Werner Schirmer Bedrohungskommunikation · (Marx/Engels 1999, Marx 2001), Talcott Parsons’...

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Werner Schirmer Bedrohungskommunikation

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Werner Schirmer

Bedrohungskommunikation

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VS RESEARCH

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Werner Schirmer

Bedrohungs-kommunikationEine gesellschaftstheoretische Studie zu Sicherheit und Unsicherheit

VS RESEARCH

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1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Christina M. Brian / Britta Göhrisch-Radmacher

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-15957-7

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Dissertation Ludwig-Maximilians-Universität München, 2007

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Vorwort

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation mit gleichem Titel, eingereicht an der Ludwig-Maximilians-Universität München im März 2007. Es ist das Resultat eines etwas mehr als vierjährigen Arbeitsprozesses. Viele Freunde und Kollegen haben mich dabei unterstützt, mich mit mitunter kritischen, vor allem aber mit sehr konstruktiven Kommentaren und Hinweisen versorgt, mich herausgefordert und immer wieder motiviert. Bedanken möchte ich mich deshalb bei Silvia Adamo, Manuela Grigo-rovici, Claus Hadamek, Linda Hamann, Jochen Kleinschmidt, Daniel B. Lee, Jannie Lilja, Dimitris Michailakis, Wolfgang Ludwig Schneider, Roxana Sjöstedt, Tobias Trapp, Andreas Wenninger und Antje Witthöft, die alle zum Gelingen meiner Arbeit beigetragen haben, sei es durch wertvolle fachliche Dis-kussionen, nützliche Kommentare, das Korrekturlesen einzelner Abschnitte und Entwürfe, ästhetische Ratschläge oder Hilfe mit dem Textprogramm. Besonderer Dank geht jedoch an Wendelin Reich für seine sehr hilfreichen und sehr genauen Kommentare und die vielen gewinnbringenden Diskussionen.

Bei meinen Betreuern und Gutachtern Armin Nassehi und James W. Davismöchte ich mich ebenfalls bedanken; sie haben die Entstehung des Buches vom An-fang bis zum Schluss begleitet und mir immer wieder mit wertvollen Ratschlägen zurSeite gestanden. Danke auch an die dritte mündliche Prüferin Andrea Bührmann.

Großen Dank möchte ich auch dem Deutschen Akademischen Austausch-dienst für ein Jahresstipendium für Doktoranden aussprechen, mithilfe dessen ich einen Forschungsaufenthalt am Institut für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Uppsala in Schweden verbringen konnte. Im Anschluss daran durfte ich den Aufenthalt mit Hilfe eines Marie Curie Stipendiums des Netzwerkes für Humanitarian Action and Conflict Studies HUMCRICON um ein halbes Jahr verlängern, für das ich mich ebenfalls sehr herzlich bedanken möchte.

Beim Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Uppsala möchte ich mich für die großzügige Gastfreundschaft, die hervorragende Arbeitsatmosphäre und die vielen tollen Diskussionen bedanken, allen voran bei Erik Noreen, Peter Wallensteen, Kjell-Åke Nordkvist und besonders bei Manuel Salamanca.

Darüber hinaus bedanke ich mich bei der Ludwig-Maximilians-UniversitätMünchen, und dort im speziellen beim Institut für Soziologie und dem Ge-schwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften für sehr gute Studienbe-

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6 Vorwort

dingungen und beim Promotionsausschuss für einen reibungslosen Ablauf des Promotionsprozesses. Meinem zwischenzeitlichen Arbeitgeber, dem Institut für Pflegewissenschaft und Soziologie der Hochschule in Gävle/Schweden, möchte ich ebenso für die Unterstützung danken wie meinem jetzigen Arbeitgeber, dem Soziologischen Institut der Universität Uppsala.

Widmen möchte ich dieses Buch jedoch meinen Eltern Helga und Josef Schirmer und meinen Großeltern Elfriede und Hermann Frei, ohne deren Unter-stützung und Zuspruch sowie deren Fördern und Fordern dieses Buch sicherlich nicht möglich gewesen wäre.

München und Uppsala im Dezember 2007 Werner Schirmer

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Inhalt

Vorwort................................................................................................................ 5

Inhalt.................................................................................................................... 7

1 Einleitung ................................................................................................ 11

1.1 Hintergrund............................................................................................... 11

1.2 Problemformulierung................................................................................ 15

1.3 Argumentation und Aufbau des Buches ................................................... 21

2 Sicherheit in den Internationalen Beziehungen ................................... 25

2.1 Hintergrund: Sicherheit und Internationale Beziehungen......................... 25

2.2 Theorien und Tendenzen in den Internationalen Beziehungen................. 28

2.2.1 Realismus.................................................................................................. 28

2.2.2 Konstruktivismus: Kritik am Realismus ................................................... 34

2.3 Probleme mit dem Sicherheitsbegriff ....................................................... 39

2.3.1 Klassische und modernistische Theorien...................................................41

2.3.2 Poststrukturalistische und postmoderne Ansätze ...................................... 46

2.4 Der blinde Fleck ....................................................................................... 51

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8 Inhalt

3 Beobachtung von Bedrohung und Sicherheit ....................................... 61

3.1 Beobachtung und Form ............................................................................ 62

3.1.1 Einfache Beobachtungen .......................................................................... 62

3.1.2 Beobachtungen zweiter Ordnung.............................................................. 67

3.2 Beobachtung von Bedrohungen................................................................ 69

3.2.1 Sicherheit und Bedrohungen..................................................................... 69

3.2.2 Beispiele für beobachtete Bedrohungen ................................................... 70

3.2.3 Die Form der Bedrohung .......................................................................... 77

3.3 Zum Unterschied von Drohung und Bedrohung....................................... 80

4 Zum Konzept von Bedrohungskommunikation................................... 83

4.1 Sicherheit als Kommunikation.................................................................. 83

4.2 Systeme und Kommunikation................................................................... 89

4.2.1 Systeme .................................................................................................... 89

4.2.2 Kommunikation ........................................................................................ 91

4.3 Sicherheit und Kommunikationstheorie ................................................... 97

4.3.1 Bedrohungskommunikation: einfaches Modell ...................................... 101

4.3.2 Sinndimensionen der Bedrohungskommunikation ................................. 103

4.3.3 Bedrohungskommunikation: komplexes Modell .................................... 107

4.3.4 Beispiele für Bedrohungskommunikation .............................................. 117

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Inhalt 9

5 Bedrohungskommunikation und funktionale Differenzierung......... 123

5.1 Gesellschaftstheorie................................................................................ 124

5.1.1 Gesellschaft und Gesellschaftstheorie .................................................... 124

5.1.2 Funktionale Differenzierung und binäre Codes ...................................... 126

5.2 Bedrohung als Beobachtungsperspektive ............................................... 133

5.3 Kommunikationsmedien......................................................................... 139

5.3.1 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien............................... 141

