Wie Frauen die Geburt ihres ersten Kindes per Kaiserschnitt...

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Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg Fachbereich Sozialpädagogik Studiengang Pflege Wie Frauen die Geburt ihres ersten Kindes per Kaiserschnitt erleben - Eine qualitative Studie Diplomarbeit Tag der Abgabe: 21.02.2004 Vorgelegt von: Christiane Jurgelucks Kanonierstraße 15 76185 Karlsruhe Matrikelnummer: 15215443 Betreuender Prüfer: Prof. Dr. Dr. K.-H. Wehkamp Zweiter Prüfer: Dr. V. Maaßen

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Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg

Fachbereich Sozialpädagogik

Studiengang Pflege

Wie Frauen die Geburt ihres ersten Kindes per Kaiserschnitt

erleben -

Eine qualitative Studie

Diplomarbeit Tag der Abgabe: 21.02.2004 Vorgelegt von: Christiane Jurgelucks Kanonierstraße 15 76185 Karlsruhe Matrikelnummer: 15215443 Betreuender Prüfer: Prof. Dr. Dr. K.-H. Wehkamp Zweiter Prüfer: Dr. V. Maaßen

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Gegen die Sprachlosigkeit

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Inhaltsverzeichnis Seite

1 Einleitung 6

2 Der Forschungsprozess 10

2.1 Mein Ausgangsinteresse und die Entwicklung der Fragestellung 10

2.2 Literaturrecherche 11

2.3 Theoretische Vorüberlegungen 13

2.3.1 Begründung des qualitativen Forschungsansatzes 13

2.3.2 Auswahl der Studienteilnehmerinnen 15

2.4 Die Durchführung der Studie 15

2.4.1 Gewinnung von Interviewteilnehmerinnen und Kontaktaufnahme 15

2.4.2 Die Durchführung der Interviews 16

2.4.3 Datensicherung 17

2.4.4 Die Auswertung 18

3 Geschichte der Kaiserschnitt-Geburt und ihre Bedeutung

in der heutigen Geburtshilfe 19

4 Medizinische Aspekte der Sectio Caesarea 21

4.1 Indikationen, die zur Sectio führen können 22

4.2 Die Wahl der Narkose 23

4.2.1 Die Intubationsnarkose 24

4.2.2 Die Regionalanästhesie 25

4.3 Risiken der Schnittentbindung 26

4.3.1 Auswirkungen auf das Kind 27

4.3.2 Spätfolgen für die Frau 27

4.4 Medikamente nach einem Kaiserschnitt 27

4.5 Das Stillen nach einer Sectio 29

5 Psychosoziale Aspekte 29

5.1 Die Auseinandersetzung mit dem Kaiserschnitt 29

5.1.1 Faktoren, die das Erleben beeinflussen 30

5.1.2 Dimensionen des Erlebens 30

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5.1.3 Die Bewertung des „Erlebnisses“ Kaiserschnitt 31

5.1.3.1 Weiblichkeitsideale und Leistungsdruck 32

5.2 Mögliche psychische Folgen des Kaiserschnitterlebens 32

5.2.1 Depressionen nach der Geburt 33

5.2.2 Posttraumatische Belastungsreaktion und Posttraumatische

Belastungsstörung 35

5.3 Bewältigung und Verarbeitung einer Kaiserschnitterfahrung 37

5.3.1 Die Phasen der Kaiserschnittverarbeitung nach Julienne G. Lipson

und Virginia Peterson Tilden 37

6 Übersicht über die Studienteilnehmerinnen 39

7 Ergebnisse der Studie 43

7.1 In der Schwangerschaft 43

7.1.1 Wie sich Erstgebärende die Geburt in der Schwangerschaft vorstellen 43

7.1.1.1 Das Ideal der „natürlichen“ Geburt 43

7.1.1.2 Das Ideal der „bewussten“ Geburt 44

7.1.1.3 Das Ideal der „kontrollierten“ Geburt 45

7.2.1 Schlussfolgerungen 46

7.2 Die real erlebte Geburt 47

7.2.1 Dimensionen des Erlebens 47

7.2.1.1 Über die Schwierigkeit Worte für das Erleben zu finden 48

7.2.1.2 Bedrohung des Lebens für Mutter oder Kind verbunden mit Trennung 50

7.2.1.3 Wenn die Geburtshilfe als Geburtsgewalt erlebt wird 55

7.2.1.4 Trennung von Körper und Seele - Entfremdung des Leibes 59

7.2.1.5 Von Gegenüberlosigkeit und unbefriedigenden Beziehungen 63

7.2.1.6 Von schwierigen Gefühlen nach der Sectio 69

7.2.1.7 Die Folgen 74

8 Konsequenzen für die Praxis 75

8.1 Aufklärung und Information über die Schnittentbindung

in der Schwangerschaft 75

8.2 Infoabende und Tage „der offenen Tür“ 76

8.3 Geburtsplanung im Krankenhaus 77

8.4 Im Kreißsaal 78

8.5 Vorbereitung zur Operation 80

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8.6 Einschleusung und Aufenthalt im OP 81

8.7 Der Vater im OP 82

8.8 Unmittelbar nach der Sectio 82

8.9 Im Wochenbett 83

8.10 Möglichkeiten zur Geburtsverarbeitung schaffen 87

8.11 Sensibilisierung für die Thematik der Postpartalen Depression 88

9 Abschließende Betrachtung und Zusammenfassung

der Ergebnisse 89

10 Literatur 101

11 Anhang 105

11.1 Interviewbegleitbogen und –leitfaden 105

11.2 Geburtsgeschichten 108

Isabelle: „Die haben mir das Kind aus dem Bauch gerissen.“ 108

Kathrin: „Ich bin optimal betreut worden.“ 110

Marianne: „Traumatisch war nicht der Kaiserschnitt, sondern der

Wehenschmerz davor.“ 112

Martina: „Ich kann das nicht verarbeiten, weil es so existenziell war.“ 114

Daniela: „Einmal barfuß durch die Hölle.“ 117

Kerstin: „Und für mich stand wieder mal ein Kind auf dem Spiel.“ 120

12 Eidesstattliche Erklärung 123

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1 Einleitung Die Geburt meines ersten Kindes: Wie wird sie wohl werden? Wie werde ich mit dem Geburts-

schmerz umgehen und wer wird mich auf diesem Weg begleiten? Wohl jede Frau, die ein Kind

erwartet, stellt sich diese Fragen.

Die Geburt des ersten Kindes bringt neben freudiger Erwartung vielleicht auch Unsicherheit und

Unklarheit mit sich. Ein Geburtsereignis entzieht sich zumeist der bewussten Kontrolle. Niemand

kann vorhersehen, wie das sein wird und ob alles gut geht. Da klingt die Idee der „sanften Geburt“

oder der „Geburt ohne Gewalt“ verlockend, schön und schmerzfrei. Doch diese Ideen und Gedan-

ken Leboyers, mit denen viele Frauen groß geworden sind, beziehen sich nicht auf die schwangere

Frau, sondern auf die Bedürfnisse des Neugeborenen.

Mythos Geburt: In Geburtsvorbereitungskursen versuchen sich werdende Eltern auf ein Ereignis

vorzubereiten, das immer häufiger einmalig im Leben eines Paares bleiben wird.

Viele wollen die Geburt bewusst erleben, ihr Kind „sanft“ auf der Welt begrüßen und die ersten

Stunden als Familie genießen. Paare wollen das Beste für sich und ihr Kind: eine liebevolle

Atmosphäre im Kreißsaal, Unterstützung bei natürlichen Vorgängen und maximale medizinische

Sicherheit (Stauber 1999: 259-260). Entsprechend sorgfältig suchen sie sich den Geburtsort ihres

Kindes aus.

Kliniken und GeburtshelferInnen haben schon lange auf die Bedürfnisse der werdenden Eltern

reagiert und nähren die Hoffnung auf eine schöne, möglichst schmerzarme Geburt.

Sie werben einerseits mit besonders schön ausgestatteten Kreißsälen und alternativen Geburtsunter-

stützenden Maßnahmen, andererseits mit maximaler Sicherheit, um werdende Eltern auf einem

konkurrierenden Markt als Kunden zu gewinnen.

Bei vielen Paaren entsteht der Eindruck, dass alles machbar ist und die Risiken einer Geburt gut

beherrschbar sind. Theoretisch wissen sie, dass nicht jede Geburt komplikationsarm verläuft: Den-

noch wird die schmerzfreie Geburt, die mit einem gesunden Kind endet, als einzige Möglichkeit

gesehen. Die Geburt wird idealisiert und unlustvolle Gefühle werden abgewehrt (Kentenich, 1999:

279).

Auch in den meisten Geburtsvorbereitungskursen scheint eine kollektive Abwehr der Realität statt-

zufinden. Obwohl mittlerweile gut jedes vierte1 Kind per Kaiserschnitt zur Welt kommt, werden

1 Qualitätssicherung Geburtshilfe, Jahresauswertung 2002, Baden-Württemberg

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Geburtskomplikationen und die daraus resultierenden operativ beendeten Entbindungen selten aus-

führlich thematisiert. Es scheint so, als gingen werdende Eltern und professionelle Geburtshelfe-

rInnen häufig ein Bündnis ein, das die Enttarnung der oft idealisierten Geburtsvorstellungen ver-

hindert.

Viele Geburten sind aber - zumindest phasenweise - mit gewaltigen Schmerzen und mit einer nicht

kontrollierbaren Naturkraft verbunden: Angst, es nicht zu schaffen, Angst, das Kind durchzupres-

sen, Angst, zu sterben, sterben wollen. Das Erleben einer Geburt kann die Grenzen des Alltäglichen

sprengen.

„Eine Frau, die entbindet, entdeckt oder findet bei der Geburt auch die Möglichkeit, in Abgründe

zu blicken – wenn sie will bzw. wenn sie kann. Die weibliche Psyche gerät an dieser Stelle in ein

Minengelände. Im Geburtsgeschehen verdichtet sich die gesamte bisherige Biografie. (...) Und in

dieser Verdichtung wird nichts ausgelassen. (...) Die Geburt ist die Stunde der Wahrheit. Dort ist

die Luft dünn. (...) Die Stabilität, die erforderlich wäre, um eine Entbindung unversehrt zu überste -

hen, gibt es nicht. (...) Denn mit der physischen Qual der Geburt geht eine metaphysische Bedro-

hung einher, deren Spuren langsamer heilen als Dammschnitt oder Dammriss und die Erinnerung

– soweit sie zugelassen wird – den eigentlichen Schmerz ausmacht (Azoulay 1998: 29f)

So beschreibt es I.A. in ihrer Streitschrift: Dieses hilflose Ausgeliefertsein, das Verlieren der

Selbstkontrolle, das Erleben von unbeherrschbaren Schmerzen und Grenzsituationen, kann soviel

Angst auslösen, dass manche Schwangere von Beginn an die Entscheidung trifft, nicht (noch mal)

„natürlich“ entbinden zu wollen. Sie favorisiert den geplanten Kaiserschnitt und hofft dadurch,

dieser „metaphysischen Bedrohung“ ausweichen zu können.

Gesicherte Zahlen darüber, wie viele Frauen die Sectio ohne medizinische Indikation wünschen,

existieren nicht. Krankenhäuser, die der Forderung nach dem „Wunschkaiserschnitt“ offen gegen-

überstehen, bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone, da Krankenkassen „Maßnahmen, die das

Maß der Notwendigkeit überschreiten“ (SGB V, §§11 und 12) nicht übernehmen dürfen. Das macht

die quantitative Erfassung bundesweit schwierig, da Sectiones ohne medizinische Indikation in den

Perinatalerhebungen nicht als solche ausgewiesen werden.

In den Medien und in den Berufsverbänden der Hebammen und GynäkologInnen wird der Trend

zum „Wunschkaiserschnitt“ zum Teil sehr heftig und kontrovers diskutiert.

Die einen meinen, dass jede Frau das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt habe, die auch das

Recht auf eine Sectio ohne medizinische Indikation miteinschließe. Die anderen vertreten die An-

sicht, dass jede Frau mit der nötigen professionellen Unterstützung die Kraft zu einer natürlichen

Geburt habe und ihr durch einen „Wunschkaiserschnitt“ eine existentielle Erfahrung entgehe (DER

SPIEGEL 6/2003: 136).

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Diese stark polarisierende (Werte -)Diskussion um die Vor- und Nachteile einer Sectio erschweren

meines Erachtens eine differenzierte Auseinandersetzung, sowohl zwischen den Fachleuten als

auch zwischen GeburtshelferInnen und betroffenen Frauen.

Das Beharren auf dem jeweiligen eigenen Standpunkt verringert die Chance einer dialogisch ge-

fundenen Lösungsstrategie für das individuelle Problem einer Frau. Meiner Ansicht nach zum

Nachteil der Frau, die trotz wachsender Informiertheit und dem Recht auf Selbstbestimmung häufig

kompetente Hilfe bei der Entscheidungsfindung benötigt. Es gilt: subjektives Erleben, individuelle

Bedeutungen von Schwangerschaft und Geburt sowie medizinisches Risiko gemeinsam zu bewer-

ten, sorgfältig gegeneinander abzuwägen und mögliche Alternativen in den Entscheidungsprozess

mit einzubeziehen.

Dazu bedarf es neben der ausführlichen Beratung, der individuellen Geburtsplanung und der guten

Geburtsvorbereitung aber auch eines grundlegenden wissenschaftlichen Diskurses, der neben

Mortalität, Morbidität und wirtschaftlichen Aspekten der Sectio Caesarea auch das subjektive Erle -

ben einer Frau in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses rückt.

Die Gesamtzahl der Sectiones steigt Jahr für Jahr, in Baden-Württemberg von 23,5% im Jahr 2001

auf 26% 20022. Frauen, die diese Art der Geburt erleben, sind mittlerweile zu einer relevanten

Größe in der Geburtshilfe geworden.

So verwundert es, dass wissenschaftliche Studien nach wie vor fast ausschließlich die physischen

Begleiterscheinungen und Risiken einer Sectio Caesarea berücksichtigen. Ein im Jahr 2000 durch-

geführtes Expertenmeeting zum Thema belegt: Von 54 Beiträgen beschäftigen sich nur 3 mit dem

Geburtserleben der Frau (Schücking 2001, Waldenström 2001, Ehlert 2001). Von diesen Beiträgen

untersucht nur die Arbeit von Ehlert mögliche negative Konsequenzen unterschiedlicher geburts-

hilflicher Maßnahmen (Ehlert, U. 2001: 199 ff.)

Es scheint so zu sein, als sei es zumeist von untergeordnetem Interesse, wie sich eine Frau während

oder nach einer Sectio fühlen kann. Über die realen Bedürfnisse sectionierter Frauen ist wenig be-

kannt.

Deshalb beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit dem Erleben von Frauen, die von ihrem ersten

Kind per Sectio entbunden wurden.

Was empfindet eine Frau, die eine natürliche Geburt geplant hatte, wenn plötzlich ein Kaiserschnitt

gemacht werden muss? Wie erlebt sie die Betreuung während und nach der Geburt im Kranken-

haus und welche Bedürfnisse hat sie?

2 Schätzungen für das Jahr 2003 gehen von einer 30-prozentigen Sectiorate aus.

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Wie werden Geburtserfahrungen bewertet und welche Folgen entstehen daraus für die Mutter und

die Beziehung zu ihrem Kind? Welche Folgen haben verschiedene Geburtsideale für das Erleben

der konkreten Geburtsrealität?

Ziel meiner Arbeit ist, diesen Fragen nachzugehen, wohl wissend, dass Erleben nichts Objektives

ist, sondern durch den persönlichen Lebenskontext, die eigene Persönlichkeit und nicht zuletzt auch

durch die vorgenommenen Bewertungen bestimmt wird.

Ein wesentlicher Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Erforschung solcher Geburtsaspekte, die

von der Frau negativ bewertet und krisenhaft oder traumatisch erlebt wurden.

Ich vermute, dass traumatisches Erleben während und nach der Geburt sowohl das subjektive Be-

finden der Frau als auch die Beziehung zu ihrem Kind und zu ihrem Partner längerfristig stark be-

einträchtigen kann.

Die Folge könnte eine vermehrte Inzidenz psychischer Störungen nach traumatisch erlebter Sectio

Caesarea sein. „Es gibt Belege dafür, dass die postpartale Depression – wenn sie nicht erkannt und

behandelt wird, was leider sehr oft der Fall ist – nachteilige Konsequenzen für die langfristige

psychische Gesundheit und das soziale Funktionieren der Frauen hat, sich auf die eheliche Bezie -

hung und die psychische Gesundheit der Väter negativ auswirkt sowie für die Beeinträchtigungen

der kognitiven und sozialen Entwicklung der Kinder dieser Mütter mitverantwortlich ist“

(Brockington 2001: 7)

Deshalb möchte ich GeburtshelferInnen von der Wichtigkeit Traumata vermeidender Haltungen

und Handlungsstrategien überzeugen.

Ich möchte mit dieser Arbeit erreichen, dass diejenigen Erlebensdimensionen, die traumatisieren-

des Potential in sich tragen, in der geburtshilflichen Praxis bekannt werden. Die Kenntnis und die

Vermeidung solcher Faktoren könnte dazu beitragen, dass eine Frau - auch unter widrigen

Umständen - die Geburt ihres Kindes per Sectio möglichst positiv erleben kann.

Deshalb habe ich zusätzlich Vorschläge und mögliche Konsequenzen für die Praxis erarbeitet.

Diese sollen sowohl auf dem positiv geschilderten Erleben, als auch auf den geäußerten Wünschen

und Bedürfnissen der Studienteilnehmerinnen basieren. Zusätzlich wurden Beobachtungen und

Gespräche mit MitarbeiterInnen sowie entbindenden Frauen während einer mehrmonatigen

Hospitation im Kreißsaal des St. Vincentius Krankenhaus in Karlsruhe in das Kapitel

Konsequenzen für die Praxis integriert.

In diesem Sinne verstehe ich diese Arbeit auch als einen Beitrag zur Qualitätssicherung im ärztli-

chen und pflegerischen Bereich.

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2 Der Forschungsprozess 2.1 Mein Ausgangsinteresse und die Entwicklung der Fragestellung

Flick schreibt zum Zuschnitt von Fragestellungen im Forschungsprozess: „Fragestellungen erwach-

sen nicht aus dem Nichts. Sie haben häufig ihren Ursprung in der persönlichen Biographie des For-

schers und in seinem sozialen Kontext (Flick, 1998: 65).“

Der Wunsch, mich mit dem Thema „Kaiserschnitt“ zu beschäftigen, entstand aus der persönlichen

Betroffenheit heraus.

Die Geburt meines Sohnes Ende 2000 habe ich in schmerzhafter Erinnerung. Nicht nur mein

Körper litt, sondern auch meine Seele. Ich brauchte lange, um mein Geburtserleben zu „verdauen“.

Im Gespräch3 mit anderen Frauen lernte ich, dass ein Kaiserschnitt nicht immer „Narben an Körper

und Seele“ verursachen muss (Kemmler / de Jong 1999/2003).

So begann ich mich dafür zu interessieren, von welchen Faktoren es wohl abhängen könnte, ob

eine Sectio eher positiv oder eher negativ bewertet würde und stellte erste Hypothesen auf.

Im Verlauf weiterer Gespräche mit betroffenen Frauen in meiner Umgebung merkte ich aber bald,

dass das Erleben eines Kaiserschnittes hoch komplex ist und nicht so leicht an Hand einiger iso-

lierter Faktoren beschrieben werden kann.

So richtete sich mein Forschungsinteresse auf das Erleben selbst. Dabei suchte ich vor allem nach

Gemeinsamkeiten, also Themen, die von mehreren Frauen angesprochen wurden. Der Studien-

schwerpunkt war dabei die Ermittlung von problematischen und traumatischen Erlebensdimensio-

nen, die zu einer negativen Bewertung des Geburtserlebens führten, Ich nahm an, dass ein trauma-

tisches Erleben unter der Geburt zu Problemen bei der „Geburtsverarbeitung“ führen würde. Ich

erwartete ein schlechteres subjektives Befinden, mehr Probleme beim Stillen und negative Auswir-

kungen auf die Mutter-Kind-Beziehung.

3 Um meine eigenen Erfahrungen zu teilen, habe ich mit vielen anderen „Kaiserschnittmüttern“ über mein Erleben gesprochen. Im Dezember 2002 besuchte ich ein Kaiserschnittseminar, das von B. Meissner, einer Hebamme, die sich seit längerem mit diesem Thema auseinander setzt, geleitet wurde. Hier hatten alle teilnehmenden Frauen Gelegenheit, sich in Ruhe über ihre Erfahrungen und Probleme auszutauschen. Interessant war die Tatsache, dass auch Frauen anwesend waren, deren Geburtserleben schon über 10 Jahre zurück lag. Solche Kaiserschnittseminare sind in den USA üblich. Auch in Deutschland wächst das Interesse. Bislang bieten meines Wissens nur G. Kemmler, die Mitautorin eines sehr guten Ratgebers für betroffene Frauen, solche Seminare im Frauengesundheitszentrum in Frankfurt am Main an und B. Meissner, die vor allem in der Schweiz tätig ist.

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2.2 Literaturrecherche

Ich begann systematisch, Fachliteratur zu recherchieren, und bis auf die Untersuchung von Borne-

mann (1989) fand ich keine weiteren wissenschaftlichen Publikationen, die ein „ganzheitliches

Erleben“4 von Frauen berücksichtigt hätten.

Die meisten Studien zum Thema Sectio Caesarea beschäftigen sich mit den physischen Folgen für

die Mutter oder das Kind. „There is a wealth of literature regarding the rising CS rate and ways in

which we can reverse this trend. Furthermore, there is an abundance of research into the physical

outcomes of the procedure such as maternal and neonatal morbidity and mortality. In contrast,

research into the psychological effects and woman´s views of their experience is comparatively

scarce“, schreibt die englische Hebamme Jo Coggins in einer Literaturstudie (Coggins J.; 2003:

76).

Auch im deutschsprachigen Raum sind nur wenige Studien verfügbar, die das Erleben der betroffe-

nen Frauen in den Mittelpunkt rücken. Biographische Lebenszusammenhänge und die subjektiven

Bedeutungen der gewonnen Daten für die befragten Personen, sind in den allermeisten Studien

nicht Gegenstand des Forschungsinteresses.

Dazu Brähler und Unger, Herausgeber einer Studiensammlung zum Thema Schwangerschaft, Ge-

burt und Übergang zur Elternschaft: „Die wissenschaftliche Darstellung einzelner empirischer

Studien macht es nicht immer einfach, hinter Versuchsplanung, Testtheorie, Datenanalyse und

Ergebnisdiskussion die ursprünglich handlungssteuernden Emotionen und Kognitionen der unter-

suchten Menschen, zu erkennen; ganz zu schweigen vom sozialen Kontext, in dem sich, fern der

Forschungswelt, die eigene Sexualität und Fertilität abspielt. (...) Denn trotz unseres psychosoma-

tischen Ansatzes sehen wir Wissenschaftler den uns interessierenden Menschen oder das Paar

zunächst als einen beispielhaften ‚Erkenntnishelfer‘ oder anders ausgedrückt, als ‚Datenlieferant‘,

versuchen ihn anhand unserer Fragestellungen und Hypothesen, die möglichst konkret zu opera-

tionalisieren sind, in ‚Einzeldimensionen‘ zu erfassen, diese dann unter verschiedenen Bedingun-

gen zu testen, um am Ende den zunächst eingeengten Blick auf einen ausgewählten Bereich

menschlichen Verhaltens, wieder auf den großen sozialen Kontext zu lenken“ (Brähler E., Unger

U., 2001:7).

Auch im Internet gestaltete sich die Suche nach wissenschaftlichen Publikationen, die sich konkret

mit dem Erleben einer Kaiserschnitterfahrung befassen, schwierig. Dafür fanden sich aber einige

4 Ich stehe dem Ganzheitsbegriff kritisch gegenüber, dennoch möchte ich den Begriff hier verwenden im Sinne einer Annäherung an das Ganze.

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Web-Sites, die den betroffenen Frauen ein Forum für Diskussion und Austausch zur Verfügung

stellt. Dieser Austausch findet leider nur unter den Betroffenen und nicht mit Professionellen statt.

Selbst unter Hebammen, die den Anspruch haben „ihre Frauen“ durch die Geburt zu begleiten,

scheint das Thema Kaiserschnitterleben nicht von vorrangigem Interesse zu sein. Obwohl im Zuge

der „Wunschkaiserschnittdiskussion“ das Hebammenforum und die Zeitschrift: Die Hebamme

2003 jeweils ein Heft dem Schwerpunkt: Sectio Caesarea gewidmet haben, ist das Erleben und die

Bedeutung eines Kaiserschnittes für eine Frau nur durch einen Artikel vertreten. In diesem be-

schreibt die Hebamme Brigitte Meissner die Möglichkeiten der Unterstützung der Mutter-Kind-

Beziehung nach einer Sectio (Meissner 2003: 169 ff).

Weitere Veröffentlichungen zum Thema betonen vor allem die immer geringer werdende Bereit-

schaft der Mütter, sich dem Risiko und der Erfahrung einer normalen Schwangerschaft und Geburt

zu überlassen (Löbner 2002: 160ff).

Manche Autorin geht in ihren Ausführungen so weit, zum Boykott der „Wunschsectio“ aufzurufen:

„Die Frauen verweigern sich der Spontangeburt, was liegt da näher, als sich als Hebamme der

Wunschsectio zu verweigern“ (Eirich 2003: 21 ff.).

Leider scheint wenig Interesse an einer differenzierten Diskussion zu bestehen, wie die bestätigen-

den Leserbriefe als Reaktion auf die Glosse von Martina Eirich zeigen. Nur eine Hebamme er-

mahnte ihre Kolleginnen: „Dass die Tätigkeit dort (im OP) keine anspruchsvolle ist, ist unbestrit-

ten. Das Berufsbild der Hebamme hängt untrennbar mit dem gesellschaftlichen Umgang mit

Schwangerschaft und Geburt zusammen. (...) Professionelles Handeln schließt ein, die Autonomie

der Schwangeren in der Betreuung, Beratung, Behandlung zu berücksichtigen. Empathie ist ange-

sagt, wobei persönliche Vorlieben für Geburtsmodi keine Rolle spielen dürfen“ (Schneider 2003:

8).

Offensichtlich geht es in dieser Diskussion nicht nur um die mangelnde Bereitschaft vieler Frauen,

die Belastungen einer Spontangeburt auszuhalten, sondern, und das scheint mir vorrangig, um die

Abwertung der Sectio gegenüber der Spontangeburt, weil zunehmende Sectiozahlen die „eigentli-

che“ Profession der Hebamme gefährden und sie zu ausschließlicher ärztlicher „Handlangertätig-

keit“ degradieren wie es Martina Eirich in ihrer Glosse ausdrückt. Es scheint also auch um Konkur-

renz und Macht im Kreißsaal beziehungsweise im OP zu gehen.

Zu dieser Problematik stellte Jo Coggins folgendes fest: „Having spent the majority of my training

focusing on ‚normal midwifery‘ and examining ways in which to help woman to achieve normal

vaginal deliveries and avoid complications, working in theatre is comparatively unfulfilling. Per-

haps as midwives we are so focused on ‚normal‘ birth, we are not so adept at caring for woman for

whom it is more problematic? (Coggins J., 2003:76)“

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Während die Spontangeburt und das damit verbundene Erleben in die Berufskompetenz der Heb-

amme fallen, ist die operative Entbindung Sache der ÄrztInnen, die sich aber vorwiegend um eine

„technisch“ gut durchgeführte OP bemühen. Für die „Kaiserschnittfrau“ scheint sich keine Berufs-

gruppe wirklich zuständig zu fühlen, auch wenn nahezu alle an ihr tätig werden.

So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass die wenigen verfügbaren Ratgeber, die Kaiserschnitter-

fahrung differenziert und kritisch betrachten, von (Fach-)Frauen publiziert wurden, die selbst einen

Kaiserschnitt erlebt haben.

2.3 Theoretische Vorüberlegungen

2.3.1 Begründung des qualitativen Forschungsansatzes

Unter dem Begriff der „qualitativen Sozialforschung“ finden sich all jene Ansätze, die einen ande-

ren Zugang zum Menschen fordern und suchen als den gängigen und weit verbreiteten Zugang in

Form von Forschungsinstrumenten wie Skalen, Tests, Fragebögen und standardisierten Instrumen-

ten. Statt den Menschen zu testen und zu vermessen, sein Verhalten quantifizierbar zu machen,

zielen qualitative Denkansätze verstärkt auf die Annäherung an den Menschen und sein Verhalten,

Handeln und Erleben durch „Verstehen“. Dies erfordert jedoch einen Zugang, der den Menschen

im Ganzen zu betrachten versucht. Im Ganzen, das bedeutet in seinen Lebensbezügen, seinem „so

Gewordensein“, d. h. seiner Biographie und in seinem subjektiven Erleben und Deuten von Situa-

tionen. Bezogen auf die Arbeit ist es notwendig, die Forschungspartnerin nicht auf die Beantwor-

tung vorgegebener Antwortalternativen zu reduzieren, sondern sie selbst als Expertin ihrer eigenen

subjektiven Erfahrungswelt zu Wort kommen zu lassen. Sie wird nicht als reine ‚Datenträgerin‘ als

Forschungsobjekt betrachtet, sondern vielmehr als Subjekt, mit der ich als Forscherin in einen

wechselseitigen kommunikativen Prozess trete, mit dem Ziel, sich ihre Welt ein Stück weit zu er-

schließen. Dabei ist die Beziehung zwischen der Forschenden und ihren Forschungspartnerinnen

nicht statisch, sondern im Sinne einer sozia len Interaktion als Prozess zwischen beiden Personen

anzusehen. Die Daten, die in diesem Kommunikationsprozess gewonnen werden, sind immer sub-

jektive Deutungen, die in diesem Prozess entstehen und die sich durch die Auseinandersetzung

auch verändern (können). Ebenso verändern sich die InteraktionspartnerInnen durch den For-

schungsprozess (Hoffmann-Riem 1980: 339-372).

Da die vorliegende Studie die subjektive Sichtweise der betroffenen Frauen fokussiert, erschien mir

der qualitative Forschungsansatz der geeignetste Zugang. Meine Gesprächspartnerinnen sollten die

Möglichkeit haben, ihre subjektive Perspektive, ihr Erleben und Deuten von Situationen darzustel-

len.

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Deshalb habe ich auf ein qualitatives Untersuchungsverfahren, in Anlehnung an das von F. Schütze

1977 entwickelte narrative Interview zurückgegriffen. „ Im Unterschied zu projektiven Verfahren

bemühen sich halbstrukturierte Interviews (dazu zählt auch das narrative Interview) (...) das Be -

zugssystem der untersuchten Person im Sinne einer natürlichen, theoretisch nicht vorgeformten

Beschreibung abzubilden. Es geht also darum, empirisch vorfindbare Sichtweisen zu beschreiben,

ohne auf eine ‚hinter‘ den Schilderungen der Person ‚verborgene‘ Persönlichkeitsdynamik zurück-

zugreifen, die dieser selbst im Moment ihrer Schilderungen nicht gegenwärtig (unbewußt) ist. An-

ders gesagt: Es wird bei der Auswertung der halbstukturierten Interviews auf eine Expertenposi-

tion des Forschers verzichtet, es wird davon ausgegangen, dass die befragte Person in der Lage ist,

Auskunft zu geben“ (Kruse, A./Schmitt, E., 1999: 163).

Dieser Aspekt - keine bestimmte Persönlichkeitstheorie vorauszusetzen, sondern individuelle Per-

spektiven zu beschreiben, die in einem weiteren Schritt verallgemeinert werden können - ist mir

besonders wichtig.

Beim narrativen Interview steht die Aufforderung, sich zu einem in die eigene Lebensgeschichte

integrierten Thema in erzählender Weise zu äußern, im Mittelpunkt.

In dieser Erzählung werden die eigenen Erfahrungen, Orientierungen, Sinn- und Bedeutungszu-

schreibungen rekonstruiert und retrospektiv interpretiert.

Die Konzeption Schützes sieht eine relativ strenge Einteilung in drei Interviewphasen vor. In der

Einleitungsphase ist abzuklären, wie weit oder eng gefasst das Thema im Interview behandelt wer-

den soll und hier wird durch eine Eingangsfrage der Interviewten der Einstieg ins Erzählen ermög-

licht. In der zweiten, der Erzählphase, tritt die Interviewerin weitgehend zurück, stellt Verständnis-

und andere Fragen zurück, bis die Interviewpartnerin zu verstehen gibt, dass diese Sequenz beendet

ist. Daraufhin ist in einer so genannten Nachfragephase vorgesehen, Fragen zur Klärung und Er-

weiterung des schon Angesprochenen zu stellen, die jetzt auch direkt formuliert werden können

(Lamnek 1995: 70-72).

In einem Punkt habe ich nicht an der strikten Struktur Schützes festgehalten.

Für die Nachfragephase hatte ich einen Leitfaden (siehe Anhang) entwickelt, der Aspekte des Kai-

serschnitterlebens enthielt, die mich in jedem Fall interessierten. Da ich nicht wusste, worüber

meine Interviewpartnerinnen sprechen würden, und ich annahm, dass die Erzählungen der einzel-

nen Frauen recht unterschiedlich sein würden, gab der Leitfaden im Hintergrund auch mir eine

gewisse Sicherheit, die wichtigsten Themen angesprochen zu wissen.

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2.3.2 Auswahl der Studienteilnehmerinnen

Um das Erleben einer Kaiserschnittgeburt untersuchen und darstellen zu können, war es nötig Ge-

sprächspartnerinnen zu finden, die bereit sein würden, ein längeres Gespräch über diese Erfahrung

mit mir zu führen. Ich nahm an, dass ein Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden erforderlich

sei. Außerdem schien mir wichtig, dass die Interviewpartnerinnen ungestört sprechen könnten. Aus

eigener Erfahrung wusste ich, dass dies mit einem Kleinkind in unmittelbarer Nähe nicht möglich

ist.

Ein weiteres Kriterium war die Geburt des ersten Kindes per Sectio, um eine gewisse Vergleich-

barkeit der Interviewpartnerinnen zu erreichen. Außerdem strebte ich an, ein möglichst breites

(hinsichtlich der vorgenommenen Bewertungen) Erfahrungsspektrum zu untersuchen.

