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Mario Kessler Westemigranten Deutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR zeithistorische studien 60

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WestemigrantenDeutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR

Dieses Buch geht den Spuren deutscher kommunistischer Exilanten in den USA nach, die nach dem Ende des Hitler-Regimes nach Deutschland zurückkehrten und in die DDR gingen. Es untersucht sowohl ihre Exilerfahrungen in der amerikanischen Gesell-schaft wie auch ihre Lebensumstände im Osten Deutschlands nach 1945. Neben akti-ven KPD-Mitgliedern werden auch prominente „Kommunisten ohne Parteibuch“ wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Ernst Bloch oder Stefan Heym einbezogen. Welche Entwür-fe für ein Nachkriegsdeutschland entwickelten diese kommunistischen Exilanten im Westen und welche ihrer Hoffnungen erfüllten sich dann in der DDR oder scheiterten dort? Ein besonderes Augenmerk legt die Studie auf die Bindung der behandelten Pro-tagonisten an die kommunistische Partei und deren Umfeld – sowohl in den USA als auch in der DDR. Nicht zuletzt blickt das Buch insbesondere bei Schriftstellern, Journa-listen und Künstlern auf das „kulturelle Gepäck“, das die Rückkehrer aus den USA mit-brachten.

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Mario Keßler: Westemigranten

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Zeithistorische StudienHerausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Band 60

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Mario Keßler

WestemigrantenDeutsche Kommunisten zwischen USA-Exil und DDR

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

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Mario Keßler ist Projektleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung, apl. Professor an der Universität Potsdam und Gastprofessor an der Yeshiva University in New York.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 KölnAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Bertolt Brecht und Hanns Eisler „Ein Lied wird geboren“. Aquatinta-Radierung von Herbert Sandberg (© akg-images / ddrbildarchiv.de)

Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Lektorat und Satz : Waltraud Peters, PotsdamDruck und Bindung : Hubert & Co., Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-50045-0

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Inhalt

Stefan Heym: Ich aber ging über die Grenze … .............................................................. 7

Vorwort................................................................................................................................... 9

I. Die USA und die Flüchtlinge ................................................................................. 17

„Roosevelts Amerika“ und die deutschen Flüchtlinge ........................................ 17 Amerikanische Hilfsorganisationen und die Öffentlichkeit ............................. 23

Freunde und Gegner: Antifaschisten und Amerikas radikale Rechte .....................29

II. Zwischen Integration und Marginalisierung. Deutsche Kommunisten in den USA ..................................................................... 37

Die ersten Schritte der Exilanten............................................................................. 38 Chancen und Probleme der Erwerbsarbeit ........................................................... 80

III. Politik und Zeitgeschichte: Netzwerke und Publizistik der deutschen Kommunisten .......................113

Unlösbare Widersprüche: Die Kommunistische Partei der USA..................113 Stefan Heym und das „Deutsche Volksecho“ (1937–1939) ...........................121

„Reden an den Feind“: Stefan Heym als amerikanischer Soldat.....................137 Was soll aus Deutschland werden? Kommunisten im Council for a Democratic Germany....................................144

Zwischen Tagespolitik und Geschichtspolitik: „The German American“...169 Das Ende des Council for a Democratic Germany............................................176

Lehren aus der Geschichte? „The Lesson of Germany“ (1945) ......................183

IV. Ein Netzwerk an Verschwörern? Deutsche Kommunisten im Visier des FBI .....................................................191

Gerhart Eisler und die anderen: J. Edgar Hoovers FBI und die deutschen Kommunisten ............................................................................................................191 „Poeta laureatus“ der Kommunisten. Das FBI und Bertolt Brecht................205 Welche Regierungsform ist die bessere? Hanns Eisler unter Beobachtung..218

V. Rückkehr und Neubeginn, Hoffnungen und Rückschläge.......................223

Zwischen New York und Berlin: Die manchmal lange Rückkehr .................224 Neubeginn in Ostdeutschland: Chancen und Probleme .................................234 Rückreise mit Hindernissen: Brecht und die Eisler-Brüder ............................250 Sozialistische Academia: Die „Westemigranten-Universität“ Leipzig ..........272

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6 Inhalt

VI. „Säuberungen“ ohne letzte Konsequenz. Der SED-Apparat und die Rückkehr aus Amerika........................................297

Die SED als „Partei neuen Typus“ ........................................................................298 „Westemigranten“ im Visier der Parteikontrolleure.........................................301 Die „Affäre Field“ und die USA-Rückkehrer .....................................................305 Ein „Feind der Arbeiterklasse“: Jacob Walcher ..................................................316 Erneut Glück gehabt: Gerhart Eisler ....................................................................326

VII. Zwischen Teilhabe und Flucht. Die „Amerikaner“ in der DDR ................343

Verordnete Amerikabilder? Die USA-Rückkehrer in der frühen DDR.......344 Jazz, Rock ’n’ Roll und die „fortschrittliche deutsche Kultur“........................356 Albert Norden: Ein USA-Rückkehrer im Politbüro.........................................365 Wissenschaftliche „Spätheimkehrer“: Die Rapoports, Albert Wollenberger und die Katzensteins ................................................................................................369 „Spätheimkehrer“ auf Umwegen: Die Weiskopfs und Hans Székely............377 Erneute Flucht wider Willen: Alfred Kantorowicz, Ernst Bloch, Karola Bloch ................................................380 „Offen gesagt“ – Stefan Heyms Publizistik .........................................................395 Ein Fenster nach Amerika? Hilde Eisler und „Das Magazin“ .........................415

VIII. Amerika, die DDR und die Erinnerung ............................................................425

Die Entdeckung der USA in der DDR?...............................................................425 Der Rückzug einer Generation ..............................................................................431 Amerikabilder eigener Art. Frühe autobiographische Schriften.....................449 Die späten Zeugnisse ................................................................................................458

Anhang

Deutsche kommunistische Exilanten in den USA 1934–1945: Biographien .....479 Quellen- und Literaturverzeichnis.................................................................................526 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................573

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Stefan Heym: Ich aber ging über die Grenze ...

Ich aber ging über die Grenze. Über die Berge, da noch der Schnee lag, auf den die Sonne brannte durch die dünne Luft. Und der Schnee drang ein in meine Schuhe.

Nichts nahm ich mit mir als meinen Hass. Den pflege ich nun. Täglich begieße ich ihn mit kleinen Zeitungsnotizen von kleinen Morden, nebensächlichen Misshandlungen und harmlosen Quälereien.

So bin ich nun einmal. Und ich vergesse nicht. Und ich komme wieder über die Berge, ob Schnee liegt, oder das Grün des Frühlings die Höhen bedeckt, oder das Gelb des Sommers, oder das dunkle Grau des Herbstes, der den Winter erwartet.