5.3.2 Sicherheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium I.... 145

5.3.3 Sicherheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium II - Ergänzungen und Illustrationen .............................................................. 157

6 Bedrohungskommunikation und politische Kommunikation........... 165

6.1 Politisches System und politische Kommunikation................................ 167

6.2 Politik und Bedrohung............................................................................ 175

7 Bedrohungskommunikation im Kontext anderer Systeme ............... 185

7.1 Bedrohungskommunikation und andere Systeme................................... 186

7.1.1 Das System der Krankenbehandlung (Medizin) ..................................... 186

7.1.2 Moral .................................................................................................. 189

7.1.3 Konfliktsysteme...................................................................................... 193

7.2 Bedrohungskommunikation als Parasit................................................... 196

7.2.1 Parasiten.................................................................................................. 196

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10 Inhalt

7.2.2 Parasiten auf Gesellschaftsebene ............................................................ 202

8 Konklusion ............................................................................................ 209

8.1 Eine nichtnormative Theorie der Sicherheit ........................................... 209

8.2 Möglichkeiten für die Forschung............................................................ 217

8.2.1 Gesellschaftstheorie / Soziologie............................................................ 218

8.2.2 Internationale Beziehungen / Friedens- und Konfliktforschung ............. 220

Literatur .......................................................................................................... 22 3

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1 Einleitung

1.1 Hintergrund

Der Titel dieses Buches deutet das Forschungsprogramm bereits in Grundrissen an. Es geht um Bedrohungen und Sicherheit auf der einen Seite, Kommunikation und Gesellschaftstheorie auf der anderen Seite. Mit Bedrohungen und Sicherheit ist ein Themenbereich angesprochen, der für die politikwissenschaftliche Teil-disziplin der Internationalen Beziehungen (IB)1 von ihrer Gründungszeit bis in gegenwärtige Debatten hinein sowohl Identitätspfeiler des Faches als auch Ursa-che heftigster Konflikte gewesen ist, innerhalb der soziologischen Forschung dafür eine deutlich weniger bedeutendere Rolle spielt. Umgekehrt gelten Kom-munikation und Gesellschaftstheorie eher als Domäne der Soziologie denn der Politikwissenschaft. Mit dem zentralen Begriff dieses Buches - Bedrohungs-kommunikation - wird der Versuch unternommen, Gesellschaftstheorie und Si-cherheit zu kombinieren. Die von neueren Zweigen der IB geteilte Grundannah-me dieses Buches besagt, dass Sicherheit und Unsicherheit genau wie Bedrohun-gen das Produkt von Kommunikation sind, d.h. es gibt sie nicht jenseits von Kommunikation. Wenn es sie gibt, dann nur in der Kommunikation. Eine beson-dere Art und Weise, Bedrohungen zu kommunizieren - mit anderen Worten - in der Kommunikation zu erzeugen, wird in diesem Buch als Bedrohungskommuni-kation bezeichnet und theoretisch-begrifflich entwickelt. Mithilfe der Gesell-schaftstheorie wird diese besondere Kommunikationsform von anderen in der Gesellschaft vorkommenden Kommunikationstypen, etwa ökonomischer, religi-öser, rechtlicher oder wissenschaftlicher Kommunikation unterschieden und verortet. Die Gesellschaftstheorie dient als theoretischer Ausgangspunkt, d.h. einerseits als Begriffsvorrat für eine angemessene Beschreibung des Gegens-tands und andererseits als unverrückbarer Beobachterstandpunkt.

Man sollte vielleicht gleich zu Beginn anmerken, dass mit Gesellschaftsthe-orie hier die Gesellschaftstheorie der soziologischen Systemtheorie gemeint ist, dass also weitgehend - wenn auch mit einigen Einschränkungen und Abwand-

1 Ich halte es mit der fachüblichen Unterscheidung: Großbuchstaben bezeichnen die wissenschaftli-che Disziplin (Internationale Beziehungen), Kleinbuchstaben deren Gegenstand (internationale Beziehungen).

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12 Einleitung

lungen - den Arbeiten Niklas Luhmanns gefolgt wird. Es gibt indes zahlreiche soziologische Gesellschaftstheorien, die die hier vertretenen Auffassungen kaum bzw. gar nicht teilen würden. Die auch in den IB verbreitete historisch-materialistische Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels (Marx/Engels 1999, Marx 2001), Talcott Parsons’ strukturell-funktionale Theo-rie der Gesellschaft (Parsons 1951), Pierre Bourdieus praxeologische Theorie von Feld und Habitus (Bourdieu 1982), die Theorie von System und Lebenswelt von Jürgen Habermas (Habermas 1981) und die neofunktionalistisch inspirierte Systemtheorie von Richard Münch (Münch 2001) sind nur einige im Angebot der derzeit verfügbaren Gesellschaftstheorien. Man kann daneben darüber strei-ten, inwieweit die soziologischen Klassiker Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel ebenso Gesellschaftstheorie betrieben haben. Ihre Relevanz für gegenwärtige Gesellschaftstheorien lässt sich hingegen kaum bestreiten. Eine andere Frage ist, ob auch die so genannten ‚Zeit’- oder ‚Gegenwartsdiagnosen’ gesellschaftstheoretisches Potenzial haben, in deren Zusammenhang vor allem die Theorie der reflexiven Modernisierung (Beck 1986; Beck 1993), die These der postindustriellen Gesellschaft (Bell 1976) und die These des Aufstiegs der Netzwerkgesellschaft (Castells 2001) genannt werden müssen. Im Folgenden wird jedoch mit Gesellschaftstheorie die systemtheoretische Gesellschaftstheorie Luhmanns gemeint. Gesellschaftstheorie versteht sich bei Luhmann als ein An-wendungsfall der allgemeinen Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1984), der das soziale System ‚Gesellschaft’ als Gegenstand hat (dazu vor allem Luhmann 1997).2 ‚Kommunikation’ dient in Luhmanns Gesellschaftstheorie als einer der wichtigsten Grundbegriffe und steht für das Grundelement aller sozialen Syste-me, also aller Sozialität.

