonnenwaren - nicht einmal unbedingt wahrheitsgemäß - als nichtadlig abqualifizierten.War die Abgrenzung des Adels von den ..Unterschichten" auch relativ - Liut-ward entstammte kaum einem ..Unfreiengeschlecht" - und ein sozialer Aufstieggrundsätzlich möglich, so zeigt sich doch deutlich die Überzeugung, daß die Füh-rungspositionen dem Adel vorbehalten sein sollten; Adel und kirchlich-politischeFührungsschicht waren folglich - und jedenfalls dem Anspruch nach - identisch:

    99 Das ist schon mehrfach behauptet worden; vg!. zuletzt Wtrntr, in: Lexikon des MittelaltersBd. 1. Sp. 119 (der fränkische Adel war von Geburt zur Herrschaft berufen).

    100 Thegan Kap. 20 (S. 595.15 f.): Quia iamdudo ilia pessima consuetudo erat, ut ex vilissimisservis fiebant summi pontifices. Ebda. (S. 595,28 ff.): Tune aliquos eorum liberalibus studiis instru-unt, alias nobilibus feminis coniungunt, et propinquas eorum filios nobilium in coniugium compel-lunt accipere ... Propinqui vero supradictorum, postquam aliquid intellegunt, senes nobiles deridentatque despiciunt, sunt elati, instabiles. incontinentes, inpudici, inverecundi ... Propinqui veroeorum, postquam aliquid intellegunt, quod maximum periculum est dantibus et accipientibus, ad sa-crum ordinem perttahuntur. Et licet sint aliquid periti, tarnen superat eorum doctrinam criminummultitudo. Vg!. auch ebda. Kap. 50 (S. 601.12 ff.): Servi sollen nicht Ratgeber des Königs sein.quia si possum. hoc maxime construunt, ut nobiles opprimant, et eos cum vilissima propinquitateeorum exaltare studeane, - Vg!. Hoff11l4nn S. 22 f.; Goetr" Unterschichten S. 128 f.

    101 Ann. Puldenses a. 887 (S. 105): Imperator ... quendam de suis ex infimo genere natumno-mine Liutwartum supra omnes, qui erant in regno suo, exaltavit .•. Nam nobilissimorum [aias inAlamannia et I talia nullo contradicente rapuit suisque propinquis nuptum dedit.

  • 172 Hans Werner Goetz

    (6) Nur dem Adel stand die (politische)Führung 7JI.I02Der Adel, für Thegan mit der Autorität des Alten verknüpft (senes nobiles), be-

    saß, wie es in der Wendung nobilis et potens vir deutlich zum AusdruckkomIntl03, die Macht. Die nobiles bildeten einmal die Umgebung des Königsl04,die Schicht unter dem König. Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche, so be-richtet Nithard, wählten als Gesandte an Lothar aus den Reihen der Bischöfe undLaien sorgfältig viros nobiles, prudentes, benivolos aus.IOS Zu den Verhandlungenum die Reichsteilung kamen mit Karl und Ludwig 80 ausgewählte Repräsentan-ten nach Metz, die sich sämtlich durch ihre nobilitas auszeichneten und für derenHeil sich die Könige verantwortlich fühlten.106 Zuvor war Karl der Kahle nichtauf Lothars ungünstigen Teilungsvorschlag eingegangen, da tanta nobilitas in die-sem Gebiet auf seiner Seite stand.I07 Der Adel erkannte seinerseits den König alsseinen Herrn an: Pippins Bruder Karlmann, der sich bekanntlich in das Klosterauf dem Berg Sorakte zurückzog, wurde, so berichtet Einhard, noch als Mönchvon vielen Adligen aus dem Frankenreich, die auf dem Weg nach Rom an seinemKloster vorbeikamen, als ihr einstiger Herr (velut dominum quondam suum) ver-ehrt, so daß er in das abgelegenere Kloster Montecassino überwechselte.l'"

    Adel bildete auch die Voraussetzung zur Übernahme höherer Verwaltungsäm-ter. Wir wissen, daß die honores, die hohen Ämter, von Adligen bekleidet wur-den.10g Graf Wilhelm von Toulouse, so berichtet Ardo in seiner Vita Benedicti,gab seinen summus honor, nämlich das Grafenamt, das ihm von seinem Adel her

    101 Hoffl1tann [zusammenfassend S. 23 f.) zeigt aber, daß die Geschichtsschreiber des 9. Jahr-hunderts dem Adel noch keine politische Eigenständigkeit in bezug auf das Reich zugestanden: DerAdel blieb auf den König angewiesen und ihm untergeordnet.

