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Sprachliche Eigenschaften lassen sich sprach- übergreifend danach klassifizieren, ob sie eher dem stabilen Teil von Sprachsystemen zuzurechnen sind oder einzelsprachlich (stark) variieren. Die Identifikation von sprachlichen Universalien einerseits und den maßgeblichen Bereichen sprachlicher Varia- tion andererseits ist ein wesentliches Er- kenntnisinteresse sprachwissenschaftlicher Forschung. Bis zum Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts konzentrierte sich der Vergleich von Sprachen auf mehr oder weni- ger eng verwandte Sprachen, es wurden bei- spielsweise Sprachen innerhalb der west- und/oder nordgermanischen Sprachfamilie (Deutsch, Niederländisch, Englisch oder die skandinavischen Sprachen) respektive die germanischen und romanischen Sprachen in Bezug auf bestimmte sprachliche Eigenschaf- ten miteinander verglichen, um die Muster zu identifizieren, die den beobachteten Un- terschieden zugrunde liegen. Erst seit Kayne (1996) beginnt sich in der generativ ausge- richteten Grammatikforschung die Erkenntnis durchzusetzen, dass Muster sprachlicher Va- riation viel einfacher zu identifizieren sind, wenn die verglichenen Sprachen eng ver- wandt sind und sich folglich in nur wenigen Eigenschaften unterscheiden. Damit rücken die Dialekte in den Mittelpunkt des Interes- ses, während bislang Standardsprachen Ge- genstand der Sprachtypologie gewesen sind. Anders als die traditionelle Dialektologie, die sich vor allem mit der Variation im Wort- schatz und im Lautsystem von Dialekten be- schäftigt, gilt das verstärkte Interesse einer auf Dialekte ausgerichteten Sprachtypologie deren morphologischen und syntaktischen Eigenschaften, ein bislang weitgehend ver- nachlässigter Bereich dialektaler Variation. Für die Syntax lässt sich das verstärkte Inter- esse beispielsweise an den seit einigen Jah- ren entstehenden Dialektatlanten ablesen, die für bestimmte sprachliche Areale die Va- riation syntaktischer Konstruktionen doku- mentieren: SADS (Syntaktischer Atlas der Deutschen Schweiz, http://www.ds.uzh.ch/ dialektsyntax/index.html), ASIS (= Syntakti- scher Atlas von Norditalien, http://asis- cnr.unipd.it/index.it.html) und SAND (= Syn- taktischer Atlas der niederländischen Dialek- te, http://www.meertens.knaw.nl/sand/zoe- ken/index.php). Im syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz finden sich etwa die Vari- anten (1a) und (1b) für die Übersetzung des standardsprachlichen Teilsatzes ‘um ein Billet zu lösen’. (1) Ich habe zu wenig Kleingeld, um ein Billet zu lösen. a. , für es Billet z löse. b. , zum es Billet (z) löse. Das Saarbrücker Projekt zur Verbgrammatik im Westmitteldeutschen beschäftigt sich mit morphologischer Variation: Es geht um die unterschiedliche Realisierung von Verbfor- men in den im Saarland gesprochenen mo- sel- und rheinfränkischen Dialekten, die der westmitteldeutschen Gruppe von Dialekten zugerechnet werden (Demske 2008b). Grundlegend für die Formenbildung des Verbs ist die Differenzierung von schwacher und starker Verbflexion, die aus der abwei- chenden Verwendung morphologischer Mit- tel resultiert. Wie Tabelle 1 und 2 mit Bei- spielen für die schwache und die starke Ver- bflexion im Standarddeutschen zeigen, wird in der schwachen Verbflexion das sprachliche Mittel der Affigierung verwendet, um die morphologischen Kategorien Person, Nume- rus und Tempus auszudrücken, während in der starken Verbflexion neben der Affigie- 26 Universität des Saarlandes Westmitteldeutsche Verbgrammatik: Bausteine zu einer Grammatik des Saarländischen Ulrike Demske und Christian Ramelli Neuere Deutsche Sprachwissenschaft In der Neueren Deutschen Sprachwissenschaft an der Universität des Saarlandes wird seit einigen Jahren daran gearbeitet, dialektal bedingte Varianten in der Morphologie und Syn- tax von Verben zu dokumentieren. Sprachlicher Bezugsraum sind die westmitteldeutschen Dialekte, die im Saarland verwendet werden. Inzwischen ist ein Pilotprojekt abgeschlossen, das sich exemplarisch mit den Varianten bei der Bildung der Form des Partizip II beschäftigt hat. Über das rein dokumentarische Interesse hinaus geht es darum, Entstehung, Spielarten und Grenzen von grammatischer Variation besser zu verstehen. Karte 1: Deutsche Dialekte: Mittel- und Rhein- fränkisch (nach Wiesinger 1983) Tab. 1: Schwache Verbflexion Tab. 2: Starke Verbflexion