Anfangs sollten nur Frauen in die Studie aufgenommen werden, deren Geburtserfahrung nicht län-

ger als zwei Jahre zurücklag, da ich annahm, dass länger zurückliegende Erfahrungen nicht so gut

erinnert würden. Im direkten telefonischen Kontakt mit den potentiellen Interviewpartnerinnen

beschloss ich dann aber, keine engen Zeitvorgaben zu machen, da ich den Eindruck gewann, dass

diejenigen Frauen, die sich gemeldet hatten, ihre Geburtserfahrung auch gut erinnerten.

2.4 Die Durchführung der Studie

2.4.1 Gewinnung von Interviewteilnehmerinnen und Kontaktaufnahme

Um den Kontakt zu den betroffenen Frauen herzustellen, annoncierte ich einmalig im Karlsruher

Kind, einem kostenlosen Monatsblatt für Familien mit Kindern.

Auf die Annonce meldeten sich 22 Frauen. Mit jeder führte ich ein längeres telefonisches Vorge-

spräch, in dem ich die Untersuchung erläuterte und meine eigene Motivation und Betroffenheit

thematisierte. Ich besprach den Studienablauf (Zielsetzung, Methoden, Tonbandaufzeichnung,

Veröffentlichung der Ergebnisse) und bot den interessierten Frauen Bedenkzeit an, um zu überle -

gen, ob sie teilnehmen wollen. Von den 22 Frauen willigten 20 spontan in einen Gesprächstermin

ein. Mir wurde zu diesem Zeitpunkt schon deutlich, dass ein enormer Gesprächsbedarf besteht.

Viele Frauen äußerten sich sehr positiv darüber, dass dieses Thema endlich wissenschaftliches

Interesse findet. Dies wurde auch von denjenigen verbalisiert, die ihren Kaiserschnitt in guter Erin-

nerung haben.

Die hohe Motivation der Teilnehmerinnen zeigte sich auch darin, dass ein gutes Drittel zu mir nach

Hause kam und die Termine verbindlich eingehalten wurden. Nur eine Frau versetzte mich. Eine

andere wollte nach der Bedenkzeit nicht teilnehmen, da sie Angst hatte, sich nochmals mit dem

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Erleben zu konfrontieren. Eine Frau schloss ich aus, da ihre Geburtserfahrung schon 13 Jahre

zurücklag und sie nur teilnehmen wollte, falls sich nicht genügend Frauen meldeten.

2.4.2 Die Durchführung der Interviews

Von den 19 Interviews, die ich durchführte, fanden 12 bei den jeweiligen Teilnehmerinnen und 7

bei mir zu Hause statt. Ich richtete mich dabei nach den Wünschen der Frauen, da mir wichtig war,

dass sie sich während des Interviews wohlfühlen und gleichzeit ig ihr Kind gut versorgt wissen.

Bei keinem Interview war eine dritte Person anwesend. Der Ablauf gestaltete sich immer gleich.

Zuerst begrüßte ich die Frau und sorgte für eine Gesprächsmöglichkeit an einem normalen Tisch,

um eine möglichst gute Tonbandaufzeichnung zu gewährleisten. Das Tonband (Diktiergerät) stellte

ich mit dem Einverständnis der Teilnehmerinnen sofort ein.

Nach einer kurzen Aufwärmphase erklärte ich den Interviewablauf, die Frauen wurden nochmals

auf die Gewährleistung der Anonymität hingewiesen. Im Anschluss daran füllten wir gemeinsam

den Interviewbegleitbogen aus. Hier wurden Fragen zum Alter und Beruf der Frau, zum Alter des

Kindes (der Kinder), der Sectioindikation und der ausgewählten Entbindungsklinik gestellt.

Das eigentliche Interview begann jeweils mit einer formulierten Eingangsfrage, beziehungsweise

mit der Bitte an die Gesprächspartnerin, ausführlich über ihr Geburtserleben zu berichten, insbe-

sondere über die Gefühle dabei. Äußere Zeitmarkierungen sollten Schwangerschaft und Wochen-

bett sein. Ich betonte, dass mich alles interessiere, was meine Gesprächspartnerin für wichtig und

bedeutsam halte.

Alle Frauen fanden einen leichten Einstieg in das Interview, nachdem sie sich für einen Anfangs-

zeitpunkt entschieden hatten und begannen ohne größeres Zögern, sehr offen zu erzählen. Durch

Kopfnicken, Blickkontakt und Äußerungen wie „hmm“ und „ja“ versuchte ich den Frauen zu si-

gnalisieren, dass ich sie höre und verstehe.

Die reine Erzählphase nahm je nach Frau einen unterschiedlichen Zeitraum in Anspruch, der sehr

stark variierte - von zehn Minuten für vier Fehlgeburten und drei Kaiserschnittentbindungen einer

Frau bis hin zu neunzig Minuten für die Erzählung eines geplanten Kaiserschnittes.

Durchschnittlich dauerten die Gespräche zwischen zwei und drei Stunden; das kürzeste neunzig

Minuten, das längste 180 Minuten. Es war sehr auffällig, dass einige Frauen überhaupt keine

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Schwierigkeiten hatten, in aller Ruhe ihr Geburtserleben zu reflektieren, während andere eher der

konkreten Nachfrage bedurften – insofern erwies sich der Leitfaden als sehr hilfreich.

In der Nachfragephase fasste ich dann jeweils mit meinen Worten zusammen, was ich bislang zu

einem Themenkomplex verstanden hatte und gab den Frauen die Möglichkeit, etwas zu ergänzen

oder richtig zu stellen. Häufig führte das dazu, dass wir nochmals auf einer tieferen Ebene in das

Thema einstiegen.

Der Leitfaden im Hintergrund erwies sich als sehr relevant für jene Themen, die Frauen von sich

aus ansprachen. Offensichtlich war es mir gelungen, die wichtigsten Themenkomplexe auszuwäh-

len.

Die meisten Frauen erkundigten sich im Laufe des Gespräches nach meiner eigenen Geburtserfah-

rung, von der ich, allerdings erst nach Abschluss des eigentlichen Interviews, erzählte. Bei einigen

Frauen ergaben sich längere interessante Nachgespräche.

Das Führen der Gespräche machte mir unwahrscheinlich viel Freude. Es war schön zu spüren, dass

mir Vertrauen und Offenheit entgegengebracht wurde. Mir selbst gelang es, die Schilderungen

weitgehend nicht zu bewerten, obwohl ich mich in meinem Wertesystem von einigen Frauen

grundsätzlich unterschied. Ich betrachtete die mir erzählten Denkansätze und Erlebnisse als Berei-

cherung meiner eigenen Erfahrung im Sinne von: „So kann man das also auch sehen.“

Ich begann, meine Geburtserfahrung einzuordnen, indem ich feststellte, welche Erfahrungen ich

mit den meisten Frauen teilte, aber auch, in welchem Erleben ich mich grundsätzlich unterschied.

2.4.3 Datensicherung

Alle Gespräche wurden zu Bearbeitungs- und Auswertungszwecken auf Band aufgezeichnet. Nach

jedem Interview machte ich mir Notizen über Besonderheiten, die mir aufgefallen waren.

Alle Gespräche wurden im Nachhinein nochmals vom Band abgehört. Eine direkte Transkription

habe ich von acht Gesprächen angefertigt. Von allen anderen Interviews wurden nur im Hinblick

auf bestimmte Fragestellungen Transkripte angefertigt.

Alle Namen wurden im Hinblick auf den Schutz der Intimsphäre verändert.

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2.4.4 Die Auswertung

Die Auswertung und Interpretation wurde für alle vollständig transkripierten Gespräche mit der

gleichen Systematik und Intensität vorgenommen.

Ich untersuchte das Gesprächsmaterial daraufhin, welche Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken, Ge-

fühle und Folgen im Zusammenhang mit dem Geburtserleben von den Frauen thematisiert wurden.

Wegen der Fülle des Materials und dem großen Zeitrahmen wurde eine zeitliche Segmentierung

der Daten notwendig: Schwangerschaft, Geburtsbeginn im Kreißsaal bis zur Indikationsstellung zur

Sectio, Vorbereitungen zur Sectio, im Operationssaal, unmittelbar nach der Sectio, auf der Wo-

chenstation. Diese Zeitabschnitte habe ich dann anschließend auf inhaltlich bedeutsame Themen-

komplexe hin untersucht.

In der Schwangerschaft spielten vor allem die Vorstellungen, Wünsche und Träume, die sich

Frauen von der Geburt gemacht haben, eine Rolle. Ich bezeichne diesen Themenkomplex als Ge-

burtsideale.

Wegen der Fülle und des Reichtums der Daten, die im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der

Entbindung stehen, habe ich mich entschieden, zuerst abstraktere Dimensionen des Erlebens zu-

sammenhängend zu beschreiben.

Jede dieser Dimensionen ist mit einer Anzahl von typischen Gefühlen assoziiert. Ich möchte mich

in diesem Kapitel vor allem auf die problematisch und/oder traumatisch empfundenen Aspekte des

Erlebens konzentrieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede an dieser Studie teilnehmende Frau

diese Erfahrungen gemacht hat.

Es handelt sich hier um Themenkomplexe, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer negativen

Bewertung des Geburtsereignisses führen. Es fanden sich Hinweise darauf, dass das Erleben der

Kombination zweier oder mehrerer im Folgenden genannten Erlebensdimensionen zu einer Trau-

matisierung einer Frau führen kann.

• Die Unfähigkeit über das Erleben zu sprechen

• Das Erleben von Gewalt

• Das Erleben einer lebensbedrohlichen Situation für Mutter (und/)oder Kind verbunden mit

Trennung

• Das Erleben von Trennung von Körper und Seele verbunden mit Entfremdungsgefühlen

• Das Erleben von Gegenüberlosigkeit

Diese Dimensionen habe ich auch daraufhin untersucht, wie sie interagieren.

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In Abgrenzung zu den genannten negativen Erlebensdimensionen hatte das Erleben von intensiver,

einfühlsamer menschlicher Bezogenheit die Fähigkeit, problematische Erlebensdimensionen

auszugleichen.

Die meisten negativ bewerteten oder traumatisch wirkenden Erlebensdimensionen schließen aller-

dings einfühlsame menschliche Bezogenheit aus.

Schlussfolgernd habe ich in Kapitel 8 dargestellt, wie GeburtshelferInnen und andere an der

Versorgung sektionierter Frauen Beteiligte dazu beitragen können, dass eine Frau, die per Kai-

serschnitt entbindet, ein möglichst positives Geburtserlebnis ermöglicht wird.

In diese Praxisanregungen gehen dann sowohl die im Interview geäußerten positiven Erfahrungen

wie auch die Wünsche und Bedürfnisse der betroffenen Frauen ein.

Hier werde ich mich an der zeitlichen Abfolge von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett ori-

entieren.

Zuletzt kommen im Anhang einige Frauen – in stark gekürzten Fallgeschichten dargestellt – selbst

zu Wort, so dass für die LeserIn die Möglichkeit besteht das Erleben, die damit verbundenen

Gefühle und die vorgenommenen Bewertungen des Geburtserleben nachzuvollziehen.

3 Geschichte der Kaiserschnitt-Geburt und ihre Bedeutung in der

heutigen Geburtshilfe

Die Geschichte des Kaiserschnittes zeigt, dass es sich nicht um ein zeitgeschichtlich neues Phäno-

men handelt. Es geht um ein Thema, mit dem sich Menschen seit Jahrhunderten auseinander ge-

setzt haben und bei dem sich in besonderer Weise ein Spannungsbogen zwischen Geburt und Tod,

Leben und Sterben aufbaut.

Der Kaiserschnitt – als Errettung des Kindes durch Eingriff an einer Toten oder Sterbenden – wird

in verschiedensten Kulturkreisen erwähnt (Henze 1997: 143).

Bis zum 15. Jahrhundert wurden Sectiones nur nach dem Tod der Mutter durchgeführt, um das

Kind durch die Taufe in die Christengemeinschaft auf zu nehmen. Eine der ersten dokumentierten

Kaiserschnittoperationen wurde um 1610 in Wittenberg durchgeführt. Damals wurde die Gebär-

mutter nicht zugenäht, was in der Regel durch Blutverlust und Infektionen zum Tod der Mutter

führte. Die Resultate des Kaiserschnittes waren trostlos und wurden nur empfohlen, um die Erb-

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folge bei Königen und Fürsten zu sichern. (Anmerkung: Die wenigsten Kinder haben diesen Ein-

griff überlebt!)

Seit dem 18. Jahrhundert praktizierten zunehmend Chirurgen in der Geburtshilfe, die Einführung

medizinisch indizierter Kaiserschnitte begann. Die Durchführung war nach wie vor lebensbedroh-

lich, da noch keine Antibiotika, Bluttransfusionen, Narkosen und geeignete Nahttechnik zur Verfü-

gung standen. Bis 1860 hatte in Wien keine Frau diesen Eingriff überlebt (Henze 1997:143).

Durch die Einführung der Infektionsprophylaxe durch Semmelweis und Lister und die Empfehlung

von Sänger und Kehrer, die erstmals die mehrschichtige Gebärmutternaht einführten, gelang ab

1880 die Absenkung der Müttersterblichkeit. Der Kaiserschnitt wird nun zu einem Verfahren, „das

im Vergleich zu althergebrachten Methoden wie Wendung, Schambeindurchsägung und hohe

Zange weniger komplikationsreich und gefährlich ist (Shorter, E. zit. n. Henze 1997: 143).“ Mit

dieser Entwicklung einhergehend wird die Entbindung in der Klinik forciert und die kindliche In-

dikation zur Sectio gewinnt an Bedeutung.

Heute liegt die Mortalität der Mutter bei weniger als ein Promille, trotzdem birgt die Sectio ein

höheres Sterberisiko für die Mutter als nach einer vaginalen Geburt. (Häderle, A. 2003: 33-36)

Um das Jahr 1900 wurden etwa ein Prozent aller Geburten per Kaiserschnitt beendet – fast aus-

schließlich wegen der Mutter, kindliche Belange spielten damals keine Rolle.5

Seit dieser Zeit wird ein kontinuierlicher Anstieg der Sectio-Frequenz in Nordamerika und Europa

mit teils großen nationalen Unterschieden beobachtet.

Wie kommt es zu dieser rasanten Entwicklung? Die Geburtshilfe hat sich in den letzten zwei Jahr-

zehnten stark gewandelt. Galten bis vor einigen Jahren eine niedrige Sectio-Frequenz als wichtiger

geburtshilflicher Qualitätsparameter (Krause, Feige 2001: 46) und wurde in den neunziger Jahren

noch analysiert, was die steigende Sectio-Rate verursacht, so tritt jetzt an die Stelle der Diskussion

über die Notwendigkeit der Sectiozahl die Diskussion über den Wunsch von Schwangeren, durch

eine nicht medizinisch induzierte Sectio entbunden zu werden (Dudenhausen 2001: 44).

Warum wünschen sich Frauen eine Sectio? Eine viel zitierte Untersuchung von 1996 bezieht sich

auf englische Ärztinnen, die im geburtshilflichen Bereich tätig sind. Danach würden sich bei fikti-

ver Schwangerschaft 31 Prozent für einen Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation entscheiden,

5 Im Gegensatz zu heute, wo Paare vielerlei Anstrengungen unternehmen, um das ersehnte Wunschkind in den Armen zu halten. Hier spricht häufig die Indikation des wertvollen Kindes für einen Kaiserschnitt. Man will kein Risiko eingehen.

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schreibt Pichler, die die Untersuchungsergebnisse in der Hebammenzeitung vorstellt (Pichler 5/99).

Bei den meisten stehe die Angst vor Verletzungen des Beckenbodens und die Angst vor Langzeit-

folgen (Stressinkontinenz und anale Sphinkter-Verletzungen) im Vordergrund. Rund 80 % der

Befragten gaben diesen Grund an. Weitere 58 Prozent fürchten eine Beeinträchtigung ihres Se-

xuallebens durch eine vaginale Geburt, 39 Prozent fürchten um die Gesundheit ihres Kindes und 27

Prozent der befragten Ärztinnen wollten den Termin der Geburt planen (Al-Mufti, Fisk, McCarthy,

Lancet 1996: 374; 544 zit. nach Pichler 99).

Hierzulande würden nach einer Umfrage in Nordrhein-Westfalen 6,1 Prozent der Gynäkologinnen

einen geplanten Kaiserschnitt vorziehen, Hebammen dagegen lehnen eine elektive Sectio ab. Für

sie ist eine vaginale Geburt ganz stark mit dem emotionalen Geburtserleben assoziiert.

Der Wunsch nach einem Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation tendiere in der Bevölkerung

gegen Null, schreibt Klaus Vetter (Vetter 2002). Wenn eine Schwangere trotzdem eine Sectio in

Erwägung ziehe, dann stünden dahinter oft persönliche Gründe wie eine vorausgegangene trau-

matische Geburt oder unüberwindbare Ängste vor den Wehenschmerzen. Diese Frauen seien aber

schon immer per Sectio entbunden worden. Vetter geht davon aus, dass circa 1,5 Prozent der

Schwangeren die elektive Sectio wählt, für die große Mehrheit der Frauen sei dies kein Thema,

sondern sie seien eher enttäuscht, wenn sie aufgrund mütterlicher oder kindlicher Indikationen

nicht vaginal gebären können (Vetter 2002).

4 Medizinische Aspekte der Sectio Caesarea Der Fachbegriff Sectio Caesarea steht für die Operation zur Geburt eines Kindes mit Schnitten

durch die Bauchdecke und den Uterus.

Der Kaiserschnitt ermöglicht zu jedem Zeitpunkt während Schwangerschaft und Geburt unabhän-

gig vom Geburtsfortschritt eine rasche Entbindung. Die Operation ist dann angezeigt, wenn die

Notwendigkeit für eine baldige Geburt besteht und die Voraussetzungen für ein vaginales Vorge-

hen nicht erfüllt sind.

Diese Operation kann in hohem Maße Leben retten. Einige Sectiones werden aufgrund eindeutiger

Indikationen wie Plazenta praevia oder Querlage ausgeführt. Für die Mehrzahl sind die Indikatio-

nen doch eher relativ. Die bestehenden Unterschiede der Sectio-Rate zwischen verschiedenen Län-

dern legen nahe, dass die geburtshilfliche Fachwelt sich nicht einig darüber ist, wann eine Sectio

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angezeigt ist. Sie legen außerdem nahe, dass andere Faktoren wie der sozioökonomische Status der

Frau, forensische Gründe und finanzielle Überlegungen ebenfalls eine Rolle spielen können (Enkin

1998: 377 ff.).

4.1 Indikationen, die zur Sectio führen können

• Die Lage des Kindes: Die häufigste Indikation für eine primäre Sectio ist die Beckenendlage

des Kindes. Das Kind liegt mit dem Steiß, den Füßen oder den Knien voran im Becken. Viele

Kliniken machen bei Beckenendlage grundsätzlich einen Kaiserschnitt. Einige bieten der

Schwangeren auch einen vaginalen Entbindungsversuch an. Neben der BEL gibt es noch an-

dere Lagen des Kindes, die eine Sectio erforderlich machen, vor allem Quer- und Schräglagen,

falls sich das Kind nicht drehen lässt.

• Geburtsgewicht des Kindes: Bei Frühgeburten bis zur 30. Woche und mangelernährtem Kind

(geschätztes Gewicht unter 1200 g) wird eine Sectio empfohlen. Die Kinder sollen geschont

und das Risiko einer Hirnblutung vermieden werden (Künzel 2001: 92). Ist das Kind sehr

schwer (über 4000/4500g.), wird ebenfalls häufiger zu einer Sectio geraten. Das gleiche gilt für

Mehrlinge.

• Lage der Plazenta: Eine weitere Indikation für einen geplanten Kaiserschnitt ist die Plazenta

praevia, ein den Muttermund ganz oder teilweise verdeckender Mutterkuchen. Manchmal löst

sich die Plazenta auch vorzeitig, dann ist ein sofortiger Kaiserschnitt erforderlich.

• EPH-Gestose und Hellp-Syndrom : Ein weiterer Grund ist die schwere EPH-Gestose, im

Volksmund Schwangerschaftsvergiftung genannt. Hier kündigen sich schwere Krampfzustände

durch Ödeme, Protein im Urin sowie Hypertonie an. Eine Sonderform dieser Stoffwechsel-

krankheit stellt das Hellp-Syndrom dar, neben der Hypertonie finden sich Oberbauchbeschwer-

den und ein für Mutter und Kind lebensgefährlicher Abfall der Thrombozyten im Blut. Es be-

steht eine extrem große Blutungsgefahr.

• Vorangegangene Bauchoperationen: Häufig wird auch bei einem oder mehreren vorangegan-

genen Kaiserschnitten primär per Sectio entbunden, gleiches gilt für andere vorausgegangenen

Uterusoperationen.

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• Missverhältnis von mütterlichem Becken und kindlichem Kopf: Enge verformte Becken sind

heute nur noch nach Unfällen ein Grund, eine primäre Sectio durchzuführen. Bei einem großen

Kopf des Kindes und vermutetem engen Becken wird der Geburtsverlauf erst abgewartet. Denn

vorher ist kaum absehbar, wie das Zusammenspiel von kindlichem Kopf und Beckeneinstel-

lung funktioniert. Die Diagnose relatives Missverhältnis oder hoher Gradstand wird recht häu-

fig während der Geburt gestellt.

• Befinden des Kindes: Ein drohender oder vermuteter Sauerstoffmangel des Kindes ist eben-

falls eine Indikation für einen Kaiserschnitt.

• Geburtsstillstand: Häufig wird ein Geburtsstillstand diagnostiziert, das heißt, der Muttermund

öffnet sich über Stunden nicht weiter oder die Eröffnungsphase ist verlängert.

• Komplikationen unter der Geburt: Ferner kann es passieren, dass der Kopf des Kindes im

Geburtskanal auf einer Höhe stecken bleibt, die weder den Einsatz einer Saugglocke noch eine

Zangengeburt ermöglicht.

• Infektionen: Eine sekundäre Sectio kann nötig sein, wenn nach einem vorzeitigen Blasen-

sprung die Gefahr eines Amnioninfektsyndroms besteht (De Jong/Kemmler 1999:47, Mühlrat-

zer/Horkel 1990: 24, Bornemann 1989: 24).

Dudenhausen unterscheidet zwischen absoluten Indikationen, unter denen er „Regelwidrigkeiten

mit Gefährdung der Mutter oder des Kindes, wie zum Beispiel bei der lebensbedrohlichen Blutung

ex utero, der Hypoxie des Feten, dem Nabelschnurvorfall oder der Uterusruptur“ versteht und rela -

tiven Indikationen. Hierunter versteht er „Regelwidrigkeiten oder Risikofaktoren, die anzeigen,

dass die Belastbarkeit von Mutter und Kind überstiegen werden kann.“ Weiter heißt es: „Gerade im

Bereich der relativen Indikationen sind keine schematischen Indikationslisten möglich. Die Indika-

tionsstellung zur Schnittentbindung aufgrund von relativen Indikationen sind abhängig von vieler-

lei Randbedingungen in der Klinik, den Befunden der Schwangeren und Gebärenden, dem Organi-

sationslevel der Klinik und vielem mehr“ (Dudenhausen 2001: 80 ff.).

4.2 Die Wahl der Narkose

Ob eine Vollnarkose (Intubationsnarkose) oder eine Regionalanästhesie (Spinalanästhesie oder

Peridualanästhesie) gemacht wird, hängt davon ab, wie viel Zeit bis zur Operation bleibt, den

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Möglichkeiten des Krankenhauses (kleine Kliniken haben nicht immer die Möglichkeit zur PDA)

und natürlich vom Wunsch sowie den physischen Voraussetzungen der entbindenden Frau.

4.2.1 Die Intubationsnarkose (ITN)

Die Intubationsnarkose ist bei Notkaiserschnitten angezeigt, aber auch dann, wenn aus gesundheit-

lichen Gründen (z.B.) der Mutter keine Regionalanästhesie möglich ist.

Die Frau wird durch ein intravenös gegebenes Schlafmittel in einen schlafenden Zustand versetzt.

Danach wird ein Medikament zur Muskelerschlaffung gegeben, welches neben der Bauchmusku-

latur auch die Atemmuskulatur lähmt. Darum muss die Frau durch einen in die Luftröhre einge-

legten Beatmungsschlauch künstlich beatmet werden.

Um das Kind möglichst wenig durch die Narkosemedikamente zu belasten, wird die Narkose erst

kurz vor der Operation gegeben. Das heißt die Frau erlebt die Operationsvorbereitungen bei Be-

wusstsein mit. Nach Beendigung der Narkose, spätestens eine halbe Stunde danach, wacht die Frau

wieder auf. Manche Frauen sind bald nach dem Aufwachen wieder ansprechbar, andere befinden

sich noch den ganzen Tag in einem Zwischenzustand. (Bornemann 1989: 51 ff.)

Vorteile der Intubationsnarkose

Die Vollnarkose ist rasch und zuverlässig wirksam; deshalb wird sie in Notfällen immer eingesetzt.

Sie garantiert völlige Schmerzfreiheit, die Operation wird nicht bewusst wahrgenommen. Ergeben

sich Komplikationen während der Operation, kann das Narkosemittel nachdosiert werden. Der

Kreislauf der Frau kann stabil gehalten werden; es besteht seltener die Gefahr eines Blutdruckab-

falls.

Nachteile der Intubationsnarkose

Nach dem Aufwachen können verstärkt Nebenwirkungen wie Schüttelfrost, Übelkeit und Erbre-

chen auftreten. Durch den Hustenreiz, der durch die Intubation verursacht wird, kann es zu

Schmerzen an der Wunde kommen.

Auch das Kind kann durch die Narkose stärker beeinträchtigt sein. Weil es eine Weile dauert, bis

die Mutter die Medikamente wieder ausgeschieden hat, kann das Kind in der Regel nicht sofort

zum Stillen angelegt werden. In der Kombination mit der Tatsache, dass die Frauen nicht bewusst

miterleben, wie ihr Kind auf die Welt kommt, kann eine Vollnarkose dazu führen, dass die Mutter

ihr Kind zuerst nicht als ihr Kind annehmen kann, die frühe Mutter-Kind-Bindung wird erschwert.

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4.2.2 Die Regionalanästhesie

Bei diesem Verfahren bleibt die Frau während der Sectio bei Bewusstsein. Hier werden nur das

Empfinden und die Eigenbeweglichkeit in der unteren Körperhälfte ausgeschaltet.

Vor dem Setzen der Regionalanästhesie wird ein venöser Zugang in den Arm oder die Hand der

Frau gelegt, da bei der Regionalanästhesie der Blutdruck sehr stark abfallen und im Notfall ein

Blutdruck stabilisierendes Medikament gegeben werden muss. Nach einer örtlichen Betäubung am

Rücken in Höhe der Lendenwirbelsäule, wird ein Katheter in den Peridualraum zwischen Wir-

belkanal und die Rückenmarkshaut geschoben (De Jong/Kemmler 1999: 63).

„Wird die Nadelspitze nun durch die Rückenmarkshäute hindurch gestochen und liegt in der

Rückenmarksflüssigkeit, so spricht man von Spinalanästhesie. Wird die Spritze nur bis vor die

harte Rückenmarkshaut geschoben, spricht man von der Peridualanästhesie (PDA) (Bornemann

1989: 53).“

In beiden Fällen gelangt das Betäubungsmittel an den Rückenmarksstrang und unterbricht so das

Schmerzempfinden und die Eigenbeweglichkeit.

Die Frau wird nun aus Sicherheitsgründen auf dem Operationstisch angeschnallt und es wird ein

Tuch vor der Brust aufgespannt, zum einen, um die Sterilität des Operationsfeldes zu gewährlei-

sten; zum anderen, damit die Frau das Operationsfeld nicht sehen kann.

Vorteile der Regionalanästhesie

Da die Frau die Operation bei vollem Bewusstsein erlebt, kann sie den ersten Schrei ihres Kindes

hören, sie kann es sehen und streicheln. Viele Krankenhäuser lassen die Anwesenheit des Partners

im Operationssaal zu, das Paar kann die Geburt des Kindes, trotz Sectio, gemeinsam erleben.

Da die Mutter wach und ihr Körper durch die Medikamente nicht so stark beeinträchtigt ist, kann

das Kind theoretisch schon im OP angelegt werden. Auch das Kind ist durch die Narkose weniger

benommen.

Insgesamt können die Frauen schneller wieder aufstehen.

Nachteile der Regionalanästhesie

Vor allem bei der Spinalanästhesie können starke Kopfschmerzen auftreten.

Die Gefahr des Blutdruckabfalls bei der Mutter ist relativ hoch, dadurch besteht die Gefahr der

Sauerstoffminderversorgung des Kindes.

Bis die Regionalanästhesie wirkt, vergeht eine relativ lange Zeit, auch wirkt sie nicht so zuverlässig

(dies gilt vor allem für die PDA) wie eine Vollnarkose; so kann es sein, dass die Frau trotz Anäs-

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thesie Schmerzen verspürt und während der Operation noch eine Vollnarkose gemacht werden

muss.

Die Atmosphäre im Operationssaal und das Gefühl, „bei lebendigem Leib aufgeschnitten zu wer-

den“, können starke Ängste auslösen. Hier kann die Anwesenheit des Partners während der Opera-

tion und die des Kindes während des Zunähens hilfreich sein (de Jong/Kemmler 1999: 63 ff., Bor-

nemann 1989:53 ff.).

Die hier aufgeführten Vor- und Nachteile wurden der Literatur entnommen.

Ich möchte dazu anmerken, dass vor allem die Vorteile der Regionalanästhesie „schön gefärbt“

sind. So dürfen auch heute in einigen Kliniken die Väter nicht anwesend sein, beziehungsweise

werden die Paare von der Möglichkeit nicht in Kenntnis gesetzt. Auch das Stillen und die frühe

Kontaktaufnahme im OP werden kaum gefördert, meist wird der Mutter das Kind kurz gezeigt und

dann - von der Mutter weg - in einen anderen Raum getragen. Häufig bleibt dann der Partner beim

Kind und die Frau ist während des Zunähens allein.

An dieser Stelle möchte ich auf die Darstellung der verschiedenen Operationstechniken des Kaiser-

schnitts verzichten, da sie für das Erleben der Frauen (die in dieser Arbeit zu Wort kommen) kaum

eine Rolle spielen.

4.3 Risiken der Schnittentbindung

Jede Geburt ist für die Mutter und das Kind mit einem Risiko verbunden. Es können Thrombosen,

Embolien, Entzündungen, Infektionen und Blutungen auftreten. Allerdings kommen diese Risiken

bei einer Schnittentbindung häufiger vor. Die Entbindung per Sectio bedeutet also eine zusätzliche

Gefährdung, vor allem dann, wenn die Frau vor der Entbindung keinen besonderen Schwanger-

schaftsrisiken ausgesetzt war.

In einer Analyse aller in der Perinatalerhebung dokumentierten Entbindungen des Landes Baden-

Württemberg geht für den analysierten Zeitraum 1998 bis 2001 eine deutlich erhöhte Wochenbett-

komplikationsrate bei Sectio (20,21%) gegenüber Spontangeburten (11,79%) hervor. Zu den häu-

figsten Risiken gehören laut Perinatalerhebung die Anämie, Blutungen, Fieber, Wundheilungsstö-

rungen, Sepsis und die Hysterektomie wegen unstillbarer Blutungen (Häderle, A. 2003: 22 ff.).

Auch eine umfassende epidemiologische Studie für die Jahre 1995-1998 von Welsch bestätigt „bei

der Sectio Caesarea ein mindestens um den Faktor 3 höheres Sterblichkeitsrisiko präoperativ ge-

sunder Schwangerer im Vergleich zur Vaginalgeburt“ (Welsch, H. 2001: 47ff).

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4.3.1 Auswirkung auf das Kind

Mehrere große Studien zeigen, dass Neugeborene nach einem Kaiserschnitt zwei- bis siebenmal

häufiger Atemschwierigkeiten haben (Bucher, H.-U. 2001: 104 ff.). Solche Anpassungsschwierig-

keiten sind um so häufiger, wenn die Entbindung – wie bei primären Sectiones üblich – schon in

der 37. oder 38. Schwangerschaftswoche vorgenommen wird. Grund für diese Anpassungspro-

bleme ist der fehlende Wehendruck. Während bei einer spontanen Geburt durch die Wehen das

Fruchtwasser aus der kindlichen Lunge herausgestrichen wird, kann sich das Lungengewebe des

„Kaiserschnittkindes“ ohne Wehen nicht optimal entfalten, was zur Unterversorgung mit Sauerstoff

führen kann.

4.3.2 Spätfolgen für die Frau

Auch wenn der Kaiserschnitt komplikationsarm verlaufen ist, können später noch Probleme auftau-

chen, die mit der Sectio verbunden sind. Häufig sind Verwachsungen und Verklebungen der ver-

schiedenen Gewebsschichten in der Bauchhöhle. Sie machen sich mit Schmerzen und unangeneh-

men Ziehen bei Belastungen bemerkbar und können auch die Funktionen der inneren Organe be-

einflussen.

Gravierend sind die Folgen, die eine Sectio für eine weitere Schwangerschaft haben kann. So ist

das Risiko von Plazentastörungen „und deren Folgen wie Blutung und vorzeitige Lösung bei Status

nach Sectio signifikant häufiger“ als nach einer normalen Entbindung. Auch das Risiko der vorzei-

tigen Plazentalösung verbunden mit akuter Lebensgefahr des Kindes und das Risiko einer Uterus-

ruptur sind erhöht (Düring; Schneider 2001: 66ff).

4.4 Medikamente nach einem Kaiserschnitt

Grundsätzlich wird bei allen Medikamenten nach der Geburt darauf geachtet, in welchem Maße sie

in die Muttermilch übergehen und ob die Stillfähigkeit durch sie beeinträchtigt wird. Deshalb wer-

den in der Regel nur solche Medikamente verabreicht, die die Stillfähigkeit nicht herabsetzen und

dem Neugeborenen nicht schaden.

Infusionen

Während und nach der Sectio erhält die Frau Nährstoffe und Flüssigkeit durch eine Infusion. Wie

lange vor und nach einem Kaiserschnitt nichts getrunken und gegessen werden darf, ist von Klinik

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zu Klinik unterschiedlich. Wenn es der Mutter gut geht, spricht nichts dagegen, wenn sie einige

Stunden nach der Sectio etwas trinkt und etwas Leichtes isst.