Dann steh ich im Lande, das sich befreien will, mit einer Stirn, die zu Eis geworden in den Jahren, da ich wartete. Dann sind meine Augen hart, meine Stirn zerfurcht, aber mein Wort ist noch da, die Kraft meiner Sprache und meine Hand, die des Revolvers eiserne Mündung zu führen versteht.

Über die Straßen [entgegen] geh ich der Heimatstadt, über die Felder, die mir verloren gingen, auf und ab, auf und ab.

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Vorwort

My fuel supply is finished There ain’t nothing left to burn

I need someone to help me But I don’t know which way to turn I know I don’t have much of a choice

I’ll go out of my mind Or into the night

There’s people all around me

But I feel so alone I guess they’d like to help me

But I have to do it on my own I know I don’t have much of a choice

I’ll go out of my mind Or into the night

(B. B. King: Into the Night)

Eine erste Idee zu diesem Buch hatte ich vor vielen Jahren, als ich im SED-Archiv auf einen Bericht Albert Schreiners stieß, den dieser nach seiner Rückkehr aus den USA an den Parteivorstand verfasst hatte. Darin hatte Schreiner, wirkungsmäch-tiger Publizist und Militärexperte der KPD, geschrieben, nach einer ersten Zu-sammenkunft im November 1941 in New York habe sich die KPD-Gruppe erst im Frühjahr 1944 wieder getroffen. Obwohl mir natürlich bekannt war, dass aus-ländische Kommunisten bei ihrer Einreise in die USA ihre KP-Mitgliedschaft verschweigen mussten, wollten sie ins Land gelassen werden, erschien es mir äu-ßerst unwahrscheinlich, dass die KPD in den USA in der Zwischenzeit keine Ak-tivitäten entfaltet hätte. Als ich dann die Biographie Ruth Fischers schrieb, musste ich auch die Behauptungen der früheren KPD-Politikerin prüfen, in denen sie ein verschwörerisches Netzwerk deutscher Kommunisten schilderte, das auf Geheiß Moskaus die öffentliche Ordnung Amerikas zu unterminieren helfe.

Die verdienstvollen Standardwerke zum deutschen Exil in den USA, angefan-gen mit Joachim Radkaus Pionierstudie bis hin zu Jean-Michel Palmiers Gesamt-schau, boten hierzu nur wenige Informationen, und sogar der Band Exil in den USA, der an der Akademie der Wissenschaften der DDR erarbeitet wurde, half nur begrenzt weiter. Ich entschloss mich, um ein detailreiches Bild zu gewinnen, sowohl den Spuren deutscher kommunistischer Exilanten in den USA nachzuge-hen, als auch den Exilerfahrungen, die ihr Leben im Osten Deutschlands nach 1945 mitbestimmten. Damit suchte ich das Thema auf die Wahrnehmung der

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10 Vorwort

0SA in der DDR auszuweiten, um auch Aspekten der politischen Kultur im Kal-ten Krieg nachzuspüren; Aspekten, die für das Verständnis dieser Epoche heute von Nutzen sein mögen. Ich grenzte also den Personenkreis auf jene ein, die in die Sowjetische Besatzungszone und spätere DDR zurückkehrten. Was sie alle zu-sammenband, waren weniger innere Konsistenzen in Lebens- und Schaffensent-würfen, als vielmehr die Tatsache eines gemeinsamen Exillandes und die, manch-mal von Widersprüchen begleitete Entscheidung der Rückkehr nach Ostdeutsch-land.

Nur wenige blieben in den USA, kein Kommunist kehrte in den Westen Deutschlands zurück. Erwin Piscator, der nach Westdeutschland zurückkehrte, hatte in den USA nicht mehr zum Kreis prokommunistischer Intellektueller ge-hört. Ein anderer Rückkehrer, der Schauspieler Curt Bois, nahm 1950 zunächst seinen Wohnsitz in der DDR, zog aber 1954 nach Westberlin. Er blieb auch wei-terhin der DDR und ihrem Theater verbunden, war aber zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Mitglied der KPD oder in ihrem Umfeld aktiv, so dass auch er hier unberücksichtigt bleibt.1

Mich interessierten jedoch nicht nur die eingetragenen KPD-Mitglieder, son-dern auch die „Kommunisten ohne Parteibuch.“2 So waren Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Ernst Bloch und Stefan Heym keine Parteimitglieder, doch sind kommu-nistische Publizistik oder die Ansätze kommunistischer Politik ohne sie kaum denkbar – vom künstlerischen Schaffen in einem als „kommunistisch“ bezeichne-ten oder verschrienen Sinn ganz zu schweigen. Steckt man den Kreis derart ab,

1 Doch selbst der politisch nicht hervorgetretene Bois verlor im Kalten Krieg in Hollywood

fast jede Arbeitsmöglichkeit, weshalb er nach Deutschland zurückging. Dort setzten sich – in Ost wie West – jedoch seine Probleme noch geraume Zeit fort, was allein einen bezeich-nenden Blick auf den Umgang mit Remigranten in beiden deutschen Staaten wirft. Auch Bois’ Freund und Kollege Fritz Kortner (der gleichfalls kein Kommunist war) wollte nach Ostberlin, doch untersagten ihm das die US-Behörden. Kortner war amerikanischer Staats-bürger und an diese Weisung gebunden. – Nicht berücksichtigt wurden solche KPD-Exilanten, die in England für den amerikanischen Geheimdienst Office of Strategic Services arbeiteten und folgerichtig aus englischem Exil zurückkehrten. Unter ihnen ist Jürgen Kuc-zynski der weitaus Bekannteste.

2 Im Englischen wird umgangssprachlich zwischen „Communist“ (meist mit großem C) und „communistic“ unterschieden. Der erstgenannte Begriff bezeichnet Mitglieder kommunisti-scher Parteien, der zweite bezieht sich (oft mit negativem Unterton) auf ihre ausgesproche-nen Sympathisanten.

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Vorwort 11

handelt es sich um rund vier Dutzend Personen, mit denen das vorliegende Buch befasst ist (ihre Kurzbiographien befinden sich im Anhang).

Die zentrale Fragestellung des Buches geht von politik- und ideengeschichtli-chen Ansätzen aus. Auf der politischen Ebene geht es primär um die Frage, welche Entwürfe für ein Nachkriegsdeutschland das deutsche kommunistische Exil ent-wickelte und welche Hoffnungen sich in der DDR erfüllten oder nicht erfüllten.

Auf ideengeschichtlicher Ebene interessiert, daran anknüpfend, besonders die Bindung der sehr unterschiedlichen Akteure an die kommunistische Partei – und zwar sowohl in den USA als auch in der DDR. In den USA war die Bindung eine freiwillig eingegangene Verpflichtung. Das änderte sich in der DDR, wo die Remi-granten, besonders wenn sie SED-Mitglieder waren, Regeln unterworfen wurden, die sie nur zum kleinen Teil bestimmten, zum größeren Teil aber auch dann ak-zeptieren mussten, wenn dies den Erfahrungen ihres bisherigen Lebens wider-sprach.