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Sprachliche Eigenschaften lassen sich sprach-übergreifend danach klassifizieren, ob sieeher dem stabilen Teil von Sprachsystemenzuzurechnen sind oder einzelsprachlich(stark) variieren. Die Identifikation vonsprachlichen Universalien einerseits und denmaßgeblichen Bereichen sprachlicher Varia-tion andererseits ist ein wesentliches Er-kenntnisinteresse sprachwissenschaftlicherForschung. Bis zum Ende der 90er Jahre desletzten Jahrhunderts konzentrierte sich derVergleich von Sprachen auf mehr oder weni-ger eng verwandte Sprachen, es wurden bei-spielsweise Sprachen innerhalb der west-und/oder nordgermanischen Sprachfamilie(Deutsch, Niederländisch, Englisch oder dieskandinavischen Sprachen) respektive diegermanischen und romanischen Sprachen inBezug auf bestimmte sprachliche Eigenschaf-ten miteinander verglichen, um die Musterzu identifizieren, die den beobachteten Un-terschieden zugrunde liegen. Erst seit Kayne(1996) beginnt sich in der generativ ausge-richteten Grammatikforschung die Erkenntnisdurchzusetzen, dass Muster sprachlicher Va-riation viel einfacher zu identifizieren sind,wenn die verglichenen Sprachen eng ver-wandt sind und sich folglich in nur wenigenEigenschaften unterscheiden. Damit rückendie Dialekte in den Mittelpunkt des Interes-ses, während bislang Standardsprachen Ge-genstand der Sprachtypologie gewesen sind.Anders als die traditionelle Dialektologie, diesich vor allem mit der Variation im Wort-schatz und im Lautsystem von Dialekten be-schäftigt, gilt das verstärkte Interesse einerauf Dialekte ausgerichteten Sprachtypologiederen morphologischen und syntaktischenEigenschaften, ein bislang weitgehend ver-nachlässigter Bereich dialektaler Variation.

Für die Syntax lässt sich das verstärkte Inter-esse beispielsweise an den seit einigen Jah-ren entstehenden Dialektatlanten ablesen,die für bestimmte sprachliche Areale die Va-riation syntaktischer Konstruktionen doku-mentieren: SADS (Syntaktischer Atlas derDeutschen Schweiz, http://www.ds.uzh.ch/dialektsyntax/index.html), ASIS (= Syntakti-scher Atlas von Norditalien, http://asis-cnr.unipd.it/index.it.html) und SAND (= Syn-taktischer Atlas der niederländischen Dialek-te, http://www.meertens.knaw.nl/sand/zoe-ken/index.php). Im syntaktischen Atlas derDeutschen Schweiz finden sich etwa die Vari-anten (1a) und (1b) für die Übersetzung desstandardsprachlichen Teilsatzes ‘um ein Billetzu lösen’.

(1) Ich habe zu wenig Kleingeld, um ein Billetzu lösen. a. — , für es Billet z löse. b. — , zum es Billet (z) löse.

Das Saarbrücker Projekt zur Verbgrammatikim Westmitteldeutschen beschäftigt sich mitmorphologischer Variation: Es geht um dieunterschiedliche Realisierung von Verbfor-men in den im Saarland gesprochenen mo-sel- und rheinfränkischen Dialekten, die derwestmitteldeutschen Gruppe von Dialektenzugerechnet werden (Demske 2008b).