Schmerzmittel

Nach einer Sectio werden häufig Schmerzmittel erforderlich. In Frage kommen bei sehr starken

Schmerzen künstliche Opiate wie Dolantin und Valoron, die die Weiterleitung der Schmerzemp-

findungen an das Gehirn verhindern. Dolantin wird nicht nur als effektives Schmerzmittel be-

schrieben, sondern als Spasmolytikum mit der Fähigkeit Euphorie und manchmal auch eine Dys-

phorie hervorzurufen. Es kann also auch verändernd auf die Psyche einer Frau wirken.

Bei weniger intensiven Schmerzen werden Mittel wie Diclophenac und Ibuprofen gegeben, die

nicht nur schmerzlindernd, sondern auch entzündungshemmend wirken. Da die meisten

Medikamente in die Muttermilch übergehen, muss deren Wirkung auf den Säugling bedacht

werden. Wenn ein Kind bereits Anpassungsschwierigkeiten hat, so kann das vor allem durch die

Opiate noch verstärkt werden.

Hormone zur Rückbildung

Nach der Geburt des Kindes wird den Infusionslösungen immer Oxytocin beigefügt, um die Blu-

tungen aus dem Uterus durch Zusammenziehen zu minimieren. Dies ist besonders wichtig nach der

Geburt von sehr großen Kindern und Mehrlingsgeburten. Manchmal werden auch Prostaglandine

zur Behandlung von starken Blutungen in der Nachgeburtsphase notwendig. Methergin soll wegen

seiner nachteiligen Wirkung auf das Stillen möglichst nicht mehr gegeben werden.

Thromboseprophylaxe

In der Schwangerschaft und vor allem nach Operationen besteht ein erhöhtes Thromboserisiko. Bei

Ablösung der Thromben besteht die Gefahr einer tödlichen Lungenembolie. Deshalb werden vor,

während und nach einer Sectio generell Thrombosestrümpfe angelegt und getragen. Dazu wird

täglich Heparin subkutan gegeben.

Heute werden die Frauen meist einen Tag postoperativ mobilisiert und ermutigt, das Bett zu verlas-

sen.

Antibiose

Durch einen Kaiserschnitt ist die Mutter der Gefahr einer peri- oder postoperativ auftretenden In-

fektion ausgesetzt. Diese Infektionsgefahr bezieht sich vor allem auf den Uterus (Endometritis),

welche die häufigste Komplikation nach einer Schnittentbindung darstellt. Die Inzidenz variiert

zwischen 5 und 50%. Das Risiko einer postoperativen Infektion kann durch die prophylaktische

Gabe eines Antibiotikas (Einzahl: Antibiotikums) signifikant um bis zu 50% gesenkt werden (Dietl

2001: 57 ff.).

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4.5 Das Stillen nach einer Sectio

Grundsätzlich ist erfolgreiches Stillen nach einer Sectio genauso möglich wie nach einer Spontan-

geburt. Dennoch stillen nach einem Kaiserschnitt weniger Mütter als nach Spontangeburten (Reich-

Schottky, U. 1998: 110f.).

Als wesentlich für den Stillerfolg hat sich herausgestellt, Mutter und Kind nicht zu trennen. In vie -

len Kliniken ist dies aber nach einer Sectio üblich. Da die Frau in den ersten postoperativen Tagen

körperlich und seelisch noch beeinträchtigt ist, kann sie ihr Kind nicht allein versorgen. Sie ist in

einem großen Umfang auf die Hilfe und die Bereitschaft des Pflegepersonals angewiesen, sie beim

Anlegen und Stillen sowie der Pflege des Neugeborenen zu unterstützen.

Leider erweist sich die Klinikroutine häufig nicht als besonders stillfreundlich. Die geringe Anzahl

der „stillfreundlichen Krankenhäuser“ stimmt bedenklich.

5 Psychosoziale Aspekte 5.1 Die Auseinandersetzung mit dem Kaiserschnitt

Frauen, die ihr Kind per Kaiserschnitt entbinden, stellen keine einheitliche Gruppe dar. Es gibt

nicht den Kaiserschnitt oder das Erleben. Es spielt eine Rolle, ob Frauen sich vorher mit dem

Thema auseinander setzen konnten, weil die Sectio primär geplant war oder nicht, weil der Kaiser-

schnitt sie völlig überrascht hat. Hinzu kommt, dass der Kaiserschnitt mit anderen geburtlichen

Komplikationen wie zum Beispiel der Frühgeburt einhergehen kann. Die Frau muss sich dann nicht

nur ihrem eigenen Geburtserleben stellen, sondern häufig tritt die Sorge um das Kind an die erste

Stelle. Erst später, oft Monate nach der Geburt, brechen die Erlebnisse wieder durch und die Folgen

werden greifbar.

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5.1.1 Faktoren, die das Erleben beeinflussen

Wie der Kaiserschnitt erlebt und verarbeitet wird, hängt von höchst unterschiedlichen Faktoren ab.

Einige allgemein bedeutsame listet Henze auf (Henze, K.-H.1997: 148):

• Persönlichkeit der Frau

• Vorerfahrungen mit Schwangerschaft und Geburt

• Bisheriger Verlauf der Schwangerschaft

• Erwartungen an die Geburt

• Vorerfahrungen mit dem System Krankenhaus, seinem Regelwerk und der Fähigkeit, sich in

diesen Normen zu bewegen

• Reale, personelle und räumliche Bedingungen im Krankenhaus unter der Geburt

• Die Art und Weise des Umgangs mit Krisen, die Stabilität des Selbstbildes und die zur Verfü-

gung stehenden Abwehr- oder Anpassungsmechanismen der Frau

• Das Ausmaß und die Qualität der sozialen Eingebundenheit

5.1.2 Dimensionen des Erlebens

Im Folgenden werden wichtige Erlebens- und Verhaltensdimensionen des „Erlebnisses Kaiser-

schnitt“ gegeben, die einem zeitlichen Ablauf entsprechen, aber nicht unbedingt an bestimmte

Zeitphasen gekoppelt sind.

• Der Verlust des Geburtserlebens: Die bereits geleistete Wehenarbeit kann häufig nicht gewür-

digt werden, da sie nicht zum Erfolg geführt hat. Vor allem wenn die Mutter ein hohes Lei-

stungsideal hat, kann sie sich in ihrem Selbstwert verletzt fühlen.

• Der Verlust der Situationskontrolle: Frauen, die per Notsectio entbinden, werden wegen der

Dringlichkeit am wenigsten in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Sie haben im Gegensatz

zu Frauen, die primär per Sectio entbinden, keinen Einfluss darauf, was mit ihnen geschieht.

• Die Reduktion auf ein passives Körper-Objekt: Eng verbunden mit dem Kontrollverlust sind

Erfahrungen, zu einem Objekt zu werden: angebunden, stillgelegt und ausgeliefert. Dazu

kommt die Angst, bei lebendigem Leib aufgeschnitten zu werden. Manche Frauen fühlen sich

gewaltsam verletzt und gekreuzigt (Lagerung auf dem OP-Tisch).

• Existentielle Angst: Vor allem bei einer Notsectio kommt es zu einer abrupten Veränderung

der Atmosphäre: vom intimen Kreißsaal in den sterilen OP. Die unvertraute Umgebung und die

vielen fremden Menschen machen Angst. Dazu kommen Ängste, die die eigene Existenz oder

das Kind betreffen. In diesen Momenten können sich Frauen zutiefst verlassen fühlen (Henze,

K.-H 1997: 151).

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5.1.3 Bewertung des Erlebnisses „Kaiserschnitt“

Wie schon erwähnt, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle für das Erleben eines Kaiserschnittes.

Es scheint aber so zu sein, dass manche Frauen ein höheres Risiko tragen, ihren Kaiserschnitt ne-

gativ zu bewerten. Cynthia S. Mutryn entwickelte nach der Auswertung verschiedenster Studien

eine Art Risikoprofil für eine negative Kaiserschnittbewertung. Demnach tragen Frauen,

• die einer höheren Sozialschicht angehören,

• deren Vorstellungen sich eher am natürlichen/alternativen Geburtsmodell orientieren,

• deren Wertvorstellungen nicht zu einer High-Tech-Geburt passen,

• die wenig oder kein Vorwissen über den Kaiserschnitt und seine Folgen hatten,

• die einen ungeplanten Kaiserschnitt erlebt haben,

• die lange Wehen mit Schmerzen hatten,

• die in Vollnarkose von ihrem Kind entbunden wurden,

• die nicht in den Entscheidungsprozess zum Kaiserschnitt mit einbezogen wurden,

• die nicht sofort nach der Entbindung Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen konnten,

• die länger von ihrem Kind getrennt waren,

• die Stillschwierigkeiten hatten,

• die keine Wehen erlebt haben,

ein höheres Risiko, ihren Kaiserschnitt schwer verarbeiten zu können (Mutryn, C. S. 1993 zit. n. de

Jong/Kemmler 1999: 137).

Die Verarbeitung des Erlebnisses Kaiserschnitt setzt Auseinandersetzung voraus und ist besonders

wichtig, wenn die Sectio sehr negativ bewertet wurde. Geschieht keine Auseinandersetzung und

Integration, kann es sein, dass die verdrängten, unangenehmen Gefühle das Leben der Mutter „ver-

giften“: Sei es in einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung, einer unbefriedigenden Paarbeziehung

oder in einer geminderten Selbsteinschätzung. Eine andere Folge kann auch eine verminderte Be-

reitschaft zu weiteren Schwangerschaften sein. Studien aus den USA fanden „(...), dass Kaiser-

schnittmütter seltener eine zweite Schwangerschaft anstreben oder aber erheblich größere Schwie -

rigkeiten haben, erneut schwanger zu werden, als Mütter, die vaginal entbunden haben (Garrel,

M., et al. zit. n. de Jong /Kemmler 1999: 138).“

Ein weiterer höchst bedeutsamer Faktor für das Erleben und die Bewertung des Kaiserschnittes soll

im Folgenden näher beschrieben werden.

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5.1.3.1 Weiblichkeitsideale und Leistungsdruck

Die Erwartungen und die Ansprüche an das „Erlebnis Geburt“ sind in den letzten beiden Jahrzehn-

ten gestiegen. Es liegt heute ein enormer Leistungsdruck auf Frauen, diese Erwartungen einer

„schönen“ und möglichst selbst bestimmten Geburt, auch zu verwirklichen.

Während Frauen mit einer problemlosen Geburt die Anerkennung ihrer Umwelt bekommen, hören

Frauen nach einem Kaiserschnitt sehr häufig, sie hätten es sich leicht gemacht.

Frauen sind nach einer (ungewollten) Sectio in einer Belastungssituation. Bis vor kurzem – mit der

Diskussion des „Wunschkaiserschnittes“ werden nun auch die Risiken plötzlich mehr in den Vor-

dergrund gerückt – wurde die Sectio in der Öffentlichkeit als Operation vielfach verharmlost, die

Risiken und Schmerzen, denen sektionierte Frauen ausgesetzt sind, wurden in der Gesellschaft oft

übersehen und in den Medien nicht dargestellt.

Zudem ist die Frau nach der Operation auch Mutter geworden, die einerseits Schonung für sich

benötigt, andererseits aber auch dazu aufgefordert ist, sich um ihr Kind zu kümmern.

Vergleiche mit „natürlich“ gebärenden Frauen schmerzen. Schilderungen wie: „Nach der Geburt

bin ich sofort aufgestanden und habe geduscht und dann bin ich gleich mit meinem Kind nach

Hause gegangen“,6 konfrontieren die „Kaiserschnittmutter“ mit ihrem Versagen als „richtige“

Frau. Sie fühlt sich abgewertet, und weil sie auch ihrem Kind keine „normale“ Geburt ermöglicht

hat, fühlt sie sich als schlechte Mutter und leidet darunter, dass sie nicht mitreden kann.

5.2 Mögliche psychische Folgen des Kaiserschnitterlebens

Mit welchen Gefühlen eine Frau nach einem Kaiserschnitt reagiert, ist höchst unterschiedlich.

Während einige Frauen das Erlebnis nach kurzer Zeit „zu den Akten“ legen können, macht es ande-

ren Jahre lang zu schaffen. Eine mögliche Reaktionsform ist die postpartale Depression.

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Depressionen nach der Geburt

Viele Frauen merken erst nach der Geburt, dass sie sich nur auf die Entbindung vorbereitet haben7.

Doch die Entbindung ist nur der Anfang: Was es bedeutet, sich den ganzen Tag und die ganze

Nacht um ein Neugeborenes zu kümmern, können sich werdende oft Eltern nicht vorstellen.

Hartnäckig hält sich das Gerücht vom immer schlafenden Neugeborenen, welches der Mutter aus-

reichend Zeit zum Ausruhen lässt. Auch das Stillen klappt manchmal nicht wie erwartet und die

junge Mutter fühlt sich dem Geschehen und den eigenen Ansprüchen, denen ihres Kindes und der

sie umgebenden Menschen hilflos ausgeliefert.

Während einige Mütter von den Erfahrungen des Krankenhauspersonals profitieren können, fühlen

sich andere völlig überfordert und den verschiedenen Ansichten hilflos ausgelie fert. Ihr Selbstwert-

gefühl schrumpft und sie trauen sich kaum noch ihr Kind zu versorgen. Wem gehört eigentlich das

Kind8 ? Machen die Schwestern nicht sowieso alles besser? Wie soll das nur zu Hause gehen? Fast

alle Frauen sind nach der Geburt besonders empfindsam, schließlich haben sie sich geöffnet, um ihr

Kind anzunehmen und zu lieben. Diese Empfindsamkeit wird ihnen auch zugestanden, allerdings

nur ein paar Tage lang. Ein „Heultag“ im Krankenhaus gilt als normal, aber dann wird die Frau zur

schwierigen Patientin im Krankenhaus. Will sie vielleicht noch über ihr Geburtserleben sprechen

oder stellt sie die Entscheidung zum Kaiserschnitt in Frage, wird ihr oft gesagt, sie solle doch froh

sein, dass alles gut gegangen ist und sich über ihr gesundes Kind freuen.

Es dauert nicht lange, bis die Frau nicht mehr auf das Verständnis ihrer Umgebung hoffen kann.

Spätestens wenn der Partner wieder arbeiten muss, ist die „Schonzeit“ beendet. So findet sie sich

zwischen Stillen und Wickeln, dem Bemühen, den Haushalt einigermaßen zu versorgen und wartet

auf „die schönste Zeit ihres Lebens“.

Was aber, wenn die Zeit nicht schön ist, sie sich nicht an ihrem Kind freuen kann, wenn sie nicht

weiß, wie sie den Tag bewältigen soll und eifersüchtig auf den Partner ist, der mor gens zur Arbeit

gehen darf? Sie spürt, dass ihre Gefühle nicht in Ordnung sind. Sie spürt, dass sie nicht in Ordnung

ist, also muss sie sich bemühen, alles richtig zu machen, denn wenn sie oder ihr Kind nicht glück-

lich sind, dann muss sie etwas falsch machen. Suggerieren nicht Elternzeitschriften und Ratgeber,

dass man nur das Richtige machen muss, dass jedes Problem lösbar ist?

6 Diese Schilderung trifft auf die wenigsten Geburten zu, dennoch stellt dieser Kommentar ein Ideal für viele Frauen dar. 7 Fast jede Frau besucht einen Ge burtsvorbereitungskurs, aber es existieren kaum Angebote, die Frauen und Paaren helfen, die enormen Anforderungen des Überganges zur Elternschaft zu bewältigen. 8 In der wissenschaftlichen Literatur auch als „Whose-Baby?-Syndrom“ bekannt (Freud W. E., 1991:123-137).

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Weil die Frau aus dem gesellschaftlichen Rahmen fällt, muss sie damit rechnen, dass man sie aus-

grenzt. Deshalb verbergen viele Mütter ihre Gefühle (auch vor dem Partner) und leiden für sich

allein. Sie versorgen ihre Kinder, weil es nötig ist, aber sie fühlen nichts. Sie geben sich selbst die

Schuld dafür und verstricken sich noch tiefer in die Depression.

Bei 10-15% aller Frauen treten Depressionen im Wochenbett auf (Klier, C.2002).9 Obwohl die

postpartalen Depressionen als Phänomen bekannt sind, fehlt es an therapeutischen Angeboten.

Selbst die betroffenen Frauen wissen oft nicht, was mit ihnen los ist.

Grundsätzlich kann jede Frau von einer postpartalen Depression betroffen sein, aber es scheint so,

dass Frauen mit Kaiserschnitterfahrung häufiger betroffen sind als vaginal Gebärende (Nispel

2001: 84-86, Schücking 1999, Boyce / Todd 1992). Vor allem diejenigen Frauen, „(...) who felt not

in control of the events or felt they received medical interventions that were not necessary were at

higher risk for depressed mood“ (Green 1990 zit. n. Jukelevics 2003).

Warum die postpartale Depression nicht nur Mütter betrifft, sondern unsere gesamte Gesellschaft,

erläutert die Psychiaterin und Leiterin der Münchener Schreiambulanz, M. Papousek, die sich mit

der Kommunikation und der Beziehung bei Säuglingen und Kleinkindern depressiver Mütter be-

schäftigt. „Depressive Störungen im Wochenbett können sich selbst bei milder Ausprägung nach-

haltig auf die Qualität der präverbalen Kommunikation mit dem Baby auswirken. Dies wird durch

eine wachsende Zahl internationaler Studien wie auch durch eigene klinische Erfahrungen und

Untersuchungen in der Münchener Sprechstunde für Schrei-Babies belegt. Im Kontext der depres-

siven Psychopathologie (...) werden die intuitiven elterlichen Verhaltensbereitschaften, (...) damit

die Fähigkeit, sich auf das Baby emotional einzulassen und von seinen Signalen leiten zu lassen,

auf empfindliche Weise beeinträchtigt.“ Weiter heißt es: „Damit wird (...) nicht nur das Risiko

einer unsicheren oder desorganisierten Bindung des Kindes erhöht, sondern auch das Risiko von

langfristigen Belastungen der Mutter-Kind-Beziehung und von kinderpsychiatrisch relevanten Ver-

haltensstörungen (Papouse. 2002)“.

Anders ausgedrückt: Die Kinder depressiver Mütter tragen ein höheres Risiko, selbst depressiv

oder verhaltensauffällig zu werden. Eindrucksvolles Zeugnis liefert das Buch „Nicht von schlech-

ten Eltern“, in dem Kinder über ihre Erfahrungen mit psychisch kranken Eltern berichten (Mattejat,

Lisofsky 1998)

9 Ergebnisse einer von der EU geförderten transkulturellen Studie von 1998-2001 zur Postpartalen Depression, an der weltweit 17 Forschungsteams teilgenommen haben, veröffentlicht auf dem 1. Symposium der Marce´ Gesellschaft in Wiesloch am 25/26.01.02.

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5.2.1 Posttraumatische Belastungsreaktion und Posttraumatische Belastungsstö-

rung (PTBR und PTBS)

Wurden die Ereignisse im Zusammenhang mit der Geburt von der Frau als traumatisch erlebt, kann

dies zu Trauma spezifischen Erkrankungen führen (Schütt et al 2001: 240, Pantlen 2001: 246,

Brockington 2001: 16).

Laut Definition des DSM IV sind traumatische Ereignisse „potentielle oder reale Todesbedrohun-

gen, ernsthafte Verletzungen oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder

anderen, auf die mit Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken reagiert wird.“ (Peters 1990: 537) Es

handelt sich hier um Erlebnisse, auf welche ein Mensch nicht in adäquater Weise reagieren kann,

da er sie nicht verarbeiten kann und daher aus dem Bewusstsein verdrängen muss. Vom

Unbewussten aus entfaltet das traumatische Erlebnis ständig eine Wirkung auf den Betroffenen, so

als wenn er ständig mit dem Erlebnis konfrontiert würde, auf das sinnvoll zu reagieren seine

dauernd ungelöste Aufgabe bleibt (ebd).

Zu den Trauma spezifischen Erkrankungen gehören die akute Belastungsreaktion, die Posttrauma-

tische Belastungsstörung und die dissoziativen Störungen. Sowohl die Posttraumatische Bela -

stungsstörung wie auch die akute Belastungsreaktion sind durch die typischen Symptome gekenn-

zeichnet:

Intrusion

Darunter versteht man das sich ständige ungewollte Aufdrängen des Erlebten. Das bedeutet, dass

ein traumatisierter Mensch ein Ereignis immer wieder so erlebt, als ob es gerade geschähe. Es ist,

als ob die Zeit im Augenblick des Traumas stehen geblieben wäre. Der traumatische Augenblick

wird abnormal im Gedächtnis gespeichert und gelangt dann immer wieder spontan ins Bewusst-

sein: Im Wachzustand als plötzliche Rückblende oder im Schlaf als angsterfüllter Alptraum. Klein-

ste, scheinbar bedeutungslose Gegenstände oder andere Auslöser (Töne, Gerüche, andere visuelle

Reize) können Erinnerungen wecken, in denen das ursprüngliche Ereignis mit aller emotionalen

Gewalt wiederkehrt (Herman 1998: 58).

Hyperarousal

Der traumatisierte Mensch befindet sich in einem ständigen Alarmzustand, so als könne die Gefahr

jeden Moment wiederkehren. Dieser übererregte Zustand ist durch eine Überwachheit, Schreckhaf-

tigkeit und häufig auch durch überschießende Aggressionen gekennzeichnet.

Konstriktion

Eine unausweichliche Situation, in der Flucht nicht möglich ist, löst manchmal nicht nur Angst und

Wut aus, sondern paradoxerweise auch distanzierte Ruhe, mit der Angst, Schmerz und Wut ver-

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schwinden. Die Erlebnisse dringen zwar ins Bewusstsein, aber scheinbar losgelöst von ihrer jewei-

ligen Bedeutung. Die Wahrnehmung kann eingeschränkt oder verzerrt sein und geht in der Regel

mit Gleichgültigkeit, emotionaler Distanz und völliger Passivität einher. Schlimmstenfalls ist der

Mensch gar nicht mehr selbst betroffen, sondern er erlebt quasi von außen wie sein Körper verletzt

wird.

Dieser distanzierte Bewusstseinszustand mit dem Verzicht auf aktives Handeln, subjektiv empfun-

dener Ruhe und Distanz, verstärkter Bildwahrnehmung, veränderter Sinnesempfindung einschließ-

lich des Verlusts der Schmerzwahrnehmung und verzerrter Realitätswahrnehmung einschließlich

Depersonalisation wird auch als Dissoziation bezeichnet.

Bislang setzen sich nur wenige wissenschaftliche Studien mit dem Themenkomplex der traumaspe-

zifischen Erkrankungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett

auseinander.

Eine noch laufende Studie von Schütt et al. beschäftigt sich mit Peritraumatischem Erleben von

Frauen, die von einem Frühgeborenen entbunden werden. Sie kommt zu dem vorläufigen Schluss:

„Wenn sich die Mutter während der Geburt sehr um das Überleben ihres Kindes ängstigt, scheint

dissoziatives Erleben ein nicht seltenes Abwehrphänomen der möglicherweise sehr bedrohlich

erlebten Angst zu sein. Des Weiteren ergeben sich Hinweise, dass das Risiko (...) gegebenenfalls

noch zu versterben, durch einen Teil der Mütter verleugnet werden muss“ (Schütt et al 2001: 239).

Almut Pantlen, die in einer Einzelfallstudie die Folgen eines subjektiv erlebten Traumas während

der Entbindung analysiert, schlussfolgert: „Die dargestellte Kasuistik zeigt nicht nur, dass die

Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach einer traumatisch erlebten Entbindung

die psychische Situation einer betroffenen Frau erheblich beeinträchtigen können. Sie können sich

auch dahingehend auswirken, dass die Bereitschaft zu weiteren Schwangerschaften und gegebe-

nenfalls auch das Befinden in einer erneuten Schwangerschaft beeinflusst wird. (...) PTBS nach

Entbindung ist ein Problem, dass von Geburtshilfe und Psychotherapie stärkere Beachtung erfor-

dert, um einer Chronifizierung der Symptome entgegenzuwirken und um auf Symptome wie Ängste

oder Depressionen in folgenden Schwangerschaften besser reagieren zu können. Ausgeprägte Ge-

burtsängste bei Schwangeren, die bereits eine oder mehrere Geburten hinter sich haben, sollten

immer auch an eine frühere als traumatisch erlebte Entbindung denken lassen“ (Pantlen 2001:

250).

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5.3 Bewältigung und Verarbeitung der Kaiserschnitterfahrung

Wie bei anderen persönlichen Krisen, spielen auch bei der Kaiserschnitterfahrung die Wahrneh-

mung und die Bewertung des Erlebten eine große Rolle für die Verarbeitung.

Obwohl jede Frau unterschiedliche Erfahrungen beim Kaiserschnitt macht und eine Fülle von

Faktoren auf die Art der Verarbeitung einwirken, stellten zwei amerikanische Wissenschaftlerin-

nen10 fest, dass es offensichtlich große Übereinstimmungen gibt, in welchen Phasen Kaiserschnitt-

mütter diese Art der Geburt für sich verarbeiten. Die Phasen verlaufen nach einem bestimmten

zeitlichen Ablauf und sind den Phasen der Trauerarbeit sehr ähnlich (Lipson/Tilden 1980 zit. n.

Henze 1997: 152).

5.3.1 Die Phasen der Kaiserschnittverarbeitung nach Julienne G. Lipson und

Virginia Peterson Tilden

Phase 1: Die ersten Stunden nach der Geburt

Viele Frauen erleben die ersten postoperativen Stunden als Zeit der Erstarrung, der Müdigkeit und

der betäubten Gefühle. Das Bewusstsein ist durch ein Gemisch aus Erschöpfung, Ängsten und An-

ästhesiefolgen getrübt. Viele Frauen haben keine Kraft, ihr Kind bei sich zu haben und den ersten

Kontakt aufzunehmen, sie sind einfach nur froh, dass alles vorbei ist. Lipson/Tilden bemerken,

dass die psychische Befindlichkeit in diesen ersten Stunden nach der Geburt unterdrückt bleibt.

„Psychische Schutzmechanismen von Unterdrückung und Verweigerung tragen dazu bei, eine

emotionale Überreaktion zu verhindern. Diese mentale Pause hält die Gefühle in Schach und gibt

Raum, die Ereignisse langsam einsinken zu lassen“ (de Jong/Kemmler, 2003: 140). Mühlrat-

zer/Horkel beschreiben bei den Frauen Gefühle von Verletztheit, von Verwundung und Leere

(Mühlratzer/Horkel 1990).

Phase 2: Die ersten Tage nach der Geburt

Die zweite Phase löst die Gefühlsstarre der ersten Tage ab. Das nur „Funktionieren“ lässt langsam

nach. Gefühle von Enttäuschung, Schuld und Neid auf die vaginal gebärenden Frauen treten an die

Stelle der anfänglichen Taubheit. Der Verlust der „Selbsterfahrung Geburt“ wird greifbar. Dieser

Zeitraum reicht etwa bis zur Entlassung aus der Klinik und schließt somit den „Heultag“ mit ein.

„Das Hauptkennzeichen dieser Phase ist aber trotz des psychischen Erwachens auf den Körper

bezogen. Die Energie der Frau ist darauf ausgerichtet, die Schmerzen unter Kontrolle zu halten,

10 Da ich diese Arbeit nicht im Original gelesen habe, weiß ich nicht, auf welche Frauen sie sich bezieht. Aus eigener Erfahrung, Gesprächen mit anderen betroffenen Frauen und eigenen Beobachtungen während einer Hospitation im Kreißsaal möchte ich anmerken, dass ich zu den gleichen Erkenntnissen – zumindest für die Frauen, die ihre Sectio negativ bewertet haben - gekommen bin.

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wieder feste Nahrung aufzunehmen, die Blase und den Darm zu entleeren, das Ein- und Aussteigen

aus dem Bett zu trainieren und das Stillen in Gang zu bringen. Viele Frauen berichten, dass sie

zunächst so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie es kaum schafften, ‚Muttergefühle‘ zu ent-

wickeln – was meist die vorhandenen Schuldgefühle noch verstärkt“ (ebenda: 140).

In dieser Phase ist emotionale Unterstützung durch das Personal, aber auch von Familienangehöri-

gen von großer Bedeutung und Wichtigkeit.

Phase 3: Beginn der Bewusstwerdung

Die Zeit nach der Klinikentlassung bis zwei Monate nach der Entbindung ist nicht nur für Kaiser-

schnittmütter eine schwierige Zeit. Für diese ist sie aber besonders hart, da die Betreuung des Kin-

des die nötige Erholung nach der Operation verhindert. Kaiserschnittmütter fühlen sich in dieser

Zeit oft völlig überfordert. Gerne würden sie selbst bemuttert werden, müssen aber statt dessen

bemuttern. Hieraus leitet sich dann wiederum die Sorge ab, selbst keine gute Mutter für ihr Kind

sein zu können und die Frage des „Bonding“ stellt sich erneut. Für manche Frauen ist es erleich-

ternd zu hören, dass auch vaginal gebärende Mütter die gleichen Probleme haben können. Insge-

samt besteht die Gefahr, dass alle auftretenden Probleme auf den Kaiserschnitt geschoben werden.

Viele Fragen, nun kritischer, tauchen erneut auf. War der Kaiserschnitt wirklich nötig? Hätte es

Alternativen gegeben?

Erinnerungen werden jetzt im Traum verarbeitet.

Phase 4: Mittelfristige Auflösung

Diese Phase, die bis etwa ein Jahr nach der Schnittentbindung andauert, ist geprägt „durch inten-

sive innere Auseinandersetzung mit dem Erlebnis, eine Suche nach einem Sinn für das Ganze. Das

geschieht durch eine aktive oder passive Aufarbeitung der Geburtserlebnisse und der Erinnerungen

und der Gefühle, die damit verbunden sind“ (de Jong/Kemmler 1999: 150). In dieser Phase werden

Informationslücken gefüllt. Die Möglichkeit mit anderen Kaiserschnittmüttern über das Erlebte zu

sprechen, wird hier als besonders hilfreich und wichtig empfunden. Aber auch die gegenteilige

Reaktion kann auftreten: Einige Frauen versuchen in dieser Phase, das Erlebte und die damit ver-

bundenen Gefühle komplett zu verdrängen, um den Schmerz nicht erinnern zu müssen. In dieser

Phase geht es darum, die Kaiserschnitterfahrung anzunehmen und zu verstehen.

Phase 5: Die (Er-) Lösung

Nach und nach wird das Erlebnis akzeptiert. Einige Frauen versuchen im Nachhinein dem Erlebten

einen Sinn zu geben, indem sie anderen Frauen mit ähnlichen Erfahrungen helfen. Auch berichten

Frauen immer wieder, dass der Kaiserschnitt sie so etwas wie „Demut“ gelehrt hätte. Eine völlige

Auflösung dieses Lebensereignisses ist selten. Eine erneute Schwangerschaft setzt den Prozess der

Auseinandersetzung meist wieder in Gang.