    103 So Yso, Miracula Othmari Kap. 1,1 [ed. I. v.Arx,MGSS 2,S. 49,19 f., undGeroldMryerlion Knonau, St. Gallische Geschichtsquellen 1 = Mitteilungen zur vaterländ, Geschichte 12, St.Gallen 1870, S. 122) zu Waltram; Miracula s. Gmnani Kap. 2 (in Auszügen ed, G. Wail\, MGSS 11, S. 9,13) zu Adevereis (vir nobilis et porens genere]; RMdolfllonFulJa, Vita Leobae Kap. 16(unten Anm. 117). Vgl. auch Gesta Conwoionis Kap. 3,8 (inAuszügen ed, L. v. Heintfllann,MGSS 15, S. 458,41 E.; unten Anm. 146): Die adligen Eltern Frotmunds waren maiores et procerespalatii regis. - Nach MG Capit. 2, nr. 210, § 3 (5. 81,21 f.) waren die weltlichen Eigenkirchen-herren vor allem potentes ac nobiles,

    104 Vgl. Gesta abbatum Pontanellensium Kap. 2 (S. 18): In quo conventu (zur Bestellung desBainus als Abt von Fontanelle) interfuit idem gloriosissimus princeps (= Pippin d. M.) et nobilis eo-niunx eius Plectrudis filiique eorum Drago et Grimoldus, Grippo et alii plurimi nobiles viri.

    105 Nitbard Kap. 2,9 (S. 24,12 ff.; Lauer S. 68).106 Ebda. Kap. 4,4(S. 46.18 ff.; Lauer S. 134): non enim se totnobilium virorum salutemneg-

    legere debere dicebat, - Vgl. auch den Aufstand der nobiles um Pippin (AstronOl1tus Kap. 6, S.610,11 ff.).

    107 Nithard Kap. 3,3 (S. 33,10 ff.; Lauer S. 94 f.).101 Einhard, Vita Karoli Kap. 2 (S. 5,6 ff.): Sed cum ex Francia multi nobilium ob vota solven-

    da Romam sollemniter commearent et cum vdut dominum quondam suum praeterire nollent, otium,quo maxime delectabatur, crebra salutatione interrumpentes locum mutare conpellunt,

    109 Vgl. Einbard, Vita Karoli Kap. 8 (S. 11,9 ff.): Plures tarnen eo bello (n.imlich im Sachsen-krieg Karls des Großen) tam ex nobilitate Francorum quam Saxonum et Euncti summis honoribusviri .consumpti sunt.

  • "Nobilis". Der Add im Selbstverständnis der Karolingeneit 173

    zustand, auf, um in ein Kloster einzutreten (unten Anm. 198). Neben den weltli-chen standen dem Add die hohen geistlichen Ämter offen:110 Kar! der Große, soberichtet Notker, vergab einst ein Bistum an einen seiner Hofkleriker, der sichnon mediocriter durch nobilitas et doctrina, Adel und Bildung, auszeichnete-'";Müllersöhnen dagegen standen Bistümer und Abteien selbst dann nicht zu, wennes sich um Schüler des berühmten Alkuin handelte (schon die Propstei war für sieeine außergewöhnliche Auszeichnung):112