Grundlegend für die Formenbildung desVerbs ist die Differenzierung von schwacherund starker Verbflexion, die aus der abwei-chenden Verwendung morphologischer Mit-tel resultiert. Wie Tabelle 1 und 2 mit Bei-spielen für die schwache und die starke Ver-bflexion im Standarddeutschen zeigen, wirdin der schwachen Verbflexion das sprachlicheMittel der Affigierung verwendet, um diemorphologischen Kategorien Person, Nume-rus und Tempus auszudrücken, während inder starken Verbflexion neben der Affigie-

26 Universität des Saarlandes

Westmitteldeutsche Verbgrammatik: Bausteine zu einer Grammatik des Saarländischen

Ulrike Demske und Christian RamelliNeuere Deutsche Sprachwissenschaft

In der Neueren Deutschen Sprachwissenschaft an der Universität des Saarlandes wird seiteinigen Jahren daran gearbeitet, dialektal bedingte Varianten in der Morphologie und Syn-tax von Verben zu dokumentieren. Sprachlicher Bezugsraum sind die westmitteldeutschenDialekte, die im Saarland verwendet werden. Inzwischen ist ein Pilotprojekt abgeschlossen,das sich exemplarisch mit den Varianten bei der Bildung der Form des Partizip II beschäftigthat. Über das rein dokumentarische Interesse hinaus geht es darum, Entstehung, Spielartenund Grenzen von grammatischer Variation besser zu verstehen.

Karte 1: Deutsche Dialekte: Mittel- und Rhein-fränkisch (nach Wiesinger 1983)

Tab. 1: Schwache Verbflexion Tab. 2: Starke Verbflexion

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rung außerdem das sprachliche Mittel desAblauts eine Rolle spielt (Demske 2008a).

Neben den jeweils acht unterschiedlichenFormen finiter Verben verfügen schwach undstark flektierende Verben über die infinitenFormen des Partizip I (hol-end, find-end), desPartizip II (ge-hol-t, ge-fund-en) und des Infi-nitivs ((zu) hol-en, (zu) find-en), so dass ins-gesamt elf Verbformen für jedes Verb vorlie-gen. Im Rahmen eines von der Universitätdes Saarlandes finanzierten Pilotprojekts, indem inhaltliche und methodische Grundla-gen für ein Projekt zur Verbgrammatik imWestmitteldeutschen insgesamt erarbeitetwerden sollten, ging es darum, die auftre-tenden Varianten für eine dieser Verbformenin Abhängigkeit von ihrer geographischenVerteilung zu dokumentieren. Die Wahl derinfiniten Form des Partizip II hat in ersterLinie damit zu tun, dass dies die einzige Verb-form mit drei möglichen Variablen ist: (i)wortinitial (±Präfix ge-), (ii) wortfinal (Suffix -t oder -en) und (iii) wortintern durch ±Ablaut.Wie sich starke und schwache Verbflexion imEinsatz der morphologischen Mittel unter-scheiden, illustriert Tabelle 3.

Das Präfix ge- tritt unabhängig von der Flexi-onsklasse auf, da sich sowohl in der schwa-chen wie der starken Verbflexion Formen mitund ohne Präfix beobachten lassen. Seine

Distribution ist vielmehr prosodisch moti-viert, da es nur dann auftritt, wenn die ersteSilbe des Verbs betont ist (wie bei holen,kennen, finden und rufen). Dagegen ist dieForm des Suffixes durch die Flexionsklassebedingt: Bei schwach flektierenden Verbenerscheint das t-Suffix, bei stark flektierendenVerben das en-Suffix. Was den Vokalwechselim Verbstamm angeht, so zeigen die Formenin Tabelle 3, dass auch in der schwachen Ver-bflexion - wenn auch in eher geringer Zahl -Verbformen mit Vokalwechsel auftreten kön-nen (kennen, benennen), wohingegen in derstarken Verbflexion Partizip II-Formen ohneVokalwechsel bei ungefähr einem Fünftelaller stark flektierenden Verben möglich sind(rufen, verlaufen). Einen weiteren Grund fürdie Wahl des Partizip II lieferten psycholingui-stische Arbeiten zum Erst- und Zweitspra-cherwerb verbaler Flexionsformen im Deut-schen, die ebenfalls dem Partizip II besonde-re Aufmerksamkeit geschenkt haben (z.B.Clahsen et al. 2004). Für das Projekt bietetsich damit die Möglichkeit, die Ergebnisseaus der Erhebung von Dialektdaten mit denErgebnissen psycholinguistischer Forschungin Beziehung zu setzen.