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6 Übersicht über die Studienteilnehmerinnen

Frau: Name, Alter, Beruf Geburtsideal in der Schwanger-schaft (s. Kap. 7)

Kind(er): Name, Alter, SSW, erster Mutter-Kind-Kontakt (MKK)

Sectio: Geschilderte Indikation, Narkose

Bewertung des Erlebens

Problematische Gefühle und Schwierigkeiten im Wochenbett

Yasmin: 42, Medizinisch tech-nische Assistentin „Natürlich“ Instinktiv

Michael: 7 Jahre geboren in der 35.SSW MKK: Nach 5 Tagen, verursacht durch getrennte Unterbringung des Kindes in der Kin-derklinik

Unaufhaltsame Wehentätigkeit, befürchtete Schä-digung des Kindes durch vag. Ge-burtsversuch Notsectio in ITN „Der wollte Feier-abend machen. Es war Karfreitag.“

„Ich hab´ mich halb tot gefühlt.“

Postpartale De-pression mit Suizidgedanken, Stillprobleme, Fremdheit dem Kind gegenüber „Ich bin heut´ noch distanzierter zu ihm als zu mei-ner Tochter.“

Uschi: 35, Schrift-setzermeisterin „Natürlich“ Instinktiv

Niclas: 5 Jahre geboren in der 40.SSW MKK nach circa 8 Stunden

Kindliche Indikation „Herztöne gingen runter“ Notsectio in ITN

„Ich glaube, so sollte unser Sohn auf die Welt kommen.“

Massive Stillpro-bleme, viel ge-weint „Die Stillprobleme waren viel schlimmer für mich als die Pro-bleme bei der Ge-burt.“

Christiane: 42, Maschinenbau- ingenieurin „Bewusst“

Janosch: 7 Jahre geboren in der 40.SSW MKK: einige Stun- den nach der Ge-burt

Geburtsstillstand in der Eröffnungs-phase Sekundäre Sectio in ITN

„Es war ganz traumatisch.“

Stillprobleme, Schuldgefühle „Du versagst als Mutter auf der ganzen Linie.“

Tanja: 33, Verwaltungs- Wirtin „Natürlich“ Instinktiv

Leon: 1 Jahr geboren in der 42.SSW MKK: sofort

(Beckenendlage) Amnioninfekt Sekundäre Sectio in Spinalanästhesie, Ehemann anwesend

„Es war zwar nicht traumatisch, aber es ging alles viel zu schnell.“

Stillprobleme, keinen Milchein-schuss sonst bis auf „Heultag“ keine Probleme

Imke: 38, Statistikerin „Natürlich“ Instinktiv

Hannes: 10 Jahre geboren in der 42.SSW MKK: am gleichen Tag nach dem Aufwachen

Geburtsstillstand in der Eröffnungs-phase Sekundäre Sectio in ITN

„Ich weiß bis heute nicht genau, warum der Kaiser-schnitt gemacht werden musste.“

Körperlich sehr erschöpft gefühlt, sonst keine Pro-bleme

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Ina: 37, Ingenieurin für Verfahrenstechnik „Bewusst“

Tobias: 6Jahre Geboren in der 42.SSW MKK: am gleichen Tag nach dem Aufwachen Niclas: 4Jahre, 41.SSW, MKK: sofort Moses: 1Jahr, 41.SSW, MKK: sofort

Geburtsstillstand in der Eröffnungsphase, hoher Gradstand bei allen Geburten Sekundäre Sectio in ITN bei Tobias, Sekundäre Sectio in PDA bei Niclas und Moses

„Der erste Kaiserschnitt war schrecklich. Die beiden anderen grandios“

Stillprobleme und starke Schuldgefühle, große Traurigkeit, Gefühl als Frau versagt zu haben Keine Probleme, schnell wieder fit gewesen

Isa: 38, Ärztin „Bewusst“

Lennart: 2 Jahre, geboren in der 41.SSW MKK: am gleichen Tag nach dem Aufwachen

Fragliche Uterusruptur Notsectio in ITN

„Dass das keiner begreift, dass das was ganz Traumatisches ist, wenn einem der Bauch aufge-schnitten wird.“

Postpartale Depression, Schuldgefühle: „Was habe ich meinem Kind mit dieser Geburt angetan!“

Gunda: 42, Realschullehrerin Medizinisch „Kontrolliert“

Lars: 1 Jahr Geboren in der 40. SSW MKK: sofort

Geburtsstillstand in der Eröffnungsphase Sekundäre Sectio in PDA , Ehemann anwesend Sectio ohne med. Indikation gewünscht, aber durch den Arzt abgelehnt

„Ich war dem ausgeliefert und der hat nicht mit sich reden lassen.“

Extreme Erschöpfung, lange Rekonvaleszenz „So schlecht ging´s mir noch nie. Auch nicht nach 6 Wochen Bestrahlung.“

Doris: 35, Informatikerin „Natürlich“ Instinktiv

Max: 5 Jahre Geboren in der 40. SSW MKK: am gleichen Tag

Notsectio wegen Hellp-Syndrom in ITN

„Mit dem Kaiserschnitt habe ich abgeschlossen, aber die Erfahrungen auf Intensiv waren traumatisch.“

Gefühl von starker Verunsicherung „Ich hab´ mich nach der Geburt stark verändert (...) Ich war so ausgeliefert, weil ich mich so allein gelassen gefühlt hab´. (...) Es war keiner da. (...) Ich konnte mich auf nichts einstellen.“

Barbara: 33, Personal- Referentin „Natürlich“ Instinktiv

Lara: 1 Jahr Geboren in der 42. SSW MKK: sofort

Geburtstillstand in der Eröffnungsphase, relatives Missverhältnis Sekundäre Sectio in PDA

„Der Kaiserschnitt war eine Erlösung.“

Stillprobleme, (keinen Milcheinschuss) und das Gefühl, gescheitert zu sein. „Ich hatte das Gefühl, bei mir geht alles nicht richtig.“

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Karin: 37 Physiotherapeutin, Fachlehrerin für Körperbehinderte „Bewusst“

Alina: 6 Jahre Geboren in der 40. SSW MKK: am gleichen Tag, viele Stunden später, da Narkoseunverträg-lichkeit

Sekundäre Sectio wegen relativem Missverhältnis in ITN

„Für mich war es psychisch eine sehr schmerzhafte Erfahrung.“

Gefühlsstarre Fremdheit dem Kind gegenüber „Ich hab´ lange getrauert, dass ich´ s nicht richtig erleben konnte.“ rezidivierende Blutungen

Ursel: 37 Referentin für Marketing „Natürlich“ Instinktiv

Tom: 6 Monate Geboren in der 39. SSW MKK: sofort

Geplante Sectio wegen BEL in Spinalanästhesie, Ehemann anwesend

„Ich find eine gute Vorbereitung auf einen Kaiserschnitt ist, wenn man vorher schon mal was Schlimmes erlebt hat.“

Traurig, depressiv „Für mich war´ s wieder ´ne Bestätigung: Krankenhaus ist Scheiße. Ich hab´ jeden Tag geheult.“

Isabelle: 39 Sozialpädagogin „Bewusst“

Leander: 5 Jahre Geboren in der 32. SSW MKK: nach 2 Tagen durch getrennte Unterbringung in verschiedenen Krankenhäusern, Kind in der Kinderklinik

Notsectio wegen vermuteter vorzeitiger Placentaablösung in ITN

„Die haben mir das Kind aus dem Bauch gerissen.“

Sehr depressiv, wochenlange Gefühlsstarre, Fremdheit dem Kind gegenüber, Selbsthass und Schuldgefühle: „Was hab´ ich nur falsch gemacht, dass mein Kind so früh auf die Welt gekommen ist.“

Kathrin: 40 Hauswirtschafts-leiterin Medizinisch „Kontrolliert“

Stephan: 3 Jahre Geboren in der 36. SSW MKK: am gleichen Tag nach dem Aufwachen

Geplante Sectio wegen BEL, dann sekundäre Sectio wegen vorzeitigem Blasensprung in ITN

„Ich bin optimal betreut worden.“

Bis auf einen Tag keine Probleme gehabt. „Am 4. Tag hatte ich ein absolutes Down.“

Marianne: 40 Biologin „Natürlich“ Instinktiv mit Anteilen von „Kontrolliert“

Carla: 6 Monate Geboren in der 40. SSW MKK: sofort

Sekundäre Sectio wegen Geburtsstillstand in der Austreibungsphase in PDA, Partner anwesend

„Traumatisch war nicht der Kaiserschnitt, sondern der Wehenschmerz davor.“

Probleme mit der Hilflosigkeit und Abhängigkeit „Ich hab´ ein paar Wochen gebraucht, bis ich das verdaut hatte.“

Gabi: 39 Fitness und Ernährungs- Trainerin Medizinisch „Kontrolliert“

Emma: 3 Geboren in der 38. SSW MKK: am gleichen Tag nach dem Aufwachen

Primäre Sectio wegen Verwachsungen im Bauchraum In ITN, da wegen Einer Gürtelrose die PDA nicht möglich war

„Wir Kaiserschnitt- frauen sind keine Mütter 2.Klasse.“

Depressiv, vermindertes Selbstwertgefühl Schuldgefühle: „Welches Defizit hat mein Kind durch den Kaiserschnitt?“

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Martina: 36 Verwaltungs- Angestellte „Natürlich“ Instinktiv

Luisa: 9 Jahre Geboren in der 34. SSW MKK: nach 5 Tagen Kind auf der Frühchenstation Collin: 6 Jahre Geboren in der 38. SSW MKK: nach 4 Tagen Kind auf Intensiv Maja: 1 Jahr Geboren in der 38. SSW MKK: sofort

Notsectio wegen Mangelversorgung des Kindes in ITN Primäre Sectio wegen Placenta praevia in Spinalanästhesie und ITN (wegen massiven Blutungen), Ehemann anwesend Primäre Sectio auf Wunsch von Martina Spinalanästhesie, Ehemann anwesend.

„Es war ja nichts, außer, dass man mir die schönste Zeit meines Lebens genommen hat.“ „Wir beiden wären fast verblutet.“ „Und mir ging´ s richtig gut.“

Depressiv, erstarrt, Schuldgefühle, Fremdheit dem Kind gegenüber, fühlt sich von ihrer Tochter abgelehnt: „Und sie hat mich keines Blickes gewürdigt.“ Anhaltend depressiv gequält „Ich war wie im Delirium.“ schwach durch massiven Blutverlust „Ich hab´ die Woche im Krankenhaus richtig genossen.“

Daniela: 32 Arzthelferin „Bewusst“

Ronja: 3 Jahre Geboren in der 27. SSW MKK: am nächsten Tag, Entbindung im Perinatalzentrum Kind auf der Frühchenstation

Notsectio wegen drohendem Kindstod in ITN

„Ich bin barfuß durch die Hölle gegangen.“

Anhaltend depressiv, erstarrt, wie tot, Selbsthass, Schuldgefühle, Angst, verrückt zu werden. „Ich hab´ gedacht, ich bin schizophren: Ich will mein Kind lieben , kann das aber nicht zulassen (..) und ich fang´ an, sie zu hassen.“

Kerstin: 33 Jugendheim-erzieherin „Natürlich“ Instinktiv

Julian: 1 Jahr Geboren in der 28. SSW MKK: am nächsten Tag, Entbindung im Perinatalzentrum Kind auf der Frühchenstation, später Verlegung auf die Intensivstation wegen Sepsis

Sekundäre Sectio wegen unaufhaltsamer Wehentätigkeit in ITN bei Frühgeburt

„Und für mich stand wieder mal ein Kind auf dem Spiel.“

Depressive Gefühle, ,Autoaggression, Schuldgefühle „Ich hab´ die Gedanken gegen mich gerichtet. Das erste Kind hatte ich verloren und das 2. war ich nicht fähig auszutragen. Ich hab´ mir für alles die Schuld gegeben. Es war so´ n: Ich hab´ s nicht gekonnt.“

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7 Ergebnisse der Studie 7.1 In der Schwangerschaft

7.1.1 Wie sich Erstgebärende die Geburt in der Schwangerschaft vors tellen und

welche Bedeutung sie dem aktiven Gebären im Vergleich zur Sectio beimessen

Fast alle Studienteilnehmerinnen entwickelten in der Schwangerschaft ein konkretes Geburtsideal.

Dieses Ideal basiert auf individuell unterschiedlichen Bedeutungen, die der Geburt und dem akti-

ven Gebären verliehen werden.

Für das Erleben der konkreten Geburtsrealität spielt das zugrunde liegende Ideal eine ausschlagge-

bende Rolle. Frauen, die starke Abweichungen von ihren Wertvorstellungen, Wünschen und Be-

dürfnissen erlebten, bewerteten die reale Geburt äußerst negativ.

Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Geburtsideale beschreiben und auf mögliche

psychische Reaktionen beim Erleben einer Sectio eingehen.

7.1.1.1 Das Ideal der „natürlichen“ instinktiven Geburt

Gut die Hälfte der Studienteilnehmerinnen wünschte eine natürliche Geburt. Natürlich ist hier im

Sinne, von „der Natur ihren Lauf lassen“ zu verstehen. Die Geburt, „ein instinktiver Vorgang, den

man nicht stören soll.“ „Etwas Selbstverständliches und Notwendiges, wenn man ein Kind

möchte.“

„Gebären ist etwas Natürliches. Jetzt gehörst du zu diesem immerwährenden Kreislauf dazu. Es ist

ein Wunder. Da spielt der Instinkt eine große Rolle. (...) Ich hatte Urvertrauen.“

So wie Tanja sich hier äußert, denken die meisten Frauen in dieser Gruppe. Sie haben keine beson-

deren Erwartungen an die Geburt, legen aber Wert auf einen möglichst ungestörten Ablauf und

wünschen sich ein positives Geburtserleben für sich und ihr Kind.

Das bedeutet konkret: Von einer Hebamme unter der Geburt menschlich begleitet zu werden und

so wenig medizinische Interventionen wie möglich zu erleben.

Auffallend häufig äußerten Frauen dieser Gruppe den Wunsch nach einer Wassergeburt. Sie ver-

sprechen sich davon nicht nur Schmerzerleichterung und Entspannung, sondern auch einen Schutz-

raum vor unerwünschten Berührungen und vaginalen Untersuchungen. „´ne Wassergeburt hätte

ich schön gefunden. Da kann man sich geborgen fühlen und beschützt.“ (Barbara)

Alle Frauen hatten Vertrauen in ihre Fähigkeit ein Kind zu gebären. Der Geburtsschmerz schien

von fast allen Frauen als etwas Dazugehöriges akzeptiert und weder positiv noch negativ bewertet

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zu werden. Die Geburt wurde nicht isoliert als das wichtigste Ereignis gewichtet, sondern als der

Beginn des Mutterseins.

Obwohl Frauen dieser Gruppe natürlich entbinden wollten, stand keine dem Kaiserschnitt in der

Schwangerschaft ablehnend gegenüber, falls er notwendig werden sollte. Allerdings hatten sich nur

zwei Frauen konkret mit einer möglichen Sectio beschäftigt (Kinder in BEL). Alle anderen hatten

die Möglichkeit komplett ignoriert.

Selbst, wenn im Geburtsvorbereitungskurs darüber gesprochen wurde, was ausführlich nur bei

Doris der Fall war, kam die Information nicht an. Es scheint so, als weigerten sich viele Schwan-

gere aktiv, diesen Gedanken zuzulassen. „Kaiserschnitt: Hab´ ich nichts mit zu tun. Geht mich

nichts an. Ich war erschreckend naiv. Ich hab´ im Geburtsvorbereitungskurs zugehört, was die

Hebamme gesagt hat. Die hat´ s klar gesagt: Jede 5., aber es ist nicht angekommen.“ (Doris)

7.1.1.2 Das Ideal der „bewussten“ Geburt

Ein gutes Drittel der Frauen wünschte eine Geburt, die mit vielen (teils unrealistischen) Erwartun-

gen verknüpft wurde. Eine Frau dieser Gruppe möchte die Geburt wach und mit allen Sinnen „be-

wusst“ erleben. Der Geburtsschmerz wird hier nicht nur akzeptiert, sondern positiv bewertet, als

eine Möglichkeit, die eigene weibliche Kraft unmittelbar zu spüren und über sich selbst hinauszu-

wachsen.

Frauen, die eine „bewusste“ Geburt wünschen, erhoffen nicht nur ein gesundes Kind, das sie aktiv

beim „Übergang von einer Welt in die andere“ (Isabelle) begleiten möchten, sondern dieser Über-

gang soll auch besonders schön gestaltet werden. „Es sollte Lennarts schönster Tag werden. Ich

hatte mir extra ein Nachthemd mit Schäfchen und Wolken gekauft, damit er gleich was Schönes

sieht.“ (Isa)

Eine Frau, die sich eine „bewusste“ Geburt wünscht, möchte außerdem mehr über sich und ihre

Persönlichkeit erfahren. Die Geburt wird in der Vorstellung zur herausfordernden Selbsterfahrung

jenseits aller bekannten Grenzen und bei Erfolg vielleicht zur Krönung des Frau-Seins.

„Ich werde Schmerzen haben, aber ich werde das durchstehen wie eine Frau. (...) Seht her, was ich

kann, ein richtiges Urweib (...). Ich glaube, ich hätte das schon ein bisschen inszenieren wollen. Ich

wollte zeigen, was ich kann, über mich hinauswachsen. Es hört sich blöde an, aber ich wollte einen

I-Punkt auf meine Weiblichkeit setzen (...), mir selber zu ´ner Blüte verhelfen (...). Ich war damals

nicht mit dem großen Selbstwertgefühl ausgestattet und ich hab´ immer was gesucht in meinem

Leben. Schwangerschaft und Geburt hatten für mich eine elementare Bedeutung. Wenn ich ein Ziel

in meinem Leben hatte, dann war es das.“

Was Daniela hier sehr ehrlich erzählt, spielte für einige Frauen dieser Gruppe eine Rolle. Eine ge-

lungene Geburt wird zur Krönung des Frau- und Mutterseins. „Die Vorstellung, dass ich das

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schaffe, das war ein erhebender Moment. Das war fast etwas Heiliges. Gebären war für mich der

Höhepunkt“, erzählte auch Christiane.

Es wird deutlich, wie sehr das Selbstbild und das Selbstvertrauen einer Frau, die sich das Gebären

so vorstellt, durch Scheitern am überhöhten Ideal, bedroht werden kann. Sie fühlt sich nach einem

Kaiserschnitt möglicherweise schuldig und sucht nach persönlichen Gründen für ihr Versagen.

„Geburt ist etwas, was ganz viel mit der eigenen Geschichte und der eigenen Persönlichkeit zu tun

hat. Gerade die erste Geburt, wo man noch ganz unrealistische Träume hat: Da fand ich´ s beson-

ders schlimm. Da liegt mit einem Rutsch alles, was man sich so erhofft und erträumt hat in Scher-

ben.“ (Isabelle)

Das Erleben einer Sectio kann für Frauen mit „bewusstem“ Geburtsideal zum persönlichen Drama

werden: Emotional abgelehnt, auch wenn er rational begründet und notwendig war. Das Versagen

wird zur persönlichen Niederlage. Plötzlich gehört die Frau in den Kreis der Gescheiterten, Unvor-

bereiteten und Unbewussten. „Ich hab´ gedacht, Kaiserschnitt, das betrifft andere (...), Frauen, die

sich nicht vorbereitet haben“, meint Christiane. Auch Isabelles Einstellung geht in diese Richtung:

„Ich hab´ nie mit einer Frühgeburt oder einem Kaiserschnitt gerechnet. Ich war total überheblich.

Das war was, was anderen passiert.“

7.1.1.3 Das Ideal der medizinisch kontrollierten Geburt

Drei Interviewteilnehmerinnen sahen die Geburt eher als ein medizinisches Problem, welches mit

einem gewissen Risiko behaftet ist. Sie wünschen (medizinische) Kontrolle über den Geburtsvor-

gang und möchten sich möglichst keinem Geburtsschmerz aussetzen. Nicht zu wissen, wie es sein

wird, wie sich das Gebären anfühlt, scheint ihnen genauso viel Angst zu machen, wie eventuell

auftretende Geburtskomplikationen. Um diese Angst zu kontrollieren, wünschte sich Gunda direkt

einen Kaiserschnitt und Kathrin eine PDA während der gesamten Geburt.

„Ich hab´ schon mit dem Kaiserschnitt geliebäugelt, einfach durch die Vorgeschichte mit meinen

Fehlgeburten. Hauptsache: sicher. Ich hatte Angst vor Zwischenfällen bei der vaginalen Geburt

und die Geburtsschmerzen wollte ich auch nicht unbedingt.“ (Gunda)

Kathrin meint: „Also ich bin nicht scharf auf so ´n Geburtserleben. Ich wollte auch keine Schmer-

zen, deswegen hab´ ich gesagt: PDA, von Anfang an. (...) Es gibt ja Ärzte, die meinen: Das muss

man einmal durchmachen. Blödsinn! (...) Ich begreife nicht, wie man jemanden so quälen kann, da

durch zu gehen.“

Eine mögliche Sectio wird hinsichtlich Sicherheit im Vergleich zur vaginalen Geburt positiv be-

wertet. „Ich wusste, dass es ein Kaiserschnitt wird und das war OK für mich. (...) Das schätz´ ich

an so ´nem Kaiserschnitt: Sie haben `nen Kinderarzt. Sie haben `nen Gynäkologen. Sie haben ´nen

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Anästhesisten und zwei Schwestern. Das sind fünf Leute, die nur um ihr Wohl besorgt sind.“

(Kathrin)

Gebären scheint hier ein (noch) notwendiges Übel zu sein, wenn eine Frau ein Kind möchte. Der

Geburtsschmerz erscheint bei Kathrin unsinnig und wird von ihr als unnötige Qual bewertet.

Frauen, die das Geburtsideal der „kontrollierten“ Geburt in sich tragen, möchten einen natür lichen

ungestörten Geburtsverlauf vermeiden, weil er mit Kontrollverlust und Unsicherheit einhergeht. Sie

haben Angst vor Abhängigkeit, dem Gefühl ausgeliefert zu sein und versuchen deshalb, so gut wie

möglich vorzusorgen. Wenn eine Frau mit diesem Geburtsideal auf GeburtshelferInnen trifft, die

eine natürliche Geburt forcieren wollen und der Frau die Selbstkontrolle verweigern, besteht die

Gefahr, dass sie durch das Erleben massiver Schmerzen, verbunden mit (Todes-) Ängsten und dem

Verlust von Selbstkontrolle, während der Geburt traumatisiert wird.

7.1.2 Schlussfolgerungen

Ich verstehe den Wunsch nach Kontrolle des Geburtsereignisses als - für manche Frauen - überle-

bensnotwendige Abwehr existenzieller Erfahrungen. So wie das Selbstbild und das Selbstvertrauen

der „bewussten“ Frauen durch das Erleben des Scheiterns durch den Kaiserschnitt massiv bedroht

werden kann, besteht hier die Gefahr, dass die „kontrollierte“ Frau unter einer Spontangeburt so

von extremen Ängsten überflutet wird, dass sie diese nicht mehr bewältigen kann.

Möglicherweise ist die zunehmende Forderung nach dem „Wunschkaiserschnitt“ in diese Richtung

zu interpretieren. So wie sich wahrscheinlich niemand freiwillig einer schlimmen Krankheit, quä-

lenden Schmerzen oder der Erfahrung von Ohnmacht aussetzen würde, mag die Frau, die eine Sec-

tio ohne medizinische Indikation wünscht, versuchen, diese Grenzerfahrungen abzuwehren, da sie

befürchtet, durch diese sehr verletzt zu werden.

Eine verständliche, wahrscheinlich unbewusste Haltung, bedenkt man, dass wahrscheinlich auch

GeburtshelferInnen bestimmte Geburtsideale vertreten. So wird vorstellbar, wie viel Leid entstehen

kann, wenn etwa eine „bewusste“ Hebamme auf eine „kontrollierte“ Frau trifft und dieser zu Be-

ginn der Geburt eine PDA verweigert, weil sie meint, dass die Schmerzen aushaltbar seien. Ebenso

kann eine „kontrollierte“ Ärztin durch ständiges Prüfen des Geburtsfortschrittes das Vertrauen

einer „natürlichen“ Frau in den instinktiven Geburtsprozess untergraben.

Wahrscheinlich würden die meisten Frauen Grenzerfahrungen meiden, wenn sie könnten. Eine

geplante Sectio scheint allerdings für die wenigsten eine Alternative zu sein, weil eine Sectio ohne

medizinische Indikation meist gegen persönliche wie auch (noch) gültige gesellschaftliche Werte

verstößt.

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Erklärungsversuche, die nur das Recht auf weibliche Selbstbestimmung, die Angst vor Verletzun-

gen des Beckenbodens oder des Damms sowie die bessere Planbarkeit der „Wunschsectio“ berück-

sichtigen, greifen meiner Ansicht nach zu kurz.

Eine schwedische Studie, die zum Ziel hatte, die Anzahl der Frauen zu ermitteln, die sich eine Sec-

tio als Geburtsmodus wünschen, wenn sie früh in der Schwangerschaft dazu befragt werden, sowie

mögliche mit diesem Wunsch in Zusammenhang stehende Variablen zu identifizieren, kam zu dem

Schluss, dass nur wenige (8,2%) von 3283 Frauen einen Kaiserschnitt wünschen. Dieser Wunsch

stehe im Zusammenhang mit 3 wesentlichen Faktoren: 1. Eine vorangegangene Sectio und 2. Angst

vor einer Spontangeburt und vorangegangene negative Geburtserfahrungen. Die AutorInnen der

Studie folgern: „Die Präferenz für einen Kaiserschnitt kann eine rationale Entscheidung ange-

sichts begrenzter Auswahlmöglichkeiten darstellen. Es ist möglicherweise ein Weg, eine gewisse

Kontrolle über die Geburtserfahrung zu gewinnen. Alternativ (oder zusätzlich) kann der Wunsch

nach einer Sectio auch eine Vermeidungsstrategie darstellen. Menschen, Orte oder Geschehnisse

zu vermeiden, die Erinnerungen an traumatische Erfahrungen hervorrufen, ist ein Symptom einer

akuten Stressreaktion oder einer posttraumatischen Belastungsstörung und entsteht aus Angst vor

einer bestimmten Situation“ (Hildingsson, Radeststad, Rubersson et al 2002 zit. aus die Hebamme

2003).

7.2 Die real erlebte Geburt

7.2.1 Dimensionen des Erlebens

Das nun folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Erleben der tatsächlichen und realen Geburt. Es

geht dabei nun nicht mehr um Vorstellungen, Träume und Ängste wie im letzten Kapitel, sondern

um wirklich Gefühltes und leibhaftig Wahrgenommenes. Es geht um Freude und Erleichterung,

dass das Kind doch noch geboren werden konnte.

Vor allem aber geht es auch um tiefe Ängste, Hilflosigkeit, Gefühle von Ohnmacht und Ausgelie -

fertsein, um den Wunsch sterben zu wollen oder darum, wie es sich anfühlt, wenn eine Frau unter

heftigsten Wehen um Erlösung bettelt.

Das sind Grenzerfahrungen, die zum Menschsein dazugehören. Eine Vorbereitung scheint nicht

möglich. Erfahrungen dieser Art können uns hilflos in einer Welt machen, die Kontrolle und

Autonomie idealisiert, die Scheitern häufig mit persönlicher Schuld gleichsetzt.

Wir alle wollen uns zugehörig fühlen, doch Grenzerfahrungen können das Vertrauen in das Leben

und in die Menschen erschüttern.

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Wie den Kontakt wieder herstellen, wenn wir das, was wir erlebt haben, nicht ausdrücken können?

Wie das Erleben teilen, wenn wir keine Worte für das Unsagbare finden?

7.2.1.1 Über die Schwierigkeit, Worte für das Erleben zu finden

Die meisten der oben angesprochenen Gefühle und Erfahrungen sind mit unangenehmen Empfin-

dungen verbunden. Häufig werden sie gesellschaftlich und persönlich negativ bewertet. Zum einen,

weil sie sich ganz konkret schlecht anfühlen, zum anderen, weil sie mit oft mit totaler Passivität

einhergehen.

Werte wie Kontrolle und Autonomie werden in unserer Gesellschaft hoch gehandelt. „Vertrauen ist

gut, Kontrolle ist besser“, heißt es in einem Sprichwort. Wir bewundern Menschen, die ihr Leben

„im Griff“ haben, die frei entscheiden können, was sie tun und was sie lassen und die in der Lage

sind, ihr Leben aktiv zu gestalten.

Das Gefühl der Hilflosigkeit, sich als Opfer fühlen oder wehrlos zu sein, macht den meisten Men-

schen große Angst. Sich selbst in dieser Passivität, ohnmächtig, ausgeliefert und ohne jegliche

Kontrolle zu erleben, ist häufig mit Scham verbunden und kann von anderen Menschen trennen.

Das kann das Sprechen über diese Erfahrungen so schwer machen, vor allem dann, wenn das

Gegenüber dieses Erleben nicht teilen kann.

Ein anderer Grund, der das (Mit)teilen problematischer Gefühle erschwert, liegt in unserer (Um-

gangs)sprache selbst begründet. Wie das Un-sag-bare ausdrücken, wenn einem die Worte fehlen

oder es einem die Sprache verschlägt.

Dieser Umstand, dass für schwierige Gefühle oft keine passenden Worte gefunden werden können,

beeinflusste diese Forschungsarbeit fast im gesamten Prozess.

Während der Durchführung der Interviews machte ich die Erfahrung, dass Frauen, die die Um-

stände und die menschliche Begleitung während der Geburt als sehr belastend erlebt hatten, zuerst

entweder sehr knapp und reduziert über ihr Erleben sprachen oder die Gefühle, die mit dem Erle -

ben verbunden waren, sich direkt in der Interviewsituation darstellten.

Ich möchte dazu ein kurzes Beispiel geben: Als ich Isabelle interviewte, ergab sich folgende Situa-

tion: Ich setzte mich an den Tisch, stellte mein Tonbandgerät an, lehnte mich zurück und freute

mich auf eine weitere interessante Erzählung. Sie goss mir einen Tee ein, sprach nur wenige Sätze

und schon war sie von ihrem Kind in rasender Geschwindigkeit entbunden worden. Ihre Erzählung

war zu Ende.

Das hatte ich während der Interviews so noch nie erlebt. Ich fühlte mich total hilflos und hand-

lungsunfähig. Wie sollte ich das Interview weiterführen? Isabelle hatte offensichtlich alles erzählt

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und wirkte sichtbar verschlossen. Nach mir endlos erscheinenden Momenten thematisierte ich

meine Gefühle von Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Das brachte Bewegung in unsere Be-

gegnung. Relativ schnell erkannten wir gemeinsam, dass das, was ich fühlte und so wie sich unsere

Begegnung bis jetzt gestaltet hatte, sie im Kreißsaal mehr oder weniger bewusst gefühlt hatte.11

Zum besseren Verständnis für die LeserIn findet sich ihre Geschichte im Anhang.

Manche Frauen erzählten mir selbst sehr belastend erscheinende Aspekte seltsam unberührt und

reduziert. Kurz und knapp, scheinbar pragmatisch. Während dieser Interviews hatte ich oft mit

meinen eigenen Gefühlen zu kämpfen. Nicht, weil ich es genauso erlebt hatte und wir diese Erfah-

rung teilten, sondern weil ich wahrscheinlich stellvertretend für die Frauen das fühlte, was sie sich

nicht trauten oder zugestanden.

In dieser Situation war ich froh, dass ich diese Gefühle von meinen eigenen unterscheiden konnte.

Ein weiteres interessantes Phänomen fiel mir erst beim Abhören der Tonbänder auf. Auch Frauen,

die ihr Erleben relativ gut in Worte fassen konnten, benutzten bei der Darstellung besonders

schwieriger Erlebnisse (meist mit dem Tod zusammenhängende Themen) Worte, die mehrere Be-

deutungsebenen haben können. Typische Ausdrücke, die sich in mehreren Interviews fanden, wa-

ren: „und dann wurd ´s dunkel“, „und das war ´s dann“ sowie „und dann hab´ ich mich verab-

schiedet“.

Verwendet für die Beschreibung des Wirkungseintritts der Intubationsnarkose, bedeuteten diese

Ausdrücke in den Interviews aber häufig auch die Konfrontation mit dem entweder befürchteten

oder dem in diesem Moment gewünschten Tod.

Während der Interviews fielen mir diese Worte nicht bewusst auf, interessanterweise reagierte ich

jedoch jedes Mal relativ kurzfristig durch Nachfrage darauf, in dem ich den drohenden, befürchte-

ten oder gewünschten Tod thematisierte. Ich gewann während der Auswertung den Eindruck, dass

diese Begriffe unbewusst als „Köder“ ausgeworfen wurden, um zu prüfen, ob ich auch über die

Ebene „dahinter“ zu sprechen in der Lage wäre. Bei allen Interviews, die solche „Köder“ enthiel-

ten, vertiefte sich nach meiner Nachfrage das Gespräch.

Aber nicht nur meine Interviewteilnehmerinnen hatten Mühe sich auszudrücken. Während ich die

Interviews durchging, nach Gefühlen fahndete und versuchte, diese zu benennen, spürte ich sehr

deutlich, dass einzelne Worte oder psychologische Konzepte wie zum Beispiel „Kontrollverlust“

das konkrete Erleben von Frauen nur sehr unzureichend beschrieben.

11 Dieses Phänomen, inneres Erleben oder innere Konflikte innerhalb bestimmter Situationen zu inszenieren, wird in der Psychoanalyse Übertragung genannt.

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Angesichts der mir geschilderten Erlebnisse erschienen mir Begriffe wie Angst, Hilflosigkeit und

Ärger vergleichsweise harmlos und unpassend. Ja, ich gewann sogar den Eindruck, dass psycholo-

gische Kategorien die wirklich erlebten Gefühle der Frauen intellektualisieren und vereiteln. Sie

können eine Distanz aufbauen, die (Mit)fühlen verhindert. In diesen Momenten wünschte ich mir

keine Diplomarbeit zu schreiben, sondern einen anderen Text, der eine andere bildhaftere Sprache

zuließe.

Diesen für mich existenten Sachverhalt erlebte ich als außerordentlich hemmend. Einerseits wollte

ich adäquat beschreiben, wie Frauen die Geburt mit Leib und Seele erlebt hatten, andererseits

konnte ich nicht von jeder Frau eine ausführliche Einzelfallanalyse anfertigen und darstellen. Das

hätte den Rahmen dieser Arbeit deutlich gesprengt. Glücklicherweise löste sich dieses Problem mit

dem schriftlichen Verfassen dieses Kapitels.

7.2.1.2 Bedrohung des Lebens von Mutter oder Kind verbunden mit Trennung

Geburt und Tod: Diese beiden Grunderfahrungen menschlichen Lebens berühren uns besonders

dann, wenn sie zusammentreffen.

Um dieses zu verhindern, werden in der Schwangerenvorsorge und in der Geburtshilfe enorme

Anstrengungen unternommen. Selten ist eine Frau noch „guter Hoffnung“: Engmaschig überwacht,

ist die Geburt ein medizinisches Risiko. Behinderung und Tod sollen ausgeschlossen werden. Weil

die Geburt immer sicherer für Mutter und Kind geworden ist, wird die Möglichkeit und Wirklich-

keit des Todes selten offen thematisiert. „(...), so fällt die Diskrepanz ins Au ge zwischen dem Auf-

wand der Verhinderung des Todes und dem Zulassen seiner sprachlichen Erwähnung“ (Wehkamp,

K.-H. 1998: 87).

In der nun folgenden Dimension möchte ich beschreiben, wie der mögliche, der befürchtete und der

drohende Tod erlebt werden.

Wenn das Leben des Kindes auf dem Spiel steht reagiert die Frau mit Angst und Panik. Häufig

gerät sie in einen seelischen Ausnahmezustand, der Fühlen verhindert und nur noch lebensnotwen-

dige Funktionen ermöglicht. Diese emotionale Anästhesie bewahrt vor dem Verrücktwerden, vor

dem totalen Zusammenbruch und hilft, in dieser Situation irgendwie handlungsfähig zu bleiben.

Diese Fähigkeit, Gefühle von bedrohlichen Ereignissen abzuspalten, ist jedem Menschen gegeben

und stellt eine sinnvolle Schutzfunktion der Psyche dar. Äußerungen wie „dicht machen“, „alles

wie im Film erleben“, „sich von oben zu beobachten“, können Hinweise auf ein derartiges Erleben

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sein, das sich aber dann verheerend auswirken kann, wenn die Spaltung (Dissoziation) in der Folge

nicht mehr aufgehoben werden kann.

Eine häufige Reaktion auf die Konfrontation mit dem drohenden Kindstod ist „dicht zu machen“.

Martina, die während einer Vorsorgeuntersuchung im Krankenhaus mit der bedrohlichen Realität

konfrontiert wurde erzählt: „(...) und dann wurde die Miene von dem Arzt immer ernster und dann

hat der gesagt: ‚Ihr Kind kommt heut´noch. Das kriegt schon seit Tagen keine Nahrung mehr und

muss sofort geholt werden.‘“ Martina ist durch diese unvermittelte Nachricht derart überwältigt,

dass sie die Bedeutung des Gesprochenen negiert. „Ich kann heut´nicht. Ich muss zu einem

Geburtstag.“ Obwohl die Geburt ihrer Tochter schon 9 Jahre zurückliegt, erzählt Martina

eigentümlich distanziert. Sie wirkt im Interview wie eingefroren und scheint keinen Kontakt zu

ihren Gefühlen zu haben.

Aber nicht alle Frauen reagieren so. Es scheint so, dass die Art und Weise des menschlichen

Umgangs, das Ausmaß an empfundener Kontrolle, aber auch das Vertrauen in eine göttliche

Ordnung eine Rolle spielen würden. Zur Verdeutlichung möchte ich an dieser Stelle das Erleben

von Kerstin beschreiben, die relativ viel Zeit hatte, sich mit dem drohenden Verlust ihres Kindes

auseinanderzusetzen. Zusätzlich wurde sie von Hebammen liebevoll begleitet.