Beispiele für fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie und Internationalen Beziehungen (und vor allem im The-menbereich Sicherheit) sind bisweilen noch eher eine Seltenheit. Es gibt zwar zahlreiche systemtheoretische Artikel und Bücher zur Politik und in den letzten Jahren wird vermehrt auch deren Relevanz für die Politikwissenschaft diskutiert (vgl. Hellmann/Schmalz-Bruns 2002 und Hellmann/Fischer/Bluhm 2003). Aber leider hat sich Luhmann in seinen Arbeiten zum politischen System der Gesell-schaft fast ausschließlich um innerstaatliche Aspekte gekümmert. Seine eigenen Beiträge zum Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen sind äußerst spärlich. Der Gegenstand der IB ist innerhalb der systemtheoretischen Gesell-schaftstheorie entsprechend eher unterbestimmt geblieben. Gleichwohl bietet das systemtheoretische Begriffsinstrumentarium genug Material für eine theoretische Fundierung der internationalen Beziehungen in der Systemtheorie. Eine systema- 2 Andere Anwendungsfälle auf andere Systemtypen sind etwa Interaktionstheorie (vgl. Kieserling 1999), Organisationstheorie (Luhmann 2000c) oder Protestbewegungen (Hellmann 1996).

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1.1 Hintergrund 13

tische Umsetzung hat bisweilen noch nicht stattgefunden, aber es gibt mittlerwei-le doch schon eine Reihe interessanter Arbeiten, allen voran von Mathias Albert (Albert 1999; Albert 2002; Albert/Hilkermeier 2004) und einen Sammelband von Stephan Stetter (Stetter 2007). Daneben gibt es seit kurzem auch einige systemtheoretische Texte und Bücher, die sich mit Terrorismus (etwa Bae-cker/Krieg/Simon 2002; Japp 2003; Fuchs 2004), mit Frieden (Brücher 2002) und mit Krieg (Matuszek 2007) beschäftigen und damit zumindest in den thema-tischen ‚Dunstkreis’ der IB kommen. Ansonsten ist eher ein Desinteresse festzu-stellen, wenn man vergleicht, wie viele systemtheoretische Publikationen es über andere gesellschaftliche Teilbereiche gibt.

Soziologische Systemtheoretiker mögen sich fragen, warum man sich über-haupt mit dem Gegenstand internationale Beziehungen beschäftigen sollte, und IB-Theoretiker mögen sich komplementär dazu fragen, warum man internationa-le Beziehungen ausgerechnet mit Systemtheorie analysieren soll. Wenn system-theoretische Arbeiten überhaupt Gehör finden, so findet man eher ablehnende Haltungen. Exemplarisch konstatiert Brown für die Theorierichtung der so ge-nannten ‚Englischen Schule’ der Internationalen Beziehungen3: „It is more plau-sible that the more the ES learnt about modern systems theory, the less they would see it as potentially productive!” (Brown 2001: 436).4 Der Systemtheorie wird schließlich oft nachgesagt, ein für sozialwissenschaftliche Disziplinen un-übliches und sehr schwer zugängliches Vokabular zu verwenden. Da dort fach-lich an gänzlich andere wissenschaftliche Traditionen (unter anderem Kyberne-tik, Neurobiologie, Computerwissenschaften, Evolutionstheorie) angeschlossen wird als in den Internationalen Beziehungen, ist es kein leichtes Unterfangen, einen Mehrwert für letztere herauszuarbeiten, der bereits auf den ersten Blick einleuchtet und akzeptiert wird. Nicht nur unterscheiden sich die Grundbegriffe mitunter sehr stark, sondern auch Erkenntnisinteresse und Problemstellungen von Systemtheorie einerseits und IB andererseits scheinen stark voneinander abzuweichen. Die Frage nach dem Mehrwert einer systemtheoretischen Analyse für die IB kann erst dann befriedigend beantwortet werden, wenn einerseits eine begriffliche Übersetzungsleistung vorgenommen wurde, andererseits auch die Bezugsprobleme der jeweiligen Analysen bzw. Theorien auf einen Nenner ge-

3 Die Bezeichnung ‚Englische Schule’ ist ähnlich wie die anderen üblichen Bezeichnungen innerhalb der IB eher unscharf. Aber es gibt eine Art gemeinsames Kennzeichen, nämlich die Annahme, dass das internationale (Staaten-)System eine normativ integrierte ‚internationale Gesellschaft’ aus Staaten sei, obwohl, wie Brown einräumt, der Ausdruck ‚Club von Staaten’ besser passen würde (Brown 2001: 427), denn „the noun ‚society’ and the adjective ‚social’ are used by IS [International Society; WS] theorists in ways that most sociologists would frown upon“ (ebd.). 4 Der Ausdruck ‚Modern Systems Theory’ stammt von Mathias Albert 1999, meint aber explizit Luhmanns Systemtheorie. Das Präfix ‚Modern’ wird nur benutzt, um von anderen, vor allem älteren Systemtheorien in den Politikwissenschaften Abstand zu nehmen.

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14 1 Einleitung

bracht werden. Aber es gibt Anknüpfungspunkte, denn gerade mit dem mittler-weile sehr einflussreichen und stetig wachsenden konstruktivistischen Zweig in den IB werden zumindest in epistemologischer Hinsicht einige Überschnei-dungsbereiche zur Systemtheorie sichtbar. Ein systemtheoretischer Beitrag zu den IB wird trotzdem vielfach quer zu fachüblichen Unterscheidungen stehen. Vor allem fügt er sich nicht den strikten Binarisierungen etwa zwischen staats-zentriert/interdependenzzentriert, realistisch/idealistisch oder auch westfä-lisch/post-westfälisch. Es kann daher durchaus sein, dass IB-Realisten die Sys-temtheorie für zu ‚liberal’ oder für zu ‚postmodern’ halten, liberale Institutiona-listen oder kritische Theoretiker umgekehrt für zu ‚realistisch’ oder gar für zu ‚konservativ’.

Alberts Artikel von 1999 ist einer der ersten Versuche, Luhmanns Gesell-schaftstheorie mit den Theorien der Internationalen Beziehungen in Verbindung zu bringen und für beide Seiten nutzbar zu machen. Er spricht dabei noch sehr zurückhaltend von ‚möglichen Verknüpfungen’, und strebt keine „guru-adaptation“ (Albert 1999: 241), sondern nur eine „’partial usage’ of Luhmann’s theory“ (ebd. 242) an. Luhmanns Theorie ist für ihn nicht als „monistic theoreti-cal bloc“ interessant, den man einfach in die IB importiert, sondern „rather as a source and a strategy for concept-formulation for a theory of society that takes IR seriously and vice versa“ (ebd.), auch wenn das aus der Perspektive von „Luhmannite theoretical holists“ (ebd.) beanstandenswert, wenn nicht gar unak-zeptabel erscheinen mag. Deswegen empfiehlt Albert auch den Internationalen Beziehungen „to (…) retain a critical distance, to observe modern systems theory itself in order to espouse its weaknesses“ (ebd.: 241). Nichtsdestotrotz macht sich Albert in jedem Fall für eine Öffnung der IB in Richtung systemtheoreti-scher Gesellschaftstheorie stark, gerade, wenn sie sich als sozialwissenschaftli-che Disziplin verstehen: „IR theory can do without it, but if it takes seriously its claim to be a social science, it needs to examine how well it can do with it” (ebd.: 264).