    (7) Die hohen Ämter wurden vom Adel beleleidet.Bezeichnend ist auch die Diskussion, die im Jahre 818, sicher vor dem Hinter-

    grund der Absetzung Ratgers (817), im Kloster Fulda über die umstrittene Abt-wahl geführt wurde: Nurein adliger Abt, so argumentierten die einen, könne dasKloster gegen die Grafen und Mächtigen (die potentiores) verteidigen und ihmdank seiner Würde und seiner Verbindung zum Königshof die nötige Gunst desHerrschers erwerben; Nichtadel (ignobilitas), sagten die anderen, schaffe dage-gen einen Vorzug vor Gott, dem ignobilitas zugleich Demut (humilitas) bedeu-te;113 Ignobilitas - hier durchaus negativ verstanden - bedeutete für die Men-schen also zugleich Niedrigkeit! Daß Candidus solche Gedanken eigens begrün-den mußte, beweist schon, daß sie eine Ausnahme bildeten, und man wählteschließlich doch den greisen Eigil, den gebildeten, adligen Mönch, zum Abt.ll4Der Adel, so begründete schließlich auch ein Brief eines anscheinend nichtadligenBischofs an seinen Metropoliten in Notkers Formdsammlung den Ungehorsam

    JlO Zu den Adelsbischöfen vgl. Schulte (besonders S. 61 H.) und Slamer S. 312 ff.111 NOlleer, Gesta Karoli Kap. 1,5 (s. 7,9 ff.): Qui vacavit ad se unum de clericis suis, nobilitate

    et doctrina non mediocrirer praeditum, et dedit illi episcopaturn ilIum. - Erst als dieser seine Pflich-ten vergaß, ennog der Kaiser ihm die Würde wieder und gab sie einem clericus ... vilis et abieetuset scientia litterarum non saris instructus, der pflichtbewußter war (vg!. unten S. 188).

    112 Ebda. Kap. 1,8 (S. 11,8 H.): Alle Schüler Alkuins wurdenÄbt~ oder Bischöfe, mitAusnah-me von zwei Müllersöhnen des Columbanklosters, die nacheinander Pröpste des Klosters wurden,quia non eongruit ad episcopiorum vel cenobiorum regimen sublevari, - Vg!. ähnlich Altfrid, VitaLiudgeri Kap. 1,9 (unten Anm. 117).

    113 Bruun Candidus, Vita Eigilis Kap. 5 [ed. G. Wail\, MG SS 15, S. 224,24 ff.): Quidamau-tern fratrum de nobili genere abbatem sibi creare conati sunt, dicentes : ,Si hune suscipimus, defenditnos contra comites et porentiores nobis, quin et imperatorem nobis sua dignitate propitium faeit. Sei-tis quare? Quia habet in palatio generositarem.' Darauf die Gegenrede: .Quiescite, fratres, ab hacalta et generosa electione, quia infirma mundi et contemptibilia elegit Deus. Infirmitas namque inDeo innocentia est, ignobilitas autem humilieas; nam innocentia sine Deo infirmitas aestimatur, ethumilitas non propter Deum ignobilitas iudicatur. Tall etiam, non dieo nobilitati, sed ignobilitati sicolla subicimus, quo nos vertimus, si aversus fuerit a nobis opprimens nos?' - Dann folgt der gleicheStreit um die Bildung des künftigen Abtes. - Zur Stelle vg!. auch Schreiner, Zur biblischen Legitima-tion S. 338.

    114 Candidus hob das nicht mehr eigens hervor, da es ihm eher auf die allgemeine Zustimmungankam, die Eigil schließlich fand, doch hatte er dessen vornehme Herkunft bereits vorher erwähnt(Kap. I, S. 223,13 ff.). Zu Eigils Abstammung vgl. auch Wilhelm Slömer, Eine Adelsgruppe umdie Fuldaer Äbte Sturmi und Eigil und den Holzkirchener Klostergründer Troand, in: Gesellschaftund Herrschaft. Forschungen zu sozial- und landesgtschichtlichen Problemen vornehmlich in Bay-ern. Festschrift Karl Bosl, München 1969, S. 1-34.