Kerstin hatte im gleichen Jahr bereits ein Kind verloren, als sie in der 27. SSW vorzeitige Wehen

bekam. Im Krankenhaus wird sie tocolytisch behandelt und erhält zur Beruhigung Valium. Sie

leidet unter den Nebenwirkungen der Medikamente, nimmt diese aber aus Sorge um ihr Kind in

Kauf. Nach einer Woche setzen erneut Wehen ein, der Muttermund hat sich auf einen cm geöffnet.

Sie wird ins Perinatalzentrum verlegt: „Ich hab´ mich vollkommen überfordert gefühlt. Also schon

am Aufnahmetag hatte ich dann zwei Tage damit zu tun, dass ich halt ´ne Frühgeburt erwarten

könnte, dass halt wieder mal ein Kind für mich auf dem Spiel steht.“ Die nächsten vier Tage ver-

bringt sie in einem Beobachtungszimmer, mit Valium ruhig gestellt und an Atemnot leidend. „(...)

und das ging dann soweit, dass ich auch keine Luft mehr gekriegt hab´ (...) und ich hab´ mich er-

bärmlich gefühlt. (...) Ich hab´ nichts mehr gegessen und war wie im Dämmerzustand.“ Dann be-

ginnt die Geburt. Bei unaufhaltsamer Wehentätigkeit öffnet sich der Muttermund auf 5 cm „(...)

und ab da war bei mir so eine Panik da um das Kind, weil er (der Oberarzt) meinte, ich solle es

spontan kriegen (...) und für mich war irgendwie klar (...) ich wusste, dass ich das Kind, falls es

auch früher kommt, nicht so zur Welt bringen würde. (...) Ich wusste auch, dass man mir das Kind

halt wegnimmt, dass es vielleicht noch vor meinen Augen intubiert wird und das wollte ich nicht

(weint).“ Kerstin setzt den Kaiserschnitt gegen den Willen des Oberarztes durch.

Kerstins Geschichte hebt sich deshalb von den anderen (mit existenzieller Bedrohung einherge-

hende Geschichten) ab, weil sie ihr Erleben im Interview sowohl sehr reflektiert als auch emotional

schildern konnte. Sie blieb mit ihren Gefühlen verbunden und behielt ein gewisses Maß an Kon-

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trolle über die Situation. Möglicherweise wirkt sich hier sowohl die liebevolle Betreuung der Heb-

ammen als auch die Zeit, die bis zur Sectio vergeht, positiv auf die Handlungsfähigkeit Kerstins

aus.

Wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist scheinen sich die GeburtshelferInnen grundsätzlich

anders zu verhalten, als bei Gefährdung des Kindes. Wurden alle Mütter teilweise sehr unsanft über

die Gefährdung ihres Kindes informiert, scheint diese Aufklärung und Information zurückgehalten

zu werden, wenn es die Frau (ausschließlich) selbst betrifft. Es scheint so, als solle eine künstliche

heile Welt erzeugt werden, die der Frau das Wissen um den eigenen lebensbedrohlichen Zustand

vorenthält. Doch dies gelingt häufig nicht: Die Frau spürt das Unheil durch die damit verbundene,

nicht transparente und angespannte Atmosphäre. Sie bleibt mit ihren Gefühlen und Ahnungen aber

allein, weil sie merkt, dass die GeburtshelferInnen ihr ausweichen oder nicht auf ihre Fragen ant-

worten wollen. Diese Täuschung scheint vor allem Verwirrung und Misstrauen auszulösen. Wel-

cher Wahrnehmung soll die Frau trauen? Ihrem eigenen Gefühl, den subjektiven Deutungen der

Situation oder den Aussagen der GeburtshelferInnen?

Dieser Zustand der Verwirrung und des Misstrauens hält meist auch nach Abwendung der Gefahr

an. Häufig erfährt die Frau – auch auf Nachfrage - nicht, wie schlimm es um sie stand oder erst

dann, wenn sie um Herausgabe der Unterlagen bittet (was offensichtlich einige wegen ihres Miss-

trauens taten).

Dazu Doris, die wegen Schmerzen im Oberbauch zur Kontrolle stationär aufgenommen wurde: „Es

wurde ein Ultraschall gemacht, aber keine Blutuntersuchung. (...) Ich hab´ immer wieder auf meine

Bauchschmerzen hingewiesen, aber keiner hat was gemerkt. Am Montagmorgen kam eine neue

Ärztin. Die hat nichts gesagt. Die hat nur die Anweisung gegeben: Sofort Blut abnehmen! Als nach

einer Stunde das Ergebnis immer noch nicht da war, wurde die Ärztin unruhig und ich auch. Sie

hat wieder nichts gesagt, sondern nur: Sofort Blut abnehmen! (...) Als die Ergebnisse da waren, hat

sie sofort reagiert: Das Blutbild ist alarmierend. Wir müssen sofort einen Kaiserschnitt machen.“

Doris erlebt die Vorbereitungen „wie im Film“. „Meine Fragen wurden abgeschmettert. Es ging

mir viel zu schnell. Ich war passiv und überfahren.“ Doris muss nach der Sectio auf der Intensiv-

station behandelt werden, bekommt Transfusionen. „Meine Thrombozyten lagen unter dem Wert

einer spontanen Blutungsgefahr, aber ich hatte nicht das Gefühl krank zu sein. Es war nicht fass-

bar und griffig. Mir wurde was vorgemacht, so ´ne Heile-Welt-Stimmung. Nie ist was Kritisches

gesagt worden. (...) Dort hatte niemand Interesse, mir irgendetwas zu sagen. (...) Ich hab´ erst sehr

viel später erfahren, wie groß die Gefahr für mich und das Kind war.“

Auch Martina, die bei ihrem zweiten Kind wegen einer Plazenta praevia per primärer Sectio ent-

bunden wurde, merkt während der OP wie die Atmosphäre umschlägt: „(...) und plötzlich kamen so

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Schmerzen, unheimliche Schmerzen. Die sind immer schlimmer geworden und ich hab´ gemerkt,

dass die Narkose eigentlich nicht wirkt und es ging unheimlich hektisch zu hinter dem Abgehäng-

ten. (...) Irgendwann hat dann jemand gesagt, dass der Collin jetzt da ist, aber man konnt´ ihn nicht

schreien hören. (...) Irgendwann haben sie meinen Mann nach draußen gerufen und da hab´ ich

gedacht: Jetzt ist was mit dem Kind und dann kam die Hebamme und hat gesagt: Es geht ihm sehr

schlecht. Er muss beatmet werden und er muss in die Kinderklinik. Er hätte sehr viel Blut verloren.

Und ich hab´ mich dann verabschiedet. (...) Als ich aufwachte ging ´s mir furchtbar schlecht. (...)

Ich war wie im Delirium. (...) Ich hab´ Blutkonserven gekriegt, weil ich soviel Blut verloren hab´

(...) und ich hing halt ziemlich schwer da. (...) Später hab´ ich dann die schweren Depressionen

gekriegt. Dann bin ich mit meinem Mann in die Klinik gefahren und hab´ das Gespräch mit der

Ärztin gesucht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass alles so schlimm verlaufen konnte. (...) Sie

ist uns ausgewichen und hat gesagt, sie hätte nichts anders gemacht als wenn sie noch mal einen

Ultraschall gemacht hätte. Die hat nämlich direkt durch die Plazenta schneiden müssen, die ist in

den zwei Wochen doch noch nach oben gerutscht und dadurch, dass man vor der OP keinen Ultra-

schall gemacht hat, hat man ´s nicht gesehen. (...) Ich denk´, dass ging auf ihre Kappe. (...) Man

hätte ihm und mir sicher einiges ersparen können, aber sie hat sich rausgeredet und war auch die

einzige, die sich überhaupt nicht nach mir erkundigt hat. (...) Ich hab´ gedacht: Die hat ein

schlechtes Gewissen und so war ´s dann auch. Im Nachhinein haben wir erfahren wie schlimm das

eigentlich war.“

Auch Martina erfährt das gesamte Ausmaß der Gefahr erst, nachdem die angeforderten OP-Be-

richte eintreffen.

Metaphysische Bedrohung

Frauen, die in eine Phase des Gebärens eingetreten sind, die von extremen Schmerz, Panik und

Verzweiflung gekennzeichnet ist, fühlen sich manchmal in einer derart ausweglosen Situation, dass

sie der Tod nicht mehr erschreckt: Nicht mehr wollen, nicht mehr können, nichts mehr wollen,

außer, dass es endlich vorbei ist.

Auch viele Frauen, die nicht per Sectio entbinden, kennen diese Gefühle, die manchmal als Ich-

Tod beschrieben werden. Sie können vor allem in der Übergangsphase der Geburt auftreten und

lösen sich dann aber meistens im aktiven Pressen auf. Die Geburt des Kindes beendet den Schmerz

abrupt.

Kann ein Kind nicht auf normalem Wege geboren werden, macht jeoch der Schmerz auch für die

duldsamste Frau keinen Sinn mehr. Sie ist ihm derartig ausgeliefert, dass sie nur noch um Erlösung

und Rettung bittet. Der Kaiserschnitt wird dann mit großer Dankbarkeit angenommen.

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„Es war ausweglos. Ich hab´ nur noch gedacht: Ich will keine Schmerzen mehr haben. Ich hab´

sogar gesagt: ‚Ich will jetzt sterben.’ (...) Das, was ich erlebt hab´, das kam an nichts heran, was

ich jemals an Schmerzen gehabt hab´. Es gab keine Möglichkeit mehr, keine Rettung. Es war so

furchtbar. Ich hätte in diesem Moment alles unterschrieben.“ (Karin)

Isa glaubt, sterben zu müssen: „Irgendwann hat bei mir so ein Dauerschmerz eingesetzt. Ich hab´

dann nur noch gebrüllt. Dann hat er geschallt und konnt´ nichts sehen. Ich bin dann weiß gewor-

den und hab´ angefangen zu zittern und dann hat der Arzt Panik gekriegt und hat mir einen We-

henhemmer gegeben und dann hab´ ich nur noch gebrüllt: ‚Noch mehr von dem Zeug. Gebt mir

noch mehr von dem Zeug.’ Also wie der schlimmste Junkie. (...) Dann ging der Blutdruck runter.

(...) Mir war alles egal, weil ich gedacht hab´, wenn die jetzt nicht schnell machen, dann werd´ ich

das nicht überleben. (...) Mir war ´s scheißegal. Ich hab´ immer Angst gehabt vor der Narkose,

aber jetzt habe ich gedacht: Wenn du jetzt nicht mehr aufwachst, dann kriegst du es wenigstens

nicht mehr mit.“

Alle Frauen, deren physische und psychische Qualen durch die Sectio beendet wurden, reagierten

erst einmal mit Erleichterung und Dankbarkeit direkt nach dem Eingriff. Viele stellten sich die

Frage: Was wäre eigentlich vor 100 Jahren mit mir passiert? „Wäre ich damals elendig verreckt“,

fragt Barbara. Wie tief die Erfahrung der Bedrohung des Selbst durch den Schmerz ging, wird an

der Wortwahl deutlich. Begriffe wie Barmherzigkeit, Erlösung und Rettung durch Engel sind nicht

alltäglich, sondern werden im Allgemeinen mit christlichen (spirituellen) Erfahrungen verbunden.

Manchmal scheint die metaphysische Bedrohung so tief zu gehen, dass die Frau nicht mehr

aufwachen will. Karin beschreibt einen derartigen Zustand:

„Der Anästhesist war dann auch noch mal da wegen dem Aufwachen. Er konnt´ sich ´s nicht erklä -

ren. (...) Ich war einfach weg und ich wollt´ auch nicht mehr. Er meinte dann auch, ich hätte so

komische Sachen von mir gegeben, wo ich aufgewacht und dann wieder weggetreten bin. Also, es

war schon so: Ich wollte nicht mehr zu mir kommen. Ich war so ausgepowerd, dass ich in meinem

Raum bleiben wollte.“

Auch Daniela hat es so erlebt: „Ich hab´ mich in einer absoluten Ausnahmesituation befunden. Ich

glaub´, das war auch so ganz tief in mir drin: Oh, lieber Gott, lass mich nicht mehr aufwachen.

Das war dann auch. (...) Es war vielleicht nicht nur der Wadenkrampf. Es war, oh Gott ... (leise,

stöhnt auf).“

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7.2.1.3 Wenn die Geburtshilfe als Geburtsgewalt erlebt wird

Die Darstellung dieser Dimension berührt ein Tabu: Erlebte Gewalt in der Beziehung zwischen

HelferInnen und Hilfesuchenden.

Eine Frau, die ihr erstes Kind erwartet, wünscht sich - neben Professionalität - begleitende Men-

schen, die ihr während der Geburt Mut machen, die sie unterstützen und denen sie vertrauen kann.

Gebären bedeutet für viele Frauen, das Herz, die Seele und den Körper zu öffnen, ein Zustand

äußerster Verletzlichkeit: Sich zeigen ohne Maske. schutzlos, oft auf behutsame und wohlwollende

Unterstützung angewiesen. Wehrlos und ausgeliefert: unüberlegten Worten, unsensiblen Unter-

suchungen und sie übergehende Entscheidungen.

Das Erleben von Gewalt wird in der Regel von heftigen Gefühlen begleitet: Wut, Hass, das Gefühl

der Ohnmacht gegenüber der Krankenhausmaschinerie. Wer entscheidet, was passiert? Die Ärztin,

der Arzt, die Hebamme oder die Frau, die mit dem festen Vorsatz in die Klinik kam, nur das zu tun

und zuzulassen, was ihren Vorstellungen entspricht.

Beziehungen im Krankenhaus sind nicht symmetrisch. Eine aufgeklärte Kundin ist die Schwangere

nur außerhalb der Klin ik. Während der Geburt begibt sie sich in Abhängigkeit und ist auf das

Wohlwollen der sie Begleitenden angewiesen. Gelingt es nicht, eine vertrauensvolle Beziehung

aufzubauen, kann sich die gebärende Frau einer stärkeren Macht ausgeliefert fühlen, die ihre Be-

dürfnisse nicht berücksichtigt und willkürliche Entscheidungen trifft.

Erlebte Gewalt in der Geburtshilfe kann viele Gesichter haben. Die wichtigsten möchte ich in die -

sem Abschnitt beschreiben.

Gewalt durch Sprache kann erlebt werden, wenn Frauen in extrem unsensibler Art und Weise mit

dem möglichen Tod ihres Kindes konfrontiert werden.

Daniela, die in der 26. SSW zum Wehenbelastungstest ins Krankenhaus kommt, wird vom Ober-

arzt beim Ultraschall laut und vorwurfsvoll angefahren: „Ja haben sie denn nicht gemerkt, dass sie

kein Fruchtwasser mehr haben? (...) Ihre Tochter liegt ja auf dem Trockenen! (...) Ja, das ist jetzt

eh´ vorbei. Die bewegt sich ja gar nicht mehr.“ Als Daniela dieses Erlebnis während des Inter-

views erzählt, bin ich fassungslos. Kann das wirklich passiert sein? Ich weiß aus professioneller

Erfahrung, dass die Konfrontation mit dem Tod immer Leid und Hilflosigkeit mit sich bringt – für

alle Beteiligten. Jedoch kann ich nicht glauben, dass sich ein Arzt derart unmenschlich und zynisch

verhält. Das gleiche geschieht mit Daniela. Sie sagt später: „Das war der Moment, wo ich dicht

gemacht hab´, wo ich einfach das Gefühl hatte: Ich schaff´ das nicht mehr.“ Sie muss nicht nur

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schlucken, dass ihr Kind in akuter Lebensgefahr ist, sondern auch die Tatsache verkraften, dass der

Oberarzt ihr die Schuld dafür gibt. Hätte sie besser auf ihr Fruchtwasser geachtet, dann wäre das

nicht passiert, gibt er ihr indirekt zu verstehen. Das Gefühl der Schuld wird für Daniela eine lange

Zeit eine zentrale Rolle spielen.

In diesem Zustand der seelischen Erstarrung bräuchte die Frau Menschen, die helfen den Schock

auszuhalten: ÄrztInnen, Hebammen und Schwestern, die ihr menschliches Leid teilen, die offen

sind für eine menschliche Begegnung und, die sich nicht aus Unsicherheit hinter Befunden und

technischen Apparaten verstecken. Scheinbar emotionsloser Umgang mit existenziellen Bedrohun-

gen wird häufig als kalt und verletzend erlebt. Schuldzuweisungen und Unterstellungen können

traumatisch wirken.

Verbale Gewalt kann aber muss nicht mit existenzieller Bedrohung einher gehen, häufiger äußert

sie sich in abwertenden Kommentaren oder mit beißender Ironie „Sie sind jung und gesund“, hörte

Gunda, die sowohl eine Krebserkrankung als auch drei Fehlgeburten erlebt hatte, als sie wegen

Geburtsstillstand in der Eröffnungsphase um einen Kaiserschnitt bat.

Isa machte - wie einige andere Frauen auch - die Erfahrung, dass subjektive Empfindungen und

Gefühle von GeburtshelferInnen häufig nicht ernst genommen und abgewertet werden. Diese Ab-

wertung kann das Vertrauen und das Selbstwertgefühl einer Frau empfindlich beeinträchtigen.

„Man kommt sich da so lächerlich vor. (...) Man wird da ja auch, wenn man da rein kommt und

man hat noch keine richtigen Wehen, so richtig blöd behandelt.“ (Isa)

Gewalt durch grobe Untersuchungen bedeutet, dass Körper, Seele und die Würde einer Frau bei

vaginalen Untersuchungen verletzt werden.

Dabei geschieht die eigentliche Verletzung nicht durch die Handlung an sich, sondern durch die

Handlung begleitende zwischenmenschliche Beziehung. Wenn der Untersuchende und Handelnde

ein Mann ist, können vaginale Untersuchungen als Vergewaltigung erlebt werden.

Keine Frau hat dieses Erleben direkt ausgesprochen, wahrscheinlich, weil diese Erfahrung mit

Scham verbunden ist und die Frau den GeburtshelferInnen kaum absichtsvolles Handeln

unterstellen will. Jedoch lässt die Wortwahl wenig Raum für eine andere Interpretation:

„Der hat an mir rum gemacht. (...) Der hat mir das Ding immer rein gestochen und wieder raus

gezogen. Der war grob. Da fühlt man sich (schweigt). (...) Ich kam mir vor wie ein Stück Vieh und

er war der Schlächter. (...) Man hat das Gefühl, man ist gar nicht mehr der Mensch.“

Karin beschreibt hier, wie der Dienst habende Arzt versucht, ihr auf dem OP-Tisch einen Blasen-

katheter zu legen. Durch das beziehungslose und grobe Handeln fühlt sie sich als Mensch verletzt.

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Ihre Wortwahl legt nicht nur die Verletzung des Menschlichen nahe, sondern auch die Verletzung

des Weiblichen.

Auch Isa – selbst Ärztin - beschwerte sich über die Art und Weise der vaginalen Untersuchung, bei

der die Fruchtblase gesprengt wurde, ohne, dass sie zuvor darüber informiert wurde: „Bei der Un-

tersuchung war noch eine andere Hebamme und ein Medizinstudent dabei. Die Hebamme war

maulig. Die konnte ich nichts fragen und den Oberarzt kannte ich gar nicht. Ich dachte, ich spinne.

Da stemmt der sich mit seinem Körper und der hat solange gedrückt: Es war schon klar, was der

vor hatte. Das fand ich echt heftig und das hat mich geärgert.“ In Isas Erleben tritt der Bezie -

hungsaspekt deutlich zu Tage. Da ist niemand, dem sie vertrauen kann. Sie fühlt sich zu Ausbil-

dungszwecken vorgeführt. Obwohl Isa diese Szene sprachlich relativ neutral erzählt, entsteht bei

mir ein Bild, in dem ich mich als Voyeurin erlebe. In diesem Bild wissen alle beteiligten Personen

außer Isa Bescheid.

Als letztes möchte ich Barbara zitieren, die keinen „guten Draht“ zu ihrer zweiten Hebamme auf-

bauen konnte. Sie fühlt sich regelrecht abgewiesen und beschreibt den Kontakt so: „Meine Heb-

amme hat mir nicht geholfen. (...), wenn da die mütterliche Dortmunderin gewesen wäre: Die hätte

da nicht gesessen und hätte da unten rumgestochert. Die hätte sich auch mal neben mich gesetzt

und mich in den Arm genommen.“ Auch dieses Beispiel drückt eine unheimliche Beziehungslosig-

keit zwischen den beteiligten Menschen aus. Die vaginale Untersuchung wird zum grenzverletzen-

den Rumstochern.

Gewalt durch Unterlassen bedeutet, dass Nicht-Handeln als bewusstes Nicht-Helfen-Wollen erlebt

wird.

Eine für diesen Konflikt typische Situation schildert Barbara: „Unter dem Wehentropf hatte sich

der Muttermund auf 9cm geöffnet. Dann sollte der Pressdrang kommen. Die PDA lief aus. (...) Und

dann hat mich das ziemlich überrollt. Ich hab´ nur noch geschrieen. Es war nur noch Schmerz. (...)

Nach einer Stunde auswegloser Schmerzen und großer Angst fragt sie nach einem Kaiserschnitt.

Darauf die Hebamme: „Frau B., das ist jetzt nicht der Befund für einen Kaiserschnitt.“ Barbara

versucht es verzweifelt noch einmal: „Ich will jetzt sofort eine Vollnarkose. Ihr könnt mich auch

erschießen. (...) Weil, das war das Schlimmste, dass man den Schmerzen so ausgeliefert war. Vor-

her denkst du, du schaffst das irgendwie. Dann stehen 5 Leute um dich herum und untersuchen

dich. Dann nehmen sie dir die Betäubung weg, die sie dir vorher gegeben haben und du liegst da

und schreist und weinst und keiner macht was und alle denken: Ja, ja, das kommt schon, aber es

kommt nicht.“

Barbara fühlt sich der Willkür der Hebamme ohnmächtig ausgeliefert. Sie versteht nicht, warum sie

keine Sectio haben kann und es wird ihr auch nicht erklärt. Bettelnd wie ein kleines Kind, macht

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sie die Erfahrung, dass sie keine Möglichkeit der Einflussnahme hat: eine demütigende, klein ma-

chende Situation.

Sicherlich kennen auch Frauen, die nicht per Kaiserschnitt entbinden, diese Gefühle. Der

entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass hier das Kind schließlich nicht auf vaginalem

Wege geboren werden kann und die Zeit, die bis zur Indikationsstellung zur Sectio vergeht, als

unsinnige, unnötige und von den GeburtshelferInnen verursachte beziehungsweise geduldete Qual

empfunden werden kann.

Marianne kritisiert: „Carla hat den Kopf nach oben gehabt. (...) Welche Erfahrungen hat man mit

der Lage? Kann man da nicht früher reagieren? (...) Ich hab´ gedacht, was muss man die Leut´ so

lang quälen.“

Gewalt durch Handeln ohne Einwilligung bedeutet, dass die Frau sich als Opfer medizinischer

Interventionen fühlt, denen sie nicht zustimmen kann. Im Grunde genommen ist hier der Tatbe-

stand der Körperverletzung erfüllt.

Diese Konflikte entstehen häufig im Zusammenhang mit existenzieller Bedrohung. Wegen der

gebotenen Eile wird vergessen, die Frau über die geplanten Maßnahmen zu informieren bzw. sie in

vorausschauende Überlegungen mit einzubeziehen. Die Folge ist, dass sie sich übergangen und

unmenschlich behandelt fühlt.

Isabelle, die in der 32. SSW wegen Bauchschmerzen ins Krankenhaus geht, erzählt: „Ich bin hin -

gegangen mit dem Gefühl, ich hab´ ´ne Blasenentzündung und dann kann ich wieder nach Hause

gehen. (...) Und dann ging alles rasend schnell, also ohne, dass man mir was gesagt hat, haben die

angefangen mich zu rasieren und für den OP fertig zu machen und mir hat immer noch keiner ge-

sagt, was eigentlich los ist. (...) Irgendwann kam der Anästhesist und hat gesagt, ich solle jetzt zum

OP einwilligen und das hab´ ich nicht gemacht, weil ich gemerkt hab´, das geht alles viel zu

schnell. (...) Irgendwann hab´ ich dann eingewilligt, weil die mir gesagt haben, dass die Herztöne

vom Leander immer schlechter werden (...) und dann ging alles rasend schnell. Dann wurd´ ich in

den OP geschoben und als ich aufwachte, hatte ich kein Kind mehr im Bauch. Das war das Aller-

schlimmste: Die haben mir das Kind aus dem Bauch gerissen.“

So wie Isabelle von der Geburt ihres Kindes erzählt, wird deutlich, dass sie sich gewaltsam verletzt

fühlt. Sie kann sich zu keinem Zeitpunkt erklären, was und warum es passiert. Sie fühlt sich ohn-

mächtig in der Gewalt des Krankenhauspersonals. Niemand spricht mit ihr und lässt sie an den

Überlegungen und Befürchtungen teilhaben, die im Raum stehen.

Isabelle sagt: „Wenn jemand mit mir geredet hätte, wenn ´s mir jemand erklärt hätte, dann hätte

ich auch mitmachen können. Aber das war wirklich ganz schlimm. (...) Das war

menschenunwürdig. (...) dieses Ausgeliefert sein, diese Hilflosigkeit und diese Ohnmacht.“

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Betrachtet man die dargestellten Aspekte erlebter Gewalt, wird deutlich, dass Gewalttaten Bezie -

hungstaten sind. Gewalt spielt sich immer zwischen Menschen ab. Es gibt Täter und Opfer. Men-

schen, die Macht haben und solche, die ohnmächtig sind.

Gewalt in der Geburtshilfe kommt unerwartet und wirkt auch deshalb besonders verletzend, weil

sie das Vertrauen und die Bedürftigkeit abhängiger und auf Hilfe angewiesener Menschen verletzt.

GeburtshelferInnen haben gegenüber der entbindenden Frau einen Wissensvorsprung, doch dieser

darf nicht dazu missbraucht werden, Anordnungen zum vermeintlichen Wohle von Mutter und

Kind zu treffen, ohne diese dialogisch in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Selbst im

Notfall muss die Frau erfahren, warum etwas mit ihr passiert. Ausführliche Erklärungen sollten

dann nach der Entbindung folgen.

Unterstützende Geburtshilfe scheint sich hier in einem Dilemma zu befinden: Einerseits sollte sie

das Selbstbestimmungsrecht der gebärenden Frau berücksichtigen, anderseits kann das

Geburtserleben verbunden mit starkem Schmerz zu starker Regression der Frau führen, die nicht

mehr selbst bestimmen kann oder will. Ähnlich wie in der Beziehung zwischen Mutter und Kind ist

die Gebärende dann auf positive „Bemutterung“ angewiesen, die sie in ihrem Bedürfnis nach

Schutz und Hilfe annimmt, aber sie in dieser Bedürftigkeit nicht klein macht.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass viele schwangere Frauen vor der ersten Entbindung nicht

einschätzen können, welche Bedürfnisse sie unter der realen Geburt entwickeln werden. Oft schät-

zen Frauen in ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse nicht realistisch ein, so dass während der realen

Geburt eine Situation entstehen kann, die die Frau mit einem ihr völlig fremden Verhalten kon-

frontieren kann. Wird dieses Verhalten negativ bewertet, kann dies dazu führen, dass die Schuld

bei den unmittelbar unterstützenden Menschen gesucht wird.

7.2.1.4 Trennung von Körper und Seele – Entfremdung des Leibes

In dieser Dimension soll es um verschiedene Erfahrungen gehen, die Empfindungen des Leibes

betreffen. Ich spreche vom Leib, da in meinem Verständnis keine Trennung von Körper und Seele

vorhanden ist.

Als ich die Interviews anfangs auf leibliche Empfindungen hin absuchte, fand ich bis auf den phy-

sischen Schmerz wenig konkrete Hinweise auf ein solches Erleben. Da aber eine Geburt normaler-

weise den ganzen Körpereinsatz fordert, fand ich die Abwesenheit von vielfältigen Empfindungen

bedenkenswert und kam zu dem Schluss, dass gerade die durch Betäubungsmittel und Narkose

hergestellte und beabsichtigte Empfindungslosigkeit, das Auftreten von Entfremdungsgefühlen ver-

stärken könnte. Normalerweise besteht Kontakt zwischen der Vorstellung eines Körperteils und

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dem direkten Spüren. Durch die Anästhesie wird dieser Kontakt unterbrochen. Empfindungen ver-

schwinden oder können sich unwirklich anfühlen. Normalerweise ist diese Unterbrechung durch

die Anästhesie auf einen kurzen Zeitraum von wenigen Stunden beschränkt. Im Bereich der Narbe

werden allerdings immer Nerven durchtrennt und je nach Verletzungsgrad können Taubheitsge-

fühle lange anhalten.

Die eigene Kontrolle über den Körper verlieren

Wenn ich in diesem Abschnitt über Entfremdung spreche, dann meine ich damit, dass Körper und

Seele getrennt wahrgenommen werden. Der Körper gehört nicht mehr der Frau. Sie spürt sich nicht

mehr oder ihre Wahrnehmungen unterscheiden sich in grundlegender Weise von ihrem normalen

Erleben. Diese Erfahrungen tauchen meist im direkten Zusammenhang mit der Durchführung der

Sectio auf. Sie können großes Unbehagen und starke Ängste auslösen. Hier scheinen nun

vorwiegend Frauen betroffen zu sein, deren Wahrnehmung noch nicht durch das Erleben von

starkem Schmerz beeinträchtigt ist (z.B. bei primärer Sectio).

Ursel erzählt: „Ich hab´ überhaupt keine Glücksgefühle gehabt, weil ich war so am Zittern. Ich war

so mit mir beschäftigt. (...) Ich muss mein Zittern wegkriegen. (...) Normalerweise wollte ich ohne

Medikamente, aber ich hab´ gemerkt das pack´ ich nicht. Ich brauch´ etwas, dass das Zittern weg-

geht. Ich merk´, dass ich jetzt auch anfange zu zittern, so extrem ist das Gefühl. Mir wird auch kalt.

Das hatte ich auch. Ich hab´ gedacht, wunders wie schlimm (...). Genauso mit der Betäubung der

Beine. Für mich war das ganz schrecklich, dass ich meine Beine nicht bewegen konnte. Ich weiß,

ich hab´ da im Bett gelegen und hab´ probiert und probiert und ich weiß es ging nicht und diese

Angst, oh Gott.“

Die Reduktion auf ein Objekt

Das Verletzende dieser Erfahrung ist die Entmenschlichung, die eine Frau vor oder während der

OP empfinden kann. Mit der Entscheidung zur Sectio wird aus der gebärenden Frau eine chirurgi-

sche Patientin. Damit verbunden ist eine deutliche Änderung der Atmosphäre. Während im ge-

dämpften Licht des Kreißsaals oft nur wenige Menschen anwesend sind, die die Frau während der

Geburt unterstützen, kommen im OP schnell 7 bis 10 professionelle HelferInnen zusammen, die an

der Durchführung einer Sectio beteiligt sind. Die meisten davon sind der Frau unbekannt. Wenn

diese keinerlei Beziehung zur Frau aufnehmen, fühlt sie sich mit ihren Gefühlen und in ihren Be-

dürfnissen nicht wahrgenommen, sondern reduziert auf ein Objekt. Ein ige Frauen schilderten mir,

dass sie sich wie „ein Stück Vieh“, „ein Stück Stoff“ oder wie in einer „Fleischfabrik“ gefühlt

hätten.

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Auch Gabi fühlt sich auf ein bloßes Körperobjekt reduziert. „(...) Und ich fand das auch sehr men-

schenunwürdig. Ich war dann ja ganz nackt. Ich war ja überall rasiert, nur so ´n Tuch, hab´

schrecklich gefroren. Das hatte aber niemand ernst genommen. (...) Und weil das eben bei mir

aufgrund meiner Darmerkrankung was Spezielles war, hat mich der Professor operiert und ich

weiß nicht, diverse Studenten waren auch noch dabei und das war für mich: Da kam ich mir gar

nicht mehr vor wie ein Mensch, sondern nur noch wie ein Objekt. (...) Um meine Gefühle hat sich

keiner gekümmert (...) nur die technischen Dinge waren interessant. Ich als Person war da außen

vor. (...) Mir hätten ein paar Worte gereicht, aber ich bin mir vorgekommen wie ein interessantes

Objekt, weil es nicht alle Tage vorkommt, für den Professor eine Herausforderung.“

Totale Kontrolle durch fremde Menschen

Nicht nur die Tatsache des Gefühls der Entmenschlichung kann Angst machen, sondern auch die

reale Erfahrung, dass sich die Frau als Körperobjekt auf dem OP-Tisch festgeschnallt sieht und

Körperfunktionen wie Atmung, Ausscheidung und Bewegung von fremden Menschen kontrolliert

werden. Dazu kann die Angst kommen, bei lebendigem Leibe und vollem Bewusstsein

aufgeschnitten zu werden und die Angst, die Operation zu spüren. Bezeichnungen wie „sanfter

Kaiserschnitt“ führen in die Irre, beobachtet man, wie viel Kraft manchmal nötig ist, um ein Kind

aus der Gebärmutter zu entwickeln. Da wird gezerrt und geruckelt. Die Frau liegt hinter dem Tuch:

gekreuzigt, getrennt in zwei Hälften, ihrem Körper entfremdet.

Kerstin schildert ihre Empfindungen im OP: „Ja, es war halt. Das wird wahrscheinlich jeder Frau

so gehen, die halt in ´n OP kommt, unvorbereitet. Dass man sich da furchtbar ausgeliefert fühlt.

Man wird hin und her geschoben. (...) Alles hart. Alles kalt und diese Riesenlichter und man hat

mich halt so gedreht wie man mich irgendwie zum Anschließen von irgendwelchen Zugängen oder

so braucht und als ich aufgewacht war, weiß ich nur noch, dass mir im Moment, als ich wieder zu

mir kam, irgend ´ne Frau auf den Bauch gedrückt hat, dass ich wirklich geschrieen hab´. Und die

meinte dann. ‚Das muss so sein, damit sich die Gebärmutter zusammenzieht.’ (...) Die Ärzte waren

da schon ein bisschen vorsichtiger und hatten da nicht draufgedrückt wie auf ´n Stück Stoff.“

Während die meisten Frauen die OP-Vorbereitungen nur bruchstückhaft erinnern, fühlte ich mich

bei Tanja fast in Zeitlupe dabei. Sie hat große Angst, weiß nicht, was auf sie zu kommt und fühlt

sich verunsichert. Obwohl sie geduldige und freundliche GeburtshelferInnen hat, fühlt sie sich

während der Wartezeit und auch später im OP allein. Das Schlimmste für sie: die Erfahrung, gefes-

selt zu werden, hilflos ausgeliefert „wie ein Maikäfer auf dem Buckel“, fremde Augenpaare auf

sich gerichtet spüren.