Hinzu tritt eine intellektuell-kulturgeschichtliche Analyseebene. Hier wird vor allem bei Schriftstellern, Journalisten und Künstlern nach dem „kulturellen Ge-päck“ gefragt, das die Rückkehrer aus den USA mitbrachten. In welchem Maß prägte es die Arbeit der Remigranten? Wer bezog sich wann auf seine Amerika-Erfahrungen, wer tat dies nicht?

Dabei soll schließlich auch dem Spannungsverhältnis nachgespürt werden, unter dem die Remigranten in der DDR wirkten: Sie waren „Exoten“ unter Men-schen, die die USA nicht kannten. Gemeinsam mit anderen Rückkehrern, zumeist aus England, lebten viele von ihnen in einem familiären und kulturellen kleinen Teilmilieu. Sie wurden als „Westemigranten“ weiterhin (wenngleich unter ande-rem Vorzeichen als in den USA) beargwöhnt, doch wurden sie in Ostdeutschland nun auch benötigt: Die SED-Führung konnte auf die Erfahrungen der USA-Kenner nicht verzichten.3 Deren Handlungsspielräume bemaßen sich dabei stets an den Vorgaben der „Partei neuen Typus“, in deren Ideologie die USA als impe-rialistische Hauptmacht – und lange als nichts sonst – fungierte. Diesen Vorgaben dienten einige Remigranten willig, andere taten dies zögernd oder nicht, manche entzogen sich geschickt und arbeiteten als „reine“ Wissenschaftler. Nur wenige zeigten sich nach erster Anpassung dann als widerborstige Rebellen. Die Frage 3 Von einem ganz ähnlichen Ansatz ausgehend, zeigt dies in sehr anregender Weise ein Auf-

satz anhand der Remigranten an der Journalistischen Fakultät der Leipziger Universität. Vgl. Daniel Siemens, Elusive Security in the GDR: Remigrants from the West at the Faculty of Journalism in Leipzig, 1945–61, in Central Europe 11, 2013, Nr. 1, S. 24–45.

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12 Vorwort

nach biographischen Kontinuitäten und biographischen Brüchen bildet somit gleichfalls eine „Leitfrage“ dieses Buches.

Kaum eine der hier behandelten Persönlichkeiten hatte die USA als Exilland in Erwägung gezogen, doch der Vormarsch der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten ließ keine andere Option zu, wenngleich fast alle ursprünglich nach Mexiko weiterwandern wollten. Doch entzog der oft unfreiwillige Aufenthalt in den USA die deutschen Kommunisten dem Zugriff des Hitler-Regimes: der apos-trophierte „Klassenfeind“ wurde zum Retter. Daraus erwuchsen Widersprüche und manchmal Einsichten, die die Wahrnehmung der USA durch die Emigranten wie auch ihre spätere Erinnerung prägten.

Bei der Konzentration auf diese Punkte mussten andere Fragen zurücktreten. Ich konnte das wissenschaftliche, literarische und künstlerische Schaffen der be-handelten Personen nur dann in die Darstellung einbeziehen, wenn es für mein Anliegen von Bedeutung war, somit einen USA-Bezug aufwies. Auch die Rezep-tion amerikanischer Kultur in der DDR konnte nur soweit in das Buch Eingang finden, wie sie auf das Wirken der Remigranten zurückging. Ohnehin gibt es überaus kundige Experten beispielsweise zum Werk von Bertolt Brecht oder Ernst Bloch, mit denen in Konkurrenz zu treten vermessen wäre, obgleich ich mich – unter den soeben erläuterten Fragestellungen – natürlich ihrem Werk nähern musste. Gänzlich anmaßend wäre zudem ein Urteil über die Arbeit von Naturwis-senschaftlern und Medizinern. Hier habe ich mich, wo nötig, auf die knappste Wiedergabe gesicherter Fakten beschränkt.4 Ebenso verfuhr ich bei den Kompo-nisten Hanns Eisler und Paul Dessau. Natürlich ist es bei einem kollektiv-biographischen Ansatz unmöglich, so intensiv die Quellen und Dokumente zu einzelnen Personen zu studieren, wie dies bei Einzelbiographien möglich und notwendig ist.5 Die Erwartungen von Spezialisten zu einzelnen Themen und Per- 4 Ein herausragendes Beispiel der Analyse medizinisch-naturwissenschaftlicher und politi-

scher Aktivitäten in ihren Wechselbeziehungen bietet Thomas M. Ruprecht, Felix Boen-heim: Arzt, Politiker, Historiker. Eine Biographie, Hildesheim etc. 1992.

5 Entsprechend der angelsächsischen Sichtweise wird hier, anders als in älteren deutschen Arbeiten, nicht strikt zwischen einem prosopographischen und einem kollektiv-biographischen Ansatz unterschieden. Der letztgenannte Ansatz bindet stärker Methoden und Ergebnisse der historischen Netzwerkforschung ein, worum auch dieses Buch bemüht ist. Vgl. für eine vertiefende Beschäftigung mit dieser Problematik Morten Reitmay-er/Christian Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Christian Steg-bauer/Roger Häußling (Hg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 869–880.

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Vorwort 13

sonen können also nicht immer ganz erfüllt werden, doch hoffe ich, dennoch manchen Hinweis gegeben und manche Querverbindung zu anderen Akteuren aufgezeigt zu haben.

Der Schwerpunkt des Wirkens der Remigranten in der DDR liegt naturgemäß in den ersten beiden Jahrzehnten des Staates, denen ich mich vor allem forschend zuwandte. Im Schlusskapitel greife ich über diesen Zeitrahmen hinaus und suche hier auch den Lebensbilanzen der Rückkehrer den gebührenden Platz einzuräu-men.

Dabei musste Einiges der vielgenannten menschlichen Seiten unberücksichtigt bleiben. Gerade die Probleme, die vor den Exilanten bei der Selbstbehauptung auf einem fremden Arbeitsmarkt und im Gebrauch einer anfangs noch fremden Spra-che standen, verdienten – trotz ihrer Schilderung in diesem Buch – eine wohl noch genauere Untersuchung. Dennoch hoffe ich, dass die Leserschaft einen Ein-druck von den Lebensverhältnissen der Menschen im Exil gewinnt, und auch davon, welche Hoffnungen sie hegten, als sich das Exil dem Ende zuneigte.