Als Hauptanknüpfungspunkte werden vor allem die Theorie funktionaler Differenzierung und das Konzept der Weltgesellschaft (Luhmann 1997; Luh-mann 2005 [1971]; Stichweh 2000a) ins Feld geführt. Das umfassende soziale System Gesellschaft, innerhalb dessen jede Kommunikation abläuft (vgl. Luh-mann 1997: 78ff; Luhmann 2005[1975a]), ist unter modernen Bedingungen nicht mehr als regional, geografisch oder kulturell abgegrenzte Einheit, sondern als Weltgesellschaft aufzufassen, da sich Kommunikation einerseits über den ganzen Erdball ausbreitet (strukturelle Weltgesellschaft) und andererseits sich selbst als eine Welt wahrnimmt (phänomenologische Weltgesellschaft) (Stichweh 2000e: 248f). Die These der Weltgesellschaft wird aus ganz anderen Theorierichtungen bestätigt: Martin Albrow ruft das globale Zeitalter aus (Albrow 1998) und stellt

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1.2 Problemformulierung 15

einen wachsenden Einfluss globaler Praktiken auf das Leben von Menschen und eine zunehmende Bedeutung der Welt als zentralen Bezugspunkt bzw. Voraus-setzung menschlichen Handelns fest (ebd.: 141f). Ulrich Beck zufolge leben wir „längst in einer Weltgesellschaft, und zwar in dem Sinne, daß die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv wird“ (Beck 1998: 27f; Hervorhebung entfernt). Anthony Giddens spricht von einer raumzeitlichen Abstandsvergrößerung und einer „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen“ (Giddens 1995: 85). Entgegen einer weit verbreiteten Kritik impliziert die These der Weltgesellschaft in keiner Weise Homogenität von Kulturen oder die normative Forderung nach gleichartigen Lebensbedingungen überall auf der Welt (Stichweh 2000a: 12f, Nassehi 2003a: 214).5

Das Konzept der Weltgesellschaft wurde hier nur deswegen relativ ausführ-lich behandelt, weil es den offensichtlichsten Anknüpfungspunkt zwischen Inter-nationalen Beziehungen und systemtheoretischer Gesellschaftstheorie darstellt - selbst wenn Luhmanns eigene „Zentralkonzepte (…) nicht auf die Theorie der Weltgesellschaft hin durchgearbeitet worden“ sind, wie Stichweh feststellt (Stichweh 2002: 290). Für die folgenden Kapitel dient Weltgesellschaft jedoch allenfalls als Hintergrund. In diesem Buch stehen andere Schlüsselkonzepte der Systemtheorie im Mittelpunkt, die sich gewiss nicht weniger für eine Öffnung in Richtung IB eignen: nämlich Beobachtung, Kommunikation und funktionale Differenzierung der Gesellschaft.

1.2 Problemformulierung

Vor diesem theoretischen Hintergrund können wir uns nun dem Thema dieses Buches näher widmen: Bedrohung und Sicherheit. Bedrohung und Sicherheit hängen eng miteinander zusammen, und zwar dadurch, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Wenn keine Bedrohung besteht, kann etwas sicher sein, also Si-cherheit ‚herrschen’. Umgekehrt gilt: Wenn etwas bedroht ist, kann es nicht gleichzeitig sicher sein. Daran sieht man schon, dass es keine generelle, frei schwebende Sicherheit geben kann. Sicherheit muss immer die Sicherheit vonetwas sein, von einem Objekt. Aber um welches Objekt geht es? Zu Beginn des Kalten Krieges war man sich darüber einig, dass das Objekt der Staat ist. Man 5 Regionale Unterschiede im Entwicklungs- und Pazifizierungsgrad sind auch kein Hindernis für,sondern ein Produkt von Weltgesellschaft (Stichweh 2000a: 13). Gerade deshalb ist Weltgesellschaft (wie schon der Gesellschaftsbegriff schlechthin) kein Begriff der Einheit, sondern der Differenz, wie Nassehi unterstreicht: „Ich sehe gerade in der globalen Unterschiedlichkeit, in der Radikalität sozialer und kultureller Ungleichheiten, in der Inkompatibilität und radikalen Perspektivendifferenz, gerade in der Nicht-Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse des sozialen Lebens auf der Erde sowohl die Bri-sanz wie auch die Plausibilität des Begriffs Weltgesellschaft“ (Nassehi 2003a: 197).

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16 1 Einleitung

war also an der Sicherheit des Staates interessiert und der entsprechende Aus-druck war ‚Nationale Sicherheit’. Inzwischen ist man sich in der Theoriedebatte darüber nicht mehr so sicher, und es gibt einige Stimmen, die auf ganz andere Referenzobjekte abstellen, z.B. den ‚Menschen’ oder die ‚kulturelle Identität’. Dazu später mehr, ebenso wie zur Frage, ob etwas überhaupt ‚sicher’ sein kann.

Uns stellt sich hier zunächst die Frage, wer eigentlich darüber entscheiden will/darf/kann, ob eine Bedrohung vorliegt oder nicht. Was dem einen den Angstschweiß ins Gesicht treibt, kostet den anderen nur ein müdes Lächeln. Oft stecken (politische) Interessen dahinter, etwas als gefährlich und damit als Be-drohung darzustellen. Man denke an Regierungen, die von innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken möchten und deshalb vehement auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus hinweisen; man denke an Rüstungsunter-nehmen, die den Regierungen ihre Produkte verkaufen möchten oder man denke an Protestbewegungen, die um öffentliche Aufmerksamkeit oder um Spenden-mittel kämpfen. Interessen können aber sehr wohl auch beim Gegenteil dahinter stecken, nämlich wenn es gilt, etwas gerade nicht als Bedrohung darzustellen, z.B. wenn eine Regierung den Einfluss einer Protestbewegung entschärfen und potenzielle Gefahren herunterspielen will, wenn ein Unternehmen Verkaufsein-bußen fürchtet und daher die Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit seiner Produkte bewirbt oder wenn ein Entscheidungsträger seinen Ruf retten will. Wem soll man dann glauben, wenn sich der Verdacht darüber hartnäckig fest-beißt, dass bei der Kommunikation von Bedrohungen Interessen oder Ideologien im Spiel sind und uns weisgemacht werden soll, unsere Sicherheit stünde auf dem Spiel?