„Und dann gab ´s einen Moment, wo mir die Tränen in die Augen schossen, wo mir die Arme

angeschnallt worden sind. Dann hab´ ich gesagt: Ich will das nicht. ‚Ja, doch, das müssen wir jetzt

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aber machen’. (...) Da bin ich mir vorgekommen wie ein Stück Vieh auf der Schlachtbank. Da hatte

ich das erste Mal Tränen in den Augen. (...) Ich hatte das ja noch nie erlebt (Tanja)“

Dieses Erleben der totalen Abhängigkeit, der Entfremdung des Leibes während der OP fordert die

gesamte psychische Anpassungs- und Integrationsfähigkeit einer Frau. Die Wirkungen dieses Erle -

bens können meiner Ansicht nach nur durch freundliche, zugewandte, menschliche Bezogenheit

gemildert werden.

Dauerhafte Verunsicherung?

Aber nicht nur die veränderte Wahrnehmung des Körpers unter der OP kann zu Angst und Fremd-

heit führen, sondern auch das Körpergefühl danach. „Man hat ewig das Gefühl, da ein großes Loch

zu haben. (...) Von heute auf morgen kommt man sich vor wie eine leere Blumenvase. (...) Manch-

mal kommt mir das jetzt vor wie eine fremde Körperhülle, wo man ganz lange braucht, bis man das

wieder als seinen Körper akzeptieren kann.“ Isa beschreibt die Folgen der Entfremdung.

Sich nicht mehr anfassen mögen, kein Leben im Bauch zu spüren, Angst, die Narbe zu berühren,

Angst, dass es nicht zusammenwächst und die Angst, dass der Bauch beim Pressen auf der Toilette

wieder aufplatzt sind andere wahrgenommene Folgen der fremden Körperwahrnehmung.

Während sich viele Frauen schnell von diesen belastenden Folgen der Sectio erholen, brauchen

manche Frauen Jahre, bis sie sich wieder einigermaßen intakt fühlen. Hier sind vor allem diejeni-

gen betroffen, die die Umstände, die zum Kaiserschnitt geführt haben, traumatisch erlebt haben.

Fremdheit und Verunsicherung beziehen sich aber nicht nur auf die Wahrnehmung des Körpers,

sondern schließen die Seele und den emotionalen Kontakt zu anderen mit ein. Sich selbst und ande-

ren eine Fremde werden. Sich selbst nicht mehr verstehen. Eine existenzielle Krise kann eine Frau

in ihrem Grund erschüttern und völlig unbekannte Reaktionen zu Tage fördern.

Daniela, die sich in ihrem Leben immer als Opfer gefühlt hatte, wehrt sich das erste Mal, als sie

eine Krankenschwester anfährt, weil sie die Station ohne Erlaubnis verlassen hatte: „(...) Das war

dann der Moment, wo ich keine Lust mehr gehabt hab´, mich von irgend jemand in so ´ner Art und

Weise behandeln zu lassen. Ich hab´ genauso zurückgeblökt, was ihr einfällt. Ich bin in mein Zim-

mer. Die staubt mir hinterher und ich hab´ nur gebrüllt: ‚Raus! Tür zu!’ Und dann hab´ ich

(Pause) mmh ´nen Teller nach ihr geschmissen. Und das war aber ein Moment, wo es mir richtig

klasse ging.“

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7.2.1.5 Von Gegenüberlosigkeit und unbefriedigenden Beziehungen

Nur durch den anderen kommt der Mensch zur Klarheit über sich selbst (Karl Jaspers).

Für das Erleben und die Bewertung der Geburt ist das Vorhandensein von menschlichem Interesse

und empathischer Zuwendung von ausschlaggebender Bedeutung. Sehr positiv erlebte menschliche

Zuwendung kann dazu führen, dass Erfahrungen im Zusammenhang mit dem befürchteten oder

drohenden Tod sowie Entfremdungsgefühle des Leibes abgemildert werden. Im Erleben von Ge-

walt ist das Fehlen von positiv erlebter Zuwendung obligat.

Häufig fühlen sich Frauen, die keine Kommunikation, die kein Gegenüber erlebten, in dem sie sich

spiegeln konnten, als Objekt: Geschlechtslos, klinisch steril, funktional und auf den Körper

reduziert.

Im schlimmsten Fallen fühlen sie sich gar nicht. Die Seele, die eigene Geschichtlichkeit außen vor

und nicht beachtet.

Einen Arm zum Blutdruckmessen, einen Mund für das Fieberthermometer, reduziert auf Labor-

werte und Diagnosen, die zur Beurteilung des Gesundheitszustands eher herangezogen werden als

das subjektive Empfinden der Frau. Bei der Visite mag sie hören: „Das ist der Kaiserschnitt vom

Wochenende.“ Oder, wenn sie sich aus Unsicherheit zu früh im Kreißsaal meldet: „Ich kam mir so

lächerlich vor.“

„Ich als Mensch hab´ nicht gezählt.“ „Um meine Bedürfnisse hat sich keiner gekümmert.“ „Ich

war denen so egal.“ So haben sich viele meiner Interviewteilnehmerinnen zumindest zeitweise

geäußert.

Sehr eindrücklich schildert Doris diese Erfahrung. Nach der Sectio wird sie wegen eines Hellp-

Syndroms auf der Intensivstation überwacht. „Ein Fall, der nicht vorgesehen war“, sagt sie sicht-

bar traurig. „Ich hab´ mich auf der Intensivstation völlig verloren gefühlt. (...) Ich war frisch ent-

bunden. Es hat keiner für nötig befunden, mich über das Kind in Kenntnis zu setzen. Es hat mir

keiner gesagt, ob ´s dem Kind gut geht. Es hat mir keiner gesagt, ob ich ´s sehen kann und wann

ich ´s sehen kann. Gar nichts. Einfach gar nichts. (weint) Es war so, als: Wir halten die Frau ir-

gendwie am Leben und sonst nichts. (...) Mein Problem war: Ich war nicht stabil genug, um diesen

Standartablauf, der dort gefahren wird, zu durchbrechen und von der anderen Seite hat ´s keiner

für nötig befunden, mir ´ne Brücke zu schlagen. (...) Es war so absurd. Ich wusste nicht, wer Arzt

oder Schwester war. Es hat sich auch keiner vorgestellt. Es war überhaupt kein Bestreben, irgend

etwas transparent zu machen. (...) Es wurde nichts kommentiert. Es wurde nicht gefragt, sondern es

wurde gehandelt ohne Mitteilung, so, als sei ich nicht ansprechbar.“

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Glücklicherweise kann Doris ihrem Ehemann alles sagen, sich ihm anvertrauen. Er betätigt sich

fortan als „Kommunikationsschnittstelle“. „Wenn ich meinen Mann nicht gehabt hätte, ich glaub´

dann säße ich jetzt nicht hier und sag´: Ich hab ´s verkraftet.“

Genau wie Doris vermute ich auch, dass sie dieses Erleben ohne ihren Mann nicht verkraftet hätte.

Die Erfahrung, nur (physisch) versorgt zu werden, aber als Mensch überhaupt nicht beachtet zu

werden, halte ich für psychisch extrem destabilisierend. Gefühle starker Einsamkeit und Verlassen-

heit lassen die Frau verstummen. Sie macht die Erfahrung, dass ihr „Rufen“ unbeantwortet bleibt.

Mutter-seelen-allein.

Ich glaube, dass Menschen in Krisen - dazu zähle ich die Geburt eines Kindes vor dem Hintergrund

existenziell bedrohlicher Umstände - anderer Menschen bedürfen, die durch ihr Da-Sein und die

Fähigkeit das eigene Selbst in der zwischenmenschlichen Beziehung zur Verfügung zu stellen,

einen „schützenden Mantel“ um die verunsicherte Person legen. Das Durchleben von Grenzsitua-

tionen erschüttert den Halt gewohnter Lebensbedingungen. Der Mensch wird radikal auf sich selbst

zurückgeworfen, verunsichert und in Frage gestellt. Es droht der Verlust dessen, was bislang als

Wesentlich betrachtet wurde. Was bleibt? Jetzt braucht er ein Gegenüber, in dem er sich spiegelnd

wieder erkennen kann.

Ich vermute, dass das Erleben von „Gegenüberlosigkeit“ in der Kombination mit starken Entfrem-

dungsgefühlen (auch durch Opiate und Tranquilizer verstärkt) bei entsprechender Vulnerablität12

einer Frau in präpsychotische Zustände führen kann, die mit starker Verunsicherung und Angstge-

fühlen verbunden sind.

Kerstin beschreibt kurz vor der Geburt ihres Sohnes einen Zustand, der an präpsychotisches Erle -

ben erinnert. Auch während des Interviews war ihre Verunsicherung und Verzweiflung über ihre

sie verwirrende Wahrnehmung stark spürbar. Sie berichtet von einem Zeitpunkt an dem sie schon

einige Tage mit absoluter Bettruhe in der Klinik, durch Valium „niedergestreckt“ lag: „Und ich

war allein in dem Zimmer und ich kann mich auch noch an Details erinnern, wo was stand und wo

welches Bild hing und was ganz eigenartig war: Ich hatte durch diesen Wehenhemmer, hatte ich

Atemnot gekriegt und das ging dann soweit, dass ich auch keine Luft mehr gekriegt hab´(...) und

hab´ mich einfach erbärmlich gefühlt. (...) Ich war wie im Dämmerzustand auch eh und man hat

mir Valium gegeben mit dem Hinweis, dass sich dann auch die Gebärmutter beruhigen würd´ und

ja, es war dann halt so, dass ich mich wie niedergestreckt gefühlt hab´ und ich hab´ vieles auch gar

12 Der Begriff Vulnerablität im Zusammenhang mit psychotischem Erleben wird als Verletzlichkeit und damit als Schwellensenkung gegenüber sozialen Reizen definiert. Der die Psychose auslösende Stress sind für den Begründer der Vu lnerablitätshypothese Joseph Zubins Folgen psychosozialer Belastungen. Für Zubin ist grundsätzlich jeder Mensch psychosefähig, wenn er den entsprechenden Belastungen ausgesetzt ist, allerdings in unterschiedlichem Maße (Wienberg 1997: 31).

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nicht mehr wahrgenommen und ich bin auch, im Nachhinein hatt´ ich so ´n Gefühl, als sei ich ir-

gendwie Bewusstseins getrübt gewesen. (...) Ich hätte schwören können, dass ich in einer anderen

Umgebung war und das hat mich schier zur Verzweiflung gebracht (seufzt). Ich hätte wirklich

schwören können: Ich war nicht in dem Raum und ich konnt´ mich dann auch nur schemenhaft an

diese Nacht dann erinnern, als mein Sohn kam.“

Doris, deren Erleben von „Gegenüberlosigkeit“ ich schon zitiert habe, sagte: „Ich hab´ mich nach

der Geburt stark verändert. Es war nicht greifbar. (...) Es ist schwer auseinander zu halten. Was

liegt an der Hormonumstellung? Was liegt an der Atmosphäre? Was liegt an den Schmerzmitteln?

(...) Ich war weinerlich und verletzlich. (...) Nichts beeinflussen zu können, nichts verändern kön-

nen. (...) Ich konnte mich auf nichts einstellen.“

Das Erleben von Gegenüberlosigkeit scheint ein Gefühl von starker Verunsicherung und Einsam-

keit zu verursachen. Ohne Bezogenheit und Ansprache geht das Gefühl für das Selbst verloren.

Gefühle und Gedanken münden im Nichts. Anders als beim Erleben von direkter Gewalt, das zu-

mindest meist am Anfang mit Wut und Aggression verbunden ist, kann eine Frau, die Gegenüber-

losigkeit erlebt, ihre Gefühle und ihr Erleben kaum benennen. Sie spürt kein konkretes Gegenüber,

auf das sie ihre Gefühle beziehen könnte 13.

Sich in seiner Bedürftigkeit und Unsicherheit nicht angenommen fühlen

Eine Frau, die entbindet, hat das Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit. Sie wünscht sich einfühl-

same Begleitung – sowohl während der Geburt als auch im Wochenbett - und vielleicht auch je -

manden, der ihr im unbekannten Terrain die Richtung weist. Dieser Wunsch führt bei vielen Erst-

gebärenden zur Regression14. Sie möchten „bemuttert“, beschützt und angeleitet werden, weil sie

nicht wissen, was auf sie zukommt, und weil dieses Gefühl mit Angst verbunden sein kann. Dieser

Regressionswunsch ist - vor allem bei Erstgebärenden - oft schon während der ersten schmerzhaf-

ten Wehen zu spüren.

13 Interessanterweise ist für mich Gegenüberlosigkeit auch im Kontakt mit Menschen, die an einer Psychose leiden, spürbar.. Während ein „gesunder“ Mensch bei Blickkontakt irgendwann eine Grenze errichtet oder wegschaut, habe ich beim Blick in die Augen eines Menschen mit einer Psychose in der Regel das Gefühl, gleich hinten aus den Augen wieder herauszufallen oder von vornherein auf eine Mauer zu prallen. Entscheidend empfinde ich, dass zwar eine Form des Kontaktes vorhanden ist, aber keinerlei Bezogenheit, die aus dem Ich und dem zeitweise ein Wir werden lässt Ein ähnliches Phänomen kommt ebenfalls beim Erleben von Gegenüberlosigkeit zum Tragen. Auch hier kommt kein Wir zu Stande. Es entsteht große Einsamkeit im Kontakt. Ich möchte diese Beschreibung eines Phänomens als persönliche Anmerkung verstanden wissen, die selbstverständlich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. 14 Regression bedeutet wörtlich: Rückschritt. In der Psychoanalyse versteht man darunter das Wiederauftreten von entwicklungsmäßig früheren (infantilen) Verhaltensweisen.

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Diese starke Bedürftigkeit kann die Frau wie ein Kind abhängig machen. Sie ist dadurch auf wohl-

wollenden und emotionalen Umgang angewiesen. Professionelle Distanz, die häufig ohne Körper-

kontakt und mit ausschließlich sachlicher Information einhergeht, kann als emotionale Ablehnung

empfunden werden. Diese kann ebenfalls mit dem Gefühl von starker Einsamkeit einhergehen.

Viele Interviewteilnehmerinnen berichteten, dass sie sich alleingelassen und vergessen gefühlt

haben, nicht nur während der Geburt ihres Kindes, sondern auch im Wochenbett.

„Ich hab´ gedacht, die Hebamme geht auf mich ein. (...) Die war sicher professionell, aber ich hab´

mich nicht angenommen gefühlt.“ (Christiane)

„Ich kam mir so weinerlich vor und wurde nicht ernst genommen.“ (Barbara)

Manche Frauen fühlen sich nicht ernst genommen und abwertend behandelt, weil sie den (vermu-

teten) Erwartungen der GeburtshelferInnen nicht entsprechen können. „Und man wird da ja so

richtig blöde behandelt: Wenn man da ankommt und noch keine richtigen Wehen hat.“ (Isa)

Auch Daniela meint: „Es sind oftmals Kleinigkeiten (...), damit man sich als Patient sicher fühlt,

aufgehoben. Das sind nicht die großen. Ich brauch´ keinen Sigmund Freud an meinem Bett, aber

ich erwarte, dass man mit Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden (...). Da hab´

ich einfach, wenn ich in so ´nem Beruf arbeite, ein bisschen Fingerspitzengefühl mitzubringen. Es

muss ja nicht jeder sanft sein. Viele brauchen ja genau das Gegenteil, aber dieser Balanceakt ist

genau das, was es ausmacht und ich möchte mich als Patient nicht immer lästig fühlen. Lästig in

dem Sinne, dass ich Arbeit mache.“

Sich auf die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit reduziert fühlen

Nicht jede Frau mag das Gefühl, „bemuttert“ zu werden. Versorgt, gepflegt und auf Hilfe angewie -

sen zu sein, kann an die eigene Kindheit erinnern und je nach Erfahrung kann das Gefühl von Klein

sein und Klein-gehalten-werden für die Frau sehr unangenehm sein.

Sie möchte nicht, dass für sie entschieden wird, sondern dass sie bei allen Entscheidungen dialo-

gisch miteinbezogen wird. Schließlich ist es ihr Körper, ihre Geburt und ihr Kind. Hilfestellung

und Pflege der GeburtshelferInnen können als massive Kontrolle aufgefasst werden. Imke erzählt:

„Also, ich fand die Stillanleitung unmöglich. Es hat meiner Meinung nach auch gut funktioniert.

Dann haben sie ´s gewogen. Dann war ´s zu leicht. Dann hieß es: Sie haben zu wenig. Dann war ´s

zu schwer. Die haben einen total verrückt gemacht. Ich muss sagen, wenn ich nicht von Haus aus

so ein sturer Typ gewesen wäre, dann hätte ich wohl abgestillt.“

Auch Ina fühlte sich kontrolliert und bevormundet: Sie meinte: „Du musst dich als Mutter erst

beweisen, bevor sie dir das Kind in die Hände geben.“

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Ein anderer Aspekt von asymmetrisch empfundenen Beziehungen ist die Erfahrung, dass Geburts-

helferInnen zum vermeintlichen Wohle der Frau handeln, ohne aber die Frau dabei zu berücksich-

tigen oder sie nach ihrer Einstellung zu fragen.

Gunda, die über Tage erfolglos eingeleitet wurde, bat ihren behandelnden Arzt nach 3 Tagen um

einen Kaiserschnitt. „Er hat halt gesagt, es sei ein gutes Erlebnis für die Frauen, wenn sie normal

entbinden. Aber ich finde, das ist kein Argument, wenn sich ´s so lange hinzieht. (...) Ich war dem

ausgeliefert und der hat nicht mit sich reden lassen. Das find´ ich nicht in Ordnung wie man da

zum Teil behandelt wird. Der hat die Schmerzen ja nicht.“

Fast immer fühlen sich Frauen in klein machenden Beziehungen schlecht oder überhaupt nicht

informiert, manchmal auch wie „entmündigt“. Und das ist ein Umstand, der gerade diesen Frauen

zu schaffen macht, da häufig ein großes Bedürfnis nach Planbarkeit und Mitsprache besteht. „Ich

bin ein Typ, der gerne etwas plant, der Vorinformationen braucht: Deshalb war es furchtbar.“

(Gunda)

Erlebte Menschlichkeit

In den bis jetzt beschriebenen Dimensionen des Erlebens wurden vor allem problematische

Aspekte berührt. Es entstand der Eindruck, als setze sich eine Frau bei der Entbindung im Kran-

kenhaus vielen verschiedenen Facetten von äußerst unangenehmen teils existenziellen Erfahrungen

aus. Diese Erfahrungen sind erlebte Realität, aber sie bilden nicht die Gesamtheit des Erlebens ab.

In der Folge möchte ich einige Beispielen erlebter Menschlichkeit darstellen und beschreiben, wel-

che Bedeutung dieses Mit-und Da-sein für die betroffene Frau haben kann.

Fast alle Frauen erlebten diese Menschlichkeit als etwas Zusätzliches, nicht unbedingt zur Profes-

sionalität Gehöriges, sondern eher als Kontakt von Mensch zu Mensch oder von Herz zu Herz.

Menschliche Wärme, Feingefühl, Authentizität und Sorge sind Begriffe, die diese Erfahrungen

begleiten.

Daniela machte nach dem Aufwachen aus der Narkose eine solche Erfahrung. „Die Oberärztin hat

mich gehalten. Diese Frau hat mir entscheidend geholfen. Sie war einfach da. Und sie hat mich

wahrgenommen als Mensch, als Frau und sie war´ s gewesen, dass ich mich aufgehoben und sicher

gefühlt habe (...). Es war ihre Stimme (...) und sie hat mich angeschaut und hat auch mit mir

gesprochen. Nicht auf mich ein, mich nicht totgelabert, sondern sie hat mich wahrgenommen und

daraus entwickelte sich ein Dialog und im Laufe des Dialoges wu rde ich immer sicherer, wie man

halt in so ´ner Situation sein kann. (...) Im Nachhinein hab´ ich erfahren, dass sie als sehr taff galt

und in dieser Nacht ist irgendetwas ganz Besonderes passiert. (...) Da war was Zwischen-

menschliches: Einfach zwei Frauen, die füreinander da sind. Es war in dem Moment auch

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nebensächlich, dass sie Gynäkologin ist. Es war die Begegnung zweier Menschen. So, wie man sie

nicht oft in seinem Leben hat.“

Auch Karin erlebte Menschlichkeit und Anteilnahme durch die Hebamme, die sie auch während

der Sectio begleitet hat. Dieser „rettende Engel“ hilft Karin entscheidend bei der Überwindung der

Fremdheit zu ihrer kleinen Tochter. „Am zweiten und dritten Tag war ich völlig frustriert. Dann

kam die Hebamme, die schon bei der Geburt dabei gewesen war und hat erzählt, sie hätte das ge-

nauso erlebt. Ob ich denn mein Kind schon mal richtig angeguckt hätte? Und die kam dann abends

in mein Zimmer und die hat gesagt: ‚So, jetzt machen wir das mal zusammen.’ Es war die erste

nach 3 Tagen, die aufgrund eigener Erfahrungen gekommen ist und mich richtig hingesetzt hat und

mir das Kind in den Arm gelegt hat und sagte: ‚Jetzt ziehen wir das mal aus und gucken sie mal

ganz in Ruhe.’ Da hatte ich dann auch das Gefühl: Ich krieg´ einen Bezug zu meiner Tochter. Das

hat mir sehr geholfen.“

Barbara erfuhr sehr liebevolle Pflege. „Von der Pflege fand ich das ein ganz tolles Krankenhaus.

Ich wäre auch noch eine Woche geblieben. (...) Wegen der Gebärmutter (mangelnde Rückbildung)

sollte ich auf dem Bauch schlafen, aber ich hab´ mich nicht getraut, weil ich dachte, die Narbe geht

auf. Ich hatte das Gefühl, bei mir geht nichts richtig. Da kam dann die Schwester. Die hat mir alles

erklärt, dass ich ein großes Kind hätte und deshalb auch die Gebärmutter groß sei. Dass ich keine

Schuld habe. Sie hat mir dann ganz lange den Bauch massiert und das war schön und dann haben

sie mich umgelegt, und ich bin auf dem Bauch eingeschlafen.“

Bei allen Erfahrungen fällt auf, dass die GeburtshelferInnen sich als Menschen zeigen. Mit-Fühlen,

das Gegenüber als Menschen in Not sehen und wahrnehmen. Etwas von sich selbst geben und er-

zählen, körperliche Nähe zulassen und schenken. Das alles kann Frauen helfen ihre Sprachlosigkeit

zu überwinden, die Fremdheit sich selbst und dem Kind gegenüber abzubauen und den Zugang

zum eigenen Körper wieder zu finden. Sanfte, liebevolle Berührungen können wahrhaft heilsam

sein.

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7.2.1.6 Von schwierigen Gefühlen nach der Sectio

Erschöpfung

Ein wichtiger Aspekt direkt nach dem Kaiserschnitt ist die totale Erschöpfung. Vor allem Frauen,

die vor der Sectio lange Zeit schmerzhaften Wehen ausgesetzt waren, fühlen sich im Anschluss

körperlich völlig „kaputt“ und „am Ende“. Manche haben sich in ihrem Leben noch niemals so

schlecht gefühlt. „Ich war halb tot.“ (Yasmin) und Gunda, die durch eine vorhergehende

Krebserkrankung bereits belastende Erfahrungen machte, meinte: „So schlecht ging es mir noch

nie. Auch nicht nach 6 Wochen Bestrahlung.“

Auch, wenn sich nicht jede Frau (dieser Studie) im Anschluss an die Sectio gebrechlich fühlte,

hatten sich die meisten jedoch nicht klar gemacht, dass es sich um eine mittelgroße Bauchoperation

handelt. „Was ein Kaiserschnitt bedeutet, dass hatte ich mir überhaupt nicht klar gemacht. Dass

man nichts selber kann. Dass man wegen jedem bisschen um Hilfe bitten muss. Dass man sein Kind

nicht selbst versorgen kann. Dass man´ s nicht tragen und hochnehmen kann.“ (Tanja)

Fast alle Frauen erholten sich innerhalb eines Monats von den Strapazen der Geburt. Bei einigen

traten rezidivierende Blutungen (Karin), starke Narbenschmerzen (Isa, Yasmin), längerfristige

Taubheit des Bauches - nicht nur im Bereich der Narbe - (Marianne, Isa, Barbara) sowie Wund-

heilungsstörungen (Karin) auf.

Sich hilflos und abhängig fühlen

Da ein Kaiserschnitt eine Frau zumindest in den ersten Tagen sehr abhängig von professioneller

Hilfe macht, kann dieser Umstand dazu führen, dass die Frau die Unterstützung, die sie eigentlich

bräuchte, nicht einfordern kann oder will. Das kann schwerwiegende Folgen für einzelne Frauen

haben.

Isa, die ihren Sohn besonders schön auf der Welt willkommen heißen wollte, fügte sich nach trau-

matisch erlebter Geburt der „Anordnung“ der Schwester, ihren Sohn doch ins Kinderzimmer zu

geben, da das das Beste für ihn sei. „Dass man da keinen Einfluss drauf hat. Ich hab´ ihn ins Kin -

derzimmer gegeben, weil ich nicht so konnte. Das war schlimm, weil, ich hab´ ihn schreien gehört.

Ich hätte ihn lieber bei mir gehabt. (...) Ich hätt ´s ja sagen können, aber ich hab´ mich nicht ge-

traut. Ich hab´ gedacht: Die sind die Spezialisten. (...) Das hat mir viel ausgemacht, dass ich nicht

die Kraft hatte zu sagen: ‚Lassen sie mir mein Kind hier.’ Dass man sich nicht wehren kann. Es

wird einfach über einen bestimmt. (...) Ich hatte eine Hebamme, die war sehr distanziert. Es war

nicht so ein Kontakt, dass ich hätte fragen können.“ Isa leidet (auch) in der Folge sehr über die

erste „verpasste“ Zeit mit ihrem Sohn. Noch zwei Jahre später macht sie sich Vorwürfe, dass sie

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ihm nicht nur durch die schwere Geburt etwas „angetan“ hat, sondern ihn in der ersten Zeit seines

Lebens allein gelassen hat. „Ich denke: Ich hab´ ihn allein gelassen und er hat sich allein gefühlt.

Das krieg´ ich nicht aus meinem Kopf heraus. Jeden Morgen, wenn ich ihn in die Kita (Kinderta-

gesstätte Anm. d. Verf.) gebe. Immer, wenn er schreit, löst das in mir aus: Der war am Anfang

allein. Das hat mich in der Kindererziehung ganz viel beeinflusst zu klammern. Ich hab´ mir immer

vorgestellt, dass er das Vertrauen verloren hat und ich hab´ noch nicht den Weg gefunden wie man

das vergisst.“

Fast alle von mir interviewten Frauen hätten ihr Kind gern ausschließlich bei sich gehabt, doch

kaum einer wurde es ermöglicht und keine forderte es für sich ein.

Dieser Umstand, dass Mutter und Kind direkt nach einem Kaiserschnitt häufiger getrennt werden

als Mutter und Kind mit einer Spontangeburt, kann in der Folge dazu führen, dass die Mutter-Kind-

Bindung erschwert ist. Das Kind wird gerade nach einem Kaiserschnitt häufig fremd empfunden

und es dauert länger, bis diese Fremdheit überwunden werden kann. Dieses belastet die Mutter

sehr.

Auch Stillprobleme sind nach einem Kaiserschnitt häufiger, möglicherweise hängt dies mit der

immer noch üblichen Trennung von Mutter und Kind während der ersten Tage zusammen. Fast die

Hälfte aller von mir interviewten Frauen konnte ihre Kinder nicht voll stillen.

Neben der „verpatzten“ Geburt, verursacht die schmerzhaft erlebte Trennung von Mutter und Kind,

genau wie erfolgloses Stillen, großes Leid, so dass versucht werden sollte, Mütter nicht von ihren

Neugeborenen zu trennen oder, wenn das nicht möglich sein sollte, eine Atmosphäre zu schaffen,

dass sich auch eine nicht so selbstbewusste Frau traut, ihre Bedürfnisse zu äußern.

Versagensgefühle

Viele Frauen le iden unter Versagensgefühlen, weil sie keine normale Geburt geschafft haben. Sie

fühlen sich vielleicht minderwertig oder wie Gabi es ausdrückte „als Mutter zweiter Klasse“.

Die Fähigkeit, ein Kind natürlich zu gebären, ist für viele Frauen eng mit dem Selbstwert als Frau

und Mutter verknüpft. Das Gleiche gilt für die Fähigkeit zu stillen. So wird vorstellbar, was es für

eine Mutter bedeuten kann, wenn sie nach einem (ungewollten) Kaiserschnitt nicht in der Lage ist,

ihr Kind zu ernähren.

Nach einer misslungenen Geburt nun die erneute Konfrontation mit dem Unvermögen, eine rich-

tige Frau und eine gute Mutter zu sein.

„Da ist dann für mich alles zusammengebrochen: Jetzt hast du das mit der Geburt nicht geschafft

und dann klappt das Stillen nicht. Du versagst als Mutter auf der ganzen Linie. (...) Und ich hab´

mich gefragt: Wie bin ich denn als Mutter, wenn ich das nicht schaffe?“ (Christiane)

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Ina machte sich Vorwürfe, dass sie nicht noch länger probiert hat und fühlt sich als Frau

minderwertig. „Es hat ein Kaiserschnitt sein müssen und dann kann man noch nicht mal sein Kind

ernähren. Ich hab´ mich als Frau so schlecht gefühlt.“

Ein besonders schmerzhafter Aspekt ist das Gefühl, das eigene Kind nicht nähren zu können. Mit

ansehen zu müssen, dass das Kind hungert, unruhig und unleidlich wird, schmerzt die Frau zutiefst.

Das setzt oft einen Teufelskreis von Anspannung, Unsicherheit und noch mehr Stillproblemen in

Gang. Verschiedene (oft wohlgemeinte) Ratschläge verunsichern die Frau zusätzlich und resigniert

füttert sie zu, obwohl sie es ganz anders wollte. „Die Kleine schrie und schrie und ich hab ´s nicht

geschnallt, dass ich keine Milch hab´. Ich hab´ in dem Moment gedacht: Sie verhungert. Totale

Panik. (...) Ich fühlte mich gescheitert. (Barbara)

Das Gefühl des Scheiterns, welches Barbara hier schildert, spielte auch für andere Frauen eine

große Rolle. Vor allem diejenigen, die ein „bewusstes“ Geburtsideal hatten, setzten sich nach der

Kaiserschnitterfahrung intensiv mit ihrem Erleben auseinander. Bei fast allen führte dies zu einer

anderen Sicht auf das Leben und dessen Planbarkeit. Häufig wurde auch das Geburtsideal dahinge-

hend modifiziert, dass eine realistischere Einschätzung von Geburt und Mutterschaft entwickelt

wurde.

„Geburt hat für mich heute einen anderen Stellenwert als damals (...) und ich bin dazu übergegan-

gen, mir einfach nichts mehr vorzustellen. (...) Ich bin froh im Nachhinein, dass alles so gelaufen

ist, denn ich war früher ein anderer Mensch (...). Ich hab ´nen Plan gemacht und dann musste das

so laufen und genauso habe ich mir die Geburt vorgestellt. Ich war erfolgsverwöhnt.“ (Daniela)

Von Schuld und dem Gefühl, keine gute Mutter zu sein

Nicht nur um die Geburt und das Stillen rankt sich ein Mythos, sondern auch um die Mutterliebe.

Viele Frauen stellen es sich „wunderschön“ vor, wenn sie ihr Kind das erste Mal in den Armen

halten. Bleibt dieses Gefühl nach der Geburt aus oder – noch schlimmer für die Frau – fühlt sie

Fremdheit oder gar Ablehnung ihrem Kind gegenüber, ist dies Anlass von heftigen Schuldgefühlen.

Sehr oft hörte ich Sätze wie „Ich hab´ mich wie eine Rabenmutter gefühlt.“ Gefühle von Fremd-

heit, Distanz, Wut und Ablehnung dürfen nach Ansicht der meisten Frauen nicht sein, deshalb wer-

den sie kaum kommuniziert.

Daniela beschreibt sehr schwierige und ambivalente Gefühle ihrer Tochter gegenüber. Sie hat

Angst, verrückt zu werden. „Meine Beziehung zu ihr war ganz problematisch, weil so unterschied-

liche Gefühle da waren (...), auf der einen Seite hab´ ich sie wahrscheinlich genauso geliebt wie ich

das heute empfinde, hatte aber Angst das zuzulassen, weil die Angst so groß war, sie doch noch zu

verlieren. Ich bin mir sicher, dass ich das nicht verkraftet hätte. Das hat nichts mit suizidalen Ge-

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danken zu tun. (...) Das war der Punkt, dass ich wusste, wenn ich sie jetzt noch verlier´, dann

überleb´ ich das nicht. Auf der anderen Seite: Das war genau der Zeitpunkt, an dem ich mir ernst-

haft überlegt habe, ob ich mich nicht in psychiatrische Behandlung begeben soll. Weil ich gedacht

hab´: Ich bin schizophren. Ich bin verrückt. Ich möchte mein Kind lieben, kann das aber nicht zu-

lassen. Auf der anderen Seite wünsche ich mir nichts sehnlicher, als zu meinem Kind zu kommen.

Und weil das so ist, fang´ ich an, mein Kind zu hassen. (...) Ich hab´ mir halt Vorwürfe gemacht,

dass ich halt Schuld hab´, aber dann war da keine Schuld und irgendeinen Schuldigen muss es ja

geben. Ja, und dann war ´s auf einmal meine Tochter. Und dann ging ´s mir richtig dreckig. Was

hat mir dieses kleine Menschlein angetan? Es war so schlimm dieses zu erleben. Es war nichts so

wie ich es mir je vorgestellt habe.“

Ich habe Daniela deshalb so ausführlich zitiert, weil sie nicht nur die schwierige Beziehung zu ihrer

Tochter thematisiert, sondern auch die Suche nach der Schuld.