Ziel der im Jahr 2005 begonnenen Datener-fassung war es, alle im Saarland gesproche-nen Dialekte zu erfassen und hierbei mög-lichst Sprecher aller Altersstufen zu berück-

sichtigen. In einem ersten Schritt wurden diesaarländischen Mundartwettbewerbe derJahre 1991 und 1997 ausgewertet, um unterden 4.000 Verbformen von 1.200 verschiede-nen Verben (i) morphologisch interessanteVerben zu identifizieren, die (ii) Bestandteildes Wortschatzes eines durchschnittlichenDialektsprechers sind. Die auf dieser Grundla-ge erstellten vier unterschiedlichen Fragebö-gen mit jeweils 20 Übersetzungsfragen wur-den am Tag der Offenen Tür der UdS im Jahr2005 an knapp 100 Dialektsprechern gete-stet mit dem Ergebnis, dass die Fragebögennochmals modifiziert worden sind: Eines dermorphologisch auffälligen Verben gehörteganz offensichtlich nicht zum Dialektwort-schatz der Probanden, obwohl es in den Tex-ten der Mundartwettbewerbe belegt war.Hier findet sich also ein Beispiel dafür, dassder in Mundartwettbewerben verwendeteWortschatz nicht zwangsläufig deckungs-gleich ist mit dem produktiven Wortschatzvieler Dialektsprecher. Die auf dieser Grund-lage erstellte Version der Fragebögen wurdein einem zweiten Schritt per Zufallsauswahlan alle saarländischen Gemeinden verschickt(je 10, also insgesamt 520 Fragebögen) unddann zur Vergrößerung der Datenbasis inVerbindung mit einem Aufruf in der Saar-brücker Zeitung online gestellt. Die so gewon-nenen, insgesamt 104.000 Belege sind ineiner MySQL-Datenbank erfasst worden. InAbbildung 1 ist ein Ausschnitt aus der Daten-bank mit Belegen des Verbs finden darge-stellt.

Im Folgenden werden wir die Ergebnisseunseres Pilotprojekts für eine Variable, i.e.das Vorhandensein respektive Fehlen des ge-Präfixes, kurz vorstellen. Wie im Standard-deutschen hängt das Auftreten von ge- inden im Saarland gesprochenen westmittel-deutschen Dialekten von der Betonung desVerbs ab. Ein Präfix tritt also nur bei Verbenmit Erstbetonung auf (2a), fehlt aber bei Ver-ben mit einem unbetonten Präfix (2b):1)

(2) a. NeunkirchenDo hann ich doch werklich de Gustav getroff.

b. SaarlouisWer nix versucht der hat schunn verloa.

Im Unterschied zum Standarddeutschen gibtes in den westmitteldeutschen Dialekten Ver-ben, die trotz Erstbetonung auch ohne Präfixim Partizip II auftreten können. Dazu gehören

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Tab. 3: Morphologische Mittel bei der Bildung des Partizip II im Standarddeutschen

Abb. 1: Ausschnitt aus der Saarländisch-Datenbank (= SDB)

1) Bei den Belegen aus der Datenbank werden nur dieLandkreise genannt. Die Originalschreibung der Belegewird beibehalten.

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in unserem Korpus die folgenden elf Verben;unter (4) sind zwei beliebige Beispiele ausunserer Datenbank für das Verb finden gege-ben:2)

(3) bringen, bleiben, essen, finden, geben,gehen, kaufen, kennen, kommen, kosten, kriegen

(4) a. St. WendelDene hann eich im Wald gefunn.

b. SaarlouisDen han eich im Wald funn.

Die quantitative Verteilung der konkurrieren-den Verbformen II stellt sich für sieben dieserVerben wie folgt dar: Während bei den Ver-ben kommen, kaufen und gehen die Formenohne Präfix deutlich in der Mehrzahl sind,zeichnen sich die Partizip II-Formen der Ver-ben finden und bleiben durch eine deutlichgrößere Zahl von präfixhaltigen Formen aus.Die beiden Verben bringen und kennen wei-sen ein vergleichsweise ausgeglichenes Ver-hältnis von präfixlosen und präfixhaltigenFormen auf.