Fragen wie diese werden uns im Laufe des Buches beschäftigen. Aber es geht nicht darum, sie auch vollständig und ein für alle mal zu beantworten. Es geht viel mehr darum, daraus ein allgemeines theoretisches Problem abzuleiten. Offenbar kann alles Mögliche als bedrohtes Objekt in Frage kommen und alles Mögliche kann als Quelle der Bedrohung in Frage kommen. Aber auch das Ver-hältnis zwischen bedrohtem Objekt und der Quelle der Bedrohung an sich ist schon fraglich. Wer kommt überhaupt darauf, dass von einem Objekt eine be-drohende Wirkung auf ein anderes Objekt ausgeht? Vielleicht besteht ‚eigent-lich’ gar kein Zusammenhang zwischen ihnen. Wer entscheidet über all das? Die hier vorgestellte Antwort wird lauten: der Beobachter! Wer aber ist der Beobach-ter?

Mit Beobachten ist die Operation eines Systems gemeint, das zugleich eine Unterscheidung anwendet und eine Seite dieser Unterscheidung bezeichnet (Luhmann 1990a: 81ff). Mit Verweis darauf, dass später ausführlich in die De-tails gegangen wird, kann hier in aller Kürze festgehalten werden, dass soziale Systeme (= Kommunikationssysteme) beobachten, d.h. dass sie bestimmte Un-

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1.2 Problemformulierung 17

terscheidungen verwenden und jeweils eine Seite der benutzten Unterscheidung bezeichnen. Die andere Seite bleibt unmarkiert. Als Beobachter kann jedes selbstreferenziell geschlossene System in Frage kommen, aber in für Sozialwis-senschaften relevanten Fällen spielen die Beobachtungen von menschlichen Bewusstseinssystemen und sozialen Systemen die Hauptrolle.6 Damit ist aber auch impliziert, dass nicht nur politische Beobachter in Frage kommen. Bedro-hungen können überall in der Gesellschaft und in allen Kontexten beobachtet werden.

Unsere Frage kann damit präzisiert werden zur der Frage, wie soziale Sys-teme beobachten, d.h. welche Unterscheidungen sie verwenden, wenn sie Si-cherheit bzw. Sicherheitsprobleme beobachten. Dabei ist die benutzte Unter-scheidung unvermeidlich kontingent, d.h. auch anders möglich, und zwar aus dem einfachen Grund, dass stattdessen ebenso mit einer ganz anderen Unter-scheidung beobachtet hätte werden können. Jede Beobachtung ist damit eine Selektion unter Ausschluss von gleichzeitig verfügbaren anderen Möglichkeiten.

Bereits an dieser Stelle wird sichtbar, dass es sich bei der in diesem Buch zugrunde liegenden Wissenschaftsauffassung um einen erkenntnistheoretischen Konstruktivismus handelt - im Zusammenhang mit der Systemtheorie wird oft von ‚operativem Konstruktivismus’ gesprochen (Luhmann 1996: 17; Rasmussen 2004: 332). Es kann einem solchen Programm nicht darum gehen zu klären, was Sicherheit ist und ob es sie geben kann - die konstruktivistischen Grundannah-men lassen das gar nicht zu.7 Der Fokus wird umgelenkt von der Analyse von Sicherheitsproblemen ‚an sich’ auf die Analyse des Beobachtens von Sicher-heitsproblemen. Was damit gemeint ist, lässt sich schön demonstrieren mit ei-nem Zitat des Sicherheitsforschers Sheehan über die Schwierigkeit, den Begriff ‚Sicherheit’ zu definieren:

Security can be defined very broadly so that it means anything that affects the well-being of human beings. But this would force the inclusion of things such as natural disasters and illness. Volcanic eruptions and cholera epidemics are obviously serious

6 Damit die Beobachtungen eines Bewusstseins sozial folgenreich sein können, müssen sie kommu-niziert werden, also nicht nur die Form von Kommunikation annehmen (Mitteilungen, die von ihren Informationen unterschieden werden können), sondern sich auch der Eigendynamik von sozialen Prozessen unterwerfen. Was mit ihnen in einem sozialen Prozess passiert, entzieht sich also den Steuermöglichkeiten des Senders/Autors. In diesem Sinne hat Noreen recht mit der Behauptung, dass der Kommunikation von etwas als ‚Bedrohung’ ein ‚think act’ vorausgeht, also - systemtheoretisch formuliert - der Operation mindestens eines psychischen Systems. Noreen nennt dies den ‚kognitiven Ausgangspunkt’ (Noreen 2001: 95f). 7 Man kann ja schlecht mit konstruktivistischen Methoden die Existenz von Dingen verneinen, und zwar nicht nur aus Plausibilitätsgründen. Denn durch das Negieren der Existenz von Dingen würde ein Konstruktivismus mit Ontologie verschmelzen, da er selbst mit der ontologischen Leitunterschei-dung sein/nicht sein beobachten und die Seite nicht sein bezeichnen würde.

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18 1 Einleitung

problems but are they security issues? (...) Yet if they are security issues, then where does one draw the line? (Sheehan 2005: 59; Hervorhebung im Original).

Diese Frage ist sehr gut gestellt, und mit unterschiedlichen Definitionen von Sicherheit würde man sie wohl anders beantworten. Mit einer kommunikations-basierten Theorie wie der in diesem Buch verwendeten würde man sich jedoch viel eher dafür interessieren, unter welchen Bedingungen es sinnvoll erscheint, Naturkatastrophen wie einen Vulkanausbruch als Sicherheitsthema zu behan-deln. Die Antwort lautet dann: Wenn der Vulkanausbruch (bzw. seine Folgen) erstens als Bedrohung eines Objekts beobachtet werden, das den Beteiligten wichtig ist (z.B. das eigene Leben oder die Infrastruktur einer in der Nähe des Vulkans liegenden Stadt) und zweitens, wenn der Ausbruch des Vulkans oder dessen Folgen jemandem als Handlung zugerechnet und damit Verantwortung zugeschoben werden kann. Wahrscheinlich kann niemand den Vulkanausbruch selbst verhindern. Einwände können dann aber darauf abzielen, dass man hätte verbieten müssen, in das Gefahrengebiet zu ziehen oder dass man die Anwohner früher hätte warnen müssen. Die Kommunikation, so lautet ein vorläufiges Fazit, kann aus einem Vulkanausbruch sehr wohl ein Sicherheitsthema machen. Die Frage, wo man die Linie der Definition von Sicherheit ziehen muss, wird daher von der Praxis selbst beantwortet, und nicht von irgendeinem Forscher, der den Begriff definieren muss. Jede wissenschaftliche Kategorisierung schließt mit guten Gründen manche Fälle ein und gleichzeitig andere aus, über die andere Forscher mit ebenso guten Gründen anders entscheiden würden. Dieses Problem ist nicht vom Forscher zu lösen, sondern von der Kommunikation selbst. Nicht zuletzt deshalb wird dieses Buch sich nicht darum bemühen, eine neue (womög-lich gar nicht bessere) Definition von Sicherheit zu entwerfen.8