Ausnahmslos alle Frauen, die zu früh von ihrem Kind entbunden wurden, quälten sich mit schwe-

ren Vorwürfen und gaben sich die Schuld für das Leid ihrer Kinder auf der Intensiv- oder Frühge-

borenenstation.

Gerade Frauen, die ausgesprochene Wunschkinder erwarteten und sich stark mit der Geburt

auseinandergesetzt hatten (bewusstes Geburtsideal) litten unter enormen Schuld- und

Schamgefühlen, weil sie sich nicht über ihr Kind freuen konnten.

„Und ich hab´ mich ganz schwer getan mit dem Leander. Ich konnt́ mich überhaupt nicht freuen

über dieses Kind am Anfang, weil ich auch gar nicht wusste, ist es auch mein Kind. (...) Am meisten

ist mir in Erinnerung, dieses Kind nicht annehmen zu können, also keine Muttergefühle für ihn

entwickeln zu können, sondern da lag ein Kind, dem ging ´s nicht gut, und ich muss es versorgen.

Das war am Anfang eher so ´ne mechanische Beziehung (...) und es war ganz furchtbar, weil ich

mich so auf den Leander gefreut hatte.“ (Isabelle)

Martina äußert ihre Schuldgefühle sehr indirekt, als sie von dem Tag erzählt, an dem sie ihre

Tochter das erste Mal gesehen hat: „Ich durfte die Luisa erst am 5. Tag sehen (...) und da hat mein

Mann schon ´ne richtig gute Beziehung aufgebaut gehabt und ich überhaupt nicht. Und es war

dann so, als ich rein kam, dass ich unter der Tür eigentlich wieder gehen wollte. (...) Es war so ´n

schrecklicher Anblick und mein Mann hat mich dann wieder mit rein genommen und sie hat die

ganze Zeit geschlafen (sehr berührt). Sie hat mich keines Blickes gewürdigt (harte, zusammenge-

presste Stimme) und ich war ganz enttäuscht.“

Martinas Erzählung hat mich während des Interviews sehr berührt: Welche Schuld glaubt sie auf

sich geladen zu haben, dass sie sich von ihrem Kind abgelehnt fühlt?

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In der Folge gelingt es ihr nicht, eine so enge emotionale Beziehung zum Kind herzustellen, wie es

sich Martina eigentlich gewünscht hätte. Auch Yasmin ist es so ergangen. Genau wie Martina

durfte sie ihren Sohn auch erst nach 5 Tagen sehen.

Alle anderen Frauen schafften es nach einer Weile, die verlorene Anfangszeit auszugleichen. Sie

konnten eine enge Bindung zu ihren Kindern aufbauen, quälten sich aber teilweise mit intensiven

autoaggressiven Gefühlen. „Ich hatte Schuldgefühle, weil ich zum Schluss halt dachte: Ich kann

nicht mehr, (...) wo ich dann aufgegeben hab´, zu Ungunsten des Kindes und dann auch noch die

Sache mit dem Kaiserschnitt, dass ich dem Kind auch noch ´ne normale Geburt verwehrt hab´ (...),

das war schon was, was ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen hab´. (...) Wenn etwas von der

Norm abweicht, wird die Schuld halt immer bei der Mutter gesucht. Wenn man etwas nicht verste -

hen kann. Wenn was im Raum steht ohne Antwort, dann kommt man mit dem schlechter zu Recht,

als wenn man sich dann die Schuld für alles gibt. Dann hat das irgendwie ´nen zentralen Punkt, auf

den man seine ganzen Aggressionen richten kann. In dem Fall dann halt so die eigene Person.“

(Kerstin)

Manche reagierten mit ausgeprägtem Selbsthass. „Wenn was im Raum steht ohne Antwort, dann

kommt man mit dem schlechter zurecht, als wenn man sich dann die Schuld dafür gibt. Dann hat

das dann ´nen zentralen Punkt, auf dem man seine gesamten Aggressionen richten kann, in dem

Fall dann halt so die eigene Person.“ (Kerstin) „Die Schmerzen, die hatte ich verdient.“ (Daniela)

Isabelle meinte: „Ich hatte von Anfang an massive Schuldgefühle: Was hab´ ich falsch gemacht,

dass mein Kind so früh auf die Welt gekommen ist. Dadurch habe ich meinem Körper überhaupt

kein Mitspracherecht mehr eingeräumt, der hatte seine Schuld igkeit getan. (...) Ich musste etwas

falsch gemacht haben, auf einer ganzheitlichen Ebene.“

Martina erlebte die Schuldzuweisungen eher von außen durch Angehörige. Kommentare, wie:

„Warum hast du deinem Kind denn nichts abgegeben“, verletzen sie sehr. Von ihrer Tochter fühlt

sie sich emotional abgelehnt.

Auch die Tatsache, die ersten Stunden und Tage nicht mit dem Kind verbracht zu haben, kann zu

Schuldgefühlen führen. „Ich hab´ ihn allein gelassen und er hat sich allein gelassen gefühlt.“

Frauen, die wie Isa fühlten, berichteten in der Folge über große Schwierigkeiten, sich von ihrem

Kind zu trennen.

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7.2.1.7 Die Folgen

Depressionen, emotionale Taubheit, Ängste und Verunsicherung

Wenn Schuldgefühle das Leben bestimmen, die Frau leidet und ihre Gedanken immer wieder um

die Geburt kreisen, fällt die Auseinandersetzung und Verarbeitung des Erlebten schwer.

Viele Frauen sprachen von ausgeprägter Traurigkeit und dem Gefühl des Scheiterns. Sie brauchten

oft lange Zeit, um das Erlebte zu „verdauen“. Gespräche mit dem Partner, aber auch anderen Ver-

trauten können helfen, aber nicht alle Frauen können davon profitieren. Die Verletzung der Seele

ging zu tief und die Umstände der Geburt bedrohten die Existenz.

Alle Frauen dieser Studie, deren Kind zu früh auf die Welt kam, entwickelten eine teilweise ausge-

prägte postpartale Depression. Es scheint, als gingen die Erfahrungen, die mit einer Frühgeburt

einhergehen, über das Maß des Erträglichen hinaus. Möglicherweise sind es aber auch die Schuld-

gefühle, die die Frau in einen Kreislauf von Schuld, Versagen und Abwertung der eigenen Person

führen.

„Es gab Tage, da ging es mir so was von Scheiße, einfach, anders kann ich ´s nicht sagen, ich hab

funktioniert wie ´ne Maschine: Ich wollt´ unbedingt stillen (...), aber man kann ein 500g Baby nicht

anlegen und dann ging diese Abpumperei und so weiter los. Und dann hatte ich, wie ich heute

weiß, nicht nur einen Baby-Blues. Ich hatte so eine richtige waschechte Wochenbettdepression, die

soweit ging, dass ich ein dreiviertel Jahr auch den Bezug zu meinem Körper und mein Empfinden

komplett verloren hab´. Ich hab´ nicht gegessen, weil es mir geschmeckt hat, sondern (...) ich muss

jetzt, weil ich als Frau so jämmerlich versagt hab´. Nicht genug, dass ich nicht mal eine gescheite

Geburt hingekriegt hab´, sondern ich hab `s ja noch nicht mal geschafft, mein Kind bis zum Ende

auszutragen. (...) Ich war nicht mehr existent. Ich hätte dann funktionieren sollen, und ich hab´ das

nach außen auch getan, aber innerlich war das ganz, ganz anders. Also es war ganz übel.“

(Daniela)

Isa, die per Notsectio entbunden hat, entwickelte in der Folge eine postraumatische Belastungsstö-

rung mit den typischen Symptomen wie das Immer-Wieder-Erleben der traumatischen Situation.

Sie sagt auch nach zwei Jahren noch: „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an die Geburt denke.“

Häufig hat sie Alpträume, in denen sie erstickt (Sie war während der OP aufgewacht und hatte das

Gefühl zu ersticken.). Sie ist bis heute nicht in der Lage, die Straße zu befahren, in der sich das

Krankenhaus befindet, eine extreme Vermeidungsreaktion. Dazu kommen teils unerträgliche Angst

vor dem plötzlichen Kindstod und die Angst, das Haus zu verlassen.

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8 Konsequenzen für die Praxis

Vor dem Hintergrund der durchgeführten Studie, meiner eigenen Betroffenheit und der intensiven

theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem Thema Kaiserschnitt, ist es nun im

Folgenden mein Bestreben, Anregungen und Ideen für eine veränderte Praxis vorzustellen.

8.1 Aufklärung und Information über die Schnittentbindung in der Schwanger-

schaft

Die Tatsache, dass jede dritte bis vierte Frau in Deutschland heute per Kaiserschnitt entbindet, ist

meines Erachtens ein Grund, den Kaiserschnitt zum Thema zu machen.

Spätestens im Geburtsvorbereitungskurs sollten Frauen neben der Vorbereitung auf eine vaginale

Spontangeburt auch über Ursachen und Konsequenzen operativ beendeter Entbindungen informiert

werden.

Ein besonderes Problem dabei ist, dass die meisten Schwangeren, sich nicht gern mit Geburtskom-

plikationen konfrontieren und viele Hebammen Angst haben, das Vertrauen der Frauen in eine

Spontangeburt zu untergraben, wenn sie in der Geburtsvorbereitung ausführlich über Geburtskom-

plikationen und deren Folgen sprechen.

Meines Erachtens gebietet das Berufsethos einer Hebamme oder einer Geburtsvorbereiterin eine

realistische Vorbereitung auf die Geburt. Das bedeutet, dass auch problematische Themen ange-

sprochen werden sollten, die im Anschluss an eine Entbindung auftreten können.

Möglicherweise könnten mehr Selbsterfahrungsaspekte Frauen und Paare zu einer aktiveren Aus-

einandersetzung mit schwierigen Themen verhelfen. Denkbar wären Rollenspiele, aktive Imagina-

tion einer problematischen Situation, Herausfinden von eigenen Bedürfnissen und möglichen Hil-

festellungen in belastenden Momenten, so dass ein möglicher Kaiserschnitt oder andere Geburts-

komplikationen nicht völlig abstrakt blieben.

Eine vorherige Auseinandersetzung mit möglichen Komplikationen könnte meiner Ansicht nach

dazu beitragen, dass eine Frau dann in der konkreten, realen Situation ein gewisses Maß an Selbst-

bestimmung und Mitspracherecht behielte, da sie dem Geschehen wahrscheinlich etwas weniger

ausgeliefert wäre.

Es kann in der Praxis sehr hilfreich sein, über einen „Notfallplan“ zu verfügen, der vielleicht auch

die Rolle des Partners genauer definiert. Denn auch begleitende Ehemänner, Partner oder Freun-

dinnen fühlen sich in der konkreten Situation häufig überfordert und handlungsunfähig.

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Konkrete Auseinandersetzung mit möglichen Komplikationen könnte außerdem dazu verhelfen,

einer Frau oder einem Paar zu größerer Klarheit über die eigenen Werte und Bedürfnisse zu brin-

gen. Das bedeutet im Idealfall eine Bewusstwerdung des Geburtsideals und der damit verbundenen

Risiken der Enttäuschung.

In den USA gibt es die Möglichkeit für Eltern in „Klassen“ über den Kaiserschnitt unterrichtet zu

werden. Hier werden die Eltern über Anatomie, Kaiserschnittindikationen, Anästhesieverfahren

sowie den eigentlichen Ablauf der Operation unterrichtet. Auch Besonderheiten im Wochenbett

oder eventuell psychische Belastungen werden hier zum Thema gemacht.

Die Erfahrungen mit diesen Klassen werden von den Eltern bzw. Frauen als überwiegend positiv

empfunden. Diese Ergebnisse sprechen auch dafür, das Thema Kaiserschnitt stärker in die Ge-

burtsvorbereitungskurse mit einzubeziehen (Bornemann 1989: 33).

Alle Studienteilnehmerinnen äußerten zu diesem Punkt übereinstimmend, dass sie sich eine reali-

stischere Geburtsvorbereitung gewünscht hätten.

8.2 Infoabende und Tage „der offenen Tür“

Leider sind viele dieser Veranstaltungen darauf ausgerichtet Kundinnen zu gewinnen. Das bedeu-

tet, eine potentielle Geburtsklinik muss die Information anbieten, die Schwangere und ihre Partner

hören wollen (siehe auch Einleitung).

In der Regel führt diese Strategie dazu, dass unangenehme Aspekte einer Geburt nicht angespro-

chen werden, wenn nicht Mehrgebärende aufgrund persönlicher (problematischer) Erfahrungen

deutliche Fragen stellen und klare Information einfordern.

Meiner Ansicht nach müssten Komplikationen und belastende Geburtsaspekte nicht verschwiegen

werden. Ganz im Gegenteil: Es böte einer Klinik auch die Möglichkeit, sich mit einer besonderen

Kompetenz am Markt zu positionieren. Im Sinne von: Wir haben ein gutes Konzept, das auch im

Falle von Komplikationen, die mit einem Kaiserschnitt oder Frühgeburtlichkeit verbunden sind, im

hohen Maße auf die Bedürfnisse von Mutter und Kind ausgerichtet ist.

Das würde Eltern wahrscheinlich das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein und sich auch bei Ge-

burtskomplikationen in guten Händen zu fühlen.

Ein solches Konzept müsste auf die Erfordernisse und Gegebenheiten der jeweiligen Geburtsklinik

abgestimmt sein und auf interdisziplinärer Zusammenarbeit beruhen. Da an der Betreuung einer

Kaiserschnittgeburt wesentlich mehr Berufsgruppen beteiligt sind als an einer vaginalen Spontan-

geburt, ist hier die Abstimmung der Abläufe mit dem OP-Personal und der Anästhesie unerlässlich.

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Das bedeutet auch, dass manchmal Überzeugungsarbeit geleistet werden muss, da nicht alle Be-

rufsgruppen primär für die Bedürfnisse gebärender Frauen ausgebildet sind.

8.3 Geburtsplanung im Krankenhaus

Fast alle Frauen, die ihr erstes Kind im Krankenhaus gebären wollen, melden sich dort vor der Ge-

burt an.

Die „Papiere werden angelegt“. Das bedeutet, dass eine Anamnese über das Befinden in der

Schwangerschaft und mögliche Geburtsrisiken erstellt wird.

Meiner Erfahrung nach werden in dieser Anamnese medizinische Aspekte überbetont. Für Wün-

sche und Vorstellungen bleibt oft wenig Raum, wenn die Frau nicht von sich aus in der Lage ist,

diese anzusprechen.

Hier besteht meines Erachtens Handlungsbedarf: Da eine Anamnese dazu dienen soll, sich ein um-

fassendes Bild von jemanden zu machen, sollte sie in einer Atmosphäre, die zu Offenheit einlädt,

durchgeführt werden.

Konkret bedeutet dies: Räumlichkeiten, die Geborgenheit fördern und keine ständigen Störungen

durch andere Menschen oder Telefon.

Für überaus wichtig halte ich eine Form der Kommunikation, die Vertrauen und Offenheit fördert.

Die Frau (das Paar) soll sich mit ihren Bedürfnissen ernst genommen fühlen.

„Die Sprache der Annahme“ oder „einfühlendes Zuhören“ wie Thomas Gordon, ein amerikanischer

Psychotherapeut, diese Form der Kommunikation bezeichnet, fördert die Beziehungsaufnahme

sowie die partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Beteiligten (Gordon 1999: 11ff).

Leider kann ich an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten des Kommunikationsmodells, welches in

„Patientenkonferenz“ ausführlich dargestellt wird, eingehen (ebd.). Nur soviel sei gesagt: Es geht

vor allem um die Fähigkeit des Zuhörens, die Beseitigung wesentlicher Kontaktsperren und ein

Sechs-Stufen-System zur Problemlösung im Team (ÄrztIn-PatientIn). Ich halte dieses Modell für

sehr praktikabel und hilfreich, wenn es um Geburtsplanung geht. Auch bei der Abwägung des Für

und Wider einer Sectio ohne medizinische Indikation könnte es wertvolle praktische Hilfestellung

geben.

Die Geburtsplanung im Krankenhaus sollte nicht nur dazu dienen, sich kennen zu lernen und für

die Geburt wichtige Informationen zu sammeln, sondern auch dazu, aus medizinischer Sicht über

Schmerzbekämpfung, Narkosemöglichkeiten und –risiken sowie über die Sectio mit möglichen

Risiken aufzuklären.

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Ich halte die Aufklärung über Risiken der verschiedenen geburtshilflichen Eingriffe während der

Geburt für nicht tragbar. Aufgrund vieler Gespräche innerhalb der Studie und während der Hospita-

tion weiß ich, dass die meisten Frauen in einer Notsituation oder unter starkem Wehenschmerz den

Ausführungen der ÄrztInnen kaum folgen können, häufig nicht in der Lage sind abzuwägen oder

sich in einem Zustand befinden, in dem sie alles unterschreiben würden.

Hier wird meines Erachtens Zeit für vermeintliche Aufklärung genutzt, die in den meisten Fällen

nicht ankommt und Ressourcen bindet, die für menschliche Begleitung genutzt werden könnten.

Information und Aufklärung über operative Eingriffe und Narkosemöglichkeiten vor der Geburt

(Geburtsplanung findet in der Regel vier Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin statt),

könnte ebenfalls dazu beitragen, dass die Schwangere sich mit möglichen Komplikationen kon-

frontiert.

Ausführliche Geburtsplanung könnte ebenfalls dazu beitragen, besonders ängstliche Frauen oder

solche mit einer traumatischen oder risikoreichen Vorgeschichte zu identifizieren und in Teamsit-

zungen mögliches Vorgehen zu besprechen.

8.4 Im Kreißsaal

Viele Erstgebärende fühlen sich sehr unsicher und nervös, wenn sie die ersten Wehen spüren. Häu-

fig scheint alles anders, als im Geburtsvorbereitungskurs gehört oder in Büchern gelesen.

Diese Unsicherheit ist bei Aufnahme im Kreißsaal häufig zu spüren. Obwohl aus Sicht der Ge-

burtshelferInnen die Geburt vielleicht gerade erst begonnen hat, stellt sich die Situation für die

Unterstützung suchende Schwangere anders dar: Sie ist essentiell darauf angewiesen, freundlich

aufgenommen und mit ihrer Unsicherheit angenommen zu werden. Einige Studienteilnehmerinnen

berichteten schon in dieser frühen Phase der Entbindung von Störungen im zwischenmenschlichen

Bereich, die dazu führten, dass sie sich abgelehnt oder nicht ernst genommen fühlten. Häufig blieb

dieses Gefühl während der gesamten Entbindung bestehen.

Ich habe sowohl durch die Studie als auch durch meine Beobachtungen während der Hospitation,

den Eindruck gewonnen, dass der spätere Geburtsverlauf oft schon in den ersten Minuten nach der

Aufnahme in den Kreißsaal sichtbar wird. Deshalb halte ich die Aufnahme zur Geburt, den Erst-

kontakt zu den Dienst habenden GeburtshelferInnen für ein wichtiges Detail, das besondere Auf-

merksamkeit verdient.

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Viele Frauen begrüßen es, wenn die aufnehmende Hebamme sich beim Anlegen des CTGs Zeit

nimmt und Interesse zeigt, die Frau und ihren Partner kennen zu lernen. Es stehen sich bei der Erst-

aufnahme im Kreißsaal ja häufig Fremde gegenüber.

Da nach dem CTG in der Regel auch eine vaginale Untersuchung durchgeführt wird, um die Ef-

fektivität der Wehen und den Geburtsfortschritt zu überprüfen, ist eine vertrauensvolle Atmosphäre

grundlegende Voraussetzung dafür, dass die gebärende Frau sich nicht in ihren Leibgrenzen ver-

letzt fühlt. Die Berührung der intimsten Körperteile ist normalerweise nur wenigen Menschen ge-

stattet. Durch den Abgang von Blut, Schleim und Fruchtwasser fühlen sich viele Frauen nicht wohl

in ihrer Haut, so dass auch Schamgefühle eine wichtige Rolle spielen können, vor allem dann,

wenn die Untersuchenden männlichen Geschlechts sind.

Eine zusätzliche Belastung können Zuschauer sein. Viele Kliniken sind Ausbildungsbetriebe. Das

bedeutet, eine gebärende Frau ist in der Regel nicht nur mit einer GeburtshelferIn konfrontiert,

sondern häufig sind zusätzlich Hebammenschülerinnen, PraktikantInnen und ÄrztInnen in der

Ausbildung bei einer Geburt anwesend.

Bedenkt man, dass laut Michel Odent „privacy“ eine wichtige Voraussetzung für eine komplikati-

onsarm verlaufende Geburt ist, muss eigentlich gefordert werden, dass es keine Zuschauer bei einer

Geburt geben darf (Odent 1994: 9ff).

Da aber eine praktische Ausbildung an der Frau notwendig ist, sollte darauf geachtet werden, dass

nur eine weitere Person anwesend ist. Auch diese Person sollte sich mit dem Paar vertraut machen

und in einfühlende Beziehung gehen.

Einfühlende Beziehung muss dabei nicht andauerndes Gespräch bedeuten. Häufig genügen gele -

gentlicher Blickkontakt, wenige Worte und Berührungen oder gemeinsames Atmen, um einer gebä-

renden Frau das Gefühl von Unterstützung und Anteilnahme zu vermitteln.

Alle Untersuchungen und geburtshilflichen Maßnahmen bei Fortschreiten der Geburt sollten ange-

kündigt und erklärt werden. Dabei kann das Informations- und Mitsprachebedürfnis einer Frau sehr

unterschiedlich sein. Während manche Frauen gar nichts wissen wollen, gibt es andere, die gerne

jeden Schritt verstehen und mitbestimmen möchten. Das bedeutet: Es sollte danach gefragt werden,

ob und wie viel die Gebärende oder das Paar wissen möchte.

Einige Studienteilnehmerinnen reagierten ausgesprochen verunsichert, weil sie während der Ent-

bindung zwar spürten, dass etwas nicht in Ordnung war, ihnen Information aber vorenthalten

wurde.

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Häufig wurden sie dann von der Indikationsstellung zur Sectio überrollt, weil sie die Entscheidung

nicht nachvollziehen konnten. Hier kann die Grenze zum Gewalterleben sehr schnell überschritten

werden, da die Frau sich fühlt als sei über ihren Kopf hinweg entschieden worden.

Die meisten Frauen, die dies während der Geburt erlebten, wünschten sich rechtzeitige Information

und vorausschauendes Handeln der GeburtshelferInnen. Damit war auch eine ehrliche Aufklärung

über den Geburtsfortschritt gemeint

8.5 Vorbereitung zur Operation

Ist die Indikationsstellung zur Sectio einmal gestellt, geht es oft ganz schnell. Während der Inter-

views hörte ich immer wieder die gleichen Worte: Es ging ruck-zuck, zack auf zack oder ähnliches.

Eine Frau, die wahnsinnig erleichtert war, sagte: „Die Hülsen flogen nur so. Endlich tat sich was.“

Die Schnelligkeit, mit denen die Vorbereitungen manchmal ablaufen, wird von vielen Frauen so

gedeutet, als wäre ein Notkaiserschnitt erforderlich, was wiederum zu verstärkter Verunsicherung

und großer Angst führen kann. Echte Notsectiones sind aber selten, deshalb bleibt in der Regel

genügend Zeit, eine Frau in Ruhe vorzubereiten und auf ihre Fragen zu antworten.

Viele Frauen reagieren aber, vor allem wenn die Entscheidung zum Kaiserschnitt für sie unerwartet

getroffen wurde, mit Schreck und Panik.

Nicht wenige Frauen haben solche Angst vor dem Operiert werden, dass es ihnen die Sprache ver-

schlägt und sie die Vorbereitungen wie „im Film“ über sich ergehen lassen. Deshalb ist hier beson-

dere Einfühlsamkeit und Bezogenheit gefragt, auch dann, wenn die Gebärende nicht spricht und

nichts fragt.

Dies gilt nicht nur für die Vorbereitungen einer sekundären Sectio, sondern im gleichen Maße für

Frauen, die per primärer Sectio von ihrem Kind entbunden werden.

Die Studienteilnehmerinnen, die eine Sectio ohne vorangehenden Wehenschmerz erlebten, berich-

teten über große Ängste, oft schon gegenüber verhältnismäßig „harmlosen“ Eingriffen wie das

Legen einer Braunüle oder Einführen des Dauerkatheters.

Professionelle HelferInnen sollten sich immer wieder deutlich machen, dass Klinikroutine die mei-

sten Menschen sehr verunsichert und ängstigt.

Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Frauen vor einer Sectio in der Regel nicht

wie andere Patienten vor einer OP prämediziert werden.

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8.6 Einschleusung und Aufenthalt im OP

Die Schleuse trennt die Frau von ihrer bisherigen Welt. Sie kommt in einen Raum, den sie in der

Regel nie zuvor gesehen hat und den nur ausgewähltes Personal betreten darf..

Die Einschleusung bedeutet Abschied. Die Frau muss sich von ihrem Partner und der sie bis jetzt

begleitenden Hebamme trennen, auch wenn beide später wieder dazu kommen (können).

In dieser neuen Welt anzukommen, bedeutet für eine Frau in der Regel Orientierungsverlust, da sie

weder die anwesenden Menschen kennt, noch deren Gesichter erkennen kann. Viele Studienteil-

nehmerinnen berichteten, dass sie diese Orientierungslosigkeit sehr belastend empfunden haben.

Diejenigen Frauen, die nicht darunter litten, erzählten von einem ausgesprochen positiven Kontakt

zu den Anästhesisten, die sie „liebevoll versorgten“, „als Frohnatur unterhielten“ oder einfach

„retteten“. Anästhesisten sind aufgrund ihrer Position am Kopfende der Frau prädestiniert Kontakt

zur wachen Frau zu halten. Wird dieser Kontakt positiv erlebt, scheint eine Frau die OP eher nicht

traumatisierend zu erleben.

Besonders problematisch ist der Aufenthalt im OP für Frauen, die der deutschen Sprache nicht

mächtig sind und die aufgrund ihrer Religion oder Herkunft Berührungen von Männern ablehnen.

Hier sollte meiner Ansicht nach Rücksicht genommen werden, und nach Möglichkeit eine Ver-

trauensperson, die übersetzen und schützen kann, im OP erlaubt sein, bis die Frau einschläft.

Ich halte diese Erfahrung, Mutter-seelen-allein im OP von fremden Menschen (Männern) angefasst

zu werden, ohne den Sinn der einzelnen Maßnahmen zu kennen, ohne die Möglichkeit sich selbst

verständlich zu machen auf dem OP-Tisch gefesselt und ausgeliefert zu sein, für extrem belastend.

Ich habe einige Male erlebt, wie solche Frauen schreiend und weinend aus der Narkose aufwach-

ten.

Ein weiteres Problem ist für einige Frauen die Tatsache, dass ihre Arme auf dem OP-Tisch festge-

schnallt werden und sie eine Maske über Mund und Nase tragen müssen. Auch, das Operationsfeld

abtrennende Tuch vermittelt vielen ein Gefühl der Enge und kann Platzangst auslösen. Hier gilt

ebenfalls, den Sinn der Maßnahmen erklären und die Bezogenheit aufrechterhalten. Sprechen und

Augenkontakt kann vielen Frauen bei der Bewältigung dieser Lage helfen.

Trotzdem wäre zu überlegen, ob eine Maske wirklich sein muss. Einige Frauen berichteten mir,

dass sie nur einen Schaumstoffstöpsel in der Nase gehabt haben.

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8.7 Der Vater im OP

Obwohl nicht immer erwünscht, begleiten mittlerweile viele Väter ihre Frauen in den OP. Die

Paare sind allerdings in der Regel nicht darauf vorbereitet, dass sich die Anwesenheit des Vaters oft

nur auf wenige Minuten erstreckt, sofern im Vorfeld nichts anderes ausgemacht wurde.

Alle Studienteilnehmerinnen, die in PDA entbunden haben und deren Männer im OP anwesend

waren, berichteten, dass sie sich sehr allein fühlten, nachdem der Vater, das Baby und die Heb-

amme den OP verlassen hatten. Bei einigen stellte sich das Gefühl ein, dass niemand mehr Inter-

esse an ihnen habe. Insofern halte ich es für wichtig entweder die Familie nicht sofort wieder zu

trennen oder weiter engen Kontakt zur Frau zu halten, nach ihrem Befinden zu fragen oder einfach

die Hand zu halten.

Während meiner Hospitation habe ich diesen Part fast immer übernommen, was ohne Ausnahme

mit großer Dankbarkeit angenommen wurde. Wollte ich einmal aufstehen, um nach dem Baby zu

schauen, um die Frau über den Stand der Dinge zu informieren, wurde ich in der Regel festgehal-

ten. Viele Frauen legten den Kopf in Richtung meines Armes. Das hat mir verdeutlicht, wie viel

Halt die meisten Frauen in dieser Situation benötigen.

Als sehr schlimm wurde von den Frauen empfunden, wenn ihr Kind nach der Geburt einfach weg-

getragen wurde, ohne ihnen gezeigt zu werden. Dies war immer Anlass zu großer Sorge.

8.8 Unmittelbar nach der Sectio

Unmittelbar nach der Sectio fühlen sich manche Frauen einfach nur erleichtert und „vollkommen

fertig“. Die durchlebte Spannung kann sich in starkem Zittern äußern, was den ersten Kontakt zum

Neugeborenen erschwert.

Wenn die Mutter ihr Kind nicht selbst halten kann oder will, sollte sie zumindest so positioniert

werden, dass sie ihren Partner und ihr Kind sehen kann. Oft benötigt die Frau, je nach gewählter

Anästhesiemethode, längere Zeit, bis sie mit ihrem Mann und dem Kind sprechen oder körperli-

chen Kontakt aufnehmen kann.

Auf jeden Fall sollte dem Paar ein ruhiges Zimmer zur Verfügung gestellt werden, welches eine

intime Atmosphäre bei gleichzeitig guter Überwachungsmöglichkeit gewährt.

Viele Frauen frieren nach der Sectio. Hier könnte ein durch mehrere Decken vorbereitetes und mit

Wärmflaschen angewärmtes Bett Abhilfe schaffen.

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8.9 Im Wochenbett

Nach einer Sectio bleibt die Frau in der Regel zwischen 5 und 8 Tagen im Krankenhaus. Durch die

Folgen der Operation nimmt sie zumindest in den ersten Tagen die Rolle der passiven Patientin ein,

die der Pflege und der Unterstützung durch das Personal bedarf.

Die Studienteilnehmerinnen machten im Wochenbett sehr unterschiedliche Erfahrungen: Während

die Hälfte sich zufrieden über Pflege und Betreuung auf der Wochenstation äußerte, erlebte die

andere Hälfte diese Zeit als zusätzliche Belastung.

Diejenigen Frauen, die sich gut betreut fühlten, erlebten menschliches Interesse und Anteilnahme.

Nahezu alle berichteten darüber, dass manchmal einfach eine Schwester nur zum Sprechen ge-

kommen wäre, ohne Grund und ohne besondere Aufgabe. Das habe ihnen das Gefühl vermittelt als

Mensch wahrgenommen zu werden und ihrer Seele sehr gut getan.

Die anderen Frauen berichteten über Gegenteiliges: Sie drückten die Sehnsucht nach einem Men-

schen aus, der ihnen in der Krise beisteht, mit dem sie über ihr Erleben sprechen können, der ein

Ohr für sie hat. Stattdessen erlebten sie „Gegenüberlosigkeit“ und fühlten sich übersehen, nicht

wahrgenommen, störend, vergessen und nicht wichtig. In der Folge blieben sie mit ihrem Erleben

allein und zogen sich immer mehr in sich selbst zurück.

Gute Pflege aus Patientinnensicht bedeutet im Wochenbett:

Keine Trennung von Mutter und Kind

Die meisten Mütter möchten nicht von ihrem Kind getrennt werden. Leider ist komplettes Roo-

ming-in nach einer Sectio selten möglich. Häufig wird der Mutter angeraten ihr Neugeborenes doch

zumindest nachts ins Säuglingszimmer zu geben.

Viele Frauen geben diesem Drängen trotz gegenteiligem Gefühl nach, da sie wissen, dass sie am

Anfang weder in der Lage sind, ihr Kind allein aus dem Bett zu nehmen geschweige denn, allein zu

versorgen. Für jede Hilfestellung und vor allem zum Stillen muss die Unterstützung des Personals

in Anspruch genommen werden. Dies fällt den meisten Frauen sehr schwer, so dass sie sich lieber

den Wünschen des Personals fügen.

Um das Leid dieser Mütter sowie Stillprobleme zu verringern, wären folgende Konsequenzen

denkbar:

Durch die Einrichtung von Familienzimmern, die einen Aufenthalt von Vätern oder anderen prak-

tisch und emotional unterstützenden Personen zuließen, könnte das Personal von praktischer Hilfe-

stellung entlastet werden. Die Familienmitglieder könnten sich in Ruhe kennen lernen sowie erste

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Erfahrungen im Umgang mit einem Neugeboren machen, ohne auf kompetente Hilfe verzichten zu

müssen, falls sie notwendig werden sollte.

Hier verstehe ich die Rolle der Pflegenden als BeraterInnen, die für bestimmte Pflegeprobleme

hinzugezogen werden können. Gerade für Frauen und Paare, die ein hohes Bedürfnis nach Auto-

nomie und Mitbestimmung haben, könnte sich diese Lösung anbieten.

Einige Krankenhäuser haben solche Familienzimmer/Appartements räumlich von der Wochensta-

tion getrennt, so dass das hinzugezogene Personal dort zu Gast ist und sich dementsprechend ver-

halten muss.

Da jedoch die wenigsten Kliniken über Familienzimmer verfügen, deshalb Väter und andere Per-

sonen nur stundenweise anwesend sein können, bedeutet dies, dass eine Atmosphäre geschafften

werden müsste, die den emotionalen Bedürfnissen einer Wöchnerin gerecht wird.

Viele Studienteilnehmerinnen wünschten sich Fürsorge, menschliche Zuwendung und Wärme,

Anteilnahme und Feingefühl, Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit sowie ausführliche Information

und Menschen, die offen reden und zuhören können. Also eine Atmosphäre, die Frauen Mut macht

sich die Unterstützung zu holen, die sie brauchen, ohne Angst vor Zurückweisung und Ablehnung.