Die Exilerfahrungen der Rückkehrer haben sich in allgemeinen Studien zur SED-Politik kaum niedergeschlagen. Die „Westemigranten“ und in Sonderheit die USA-Rückkehrer wurden in ihrem gesellschaftlichen Wirken als eher bloß reagierende Personen in einem von sowjetischen und SED-Richtlinien bestimm-ten Umfeld, weniger als eigenständig Handelnde, gesehen. Ausnahmen bilden vor allem Forschungen über Stefan Heym. Es geht also generell um das Wirken in der kapitalistischen Gesellschaft der USA, doch auch um individuelle wie gruppenspe-zifische Erfahrungen in der DDR, einer dem Anspruch nach sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Somit möchte dieses Buch durch die Untersu-chung einer bisher vernachlässigten Gruppe auch einen Beitrag zur Diskussion über internationale Dimensionen kommunistischer Politik und Herrschaft leis-ten.

Am skandinavischen Beispiel hat Michael F. Scholz als bisher einziger Histori-ker mit einem kollektiv-biographischen Ansatz die Rückkehr kommunistischer Exilanten in die SBZ/DDR untersucht, doch seien auch die Arbeiten Wolfgang Kießlings hervorgehoben.6

6 Michael F. Scholz, Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration. Die

ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der SBZ/DDR, Stuttgart 2000; Wolfgang Kießling, Partner im Narrenparadies. Der Freundeskreis um No-el Field und Paul Merker, Berlin 1994 (dieses Buch fasst Kießlings Forschungsergebnisse zum Thema zusammen).

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14 Vorwort

Dieses Buch stützt sich weitgehend auf Archivmaterial aus den USA und Deutschland. Von besonderem Nutzen war in den USA die Einsicht in wichtige Akten der Alexander Stephan Collection of FBI Files on German Intellectuals in US Exile an der Thompson Library der Ohio State University. Nicht weniger ergiebig war Gerhart Eislers FBI-Akte, die sich vollständig in den Robert F. Wag-ner Labor Archives der Tamiment Library an der New York University befindet. Neben weiteren Archivquellen, so aus Harvard und Stanford, zog ich im Internet einzusehende Akten des FBI und in geringerem Maße auch anderer Geheimdiens-te heran.

In Deutschland war das SED-Archiv in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin die wichtigste Quellen-basis. Gleichfalls ergiebig waren die Akten des Bundesbeauftragten für die Unter-lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR – sowohl die des MfS-Zentralarchivs in Berlin wie die der Außenstelle Leipzig.7 Auch Bestände der Uni-versitätsarchive in Berlin und Leipzig (diese auch im Internet), des Archivs der Akademie der Künste in Berlin, des Deutschen Exilarchivs in Frankfurt a. M. sowie des Archivs des Neuen Deutschland mit seiner Zeitungsausschnittsammlung erwiesen sich als überaus nützlich.

In der New York Public Library sowie der Bobst Library der New York Uni-versity ist fast das gesamte gedruckte Material, das deutsche Kommunisten in den USA hinterließen, gelagert. In beiden Bibliotheken half Eleanor Yadin einmal mehr bei dessen Erschließung. Doch natürlich richtet sich der Dank an alle Helfe-rinnen und Helfer der im bibliographischen Anhang aufgelisteten Archive sowie vor allem folgender weiterer Bibliotheken: Deutsche Nationalbibliothek (Frank-furt a. M. und Leipzig), Deutsche Staatsbibliothek/Stiftung Preußischer Kultur-besitz (Berlin), Yeshiva University Libraries (New York), Frick Collection Library (New York), Bibliothek des Zentrums für Zeithistorische Forschung (Potsdam).

Meine Kolleginnen und Kollegen am ZZF waren erneut mit Hilfe und Kritik am Vorhaben beteiligt; was an Unebenheiten und Fehlern im Buch steckenblieb, ist aber allein meinem Konto anzulasten. Eine finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft trug zum Gelingen des Projektes bei. Dr.

7 Es sei jedoch angemerkt, dass in der hier vorrangig behandelten Frühphase der DDR die

Überwachung der Bürger durch das MfS in ihrer Intensität noch keineswegs mit der in spä-teren Phasen vergleichbar ist, so dass das eingesehene Material deutlich weniger Informatio-nen aufweist, als dies für eine detaillierte Untersuchung der 1970er oder 1980er Jahre der Fall wäre.

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Vorwort 15

Irene Runge danke ich sehr für die Bereitstellung privaten Materials über ihren Vater Georg Friedrich Alexan. Meinem Freund Dr. med. Holger Hegewald danke ich für die kritische Durchsicht der Passagen über die Biochemiker und Medizi-ner. Prof. Dr. Martin Sabrow unterzog sich der Mühe einer Durchsicht des Manu-skriptes in einem früheren Stadium; ihm danke ich sehr für seine konstruktive Kritik. Ihm und Prof. Dr. Frank Bösch danke ich weiterhin für die Aufnahme des Buches in die Reihe Zeithistorische Studien, vielen anderen Kollegen für Hilfe verschiedenster Art, auf die ich im Text und in den Fußnoten hingewiesen habe. Waltraud Peters zeichnete einmal mehr für die Lektorierung eines meiner Bücher verantwortlich. Das im Vorsatz des Buches abgedruckte Gedicht „Ich aber ging über die Grenze ...“ von Stefan Heym ist dem Band Wege und Umwege. Einmi-schung seiner Werkausgabe entnommen, die zuerst 1990 im C. Bertelsmann-Verlag München erschien. Verwendung findet hier die 1998 im Goldmann-Verlag publizierte Taschenbuchausgabe (S. 29). Die zu Beginn eines jeden Kapitels zitier-ten Liedtexte werden mit Albumtitel und Erscheinungsjahr am Ende der Biblio-graphie aufgelistet. Die Lieder und ihre Interpreten sollen gewissermaßen einen Kontrapunkt setzen zu der in der DDR lange, wenngleich nicht bis zuletzt vor-herrschenden Ablehnung der amerikanischen (und generell der angelsächsischen) Populärkultur.

Dieses Buch beruht auch auf Materialien, die teilweise schon in meine Bücher über Ruth Fischer und Albert Schreiner eingingen. Wo auf deren Ergebnisse zu-rückgegriffen wurde, ist es stets vermerkt. Im November 2016 begann ich mit der Niederschrift der Endfassung und schloss das Manuskript im Juli 2018 ab.

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I. Die USA und die Flüchtlinge

Good morning, America How are you?