Vielmehr interessiert hier gerade, wie solche Situationen von Akteuren beo-bachtet und damit überhaupt erst als ‚Problem’ hervorgebracht werden. Es liegt also die Annahme dahinter, dass Beobachtungen ihren Gegenstand erst erzeugen und dass, daraus folgend, unterschiedliche Beobachtungen unterschiedliche Ge-genstände zu Tage bringen. Aus diesem Grund muss nicht der Sicherheitsbegriff definiert werden, sondern der Begriff ‚Bedrohungskommunikation’. Mit Bedro-hungskommunikation soll in diesem Buch jene Kommunikation bezeichnet wer-den, die mit der Leitunterscheidung bedroht/sicher bzw. Bedrohtheit/Sicherheit beobachtet.9 Mit dieser Form wird die Bedrohung eines Objekts beobachtet, 8 Um zu sehen, dass es schon vor längerer Zeit genug davon gab, reicht ein Blick in Barry Buzans Standardwerk ‚People, States and Fear’ (Buzan 1991). Dort werden zahlreiche Definitionen des Sicherheitsbegriffs verschiedener Autoren mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen aufgelistet, die jeweils unterschiedliche Zwecke für unterschiedliche Forschungsziele erfüllen. 9 Die Entscheidung für den etwas künstlich klingenden Begriff ‚Bedrohtheit’ begründet sich darin, dass Sicherheit einen (wie auch immer fiktiven) Zustand bezeichnet. Der Gegenbegriff muss, um

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1.2 Problemformulierung 19

deren Konsequenzen sowohl den Sprecher als auch den Adressaten der Kommu-nikation betreffen. Von alledem ist jedoch die Frage nicht berührt, ob der Spre-cher wahrhaftig kommuniziert (und nicht etwa lügt) oder ob er realistisch beo-bachtet (und nicht etwa paranoid oder hysterisch). Kommunikation setzt sich immer der Beobachtung aus, und sie kann natürlich auch danach beobachtet werden, ob sie den jeweilig vorherrschenden Kriterien von Plausibilität und Evidenz (vgl. Luhmann 1980: 49f) entspricht oder sich nach hanebüchenen Sze-narien anhört, ob sie glaubwürdig ist oder vielmehr als Heuchelei, Vortäuschung falscher Absichten oder Verschleierung der ‚wahren’ Interessen gedeutet werden kann. Was kommuniziert wird, muss keinesfalls dem entsprechen, was darüber gedacht wird. Und weil das jeder weiß, entsteht überhaupt erst der Verdacht, dass der Inhalt der Kommunikation von den ‚eigentlichen’ Motiven abweichen könnte. Ob die beobachtete Bedrohung in der Realität ‚existiert’, oder ‚nur’ eine Erfindung der Kommunikation ist, lässt sich oft gar nicht, oft nicht genau oder erst viel später klären10, und wird daher nicht im Zentrum unserer Aufmerksam-keit stehen. Wenn die Kommunikation Anspruch auf Erfolg haben will, d.h. vom Adressaten angenommen werden soll, dann wird sie schon selbst für ihre Glaubwürdigkeit sorgen. Ob sie aber vom Adressaten geglaubt wird und dieser seine Handlungen den durch die Bedrohungskommunikation mitgeteilten Erwar-tungen anpasst, ist eine empirische Frage, die von Einzelfall zu Einzelfall vari-iert.

Aus dem hier nur skizzenhaft präsentierten Forschungsvorhaben wird eine bedeutsame Konsequenz für die Absicht dieses Buches sichtbar: Das Konzept der Bedrohungskommunikation dient vor allem dazu, Kommunikation zu verste-hen. Entsprechend sieht sich dieses Buch als Beitrag zu einer auf Kommunikati-on als Grundkonzept basierenden Gesellschaftstheorie. Es sollte daher nicht als Beitrag zur politischen Theorie, sondern zur Gesellschaftstheorie und zu einer gesellschaftstheoretischen Theorie der Politik gesehen werden. Die inhaltlich erheblich breiter angelegte Gesellschaftstheorie eröffnet Vergleichsmöglichkei-ten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen, die niemals zu-gänglich wären, wenn man sich, wie die Internationalen Beziehungen nur auf einen Gegenstand innerhalb eines Teilbereiches, des politischen Systems, kon-zentrierte. Mit Kieserling lässt sich gar argumentieren, dass Theorien der Interna-tionalen Beziehungen ‚Reflexionstheorien’ des gesellschaftlichen Teilsystems einen Kategorienfehler zu vermeiden, ebenfalls einen Zustand bezeichnen. Bedrohung hingegen beschreibt eine Relation, nämlich die zwischen einem bedrohten Objekt und einer Quelle der Bedro-hung (vgl. Kapitel 3). 10 Als Beispiel erinnere ich hier an die langen Streits darüber, ob der britischen und der US-amerikanischen Regierung tatsächlich authentische Beweise darüber vorgelegen hatten, dass der irakische Diktator Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besaß und davon eine Bedrohung für die ‚freie Welt’ ausging, die mit der Invasion des Landes verhindert werden musste.

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20 1 Einleitung

Politik sind, die nicht nur über, sondern vor allem für das politische System schreiben (vgl. Kieserling 2004: 97). Reflexionstheorien „beschränken den Ver-gleichshorizont auf das eigene System“ (ebd. 93), während soziologische Gesell-schaftstheorien die Teilsysteme miteinander vergleichen. Gegenüber den oft sehr normativen und am rationalen Handeln der Akteure orientierten Theorien der Internationalen Beziehungen grenzt sich die systemtheoretische Gesellschafts-theorie ab (vgl. Luhmann 2005 [1964]: 58), und kann dadurch eine größere Dis-tanz zum Gegenstand einnehmen, die ersteren gerade fehlt, wie Albert bemerkt:

In IR, the difference becomes most clear in relation to realist theories; these do not provide theories of international relations as theories of international relations within world society, but form part of how the political system of world society (...) ob-serves itself; i.e. they form the everyday ‘background theory’ about how interna-tional politics work within the political system (Albert 2004: 21f).