  • 174 Hans Wcrner Goeee

    eines adligen Ehepaares gegenüber seinen Anordnungen. erkannte nur gleichran-gige Autoritäten an.m

    Mit dem Recht des Adligen auf das geistliche Amt verband sich ein Recht aufBildung: Nur die Adligen sollten nach Thegan auch in den freien Künsten ausge-bildet werden.116 Adlige schickten. wie wir aus mehreren Viten wissen. ihre Söh-ne und Töchter zur Schulung ins Kloster (nobilis und prudens stehen hier paral-lel)117;bei Altfrid und Liudger waren wie bei Notker und auch in einem Brief sei-ner Pormelsammlung'P Adel und Bildung selbstverständliche Voraussetzung fürden Erwerb von Bischofsstellen :

    (8) Der Adlige hatte auch tin Vorrecht auf Bildung.Wenn die gebildeten servi in Thegans Moritat die senes nobiles verlachten. so

    hatte der Ludwigbiograph doch gerade diese Umkehrung der gesellschaftlichenOrdnung verurteilt. War Bildung also dem Adel inbesonderem Maße eigen119• soblieb das natürlich vor allem auf die geistlichen Glieder des Adels beschränkt. die.wie Grundmann gezeigt hat12O• in dieser Zeit mit den litterati geradezu identischwurden.

    Entstammten Führungs- und Bildungsschichten also dem Adel. so bleibt dochzu fragen. ob beide bereits identisch waren. Manche Zeugnisse könnten eine sol-che Vermutung nahelegen. Nach dem Bericht des Astronomus etwa verlor mitdem Tod zahlreicher primores, nämlich einiger Bischöfe. Äbte und Grafen. um

    115 Collectio Sanga1lensis nr. 30 (cd. Karl Ztumtr. MG Formulae S. 415.30 ff.).116 Oben Anm. 100. Thegans Grund dafür war ethischer Art: Die Aufsteiger würden sonst

    überheblich und verlören die Achtung vor dem Adel.117 Vgl. etwa Vita Wiliehadi Kap. 2 (ed.A Po""ltl. AA SS Nov. 3.1910. S. 843 B): plurimi

    nobilium infantes suos ipsi (= Wiliehad) ad erudiendum ibidem tradiderunt; Rudolf, Vita LeobaeKap. 16 [ed, Georg Wail\, MG SS 15. S. 129.2): Multi enim nobiles et potentes viri filias suasDeo in monasterio sub perpetua virginitate servituras tradiderunt; Vita Alcuini Kap. 4 [ed. Wil-helm Arna'I. MG SS 15. S. 186.35 f.): Erat siquidem ei grex ex nob ilium filiis scolasticorum;All-frid. Vita Liudgeri Kap. 1.9 (S. 407.6 ff.): Erant autem in ilia scola Gregorü(= in Utrecht) et alücondiscipuli nobiles et prudentes, e quibus alü episcopi postea exstiterunt, alii in minoribus gradibusdoctores ecclesiarum. Liudgtr. Vita Gregorii Kap. 11 (S. 76.3 ff.): Ipsorum quoque discipulorumeius plurimi tarn nobiles erant tantoque praediti ingenio et doctrina Dei. ut ad arcem episcopatus etsacerdotalem dignitatem et merito vocarentur et venirent, Plurimi vero eorum aequaliter educari etdiscipliaati, etsi non tanto gradu sublimati sunt, meritis tarnen et scientia non exigui et caritate Deieximii diebus vitae suae habebantur ab omnibus.

    III Collectio Sangallensis nr. 1 (MG Formulae S. 39S f.): Vorausseezungen fiir die Wahl zumBischof waren Adel (ingenui et nobiles homines). geistliche und kirchenrechtliche Bildung (divinaeauctoritatis eloquiis et sinodalium decretorum constitutis instructi) sowie ein guter Lebenswandel(bonis moribus adomati).

    119 Walabfrid SIrabo.Vita s. Galli Kap. 2.36 (ed. Bruno Kruscb.MG SS rer Merov. 4.1902.S. 333.14 f.) berichtet. ein Mönch des Klosten sei medicinali scientia non ignobililtr instructus ge-wesen.

    120 Herben Gru"dma"". Litteratus - illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnonn vom Altertumzum Mittelalter. Archiv für Kulturgeschichte 40. 1958. S. 1-65 (besonden S. 38 ff.).