Dieser Befund wirft zwei Fragen auf: (i) Wes-halb sind es gerade die unter (3) aufgeführ-ten Verben, die Partizip II-Formen ohne Präfixerlauben, und (ii) wie lassen sich die quanti-tativen Verhältnisse in Abbildung 2 erklären?Beide Fragen sollten unserer Ansicht nachaus einer diachronen Perspektive beantwor-tet werden: In den einschlägigen Referenz-grammatiken des Alt- (750-1050) und auchdes Mittelhochdeutschen (1050-1350) wer-den die Verben bringen, finden und kommenals Beispiele für Verben genannt, bei denendie Form des Partizip II ohne das Präfix ge-gebildet werden kann. Da das Präfix ge-ursprünglich ein perfektivierendes Präfix ist,fehlt es in früheren Perioden der deutschenSprachgeschichte naturgemäß bei solchenVerben, die bereits perfektive Bedeutunghaben, vgl. (5). Mit dem Verlust der perfekti-

ven Bedeutung entwickelt sich das Präfix ge-zu einem rein formalen Marker und verbindetsich in der Folge mit Verben unabhängig vonihrer internen zeitlichen Struktur. Im heutigenDeutsch tritt unter den Verben mit Anfangs-betonung allein das perfektive Verb werdenin bestimmten Kontexten noch ohne das Prä-fix auf, vgl. (6).

(5) sînen meister hete er vunden‘seinen Meister hatte er gefunden’

(Parzival 38.07)

(6) Karl ist gestern im Hörsaal gesehen wor-den.

Umso überraschender ist das Auftreten vonPartizip II-Formen von Verben wie geben,gehen und kaufen ohne das Präfix ge- imFrühneuhochdeutschen (1350-1650), auf dasFertig (2000) verweist, und das er unter Ver-weis auf die flexivische Haplologie erklärt:Die im Frühneuhochdeutschen immer nochhäufig belegten präfixlosen Formen desVerbs kommen lassen sich für die Sprecherdes Frühneuhochdeutschen nicht mehr se-mantisch deuten, da inzwischen fast alle per-fektiven Verben das Partizip II mit einem Prä-fix bilden. Also suchen sie nach einer anderen

Erklärung für das Fehlen des Präfixes: Wiedas Präfix ge- beginnt das Verb kommen miteinem velaren Plosiv, weshalb sich das Fehlendes Präfixes als Wegfall einer unnötigen Dop-pelung im Anlaut der Partizipform, also alsflexivische Haplologie, interpretieren lässt.Diese Analyse wird von den Sprechern dannauf andere Verben mit einem velaren Plosivim Anlaut übertragen (wie geben, gehen,kaufen u.a.), so dass die Zahl der Verben, diedas Partizip II ohne Präfix bilden, im Frühneu-hochdeutschen zunächst wieder ansteigt.Auch diese Formen gehen in der Folge imStandarddeutschen wieder verloren. Insge-samt können die in den westmitteldeutschenDialekten auftretenden präfixlosen Formenalso als Reliktformen alter Sprachständegedeutet werden.

Was nun die quantitativen Verhältnisse an-geht, so zeigt sich, dass es gerade die Verbenmit einem velaren Plosiv im Anlaut sind (mitder Ausnahme von kennen), die fast durch-weg in der präfixlosen Variante erscheinen.Das gilt im Übrigen auch für die Verbengeben, kosten und kriegen, die in der Abbil-dung 2 nicht dargestellt sind. Dagegen wer-den bei Verben wie finden, die eine Verbin-dung mit dem Präfix ge- in früheren Periodender Sprachgeschichte aus semantischenGründen ausgeschlossen haben, die präfixlo-sen Formen in den westmitteldeutschen Dia-lekten nur noch resthaft verwendet. Quanti-tativ vergleichbare Verhältnisse weist Abbil-dung 2 für das Verb bleiben aus: Auch diesesVerb erscheint im Mittelhochdeutschen so-wohl mit als auch ohne ge-Präfix, weil dieForm dieses Verbs ursprünglich belîben lau-tet, zunächst also wegen der Präfigierung garkeine Erstbetonung vorliegt. In dem Maße

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Abb. 2: Quantitative Verteilung von ±Präfix

2) Kuntze (1932) nennt in seiner Untersuchung zum Saar-brücker Dialekt die Verben geben, gehen, kaufen undkriegen als Verben ohne Präfix im Partizip II.