Say don’t you know me? I’m your native son I’m the train they call The City of New Orleans

And I’ll be gone five hundred miles when the day is done (Arlo Guthrie: The City of New Orleans)

Der geschichtliche Einstieg in das hier behandelte Thema wird im Allgemeinen unter den Begriff „Roosevelts Amerika“ gefasst. Franklin Delano Roosevelt wurde Ende 1932 mit seinem Konzept für mehr soziale Gerechtigkeit, dem „New Deal“ (Neue Umverteilung), zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Der von ihm angesichts der Weltwirtschaftskrise verkündete New Deal setzte auf kurzfristige staatliche Maßnahmen zur Linderung der Not (relief pro-grams) sowie auf längerfristige Schritte zur Ankurbelung der Wirtschaft (recovery programs). Zu den erstgenannten Maßnahmen gehörten die – in beispiellos kur-zer Zeit durchgesetzten – Verordnungen zum Wiederaufbau der Wirtschaft. Durch den Bau neuer Straßen, Brücken, Flughäfen, Parks und öffentlichen Ge-bäuden wurden in rascher Folge Arbeitsplätze geschaffen. Noch 1933 verabschie-dete der Kongress den Agricultural Adjustment Act (AAA) zur wirtschaftlichen Unterstützung und Einkommenssteigerung der Farmer.

„Roosevelts Amerika“ und die deutschen Flüchtlinge

In den Jahren 1935 bis 1938, die als „Second New Deal“ bezeichnet werden, schuf die Works Progress Administration (WPA) weitere Arbeitsplätze durch den Bau öffentlicher Gebäude, Straßen und zunehmend auch Flughäfen. Das Federal Theater Project, das Federal Art Project und das Federal Writers Project sorgten für das Auskommen von Schauspielern, Künstlern und Schriftstellern. Zum wich-tigsten Gesetz wurde der Social Security Act, der 1935 erstmals ein Versicherungs-system schuf, das auf Abgaben von Arbeitnehmern und -gebern für Rentner, Arbeitslose und Behinderte basierte. Zudem wurden der Wertpapierhandel und damit das Bankensystem und die Finanzmärkte reguliert. Mit den allmählich sichtbar werdenden Erfolgen dieser Politik sicherte Roosevelt 1936 seine Wieder-

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18 I. Die USA und die Flüchtlinge

wahl.1 Mit dieser für die USA völlig neuen staatlichen Interventionspolitik stabilisier-te die Regierung Roosevelt die Marktwirtschaft und die kapitalistische Wirt-schaftsordnung durch administrative, aber demokratisch fundierte Maßnahmen. Am 14. April 1938 sagte Roosevelt in einem „Kamingespräch“, die Demokratie sei „bei verschiedenen großen Völkern verschwunden, nicht deshalb, weil diese Völ-ker die Demokratie ablehnen, sondern weil sie der Arbeitslosigkeit und Unsicher-heit müde geworden sind, weil sie nicht mehr zusehen wollten, wie ihre Kinder hungerten, während sie selber hilflos dasaßen und mit ansehen mussten, wie ihre Regierungen verwirrt und schwach waren.“ Er betonte, die Amerikaner wüssten, dass ihre demokratischen Einrichtungen bewahrt werden müssten. „Aber um sie zu bewahren, müssen wir den Nachweis führen, dass die demokratische Regie-rungsform in ihrer praktischen Arbeit der Aufgabe, die Sicherheit des Volkes zu schützen, gewachsen ist.“2 Nur die Bewahrung dieser Institutionen ermöglichte es überhaupt den Hitler-flüchtlingen, in diesem Land Asyl und in vielen Fällen eine neue Heimat zu fin-den. Eine offizielle Studie bezifferte 1947 die Zahl der Personen, die zwischen 1933 und 1944 in die USA eingewandert waren, auf nahezu 300 000. Von ihnen kamen etwas über die Hälfte, rund 150 000, aus Deutschland und Österreich.3 Die Aus-wertung der Fragebögen von rund 11 000 Immigranten wies nach, dass rund zwei Drittel von ihnen aufgrund rassistischer oder religiöser Verfolgung ins Land ge-kommen waren. Nur rund fünf Prozent gaben ausschließlich politische Gründe 1 Die Literatur zum New Deal füllt ganze Bibliotheken, und selbst die wichtigsten Arbeiten

können hier nicht genannt werden. Für eine erste Einführung sei verwiesen auf das ältere Standardwerk von William E. Leuchtenburg, Franklin D. Roosevelt and the New Deal, New York 1963, und auf die neue Zusammenfassung von Jason Scott Smith, A Concise History of the New Deal, Cambridge [UK]/New York 2014. Vgl. in deutscher Sprache Rü-diger Horn/Peter Schäfer, Geschichte der USA 1914–1945, Berlin [DDR] 1986, S. 180–233; Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 7. Aufl., München 1995, S. 123–194; Karl Drechsler, Von Franklin D. Roosevelt zu Donald J. Trump. Präsi-denten, Demokraten und Republikaner, Liberale und Konservative der USA, Berlin 2018, S. 21–34. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei Willi Paul Adams, Die USA im 20. Jahr-hundert, 3. Aufl., München 2012, S. 61–68, 173–180.

2 Franklin D. Roosevelt, Fireside Chat, 14. April 1938. The American Presidential Library Online [by Gerhard Peters and John T. Woolley], http://www.presidency.ucsb.edu/ ws/?pid=15628. Deutsch im Wikipedia-Artikel „New Deal“.

3 Eine aktuelle Studie schätzt die Anzahl der Österreicher unter ihnen auf ca. 30 000. Vgl. Simon Loidl, Eine spürbare Kraft. Österreichische Kommunistinnen und Kommunisten im US-amerikanischen Exil (1938–1945), Wien 2015, S. 59.

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I. Die USA und die Flüchtlinge 19

für die Verfolgung an. Die Mehrzahl dieser Einwanderer kam aus dem Mittelstand und suchte sich in den USA eine neue Existenz aufzubauen – ohne eine dauerhaf-te Rückkehr zu erwägen.4 Dabei war die offizielle Politik der USA seit 1924 um eine strikte Begrenzung der Einwanderungszahlen bemüht. In diesem Jahr verabschiedeten beide Häuser des Parlaments, der Kongress und das Repräsentantenhaus, mit großer Mehrheit ein Gesetz, das die Zahl der Einwanderer pro Land auf höchstens zwei Prozent der jeweiligen, aus diesem Land stammenden und in den USA ansässigen Bevölkerung begrenzte.5 Diese Regelung sollte die Immigration aus Süd- und Osteuropa ein-schränken und aus dem asiatischen Raum gänzlich stoppen, während für Einwan-derer aus Lateinamerika, das als „unrestricted area“ galt, noch keine Quoten be-schlossen wurden. Um in die USA längerfristig einzureisen, wurde ein Affidavit benötigt, ein Nachweis, dass amerikanische Verwandte oder Bekannte für den Unterhalt der einzureisenden Personen aufkommen würden. Für die Einwanderung, aber auch für jeden längeren zeitlich begrenzten Aufenthalt waren darüber hinaus an Unter-lagen beizubringen der Pass, eine Geburtsurkunde, die Heirats- bzw. Scheidungs-unterlagen, ein polizeiliches Führungszeugnis, eine Entlassungsurkunde der Ar-mee (soweit verfügbar) sowie eine Vermögensbescheinigung. Rechtlich einklagbar war die Einreise in keinem Fall.6 Bei der Nichtvorlage eines oder mehrerer dieser Dokumente lag die Entschei-dung beim amerikanischen Konsul im jeweiligen Ausreiseland, ob gegebenenfalls ein Jahresvisum (visitors visa) bewilligt wurde, dessen Verlängerung oder gar Um-wandlung in eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung mit großen Problemen verbunden war – und welcher Flüchtling war bei seiner oft überstürzten Flucht aus dem faschistischen Teil Europas imstande, sich all diese Papiere zu beschaffen? Denn auch ab 1933 blieben diese Regelungen in Kraft, obgleich Präsident Roose-