  • "Nobilis". Der Adel im Selbstverständnis der Karolingeneit 175

    837 die Francia ihren Adel (nobilitas], ihre wehrhaften (fortitudo) und gebildetenSchichten (prudentia ).121

    Wurden die hohen weltlichen und kirchlichen Ämter einerseits mit Adligen be-setzt. so war diese Schicht der nobiles andererseits aber doch breiter:122 Bischöfe.Äbte123 und Grafen. die Träger der summi honores, zählten zwar zu den nobiles,ragten jedoch zugleich aus dieser Schicht empor124; alii nobiles wurden von denhohen Amtsträgern unterschieden (mit dieser Wendung faßte man meist die nichtmehr namentlich genannten unter den herausragenden Persönlichkeiten zusam-men):

    (9) Adel und kirchlich-politische Führungsschicht waren also nur in ihrer Spitz.!identisch.

    Hier handelte es sich nur um ..die Großen", die mit dem König zusammen daspolitische Geschehen bestimmten und als Teilnehmer auf Reichstagen oder beiKönigswahlen hervortraten: die sogenannte Reichsaristokratie, die in den Quel-

    J21 Astronomus, Vita Hludowicl Kap. S6 (S. 642,4 ff.): Hi ~nim erant, quorum recessu diceba-tur Frantia nobilitate orbata, fortirudine quasi nervis succisis evirata, prudentia his obeuntibus ad-nullata. Nach Regino a. 888 (S. 12 9) bildeten diese drei Eigenschaften (nobilitas, fortitude, sapien-tia) der principes Franeorum die Voraussetzung für eine gute Königsherrschaft (idonei principes adregni gub~macula).

    122 Das wird besonders deutlich in den Fuldaer Annalen, in denen nobilis nur selten und in unbe-stimmten Zusammenhängen vorkommt. Die Schwierigkeit besteht, wie schonMartindale S. 32 er-kannt hat, in der Absteckung der unteren Grenze des Adels.

    123 Nach einer An~kdot~ Notkm [Gesta Karoli Kap. 2,6, S. 57.5 ff.) versammelte Kar! derGroße die höchsten Würd~nträger des Reichs um sich, wobei die Bischöfe sich durch Gestalt undTugenden, die Äbt~ durch Add und Heiligkeit auszeichneten: pontifices forma et virtutibus incom-parabiles, praestantissimique nobilitate simul et sanctitate abbates;

    124 Die Zusammengehörigkeit zeigt auch die Aufzählung von Abten, Grafen, etiam aliique nonpauci nobilium zum Tod vieler Adliger beim KarnpfPippins g~g~n die Franken (ann. Bertiniani a.844, S. 47); ähnlich ann. Puldenses a. 844 (S. 34 f.). V g1. auch ann. regni Franeorum (Einhardl) a.782 (S. 63) zur Schlacht am Sünrel: Sed maior Francis quam pro numero iactura fuit, quia legate-rum duo, Adalgisus et Geilo, comitum quartuor aliorumque darorum atqu~ nobilium usqu~ ad vigin-ti interfecti, pra~ter c~t~ros, qui hos s~cuti potius cum eis p~rire quam post eos vivere maluerunt (ihreGefolgschaft wird hier also schon nicht mehr zu di~ser Schicht gaählt); Regino a. 891 (S. 137):Gegen die N ormartnen fielen in d~r G~ul~schlacht (En- )Bischof Sunzo von Mainz, Graf Arnulf n~cnon et innumera multitudo nobilium virorum; Chronicon Fontandlensium (=Annales Fontandlen-s~s prior~s) a. 851 (ed. J. Laporte, in: Melang~. Docum~nts publics ~t annotcs par F. Dardel, H. deFrondeville et J. Laporte, Societe d~ l'histoir~ de Normandie, IS'sCrie, Rouen-Paris 19 SI, S. 87): Inder Schlacht g~g~n die Br~ton~n fid~n vide Frank~n, nobil~s, comit~s et duces seu reliqua manus.Zur Zug~hörigk~it von H~nög~n und Graf~n :zum Add vg1. auch Translatio s. Pusinna~ (untenAnm. 147); Wolfbard von Herrieden,Miracula s. Waldburgae Kap. 3,S (in Auszüg~n ed. O. Hol-der-Egger,MG SS 15, S. 549,49, und Andreas Bauch, Qucll~n zur G~schichte d~r Diözese Eich-stätt Bd. 2: Ein bay~risch~s Mirakdbuch aus d~r Karoling~n~it. Di~ Monh~im~r Walpurgis- Wun-d~r d~s Pri~st(r5 Wolfhard, R~gensburg 1979, S. 268,11 ff.): Gisola matrona p~mobilis, uxorBurchardi, Walochonis oomitis filii, quae antea matrimonio iuncta fu~rat comitis Megingaudi. -Vg1. auch Pariser Synod~ von 829, § 36 (MG Cone. 2, nr. SO, S. 636,5 f.): Itallci episoopi abba-t~sque ~t comit~s ae c~t~ri nobil~s viri; nach DLD 170 (S. 239,28 f.) zähl~n zu den primores ae ma-gnati r~gis Bischöf~, Abt~, Grafen, nobilesque quam plurimi idonei satis fautorcs testes ae iudices.