Glossar

Ablaut: systematischer Wechsel des Stammvokals (finden - fand - gefunden)

Affix: nicht frei auftretendes Element

Affigierung: Hinzufügen eines Affixes

Haplologie: Ausfall eines Elements vor oder nach einem lautlich ähnlichen oder identischen Element

Präfix: Affix, das am Wortanfang hinzugefügt wird (un-dicht)

Suffix: Affix, das am Wortende hinzugefügt wird (Kind-er)

Velarer Plosiv: Plosive sind Sprachlaute, die durch einen zeitweiligen Verschluss im Artikulationsapparat

gebildet werden; velar bezeichnet den Artikulationsort des Lauts, der am weichen Gaumen (Velum)

gebildet wird (/g/ - /k/)

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wie das Wissen um die alte präfigierte Formverloren geht, setzt sich die Partizipform mitge-Präfix durch. Auch hier sind in den west-mitteldeutschen Dialekten nur Reste der al-ten Formenbildung bewahrt.

Abschließend wollen wir exemplarisch für diedrei Verben finden, kommen und kennen aufdie Frage eingehen, ob sich für das Auftretenvon ±Präfix im Saarland räumliche Musteridentifizieren lassen. Da die Alternation zwi-

schen präfixhaltigen und präfixlosen Parti-zipformen offensichtlich historisch begrün-det ist, werden die Ergebnisse aus unsererBefragung mit denen aus einer etwa hundertJahre älteren Erhebung verglichen, die in ih-rer digitalisierten Form seit 2003 über dasInternet sehr gut zugänglich sind (DigitalerWenkeratlas: http://www.diwa.info/main.asp). In dem von Georg Wenker konzipiertenDeutschen Sprachatlas (= DSA) werdensämtliche Dialekte des Deutschen erfasst.Grundlage ist die Auswertung von mehr als44.000 Fragebögen mit jeweils 40 Sätzen,die von repräsentativen Dialektsprechern inüber 40.000 deutschen Schulorten des Deut-schen Reichs von 1876 bis 1887 in den Orts-dialekt übersetzt worden sind. Die unter derLeitung von Georg Wenker und seinen Nach-folgern vorgenommene Gesamterhebung derDialekte einer Sprache ist bis heute weltweitebenso einzigartig wie die daraus entstande-ne Fülle von 1.668 kartographischen Darstel-lungen.

Das Verb finden wird in Wenker-Satz 32 ab-gefragt.3) In der kartographischen Darstel-lung des Verbs finden im DSA erscheint das

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Karte 2: ±Präfix bei finden im Deutschen Sprachatlas (= DSA)

Ulrike DEMSKE studierte Germanistik und Geographie an den Uni-versitäten Tübingen und Aix-Marseille. Nach der Promotion 1993in Tübingen war sie als Gastwissenschaftlerin an der University ofMassachusetts in Amherst (1993-1994) und am Zentrum für Allge-meine Sprachwissenschaft in Berlin (1995) beschäftigt und habili-tierte sich 1999 in Jena. Nach Lehrstuhlvertretungen in Tübingenund Jena ist sie seit 2002 Inhaberin des Lehrstuhls für ‘Systematikund Grammatik der deutschen Sprache unter Einschluss der neue-ren deutschen Sprachgeschichte (Neuzeit und neueste Zeit)‘ ander Universität des Saarlandes. Von 2006 bis 2007 war sie Deka-nin der Philosophischen Fakultät II und Mitglied des akademischen

Senats. Seit 2007 hat sie das Amt der Vizepräsidentin für Lehre und Studium inne. Ihre For-schungsinteressen liegen im Bereich der Syntax und der Morphologie des Deutschen. Denempirischen Fokus ihrer Arbeiten bilden neben den standardisierten und nicht-standardi-sierten Varietäten des heutigen Deutsch auch die älteren Sprachstufen des Deutschen.