4 Vgl. Maurice R. Davie, Refugees in America. Report of the Committee for the Study of

Recent Immigration from Europe, New York 1947, S. 416 ff. 5 Vgl. für die folgenden Angaben vor allem Aristide R. Zolberg, A Nation by Design. Immi-

gration Policy in the Fashioning of America, Cambridge (Massachusetts) 2006, bes. S. 99 ff. Aus Deutschland konnten bis 1938 pro Jahr 25 000 Personen einreisen.

6 Die Länge der Bewilligungsprozedur in vielen Fällen ließ den amerikanischen Kongressab-geordneten Emanuel Celler das bittere Fazit ziehen: „Es dauert Monate um Monate, bis das Visum bewilligt wird, und dann betrifft es gewöhnlich eine Leiche.“ Zit. n. Arthur D. Morse, Why Six Million Died. A Chronicle of American Apathy, New York 1968, S. 93.

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20 I. Die USA und die Flüchtlinge

velt 1934 die amerikanischen Konsuln instruiert hatte, die Einreisemöglichkeiten im Rahmen der geltenden Bestimmungen möglichst großzügig zu handhaben.7 Die Quoten wurden selbst nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, die in den USA wie überall in der zivilisierten Welt einhellig Abscheu her-vorgerufen hatte, nicht geändert.8 Immerhin aber konnte Roosevelt durchsetzen, dass Flüchtlinge mit einer zeitlich bewilligten Aufenthaltserlaubnis nicht abge-schoben wurden, sondern im Lande bleiben durften, wobei die Aufenthalts-erlaubnis bis auf Weiteres um je sechs Monate verlängert wurde.9 Dennoch sah im Jahre 1939 die nach dem „Anschluss“ nunmehr Deutschland und Österreich gemeinsam erfassende Quote die Einwanderung von nur 27 230 Personen vor. Diese Quote wurde auch zu einhundert Prozent ausgelastet, d. h. genauso vielen Personen wurde die offizielle Einwanderung gestattet. Hinzu ka-men sogenannte Nonquota immigrants, Ehepartner und Kinder von Einwande-rern oder Hochschulprofessoren, die einen Arbeitsvertrag mit einer US-Hochschule nachweisen konnten, ab 1940 auch eine geringe Zahl sogenannter Emergency immigrants, für deren Special Emergency Visas das Quotensystem außer Kraft gesetzt wurde.10 Dazu bedurfte es freilich energischer Interventionen der Öffentlichkeit. Noch am 7. Juni 1938 wurde eine Delegation des Jewish People’s Committee for United Action against Fascism and Anti-Semitism von Roosevelts Privatsekretär Marvin McIntyre in höflichen Worten abgespeist, ihr Memorandum, das eine Aufhebung des Quotensystems für jüdische Flüchtlinge forderte, aber nicht an den Präsiden-ten weitergeleitet wurde.11 Vielmehr schrieb McIntyre an Staatssekretär Sumner

7 Vgl. Joachim Radkau, Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluss auf die amerikani-

sche Europapolitik 1933–1945, Düsseldorf 1971, S. 82. 8 Zur Ablehnung des Riesenpogroms durch breiteste Teile der US-Öffentlichkeit vgl. Debo-

rah E. Lipstadt, Beyond Belief. The American Press and the Coming of the Holocaust, 1933–1945, New York 1986.

9 Morse, Six Million, S. 244 f. 10 David Silberklang, The Allies and the Holocaust, in: Robert Rozett/Shmuel Spector (Hg.),

Encyclopaedia of the Holocaust, New York 2013, S. 76. Vgl. auch Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, Stuttgart 1984, S. 391 ff. sowie S. 469 ff.

11 Das Komitee war 1936 in New York unter der Präsidentschaft von Rabbiner Moses Miller und dem Nationalen Sekretär Bernard Harkavi gegründet worden, zunächst auch, um neben den Verfolgten in Hitlerdeutschland auch den Opfern der antisemitischen Gesetzge-bung in Polen Hilfe zu erteilen. Vgl. die Broschüre: Jews in Action. Five Years of the Jewish People’s Committee, New York 1941, S. 4. Es stand zeitweilig der Kommunistischen Partei der USA nahe.

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I. Die USA und die Flüchtlinge 21

Welles, er „persönlich halte eine Antwort nicht für erforderlich; allerdings könnte eine mehr oder weniger höfliche, aber stereotype Erklärung verhindern, dass man später eine präzise Antwort verlangt.“12 Das verbreitete Desinteresse am Schicksal verfolgter Juden – und nichtjüdi-scher Nazigegner – hatte sich im Sommer 1938 im Scheitern der Flüchtlingskon-ferenz von Evian am Genfer See gezeigt. Auf Initiative Roosevelts hatten Vertreter von 32 Staaten versucht, ein gemeinsames Rettungsprogramm zu verabschieden; ein Vorschlag, den die Historikerin Carole Fink angesichts der riesigen Probleme als „dürftig“ bezeichnete.13 Doch die Aufnahmebereitschaft der meisten Länder hielt sich in engen Gren-zen. Die Sowjetunion schlug das Autonome Jüdische Gebiet Birobidshan am Amur als Aufnahmeort vor, doch angesichts der soeben beendeten Moskauer Schauprozesse, deren letzter im März 1938 Nikolai Bucharin und seinen Gesin-nungsgenossen das Leben gekostet hatte, nahmen nur einige Hundert Juden, aus-nahmslos Kommunisten, das Angebot an – und wanderten alsbald wieder in die westlichen Landesteile der UdSSR ab.14 Ein anderes diktatorisches Regime, die Dominikanische Republik, nahm sechshundert Juden auf, nicht zuletzt, um das „weiße“ Element im Lande zu stärken.15 Der amerikanische Delegationsleiter Myron Taylor, der frühere Vorstandsvor-sitzende der U. S. Steel Corporation regte an, der Völkerbund solle eine Kommis-sion mit konkreten Hilfsmaßnahmen betrauen.16 Doch der Korrespondent der New York Times in Evian fühlte sich eher in einer Pokerrunde statt in einer ernst-haften politischen Beratung.17 Evan zeigte schlicht den „Unwillen der westlichen