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    len gewöhnlich als proceres.primcres, primates. optimates oder principes bezeich-net wird.125 Regino berichtet von einem Aufstand der Großen (primores) gegenKönig Zwentibold, weil dieser nicht etwa Nichtadlige. sondern auch weniger ad-lige Männer und sogar Frauen an der Regierung beteiligte:126 Die tatsächlicheFührung lag also nicht bei dem •.Adel" schlechthin. sondern bei diesen Großen.die die oberste Schicht des Adels bildeten. Nobilis diente zwar der Kennzeich-nung der besonderen Stellung dieser Schicht. scheint aber selbst kein politischer.sondern ein sozialer Begriff: Der Adel bekleidete mit anderen Worten die hohenVerwaltungsämter. doch machten diese Führungspositionen, wie die BeispieleEbos von Reims und Liutwards von Vercelli (oben S. 171 f.) zeigen. nicht ihrer-seits adlig (sonst wären Aufsteiger ja adlig geworden); zum Adel gehörten nichtnur Grafen. Äbte. Bischöfe. wenn diese auch nobiles, adlig. waren; soziale Ober-schicht und politische Führungsschicht waren also nicht gleichzusetzen •• .Adel"war aber Voraussetzung zur Übernahme der höchsten Ämter und der politischenMacht (bis hin zum Königsamt) (vg!. oben Anm. 121). Diese Bedingung galt im-merhin als so selbstverständlich. der Zusammenhang zwischen den nobiles unddieser politischen Führungsschicht als so eng. daß manche Autoren diese "Gro-ßen" einfach nobiles nannten.127 Der Adel bildete eine breite Schicht. aus der dieGroßen. die politische. staatstragende Führungsschicht und die Inhaber der ho-hen weltlichen und kirchlichen Ämter in einem Maße erwuchsen. daß beide Be-griffe in bestimmten Zusammenhängen gleichgesetzt werden konnten.

    Bei Regino scheint der nobilis-Begriff gelegentlich dagegen auf die weltlichenWürdenträger beschränkt. die sich dann gerade von den kirchlichen Großen ab-hoben: Nach dem Tod König Lothars II.ließ Ludwig der Deutsche verkünden.honestiores ex clero et nobiliores ex populo sollten ihm nach Deutz entgegeneilen.

    125 Vgl. etwa die zahlreichen Beispiele bei Regino (die principes entscheiden über das regnum),bei Nithard oder in den Fuldaer Annalen. Wenn MartinJal, S. 13 ff. die Macht als Kennzeichendes karolingischen Adels begreift. so geht auch sie von diesen proeeres aus. die sie mit dem Adelschlechthin gleichsetzt.

    126 Regino a. 900 (S. 148): quia cum mulienbus et ignobilioribus regni negotia disponens hone.stiores et nobiliores quosque deiciebat et honoribus et dignitatibus expoliabat.