Gerade hier kann der Mehrwert einer gesellschaftstheoretischen Beobachtung von Sicherheit als Produkt von Kommunikation liegen. Erst die systemtheoreti-sche Gesellschaftstheorie liefert ein leistungsfähiges, abstraktes Begriffsinstru-mentarium (vgl. ebd.: 28f), mit dem man Bedrohungskommunikation als eigen-ständigen Kommunikationstyp identifizieren und dann mit anderen Kommunika-tionstypen vergleichen kann. Der Preis ist allerdings kein Geringer: Das sehr abstrakte Begriffsinstrumentarium ist für die Sprache der Teilsystemperspektiven sehr unüblich und hat in den Teilsystemen und deren Theorien erhebliche Rezep-tionshindernisse, vor allem aber Plausibilitätsprobleme zur Folge. Man hört der Soziologie und ihren Gesellschaftstheorien immer gerne zu, da „sie den routine-mäßigen Blick des Alltags und die unhinterfragbaren Plausibilitäten sozialer Konstellationen mit einer anderen, theoretisch und methodisch kontrollierten Lesart versorg[en]“ (Nassehi 2003a: 253). Aber das heißt noch lange nicht, dass soziologische Analysen auch Folgen außerhalb der Soziologie haben.11

Mit dem gesellschaftstheoretischen Grundgerüst ergibt sich nicht nur eine andere Perspektive auf den und ein anderer Zugang zum Gegenstand, sondern es ergeben sich auch andere, den Hausdisziplinen gegenüber mitunter inkompatible Fragestellungen. Es geht hier um die Analyse einer bestimmten Form von Kom-munikation, die natürlich nicht nur thematisch sehr viel mit einem Kernfor-schungsbereich der Politikwissenschaft im Allgemeinen und den Internationalen Beziehungen im Besonderen zu tun hat. Überschneidungen sind nicht nur ein Nebeneffekt, sondern explizit erwünscht. Da hier aber keine konkreten Policy-

11 Nassehi vergleicht die Soziologie daher mit der Rolle des Hofnarren: „der Hofnarr ist der einzige, der die Wahrheit sagen darf, ohne geköpft zu werden, freilich um den Preis, nicht ganz ernst genom-men zu werden“ (Nassehi 2003a: 253).

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1.3 Argumentation und Aufbau des Buches 21

Analysen durchgeführt werden, wird sich eine unmittelbare Anwendbarkeit der theoretischen Überlegungen dieses Buches nicht ableiten. Die hier entwickelten und vorgeführten Gedanken verstehe ich dennoch als kleinen Beitrag zu einem besseren Verständnis dessen, was in politischen und öffentlichen Beschreibun-gen als ‚Sicherheitsproblem’ bezeichnet wird. Meine Absicht ist es mit diesem Buch, einen Schritt in diese Richtung zu unternehmen, und ich bin der Meinung, dass es für dieses Vorhaben unumgänglich ist, Sicherheit, Sicherheitsprobleme und Bedrohungen als Produkte von Kommunikation aufzufassen.

1.3 Argumentation und Aufbau des Buches

Neben der Einleitung besteht das Buch aus sechs Kapiteln, die Schritt für Schritt aufeinander aufbauen und einer Konklusion. In Kapitel 1 geht es zunächst dar-um, die theoretischen Ausgangspunkte der Sicherheitsforschung in den Internati-onalen Beziehungen vorzustellen. Die Absicht dieses Kapitels ist es daher, erst einmal zu umreißen, was in den Internationalen Beziehungen unter ‚Sicherheit’ verstanden wird und wie die führenden Debatten aussehen. Mithilfe systemtheo-retischer Mittel wird beobachtet, wie diese Theorien und Konzepte beobachten12

und dabei festgestellt, dass sie alle einen gemeinsamen blinden Fleck haben: Sie reflektieren bei ihren Beobachtungen nicht, dass es sich um Beobachterperspek-tiven handelt. Weil es sich um Perspektiven handelt, sind sie unvermeidlich auch begrenzt.13

Was damit gemeint ist, wird Gegenstand des dritten Kapitels sein. Wer oder was ist der ‚Beobachter’, und wofür braucht man ihn? Um später das Konzept der Bedrohungskommunikation einführen zu können, ist dieser Schritt grundle-gend, und zwar in zweifacher Hinsicht. Einerseits prozessiert Kommunikation zu ihrer eigenen Fortsetzung ständig Unterscheidungen, d.h. sie beobachtet. Ande-rerseits sind Bedrohungen das Produkt von Beobachtungen. Erst ein Beobachter bringt sie hervor, indem er eine Beziehung zwischen zwei Objekten (einem be-drohten Objekt und einer Quelle der Bedrohung) beobachtet. Wie das vonstatten geht, wird mithilfe von empirischen Textbeispielen illustriert.

Mit den beobachtungstheoretischen Voraussetzungen im Gepäck kann im vierten Kapitel das Konzept der Bedrohungskommunikation selbst ins Visier genommen werden. Dazu muss erst in das systemtheoretische Verständnis von Kommunikation und folglich auch von Systemen eingeführt werden. Im An-

12 Diese Formulierung ist beabsichtigt und verweist auf die Beobachtung 2. Ordnung, nämlich die Beobachtung von Beobachtungen. Kapitel 3 wird sich damit ausführlich beschäftigen. 13 Letzteres trifft auf jede Perspektive zu, selbstverständlich auch auf die hier verwendete systemtheo-retische.

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22 1 Einleitung

schluss werden Beobachtungstheorie und Kommunikationstheorie kombiniert und auf Bedrohungen angewandt. Unter Bedrohungskommunikation wird die Kommunikation einer Bedrohung verstanden, die (aus Sicht des Beobachters) sowohl den Beobachter selbst als auch den Adressaten der Kommunikation be-trifft. Auch hier dienen empirische Beispiele zur Illustration der theoretischen Argumentation.