Christian RAMELLI studierte Neuere deutsche Sprach- und Litera-turwissenschaft und Neuere Geschichte an der Universität desSaarlandes und schloss sein Studium 2008 mit dem Magister arti-um ab. Von 2005 bis 2008 war er als studentische Hilfskraft amProjekt „Zu einer Grammatik des Saarländischen“ von Prof. Dr.Ulrike Demske beteiligt. Seit April 2008 arbeitet er als wissen-schaftlicher Mitarbeiter der Fachrichtung Germanistik an der Uni-versität des Saarlandes. Sein wissenschaftliches Interesse liegt imBereich der Verbmorphologie und der Dialektologie.

3) Wenker-Satz 32: Habt ihr ein kleines Stückchen weißeSeife auf meinem Tisch(e) gefunden?

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Gebiet des heutigen Saarlands als Sprach-raum, in dem die Partizip II-Form überwie-gend ohne das Präfix ge- gebildet wird (funn,fonn). Konkret finden sich in den 260 Wen-kerbögen aus den Erhebungsorten im Saar-land 210 Formen ohne Präfix, denen 50 For-men mit Präfix gegenüber stehen (20 %).

Während also die Anzahl der präfixlosen For-men um 1890 noch bei 80% liegt, bietet dieAuswertung unserer Fragebögen ein völliganderes Bild. Das Verb finden ist in unseremKorpus 1.559 mal in seiner Partizip II-Formbelegt. Von diesen Formen sind lediglich 80unpräfigiert, während 1.479 Formen mit demPräfix ge- auftauchen. Damit beträgt der An-teil der präfixlosen Formen nur noch 5%.Ganz ähnlich wie finden verhalten sich dieVerben bleiben und bringen: Auch für dieseVerben ist im DSA eine deutliche Dominanzpräfixloser Formen belegt, während die SDBein Übergewicht präfigierter Formen doku-mentiert. Insgesamt sind also für die Verbenfinden, bleiben und bringen die präfixlosenFormen stark rückläufig.

Während sich hier ein erstaunlich schnellerSprachwandel vollzieht, bleibt zumindesteine schon im DSA erkennbare räumlicheStruktur auch in den Auswertungen unsererFragebögen sichtbar, nämlich die Zunahmepräfixloser Formen von Südosten nach Nord-westen, die sich möglicherweise durch dieSprachgrenze zwischen dem Rhein- undMoselfränkischen erklären lässt.

Die Befunde für das Verb kommen4) ausdem DSA sind denen für das Verb findensehr ähnlich: Auch die Karte für kommenweist das Saarland Ende des 19. Jahrhun-derts als einen Raum aus, in dem die präfix-losen Formen des Partizips überwiegen,wobei der Anteil an präfigierten Formen hiersogar noch niedriger ausfällt (256 präfixlose

Formen vs. 7 präfigierte Partizipformen). ImGegensatz zum Verb finden lässt sich fürkommen aber kein Rückgang der präfixlosenFormen feststellen: Von den 1.725 in der SDBbelegten Formen sind lediglich 14 präfigiert.Der Anteil an präfixlosen Formen bleibt alsovon 1890 bis 2006 auf beinahe identischemNiveau (97% gegenüber 99%). Vergleichbarstabil scheint der Anteil präfixloser Formenbei dem Verb kaufen zu sein, allerdings fehltim Wenker-Atlas eine entsprechende Karte.Rückschlüsse auf die sprachgeschichtlich älte-re Verteilung von präfixhaltigen und präfixlo-sen Partizipformen lassen sich allenfalls an-hand der einschlägigen Karte im Luxemburgi-schen Sprachatlas ziehen, die auf einer Erhe-bung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts beruht.5) Und wie die einschlägige Kar-

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4) Wenker-Satz 18: Hättest du ihn gekannt! Dann wärees anders gekommen, und es täte besser um ihn ste-hen.

5) Fragebogensatz: Unser Pfarrer hat am Dienstag einenHengst gekauft. Tab. 4: Finden im Deutschen Sprachatlas und in der Saarländisch-Datenbank

Karte 3: ±Präfix bei finden in der Saarländisch-Datenbank

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te aus dem Luxemburgischen Sprachatlaszeigt, sind in diesem Sprachraum Formen mitdem Präfix ge- kaum belegt.