12 Zit. n. Morse, Six Million, S. 217. 13 Carole Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews and International

Minority Protection 1878–1938, Cambridge [UK] 2006, S. 349. 14 Vgl. Antje Kuchenbecker, Zionismus ohne Zion. Birobidzhan: Idee und Geschichte eines

jüdischen Staates in Sowjet-Fernost, Berlin 2000, S. 171, 179. 15 Vgl. Marion A. Kaplan, Dominican Heaven. The Jewish Refugee Settlement in Sosua,

1941–1945, New York 2008. 16 Vgl. Morse, Six Million, S. 220. Ein solches Inter-Governmental Committee on Refugees

wurde tatsächlich gebildet, blieb aber vor 1939 ohne Einfluss auf die Politik. Es wurde aber zunächst nicht aufgelöst und konnte nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis 1947 einige Schritte zur Hilfe für Displaced Persons einleiten. 1947 endete seine Arbeit.

17 Clarence K. Streit, in: The New York Times, 6. Juli 1938, S. 1, nach Jeffrey Gurock, Amer-ica, American Jews and the Holocaust, New York 2013, S. 230.

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22 I. Die USA und die Flüchtlinge

Länder“, den Juden wirklich zu helfen, schrieb Michael Marrus.18 Die Juden hoff-ten nach der „Kristallnacht“ verzweifelt, die britische Mandatsmacht würde eine größere Zahl von ihnen nach Palästina einwandern lassen. Anfang 1939 zeigte sich, dass diese Hoffnungen auf Sand gebaut waren.19 Niemand wollte jüdische Flüchtlinge haben. Anfang 1939 ergriffen der demokratische Senator für New York Robert F. Wagner und Edith Rogers, eine republikanische Abgeordnete des Repräsentan-tenhauses, eine erneute Initiative. Sie sah vor, 20 000 jüdische Kinder unter vier-zehn Jahren in die USA zu bringen. Das Vorhaben fand zwar breite Unterstüt-zung durch jüdische und kirchliche Organisationen sowie in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, wurde jedoch von „patriotischen“ Kräften derart heftig bekämpft, dass weder die beiden Häuser des Kongresses noch Präsident Roosevelt, dem an einer Wiederwahl gelegen war, es wagten, entsprechende Maßnahmen einzuleiten.20 Aus Furcht, dem Antisemitismus Nahrung zu geben, fielen auch die Proteste amerikanisch-jüdischer Organisationen gegen diese chauvinistische Ab-lehnungswelle nur verhalten aus.21 Deutsch-jüdische Flüchtlinge sahen darin nicht selten einen erheblichen Mangel an Solidarität von Seiten ihrer in den USA eta-blierten Glaubensbrüder, was zu scharfen innerjüdischen Spannungen führte.22

18 Michael Marrus, The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century, Oxford

1985, S. 172. Vgl. zum Gesamtkomplex auch Eva Schweitzer, Amerika und der Holocaust. Die verschwiegene Geschichte, München 2004.

19 Vgl. Walter Laqueur, A History of Zionism, New York 1976, S. 524 f. 20 Vgl. Richard Breitman/Alan D. Lichtman, FDR and the Jews, Cambridge (Massachusetts)

2013, S. 115. 21 Vgl. Morse, Six Million, S. 262 ff.; Richard Breitman/Alan M. Kraut, American Refugee

Policy and European Jewry, 1933–1945, Cambridge (Massachusetts) 1987, S. 73 ff. 22 Diese Spannungen wurden in jüngerer Zeit zum Gegenstand historischer Studien. Vgl. zum

Forschungsstand Gerhard Falk, The German Jews in America. A Minority within a Minor-ity, Lanham (Maryland) 2014, bes. S. 63 ff. Für David Wyman (Paper Walls. America and the Refugee Crisis 1938–1941, Baton Rouge 1968, S. 210 f.) mahnte der Antisemitismus in den USA, „der die Atmosphäre jener Periode deutlich prägte“, die alteingesessenen ameri-kanischen Juden zur Vorsicht.

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I. Die USA und die Flüchtlinge 23

Amerikanische Hilfsorganisationen und die Öffentlichkeit

Im Juli 1940 regte Präsident Roosevelt endlich die Gründung des Emergency Rescue Committee an.23 Anlass dafür war der militärische Zusammenbruch Frankreichs. Im aufgezwungenen Waffenstillstand vom 22. Juni wurde Frankreich zur Auslieferung aller Personen an die deutschen Besatzungsbehörden auf deren Verlangen verpflichtet. Am Vorabend der Kapitulation hatte der scheidende Mi-nisterpräsident Paul Reynaud Roosevelt bedrängt, die USA sollten in den Krieg eintreten, ansonsten würde Frankreich, „gleich einem ertrinkenden Menschen“ untergehen. Roosevelt drückte dem französischen Volk seine Sympathie aus, stell-te aber klar, dies bedeute keinesfalls, „wir übernähmen irgendwelche militärischen Verpflichtungen.“24 Die USA hielten bis 1944 diplomatische Beziehungen zum profaschistischen Regime in Vichy aufrecht. Andererseits wurde nun endlich das Schicksal der Flüchtlinge zur Regierungssache erklärt. Die offizielle Leitung des Emergency Rescue Comittee oblag Frank Kingdon, dem Präsidenten der University of Newark. William Green, Präsident der Ameri-can Federation of Labor (AFL), des Gewerkschaftsbundes, zeichnete verantwort-lich für die Einreise von sozialdemokratischen und Gewerkschaftsaktivisten.25 Eine der treibenden Kräfte und Koordinatoren war der aus Österreich stammen-de, früher der KPD-Opposition (KPO) und der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) angehörende Karl Borromäus Frank, der damals unter dem Namen Paul Hagen auftrat.26 Zwar durften offiziell nur US-Bürger Mitglieder des Komitees werden, doch hatten europäische ehrenamtliche „honorary advisors“ ein Mitspracherecht bei der Organisierung der Einwanderung, unter ihnen Sigrid Undset für die skandinavischen Länder, Maurice Maeterlinck für Belgien, Jules

23 Nicht zu verwechseln mit dem im Juli 1943 gebildeten Emergency Committe to Save the

Jewish People of Europe. Vgl. zu diesem David S. Wyman, The Abandonment of the Jews. America and the Holocaust 1941–1945, New York 1998, S. 143–156.

24 Beide Erklärungen sind abgedruckt in: Peace and War. United States Foreign Policy 1931–1941, Washington 1943, S. 552.

25 Vgl. Radkau, Emigration, S. 84. 26 Vgl. Reinhard Müller [Graz], Karl B. Frank alias Paul Hagen (1883–1969), in: Archiv für

die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter 12 (November 1995), S. 11–19. Vgl. auch Terence Renaud, The German Resistance in New York: Karl B. Frank and the New Beginning Group, 1935–1945, B.A. Thesis, Boston University 2007 (im Internet unter http://terencerenaud.com/german_resistance.htm).