Die nächsten drei Kapitel dieses Buches basieren auf den vorher dargestell-ten beobachtungs- und kommunikationstheoretischen Grundannahmen. Ihre Fragestellungen gehören aber in den Bereich der Gesellschaftstheorie. Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Gesellschaftsbegriff, dem Prinzip der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme (etwa Recht, Poli-tik, Wissenschaft, Wirtschaft, Massenmedien) und der Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (etwa Macht, Liebe, Geld, Wahrheit). In diesem Kapitel wird zunächst gezeigt, inwiefern die Teilsysteme mit zweiseiti-gen Leitunterscheidungen unterscheiden, das Rechtssystem etwa mit der Unter-scheidung recht/unrecht, um daran anschließend zu argumentieren, dass Bedro-hungskommunikation auch mit einer solchen Leitunterscheidung beobachtet, nämlich bedroht/sicher. Wie die Kommunikation der meisten Teilsysteme ihre eigene Anschlussfähigkeit durch so genannte symbolisch generalisierte Kommu-nikationsmedien steigert (etwa wirtschaftliche Kommunikation durch das Medi-um Geld oder politische Kommunikation durch das Medium Macht), kann auch Bedrohungskommunikation auf ein solches Medium zurückgreifen. Das Medium heißt ‚Sicherheit’. Mit Bezug auf die gefährdete Sicherheit lässt sich eine Forde-rung viel leichter kommunikativ durchsetzen. Die Frage danach, was Sicherheit in der systemtheoretischen Sprache ist, ließe sich dann einfach beantworten: ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Wie in den Kapiteln 3 und 4 werden auch hier empirische Beispiele zur Illustration verwendet.

Das politische System und dessen Verhältnis zu Bedrohungskommunikation wird der Gegenstand von Kapitel 6. Damit wird der Tatsache Rechnung getra-gen, dass Sicherheit zumeist als politisches Thema, wenn nicht gar als eine mo-nopolisierte Aufgabe der Politik betrachtet wird. In der Tat sind Bedrohungs-kommunikation und politische Kommunikation miteinander verknüpft, aber nicht identisch. Der Schlüssel liegt in der Problemformel des Politischen - Kol-lektivität. Die Herstellung von Kollektivität gehört zur Funktion des politischen Systems der Gesellschaft. Bedrohungskommunikation erzeugt ein Kollektiv zwischen allen, die (der Beobachtung gemäß) von der Bedrohung betroffen sind.

Das siebte Kapitel widmet sich Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu anderen sozialen Systemen bzw. Kommunikationsformen. Im Zentrum stehen das Funktionssystem Medizin, Konfliktsysteme und die Kommunikationsform Moral. Es wird argumentiert, dass Bedrohungskommunikation genau wie medizinische Kommunikation eine Sonderkommunikation ist, die - wenn aktuell -

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1.3 Argumentation und Aufbau des Buches 23

Vorfahrt vor anderer Kommunikation beansprucht: Wenn eine Bedrohung oder ein medizinischer Notfall vorliegt (d.h. beobachtet wird), dann ist erst einmal alles andere unwichtig. Mit Moral und Konflikten hat Bedrohungskommunikati-on gemeinsam, dass sie mit einem binären Code beobachtet, überall in der Ge-sellschaft relativ voraussetzungslos auftauchen kann, und ebenso schnell wieder verschwinden kann. Wie Moral kann sie sich jedoch nicht als eigenes System operativ schließen. Wie ein Konflikt kann sich Bedrohungskommunikation in anderen Systemen parasitär einnisten, denn beide erzeugen eine Störung durch ihre Beobachtungsformen, die die systemeigenen außer Kraft setzen können. Auf der Grundlage solcher parasitärer Kommunikation können sich andere Systeme (z.B. Organisationen) oder Einrichtungen (Professionen) etablieren, die mit der Störung des jeweiligen Wirtssystems beschäftigen, und zwar in einem doppelten Sinne. Erstens gäbe es ohne die Störungen keinen Anlass für ihre Bildung, zwei-tens legitimieren sie sich durch die Bearbeitung und (versuchte) Beseitigung dieser Störungen.

Am Ende des Buches werden in einer Konklusion die wichtigsten Aspekte von Bedrohungskommunikation zusammengefasst und ein kurzer Ausblick auf mögliche Forschungsthemen und -felder gegeben.

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2 Sicherheit in den Internationalen Beziehungen

2.1 Hintergrund: Sicherheit und Internationale Beziehungen

Seit den Anfängen der akademischen Disziplin der ‚Internationalen Beziehun-gen’ im Jahre 1919 gilt ‚Sicherheit’ ein als Schlüsselthema (vgl. Sheehan 2005: 1; Booth 2005a: 2). Die noch frischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges sorg-ten zu Beginn dafür, dass gar nicht erst groß gefragt wurde, was mit ‚Sicherheit’ als Begriff überhaupt gemeint war. Es ging generell um die Frage, wie Staaten andere Staaten davon abhalten konnten, sie anzugreifen. Allgemein ausgedrückt: Wie lässt sich ein Weltkrieg in Zukunft verhindern?

In der Zeitspanne zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Zwei-ten Weltkriegs war der Diskurs durch Idealismus geprägt, also dem Glauben an (bzw. der Hoffnung auf) die Idee eines andauernden Friedens, gesichert durch den Völkerbund. Sicherheit war dann zumeist ein Ausdruck für ‚internationale Sicherheit’, obwohl die theoretische Unterscheidung zwischen der nationalen Sicherheit einzelner Staaten und internationaler Sicherheit in dieser Zeit ziemlich unscharf war und praktisch kaum eine Rolle spielte (Wæver 2004: 56).14

Das Versagen des Völkerbundes und der Zweite Weltkrieg sorgten für Plau-sibilitätsprobleme in den Reihen der Idealisten und verschafften so den Realisten - den intellektuellen Gegenspielern der Idealisten - einen Einfluss, der so groß wurde, dass er sowohl die politikwissenschaftlichen Diskurse als auch die Au-ßenpolitik der USA in den ersten Nachkriegsjahrzehnten dominierte. Die Ge-schichte der Disziplin ‚Internationale Beziehungen’ seit 1945 lässt sich daher vereinfacht auch als fortwährendes Abarbeiten am realistischen Paradigma zu-sammenfassen, je nach Lager entweder als Verteidigung und Weiterentwicklung oder als Kritik und Angebot von Alternativen.15 Der vorherrschende Sicherheits- 14 ‚Nationale Sicherheit’ als Gegenbegriff zu ‚internationaler Sicherheit’ tauchte überhaupt erst in den 1940ern auf und nahm schnell eine zentrale Rolle in der US-amerikanischen Außenpolitik ein (Yer-gin 1977: 194ff). Siehe dazu auch McSweeney: “‘National security’ was an idea, a doctrine, and an institution, designed to bridge the traditional division between the interests of the state abroad and those of the state at home, and to merge the culture of everyday life with that of the defence of the national interest” (McSweeney 1999: 20). 15 Realismus hat jedenfalls innerhalb der IB eine so bedeutende Rolle, dass kaum ein Text nicht seine Position gegenüber dem Realismus markiert. Ähnliches gab es in der Soziologie höchstens im Zu-sammenhang mit Talcott Parsons und dem Strukturfunktionalismus.