    117 Häufig beim Astronomlls; vgl. Kap. 59 (S. 644.4 ff.) zur V crsammlung von Quiercy. auf derpene omnes Septimanise nobiles erschienen (vg!. auch S. 644.18 ff.); vg!. ann. Bertiniani a. 865 (5.121) zum Eid Lothars für Thietberga: adstantibus vero in eodem loco de diversis regnis nobiliumvirorum multitudinem (Lesart: nobilibus uiris cum multitudine ) populi. puplice haec videntibus etaudientibus. Die Gesta Conwoionis zählen maiores et procaes palatii regis zu den nobiles (die EI.tern Fruotmunds) (unten Anm. 146). Lampen. Vivian und Gozbere, die principes Caroli undMächtigsten im Reich - mit ihnen sah Karl die vires regni von sich abfallen (Rtgino a. 866. S. 90)-. die Ludwig den Deutschen insWestfrankenreich eingeladen hatten. hießen spätee nobiliores reg.ni [ebda, a. 860, S. 78; a. 866. S. 90). - Umgekehrt versteht die Translatio s. A1exandri Kap. 2 (5.675. 38 f.; Kruseb S. 425) proceres und plebs als soziale Gegensätze. Die Begriffswahl hing alsosehr vom jeweiligen Autor ab. Nach ZottS. 17 ist zu prüfen. ob bei den unterschiedlichen Begriffenunterschiedliche Schichtungskritcrien angelegt werden; jedenfalls darf man die potentes nicht mitdem Add schlechthin gleichsetzen.

  • "Nobilis". Der Add im Selbstverständnis der Karolingerzeit 177

    um über die Wahl des Kölner Erzbischofs zu entscheiden :128 Nobilis blieb hier aufdie Gruppe der Laien beschränkt, wobei die Parallele zu den honestiores (von ho-nor) zugleich ihren Wert, ihre Würde, bezeugte.129 Hier wird erneut die Tendenzsichtbar, über die vorhandenen verwandtschaftlichen Bindungen hinweg, grund-sätzlich zwischen Laien und Klerus, zwischen Adel und hoher Geistlichkeit, zu un-terscheiden (vgl. oben S. 165).

    Die Beobachtungen über Führungsschicht und Adel führen aber noch weiter:Hatten sich die nobiles zunächst recht geschlossen gegenüber den unteren Schich-ten abheben lassen, so zeigen nun die Heraushebung der proceres innerhalb derSchicht der nobiles und die Verwendung von Komparativen (nobiliores - ignobi-liores; vgl. Anm. 126), daß diese Adelsschicht in sich keineswegs einheitlichwar.130 Tatsächlich wurde der nobilis-Begriff trotz der Abgrenzung von den Un-terschichten relativ verstanden: Von den nobiles, die zusammen mit den plebialeszu Ehren der Erhebung des heiligen Vedastus zusammenströmten, hob sich wie-derum der nobilissimus, nämlich der Heilige selbst, ab.131 Wer zu den nobiles ge-hörte, hing auch von einem jeweiligen Bezugspunkt ab und war oft aufbestimmteRäume bezogen: So sprechen die Fränkischen Reichsannalen von den adligen Be-wohnern der Stadt Rom132 oder vom Adel Germaniens+": Wursing, der Groß-vater Liudgers, zählte nach Altfrid zum Adel in ea genre, nämlich bei den Prie-5en134; die Annales Vedastini berichten vom Adel in der Stadt Parisl3S oder von

    121 Regino a. 869 (S. 99). Die Bischofswahl. die kanonisch durch Klerus und Volk erfolgen soll-te, wurde tatsächlich von den höheren Schichten vollzogen.

    129 Honestieres et nobiliores setzte Regino noch einmal parallel (a. 900. S. 148, oben Anm.126). Waren hier ebenfalls geistlicher und weltlicher Adel gemeint? Gerade bei Regino finden sichnoch ähnliche Beispiele: 888 gewann der Usurpator Rudolf die mentes episcoporum et nob ilium vi-rorum im Reich Lothars (S. 130). Kurz zuvor hatte Regino primores und sacerdotes unterschieden(ebda.): Er setzte nobiles und primores also parallel. Vg!