Während sich bei den beiden bisher darge-stellten Verben das Saarland im Wenker-Atlas als Raum charakterisieren lässt, in demdie präfixlosen Formen klar überwiegen, istdie Situation für das Verb kennen (ebenfallsWenker-Satz 18; vgl. Fn. 4) anders, da hiereine deutliche Zweiteilung des Saarlands zuerkennen ist, wie Karte 4 zeigt: Während inden nordwestlichen Landkreisen die präfixlo-sen Formen klar überwiegen, ist nach Südo-sten eine rapide Abnahme präfixloser For-men zu beobachten. Insgesamt sind die prä-fixlosen Formen leicht in der Überzahl (152gegenüber 122).

Gegenüber den Daten aus dem Wenker-Atlasist der Anteil der präfixlosen Formen in unse-rem Korpus insgesamt zwar von 56% auf36% zurückgegangen, dennoch weisen auchunsere Befunde eine deutliche Zweiteilungdes betrachteten Sprachraums auf, wie wirsie von der Hunsrückschranke (= das-dat-Linie) kennen. Die Issoglosse aus Karte 4 hatin fast unveränderter Form also 2006 nochBestand.

Bleibt die Frage zu klären, weshalb für dasPartizip II von kennen trotz des velaren Plosi-vs im Anlaut überhaupt ein Rückgang der prä-fixlosen Formen zu beobachten ist (s. auchAbb. 2). Unserer Ansicht nach ist hier Analo-gie im Spiel, denn das Verb kennen gehörtwie die Verben brennen und nennen zu einerkleinen Verbklasse im Deutschen, den sog.Rückumlautverben. Diese Verben bilden dasPartizip II in der Standardsprache wie dieschwach flektierenden Verben mit dem Den-talsuffix -t, gleichzeitig aber ändert sich derVokal wie sonst nur bei den stark flektieren-den Verben (Standardsprache: gebrannt,genannt). Da brennen und nennen in denwestmitteldeutschen Dialekten das Partizip IIdurchwegs mit dem ge-Präfix bilden, folgtkennen in seiner Formenbildung nicht nur hin-sichtlich Suffigierung und Ablaut dem Musterder beiden nur im Anlaut verschiedenen Ver-ben, sondern auch in Bezug auf die Präfigie-rung.

Abschließend können wir als ein Ergebnisunserer Erhebung festhalten, dass in Bezugauf die Variable ±Präfix in den westmittel-deutschen Dialekten des Saarlands im Unter-schied zum Standarddeutschen Variation zubeobachten ist. Diese Variation ist auf eine

kleine Gruppe von Verben mit Erstbetonungbeschränkt, die wiederum in zwei Untergrup-pen zerfällt: Verben des Typs finden bilden imaktuellen Sprachgebrauch ihr Partizip II vor-rangig mit Präfix, die präfixlosen Variantenlassen sich historisch aus der internen zeitli-chen Struktur der Verben herleiten (Perfekti-vität). Verben des Typs kommen bilden imaktuellen Sprachgebrauch ihr Partizip II vor-rangig ohne Präfix, ihre präfixlosen Variantenlassen sich phonetisch als Haplologie deu-ten. Beide Verbgruppen unterscheiden sichauch aus diachroner Perspektive, da die Ver-wendung der präfixlosen Form nur bei Ver-ben des ersten Typs im letzten Jahrhundertstark zurückgegangen ist. Es handelt sich hieralso um eine regressive Variante, währenddie präfixlosen Varianten bei Verben wiekommen und gehen in ihrer Gebrauchshäu-figkeit einigermaßen stabil zu sein scheinen.Was die räumlichen Strukturen angeht, so istfür alle Verben eine Präferenz präfixloser For-men im Nordwesten des betrachtetenSprachraums festzustellen, während dieseFormen im Südosten weniger häufig auftre-ten. Besonders auffällig ist der räumlicheKontrast beim Verb kennen. Inwieweit hierein Zusammenhang zwischen der morpholo-gischen Variation und der lautlich motivier-ten Hunsrückschranke besteht, ist bislangnicht geklärt.

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Tab. 5: Kennen im Deutschen Sprachatlas und in der Saarländisch-Datenbank

Karte 4: ±Präfix bei kennen, Ausschnitt aus der Wenker-Karte