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24 I. Die USA und die Flüchtlinge

Roumains für Frankreich, Thomas Mann und Hermann Kesten für Deutschland und Österreich.27 Im Auftrag des Komitees ging der Journalist Farian Fry, der zuvor unter ande-rem für die New York Times aus Europa berichtet hatte, im August 1940 nach Marseille, der wichtigsten Hafenstadt in den von deutschen Truppen unbesetzten Teil Frankreichs, der direkt unter Kontrolle des Vichy-Regimes stand. Er führte finanzielle Mittel sowie Listen der am meisten gefährdeten Personen, denen er die Einreise in die USA ermöglichen sollte, mit sich. Fry und seinen Mitarbeitern, darunter dem Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Albert Hirschman sowie dem aus Deutschland stammenden Ehepaar Lisa und Hans Fittko, gelang es, von der Vichy-Polizei beobachtet und vom Franco-Regime toleriert, rund 2 200 Men-schen direkt von Marseille oder durch Spanien nach Lissabon zu bringen. Zu den von Fry und seinen Helfern geretteten Personen gehörten – neben einer Reihe von Personen, die in dieser Studie eine Rolle spielen – auch Hannah Arendt und ihr Mann Heinrich Blücher, Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, aber auch Ruth Fischer, um nur einige der bekanntesten zu nennen.28 Obgleich sofort 567 Anträge deutscher und österreichischer Antifaschisten aus Frankreich eingingen, wurden zunächst nur vierzig Visa ausgegeben, und zwar an solche Personen, die „die Demokratie verteidigt hatten“. Dies schloss KPD-Mitglieder, auch wenn sie im Spanischen Bürgerkrieg die Demokratie tatsächlich verteidigt hatten, aus, so sie ihre Mitgliedschaft nicht verheimlichten.29 Vor allem aber suchte der als Antisemit bekannte Unterstaatssekretär Breckinridge Long die Zahl niedrig zu halten, offiziell mit der Begründung, es könnten sich unter ihnen eine höhere Zahl von Antragstellern ansonsten allzu viele Gestapo-Agenten ein-schmuggeln. Eleanor Roosevelt, Albert Einstein und Thomas Mann waren nur die drei prominentesten Fürsprecher der Verfolgten, doch erwies sich die US-

27 Vgl. Eike Middell u. a., Exil in den USA. Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil

1933–1945, Bd. 3, Leipzig 1979, S. 59. 28 Frys großartige Anstrengungen sind inzwischen in der Forschungsliteratur gut dokumen-

tiert. Vgl. Andy Marino, A Quiet American. The Secret War of Varian Fry, New York 1999; Sheila Isenberg, A Hero of Our Own. The Story of Varian Fry, Lincoln (Nebraska) 2005; Anne Klein, Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940–1942. Varian Fry und die Komitees zur Rettung politisch Verfolgter in New York und Marseille, Berlin 2007. Vgl. auch die beiden dokumentarischen Erinnerungsbücher von Lisa Fittko: Solidarität un-erwünscht. Meine Flucht durch Europa 1933–1940, Frankfurt a. M. 1994, und Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41, München 2004.

29 Vgl. Jean-Michael Palmier, Weimar in Exile. The Antifascist Emigration in Europe and America. Aus dem Französischen übersetzt von David Fernbach, London/New York 2006, S. 466.

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I. Die USA und die Flüchtlinge 25

Bürokratie mit ihrer Mischung aus beamtlicher Langsamkeit, Gleichgültigkeit und dem eingeborenen Misstrauen zumal gegen linke Hitlerflüchtlinge oft als stärker.30 Nach dem Überfall auf Pearl Harbor und der deutschen Kriegserklärung an die USA änderte sich im Dezember 1941 das politische Klima zugunsten der Flüchtlinge. Die Sympathie für sie wuchs weiter mit dem seit Ende 1942 zuneh-mendem Wissen über das Ausmaß der systematischen Vernichtung der Juden. Dennoch dauerte es bis zum Januar 1944, bevor beim Innenministerium mit dem War Refugee Board eine eigene Behörde zur Hilfe für Hitlerflüchtlinge geschaffen wurde. An dessen Arbeit waren Beamte des Finanz-, des Innen- sowie des Kriegs-ministeriums beteiligt. Der War Refugee Board wurde von John W. Pehle, Unter-staatssekretär im Finanzministerium, und später von Brigadegeneral William O’Dwyer geleitet. Der Board besaß Büros in der Türkei, Schweiz, Schweden, Por-tugal, Großbritannien, Italien und Nordafrika. Neben einer staatlichen Grundfi-nanzierung von einer Million Dollar wurde seine Arbeit durch private Spenden-aufkommen finanziert.31 In einem so stark privatwirtschaftlich organisierten Land wie den Vereinigten Staaten oblag auch die Flüchtlingshilfe zum großen Teil privat initiierten und durch Privathand finanzierten Organisationen. Das in der DDR erschienene Standardwerk zum Thema hielt nicht ohne bemerkenswerte Sympathie für den Amerikaner der Mittelklasse hierzu fest: „Bei der bekannten Mentalität des Ame-rikaners, zu verschiedenen Anlässen ein ,Committee‘ zu gründen, gab es in den Hilfsorganisationen die organisierte Gelegenheit, Geldbeträge für die Emigranten spenden zu können – hier wurden zum Teil erhebliche Summen aufgebracht, die vielen Emigranten halfen. Gleich wichtig ist der Einsatz der Organisationen für die Beschaffung von Visa, Überfahrten und Arbeitsstellen. [...] Viele dieser Orga-nisationen arbeiteten kurz- und mittelzeitig, andere über längere Zeiträume – überall jedoch leistete ein Heer größtenteils ungenannter Helfer echte humanitäre Unterstützung.“32 Die wichtigste jüdische Hilfsorganisation war der German Jewish Club, der durch seine Wochenzeitung Aufbau in allen Ländern, in die deutsch-jüdische Flüchtlinge gelangten, wirksam wurde. Aufbau wurde 1934 in New York als mo-natliches Mitteilungsblatt gegründet, stellte dann aber seine Erscheinungsweise

30 Vgl. zu Long Breitman/Kraut, American Refugee Policy, Kap. 6: Breckinridge Long and the

Jewish Refugees, S. 126–144. Zur allgemeinen Situation vgl. Morse, Six Millions, bes. S. 337 ff.

31 Vgl. Wyman, Abandonment, S. 203 ff.; Breitman/Lichtman, FDR and the Jews, S. 234–237.

32 Middell u. a., Exil in den USA, S. 57.

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