Ich nenne dieses Konzept „positive Bemutterung“, weil es von Pflegenden nicht nur Fach- und Be-

ratungskompetenz verlangt, sondern eine Form des Da-seins beinhaltet, die von Fürsorge und Mit-

menschlichkeit geprägt ist.

(Während meiner Hospitation und durch die Interviews erfuhr ich, dass sich einige Frauen nur von

der eigenen Mutter verstanden fühlten, da diese vor allem das Wohl ihres „Kindes“ im Auge hatte.)

Sicherheit durch Kenntnis der Abläufe und wenige Bezugspersonen

Viele Frauen fühlten sich durch Unkenntnis des Stationsablaufs und die Menge des Personals ver-

unsichert.

Hier könnte eine Eingrenzung der Bezugspersonen hilfreich sein. Pflegeorganisationsformen wie

Bezugspflege oder primary nursing könnten der Frau zu mehr Sicherheit verhelfen, da sie ihre An-

sprechpartnerInnen kennt und intensivere Beziehungen zwischen ihnen ermöglicht würden.

Die Beratung und Unterstützung durch wenige Menschen könnte auch helfen, Verunsicherungen

beim Stillen abzubauen. Einige Frauen klagten über sehr verschiedene Meinungen zu einem Still-

problem, was sie völlig verunsichert habe. Andere Frauen fühlten sich gut angeleitet. Eine Frau

berichtete über optimale Anleitung. Das bedeutete konkret: Anleitung durch eine Person, viele

Erklärungen, ein atmosphärisch sehr schön eingerichtetes Stillzimmer und die ständige Anwesen-

heit einer Schwester im Stillzimmer, die jederzeit bereit war, die Fragen der jungen Mütter zu be-

antworten und ihnen mit Tipps und Tricks zur Seite zu stehen.

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In diesem Zusammenhang stelle ich auch die grundlegende Überlegung an, inwieweit die verschie -

densten Berufsgruppen auf einer Wochenstation sinnvoll eingesetzt werden können.

Während früher die Wochenschwester für die Mutter zuständig war und die Säuglingsschwester für

das Kind, wird heute überwiegend nach dem Konzept der integrativen Wochenpflege gearbeitet.

Das bedeutet, dass die Mutter-Kind-Einheit auch in der Betreuung der verschiedenen Berufsgrup-

pen nicht mehr getrennt werden soll. Dieses Konzept bietet den Vorteil, dass die entsprechende

Pflegekraft über den Gesundheitszustand von Mutter und Kind informiert ist, aber gleichzeitig je

nach Berufsspezialisierung nicht unbedingt gleich kompetent ist.

Das kann immer wieder zu Konflikten führen, die auch die Mütter miterleben. Abhilfe würde mei-

nes Erachtens der alleinige Einsatz von Hebammen auf einer Wochenstation schaffen. Dies ist die -

jenige Berufsgruppe, die sowohl für die Bedürfnisse und Erfordernisse, die mit der Pflege einer

Wöchnerin einhergehen, als auch für die Pflege und Beurteilung des Säuglings kompetent ist. Aus-

nahmen mögen Wochenstationen in Perinatalzentren darstellen, da dort Frauen mit komplizierteren

Wochenbettverläufen betreut werden.

Besonderes Feingefühl für eine Mutter, deren Kind in der Kinderklinik untergebracht ist

Wann immer möglich, sollte eine Frau zusammen mit ihrem Kind verlegt werden, da sich eine

Trennung fast immer traumatisch auswirken zu scheint.

Ist dies nicht möglich, sollte die Frau in dem Bestreben ihr Kind zu besuchen, größtmöglich unter-

stützt werden.

Eine besondere Wichtigkeit fällt der Unterstützung beim Abpumpen der Milch zu. Für viele Mütter

ist das Stillen sehr wichtig. Kann das Kind nicht bei ihr sein, möchte die Mutter, dass es wenigstens

die Milch von ihr bekommt.

Eine Frau ärgerte sich furchtbar, als man ihr eröffnete, dass die erste Milch verworfen worden

wäre, weil sie ihre Brust vor dem Abpumpen nicht desinfiziert habe. Das führte zum emotionalen

Kontaktabbruch. Gerade die Gabe der Vormilch war ihr sehr wichtig für ihr Frühgeborenes.

Fast alle Mütter von Frühgeborenen beklagten sich über fehlendes Feingefühl, was das Abpumpen

betraf. Übereinstimmend äußerten sie das Bedürfnis nach klarer Information und Anleitung sowie

dem Bedürfnis, für sich allein abpumpen zu dürfen. Die Tatsache, dass alle von ihnen im Stillzim-

mer und damit im Beisein von Müttern mit ihren „Frischgeborenen“ abpumpen sollten, führte zu

großem Unverständnis und zu Empörung.

Auch die gemeinsame Unterbringung mit Frauen, die eine problemlose Geburt und ein gesundes

Neugeborenes hatten, belastete Mütter, deren Kind in der Kinderklinik untergebracht war, sehr.

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Der Umgang mit Medikamenten

Hier wünschten sich die Mütter, dass Medikamente nicht standardmäßig verordnet werden. Viele

Frauen wollten wenige oder keine Medikamente nehmen, aus Angst ihrem Baby damit zu schaden.

Werden Medikamente verordnet, sollte die Frau vorher über Sinn und Zweck informiert werden.

Ein besonderes Thema sind Schmerzmittel. Einige Frauen beklagten, dass Schmerz- oder Leidäu-

ßerungen immer die Gabe von teils starken Schmerzmitteln oder Psychopharmaka zur Folge gehabt

habe. Keine Frau erfuhr Genaueres über Wirkung und Nebenwirkung eines Medikamentes.

Hier wäre es sinnvoll, die Frau über die Art und Intensität des Leidens zu befragen, um dann ein

geeignetes Medikament zu finden, falls dies gewünscht wird. Vor allem die Frauen, die vor der

Sectio starke Wehenschmerzen durchlitten hatten, vertraten die Ansicht, dass der Wundschmerz

einer Sectio auch ohne Schmerzmittel relativ erträglich wäre.

Einige Frauen erhielten nach der traumatischen Geburt Valium. Dies wurde von allen äußerst kri-

tisch beurteilt, da es Leiden nur um wenige Stunden verschiebe.

Unterstützung bei der Aufnahme der Mutter-Kind-Beziehung

Vor allem Mütter, die nach der Sectio noch wie einfroren wirken und tief verletzt sind, brauchen

aktive Unterstützung bei der Überwindung der Fremdheit zu ihrem Kind. Das Kind selbst auszu-

ziehen, nackt auf dem Körper zu spüren, es im Bett der Mutter schlafen zu lassen, können hilf-

reiche Maßnahmen sein.

Brigitte Meissner, eine schweizerische Hebamme, die sich mit dieser Thematik beschäftigt, schlägt

ein Ritual vor, in dem der erste liebevolle Mutter-Kind-Kontakt in einer heilenden Weise nachge-

holt werden kann. Dazu schlägt sie ein Baderitual vor, bei dem das Kind anschließend nackt und

nass auf den Bauch der Mutter gelegt wird. „Den weichen, warmen und nackten, wenn möglich

auch noch nassen, kleinen Körper ihres Babys auf ihrer Haut zu spüren, verbindet die Frau mit

tiefsten Instinkten ihrer Mütterlichkeit. (...) Eine Kaiserschnittmutter oder jede Mutter, die eine

Trennung von ihrem Baby erfuhr, kommt dadurch leichter in den Kontakt mit diesen Urinstinkten,

welche emotional eine tiefe Bedeutung haben“ (Meissner 2003: 124 f).

Unterstützung bei der Wahrnehmung des veränderten Leibes

Viele Frauen fühlen sich nach einer Sectio sehr fremd in ihrem Körper. Zum einen, weil der Bauch

plötzlich leer und schlaff geworden ist, zum anderen, weil der Unterleib zumindest in der Narben-

gegend noch taub ist.

Je nach Ursache und Verlauf der Sectio kann das Vertrauen in die Fähigkeiten des Körpers völlig

erschüttert sein. Es kann sein, dass eine Frau ihrem Körper zukünftig misstraut oder sie ihn ablehnt,

weil er sie im entscheidenden Moment im Stich gelassen hat. Dieses Gefühl scheint vor allem bei

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Müttern mit Frühgeborenen sehr ausgeprägt zu sein. Einige Frauen trauten sich nicht, ihren Bauch

nach der Operation anzufassen.

Aber auch weniger dramatische Geburtsumstände können Misstrauen und Angst zur Folge haben.

Mehrere Frauen trauten sich nicht auf die Toilette, da sie Angst hatten, beim Pressen aufzuplatzen.

In diesem Zusammenhang berichteten einige Frauen von sehr liebevoller Pflege. Sie erfuhren

sanfte Bauchmassagen mit ätherischen Ölen, um die Rückbildung der Gebärmutter zu unterstützen.

Fast immer fühlten sie sich nach einer solchen Behandlung besser mit ihrem Bauch.

Eine Frau regte an, den Rückbildungskurs durch einen Körperwahrnehmungskurs zu ersetzen.

Geburtsnachbesprechung

Fast alle Studienteilnehmerinnen äußerten das Bedürfnis nach einer ausführlichen Geburtsnachbe-

sprechung. Denjenigen, die von sich aus nach einigen Monaten im Einzelfall nach 3 Jahren ein

solches Gespräch einforderten, half es bei der Verarbeitung des Geburtserlebens.

Auch während der Interviews gewann ich manchmal den Eindruck, dass einige Frauen unser Ge-

spräch nutzten, um die Ereignisse in Ruhe nachzuvollziehen.

Ich glaube, dass dieses Nachvollziehen in emotionaler Hinsicht ein wichtiger Baustein für die Ge-

burtsverarbeitung darstellt. Insofern würde ich für jede entbindende Frau einen solchen Termin

anbieten. Der Zeitpunkt wäre variabel zu gestalten. Wegen der Organisation wäre natürlich das

Wochenbett im Krankenhaus ein geeigneter Zeitpunkt, allerdings mit dem Nachteil, dass einige

Fragen erst später auftauchen können und manchen Frauen das Geburtserlebnis noch so in den

Knochen steckt, dass sie nicht in der Lage sind, schon wenige Tage danach darüber zu sprechen.

Viele Studienteilnehmerinnen berichteten mir in diesem Zusammenhang, dass sie direkt nach der

Geburt in den ersten Wochen und Monaten ein solches Interview nicht verkraftet hätten.

8.10 Möglichkeiten zur Geburtsverarbeitung schaffen

Viele Frauen, vor allem diejenigen, die die Geburt ihres Kindes traumatisch erlebten, wünschten

sich die Möglichkeit in einem geschützten Rahmen mit anderen Frauen über ihr Erleben sprechen

zu können. Dabei standen die emotionalen Aspekte des Geburtserlebens im Vordergrund, Es wurde

aber auch die Aufklärung und Information über mögliche Folgen der Sectio gewünscht.

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8.11 Sensibilisierung für die Thematik der postpartalen Depression

Viele Frauen, die nach der Geburt in depressiv reagieren, wissen nicht, was mit ihnen los ist.

Deshalb kommt den nachsorgenden Hebammen und GynäkologInnen entscheidende Bedeutung zu,

wenn es darum geht, das Leid psychischer Störungen zu identifizieren und zu diagnostizieren.

Leider erhalten Frauen und ihre Familien durch Unkenntnis immer noch zu wenig rechtzeitige und

adäquate Hilfe in der Not.

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9 Abschließende Betrachtung und Zusammenfassung der Ergebnisse

Fast alle Studienteilnehmerinnen entwickelten in der Schwangerschaft ein relativ konkretes und

gut gegeneinander abgrenzbares Geburtsideal.

Dieses Ideal basiert auf individuell unterschiedlichen Bedeutungen, die der Geburt und dem akti-

ven Gebären verliehen werden. Es spiegelt Persönlichkeitsaspekte, Werte und konkrete Bedürfnisse

einer Frau unter der Geburt. Das Geburtsideal beinhaltet somit die individuellen Kriterien, anhand

derer die konkrete Geburtsrealität gemessen wird und es beeinflusst die Wahl der Geburtsklinik.

Gut ein Drittel der Frauen wünschte sich eine „bewusste“ Geburt. Damit verbunden ist eine inten-

sive Auseinandersetzung und Idealisierung der bevorstehenden Geburt sowie eine hohe Wertschät-

zung des aktiven Gebärens und der Hebammenhilfe.

Frauen mit diesem Geburtsideal fühlten sich mit dem Erleben der realen Geburt des (ungewollten)

Kaiserschnitts persönlich gescheitert. Alle litten unter ausgeprägten Schuldgefühlen und setzten

sich sehr mit ihrem persönlichen Versagen als Frau und Mutter auseinander.

Gut die Hälfte der Studienteilnehmerinnen strebte eine „natürliche“, instinktive Geburt an. Dieses

Geburtsideal zeichnet sich durch Offenheit in beide Richtungen aus. Auch hier wollen Frauen ihr

Kind aus eigener Kraft gebären (instinktiv) und weitgehend auf medizinische Interventionen ver-

zichten (natürlich). Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass hier ein größeres Bedürfnis

nach medizinischer Sicherheit besteht. Dem entsprechend wird auch die Sectio nicht grundsätzlich

abgelehnt, sondern akzeptiert, wenn sie notwendig wird.

Frauen dieser Gruppe neigen nicht zu einer ausgeprägten Idealisierung. Das Erleben der Geburt ist

für sie nicht unbedingt ein Wert an sich, sondern eine Notwendigkeit, wenn man sich ein Kind

wünscht. Schmerzen werden in Kauf genommen, aber nicht als Herausforderung für persönliche

Selbsterfahrung und Wachstum betrachtet wie in der „bewussten“ Gruppe.

Die Reaktion auf die Sectio fiel in dieser Gruppe viel heterogener aus als bei Frauen mit „bewuss-

tem“ Geburtsideal. Aber auch hier gab es Gefühle des Scheiterns, Traurigkeit und das Gefühl als

Frau versagt zu haben, manchmal auch Neidgefühle anderen Frauen gegenüber. Die meisten

Frauen konnten die Sectio akzeptieren. Einige empfanden sie als Erlösung. Das waren diejenigen,

die größere Angst vor dem Wehenschmerz geäußert hatten.

Auffällig ist, dass hier und auch in der nächsten Gruppe nur eine Frau ausgeprägte Schuldgefühle

entwickelte.

Die wenigsten Frauen wünschten sich eine (medizinisch) kontrollierte Geburt. In dieser Gruppe

wurden eher die Vorteile einer möglichen Sectio hervorgehoben. Das Erleben einer Spontangeburt

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erscheint hier eher als notwendiges und Angst machendes Übel, der Geburts- und Wehenschmerz

wird emotional abgelehnt. Frauen dieser Gruppe legen großen Wert auf Selbstbestimmung sowie

medizinische und persönliche Kontrolle. Verläuft die Geburt nach diesen Vorstellungen oder wird

die Sectio recht zügig nach Wehenbeginn durchgeführt, wird sie überaus positiv bewertet. Schwie -

rig wird die Situation dann, wenn die Frau zu einer Spontangeburt gedrängt wird, die sie nicht oder

nicht mehr will.

Die folgende Tabelle zeigt Indikatoren, die auf das zu Grunde liegende Geburtsideal schließen

lassen.

„Bewusstes Geburtsideal“ „Natürlich“ instinktives

Geburtsideal

Medizinisch „kontrolliertes“

Geburtsideal

• Idealisierung der Geburt

reflektierte und ausgiebige

Auseinandersetzung

• Frau möchte Geburt be-

wusst erleben

• Hohe emotionale Bedeu-

tung des Geburtserlebens

• Keine medizinischen Inter-

ventionen, Betreuung durch

Hebammen

• Hausgeburt, Geburtshaus

oder besonders alternative

Kliniken mit persönlichem

Ambiente, medizinische

Ausstattung nicht wichtig

• Emotionale Ablehnung der

Sectio

• Geburtsschmerz als Heraus

forderung zu persönlichem

Wachstum

• Verzicht auf Schmerzmittel

• Ausgeprägter Stillwunsch

• Keine Idealisierung der

Geburt, eher pragmatische

Einstellung

• Die Geburt soll möglichst

ungestört verlaufen

• Frau möchte ihr Kind selbst

gebären

• So wenig medizinische

Maßnahmen wie möglich,

Hebamme sehr wichtig

• Geburt in einer Klinik, die

natürliches Gebären unter-

stützt, jedoch über eine

moderne medizinische Aus-

stattung verfügt

• Keine generelle Ablehnung

der Sectio

• Keine Idealisierung des

Geburtsschmerzes

• Nutzung von Schmerz-

mitteln und PDA

• Stillwunsch

• Idealisierung der Medizin

Geburt als Risiko

• Geburt soll intensiv über-

wacht werden

• Emotionale Ablehnung des

aktiven Geburtserlebens

• Angst vor Kontrollverlust

• Ärztliche Betreuung wich-

tig

• Geburt in einem Perinatal-

zentrum oder Geburtsklinik

mit hoher Geburtenzahl,

auch Belegkliniken

• Positive Bewertung der

Sectio im Vergleich zur

Spontangeburt

• Angst und negative Bewer

tung des Geburtsschmerzes

• Ausdrücklicher Wunsch

nach Schmerzerleichterung

• Stillwunsch

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Bewertungen der real erlebten Geburt

Die überwiegend negativen Beurteilungen des Geburtserlebens (Siehe Kap. 6) lassen darauf schlie -

ßen, dass die meisten Frauen dieser Studie Geburt und Wochenbett konträr zu ihrem Geburtsideal

erlebten. Wesentliche Erwartungen, Bedürfnisse und Hoffnungen schienen nicht erfüllt und viele

Frauen wurden scheinbar mit einer Realität konfrontiert, die sie weder erwartet noch für möglich

gehalten hatten. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass keine Frau aus-

schließlich negative oder ausschließlich positive Erfahrungen gemacht hat. Die folgende Tabelle

zeigt, welche Erfahrungen zu positiven, ausgeglichenen oder negativen Bewertungen geführt ha-

ben. Dabei ist die Spalte „überwiegend positiv“ eher ein Anhaltspunkt, da nur eine Frau ihr Ge-

burtserleben pos itiv bewertet hat.

Überwiegend positive

Bewertung des Geburtserle -

bens

Positiv und negative

bewertetes Erleben etwa

ausgeglichen

Überwiegend negative

Bewertung des

Geburtserlebens

• Natürliches oder kontrol-

liertes Geburtsideal

• Hohes Ausmaß an Kon-

trolle über die Situation,

Aufklärung und Mitsprache

• Intensive medizinische und

menschliche Betreuung

während invasiver Maß-

nahmen

• Klare Indikation

• Keine existenzielle Gefähr-

dung von Mutter oder Kind

• Keine Trennung von Mutter

und Kind

• Erfolgreiches Stillen

• Natürliches oder kontrol-

liertes Geburtsideal

• Ausreichende Aufklärung

und Mitspracherecht

• Ausreichende menschliche

Begleitung während invasi-

ver Maßnahmen und wäh-

rend der Entbindung

• Klare Indikation

• Notsectio wird toleriert bei

gleichzeitiger starker Für-

sorglichkeit des Partners

oder der GeburtshelferIn-

nen

• Keine Trennung von Mutter

oder Kind

• Stillen

• Bewusstes oder natürliches

Geburtsideal

• Kontrolliertes Geburts-

ideal, wenn starker Kon-

trollverlust erlebt wurde

• Keine oder nicht ausrei-

chende menschliche Be-

gleitung während invasiver

Maßnahmen und während

der Entbindung

• Unklare Indikation

• Erleben einer Notsectio

• Trennung von Mutter und

Kind (Kind in der

Kinderklinik)

• Erleben von Gewalt

• Erleben von starken Ent-

fremdungsgefühlen

• Erleben von Gegenüberlo-

sigkeit

• Stillprobleme

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Die herausgearbeiteten Faktoren decken sich im wesentlichen mit dem Risikoprofil einer potentiell

negativen Bewertung des Kaiserschnittes, welches Cynthia Mutryn nach Auswertung verschie -

denster Studien entwickelt hat (siehe auch Kap.5.1.3) (Mutryn 1993 zit. nach de Jong/Kemmler

1999: 137).

Allerdings fehlen ihrem Risikoprofil weitgehend diejenigen - im Folgenden zusammengefassten -

Erlebensdimensionen, die nicht nur zu einer negativen Bewertung der Sectio führen, sondern

zusätzlich ein traumatisch wirkendes Potential in sich tragen sowie in der Folge schwere

psychische Krisen auslösen können.

Existenzielle Bedrohung von Mutter oder Kind verbunden mit Trennung

Wenn das Leben des Kindes bedroht ist, reagieren fast alle Frauen mit Angst und Panik. Sie

geraten fast immer in einen seelischen Ausnahmezustand, der Fühlen verhindert und nur noch

lebensnotwendige Funktionen ermöglicht.

Diese emotionale Anästhesie scheint vor dem „Verrücktwerden“ zu bewahren, vor dem totalen

Zusammenbruch und hilft in dieser Situation handlungsfähig zu bleiben. Diese Fähigkeit, Gefühle

von bedrohlichen Ereignissen abzuspalten, ist jedem Menschen gegeben und stellt eine sinnvolle

Schutzfunktion der Psyche dar. Äußerungen wie „dicht machen“, „alles wie im Film erleben“ oder

sich selbst von oben zu beobachten, können Hinweise auf dissoziatives Erleben geben.

Als Folge kann eine PTBR und/oder PTBS auftreten. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass das

Erleben existenzieller Bedrohung durch intensive menschliche Zugewandtheit und Begleitung Leid

gemildert und möglicherweise seelisches Trauma verhindert werden kann.

Existenzielle Erfahrungen sind nicht vermeidbar, auch wenn in der Geburtshilfe enorme Anstren-

gungen unternommen werden, Behinderung und Tod auszuschließen.

Vielleicht ist dies der Grund, warum so viele Frauen (vor allem diejenigen, deren Kind zu früh

geboren wurde) die Schuld für ihr Versagen bei sich selbst suchen.

Intensive Schuldgefühle, dem Kind einen guten Start ins Leben verwehrt zu haben und für das Leid

verantwortlich zu sein, verbunden mit Ablehnung des eigenen Körpers bis zum Selbsthass, können

die Folgen sein. Alle Frauen, deren Kind zu früh kam, reagierten mit teils schwersten Depressio-

nen, so dass hier davon auszugehen ist, dass Mütter von Frühgeborenen eine ausgesprochene Risi-

kogruppe darstellen, die Geburt und die Umstände, die sie begleiten, schlecht verarbeiten zu kön-

nen.

Fatalerweise betrifft die emotionale Starre, die mit einer Depression einhergeht, nicht nur die Frau

selbst, sondern sie beeinflusst auch die Beziehung zum Kind nachhaltig. Gerade Frauen, die ausge-

sprochene Wunschkinder erwarteten und sich stark mit der Geburt auseinandergesetzt hatten (be-

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wusstes Geburtsideal) litten unter enormen Schuld- und Schamgefühlen, weil sie sich nicht über ihr

Kind freuen konnten und es ihnen fremd war. Die meisten Frauen schaffen es nach einiger Zeit die

Fremdheit zu überwinden, andere können die „verlorene“ Anfangszeit nie mehr ausgleichen. Letz-

teres betrifft vor allem diejenigen Frauen, die ihr Kind erst nach einigen Tagen sehen konnten.

Das Erleben von Gewalt

Erlebte Gewalt in der Geburtshilfe kann sich sowohl durch unpassende, abwertende und beschuldi-

gende verbale Äußerungen äußern als auch durch grobe vaginale Untersuchungen sowie die Frau

übergehende Entscheidungen.

Erlebte Gewalttaten werden als Beziehungstaten erlebt. Das bedeutet: Es gibt Täter, die Macht

ausüben und Opfer, die sich ohnmächtig fühlen und Handlungen über sich ergehen lassen

(müssen). Gewalt verletzt die Seele eines Menschen zutiefst und hinterlässt Spuren: Depressionen,

Angst, Alpträume, Entfremdungsgefühle sowie Schuld- und Schamgefühle quälen die betroffenen

Frauen oft noch lange Zeit nach der Entbindung und stören die Lebensqualität und Beziehungen in

der Familie empfindlich.

Das destruktive Potential, das erlebte Gewalt beinhaltet, entfaltet sich im Vertrauensverlust in die

eigenen Fähigkeiten sowie im Kontakt mit anderen Menschen. Häufig sind auch eine Trennung von

Denken und Fühlen sowie Erinnerungslücken. Dissoziative Symptome, wie diese Phänomene in

der Fachsprache genannt werden, können, wenn sie über längere Zeit bestehen bleiben, zu starken

Entfremdungsgefühlen sich selbst oder anderen gegenüber führen und/oder in einer posttrau-

matischen Belastungsstörung enden.

Zumindest eine Frau zeigte die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die akute

traumatische Belastungsreaktion mit dissoziativen Symptomen fand sich wesentlich häufiger. Fast

alle Frauen, die per Notsectio von ihren Kindern entbunden wurden, litten darunter, aber auch

Frauen, die große Angst vor medizinischen und invasiven Eingriffen hatten.

Gegenüberlosigkeit

Frauen, die kein menschliches Gegenüber erlebten, fühlten sich als Objekt auf den Körper redu-

ziert. Die Seele, die eigene Geschichtlichkeit außen vor und nicht beachtet. Das Erleben, nur (phy-

sisch) versorgt, aber als Mensch überhaupt nicht gesehen zu werden, scheint mit Gefühlen von

starker Einsamkeit und Verlassenheit einherzugehen. Die Frau fühlt sich Mutter-seelen-allein; ihre

Fragen münden im Nichts. Schlimmstenfalls verliert sie den Kontakt zu sich selbst. Dieser Zustand

des Inneren-Eingeschlossen-Seins wird wahrscheinlich noch durch die Gabe von Tranquilizern und

Opiaten verstärkt, da diese die ohnehin veränderte Wahrnehmung des Körpers und der Seele nach

einer Entbindung beeinflussen können.

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Ich vermute, dass das Erleben von Gegenüberlosigkeit in der Kombination von starken (psychi-

schen) Entfremdungsgefühlen bei entsprechender Vulnerablität einer Frau zu präpsychotischen

Zustände führen kann, die mit starker Verunsicherung und Angst verbunden sind.

Zusätzlicher Schlafmangel und die rapide Hormonumstellung der ersten Tage nach der Entbindung

könnten eine Wochenbettpsychose15 manifestieren.

Glücklicherweise ist eine echte Wochenbettpsychose, die in der Regel schon einige Tage nach der

Entbindung beginnt, selten. Sie bedarf allerdings immer der stationären psychiatrischen Behand-

lung, weil die Sicherheit des Kindes und der Mutter gefährdet sind.

Entfremdung des Leibes

Beim Erleben dieser Dimension geht es um die Erfahrung, dass Körper und Seele getrennt vonein-

ander wahrgenommen werden. Diese Erfahrung taucht meist im unmittelbaren Zusammenhang mit

der Durchführung der Sectio auf. Die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, starkes

Zittern am ganzen Körper und die Unfähigkeit die Beine zu spüren, kann großes Unbehagen und

starke Ängste auslösen. Hier sind vor allem Frauen betroffen, deren Wahrnehmung noch nicht

durch das Erleben von starkem Wehenschmerz beeinträchtigt ist (z.B. Frauen mit primärer Sectio).

Das Gefühl, auf den Körper reduziert, als medizinisches Objekt wahrgenommen zu werden, trägt

die Erfahrung der Gegenüberlosigkeit in sich, deshalb empfinden die meisten Frauen diese Erfah-

rung seelisch als sehr schmerzhaft.

Aber nicht nur das Gefühl der Entmenschlichung kann Angst machen, sondern auch die reale Er-

fahrung, dass dieses Körperobjekt auf dem OP-Tisch festgeschnallt wird und Körperfunktionen wie

Atmung, Ausscheidung und Bewegung von fremden Menschen kontrolliert werden. Dazu kann die

Angst kommen, bei lebendigem Leibe und vollem Bewusstsein aufgeschnitten zu werden. Die La-

gerung auf dem OP, gekreuzigt und in zwei Hälften zerteilt ließ bei einigen Frauen Assoziationen

zur Schlachtung aufkommen.

Die Erfahrung der totalen Kontrolle durch fremde Menschen trägt ein Potential von Gewalt in sich.

Die Frauen, die wenig menschliche Zuwendung während der OP und deren Vorbereitung erhielten,

fühlten sich in diesen Momenten wie ein „Vieh auf der Schlachtbank“.

15 Psychotisches Erleben wird laut DSMIII als schwere Beeinträchtigung der Realitätskontrolle beschrieben. Postpartal können drei verschiedene Formen psychotischen Erlebens unterschieden werden: 1.Die manische Psychose, verbunden mit starker Antriebssteigerung, motorischer Unruhe und Wahnvorstellungen. 2. Die depressive Psychose mit extremen Angstzuständen sowie Antriebs-, Bewegungs- und Teilnahmslosigkeit. 3. Die schizophrene Psychose einhergehend mit Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Antriebsarmut. Diese schwerste nachgeburtliche Krise betrifft etwa eine von 1000 Frauen.

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Dieses Erleben der totalen Abhängigkeit, der Entfremdung des Leibes während der OP lässt sich

wahrscheinlich nicht vermeiden. Die Wirkungen dieses Erlebens können meiner Ansicht nach nur

durch menschliche Bezogenheit während der OP gemildert werden. Frauen, die ihre Geburtser-

fahrung nicht negativ beurteilt haben, wurden während der OP häufig intensiv von den Anästhesis-

tInnen betreut.

Frauen, die keine solche Bezogenheit erfuhren, neigten in der Folge zu unangenehmen und frem-

den Körperempfinden. Teilweise brauchten sie sehr lange, um ihren (Unter)leib wieder zu spüren.

Bei Betrachtung der Folgen von traumatischem Erleben wird verständlich, warum sich viele Frauen

nach dieser Erfahrung so schwer tun, ein weiteres Kind zu bekommen. Selbst wenn ein starker

Auseinandersetzungsprozess stattgefunden hat und die Mutter sich mit dem Scheitern und ihren

ambivalenten Gefühlen aussöhnen konnte, bleibt oft eine existenzielle Verunsicherung und Angst

vor einer erneuten Schwangerschaft zurück.

Die Frau hat am eigenen Leibe erfahren, dass vermeintliches Unglück nicht nur andere betrifft,

sondern sie selbst zu jeder Zeit gefährdet sein kann.

Eine Frau, die ich während meiner Hospitation im Kreissaal begleitete, sagte nach einer - mit le-

bensgefährlichen Komplikationen einhergehenden - Sectio, die Bluttransfusionen und einen Auf-

enthalt auf der Intensivstation nötig machte: „Ich wusste ja, dass ein Kaiserschnitt relativ sicher ist

und trotzdem wäre ich fast gestorben.(...) Es kann mir jederzeit wieder so gehen. Ich fühl´ mich

nicht mehr sicher. Wer sagt mir denn, dass in der Bluttransfusion keine AIDS-Erreger waren?“

Resümee

Das Erleben eines Kaiserschnittes kann eine sehr traumatische Erfahrung für eine Frau sein. Be-

sondere Risikofaktoren scheinen insbesondere ein bewusstes Geburtsideal, das Erleben einer

existenziell bedrohlichen Situation, das Erleben von Gewalt, Trennung von Mutter und Kind

aufgrund von Frühgeburtlichkeit, das Erleben von starken Entfremdungsgefühlen und das Erleben

von Gegenüberlosigkeit zu sein.

Besonders destruktiv scheint sich dabei die Kombination von existenzieller Bedrohung - verbunden

mit Trennung - und Gewalt, sowie die Kombination von Gegenüberlosigkeit und Entfremdungs-

gefühlen auszuwirken.

Existenzielle Bedrohung verbunden mit Gewalt scheint eher in Depressionen und traumaspe-

zifische Erkrankungen zu münden, während ich vermute, dass das Erleben von Entfremdung und

Gegenüberlosigkeit zur Manifestation einer Wochenbettpsychose führen kann.

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Ich habe gezeigt, dass eine traumatische Kaiserschnittentbindung schwerwiegende Auswirkungen

auf die subjektive Lebensqualität einer Frau sowie auf die Beziehungen zu ihrem Kind und zu

anderen Menschen haben kann.

Psychische Störungen wie die postpartale Depression und die Posttraumatische Belastungsre-

aktion, die als Folge traumatischen Erlebens aufzutreten können, bedeuten großes Leid für die

Mütter und ihre Familien.

Da nicht gefühltes Mutterglück, ambivalente Gefühle dem Kind gegenüber und das dauerhafte

Leiden an den Erfahrungen, die mit der Entbindung einhergingen, gesellschaftlich tabuisiert sind

und jenseits aller Idealvorstellungen liegen, treten häufig sehr heftige Schuldgefühle auf. Der

Gedanke, eine schlechte Mutter zu sein und dem eigenen Kind zu schaden, kann die Frau in einen

Kreislauf von Schuld, Selbstentwertung und Depression führen. Sie mag die Vorstellung

entwickeln, dass es besser für ihr Kind sei, eine andere Mutter zu haben.

Auf das Erleben und Aushalten solcher Gefühle sind vor allem Erstgebärende in der Regel nicht

vorbereitet. Große Scham und die Vorstellung, nicht „richtig“ zu sein, kann die Frau von anderen

Menschen isolieren und dazu führen, dass sie sich niemandem gegenüber offenbart.

Im Extremfall geht die Depression so weit, dass Suizidgedanken auftreten und die Mutter ihrem

Leben - und manchmal auch dem Leben ihres Kindes - ein Ende setzen möchte.

Menschen in unmittelbarer Nähe mögen das Leid spüren, doch auch sie sind in der Regel

hoffnungslos überfordert und wissen nicht, wie sie helfen sollen oder an wen sie sich wenden

können, um die dringend benötigte Hilfe zu erhalten.

Selbst, wenn es gelingt, die Frau davon zu überzeugen, dass ihr Leid einen Namen trägt, häufiger

auftritt als gemeinhin angenommen und zu behandeln ist, vergeht oft lange Zeit bis kompetente

professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden kann.

Viele Hebammen und Gynäkologen, die Frauen im Wochenbett betreuen, sind unsicher, was das

Stellen der Diagnose einer psychischen Erkrankung angeht. Da auch sie häufig keine Fachleute

kennen, die sich mit dieser Thematik auskennen bzw., die auf die Behandlung solcher Störungen

spezialisiert sind, vergeht oft wertvolle Zeit bis die Frau Hilfe und Behandlung erfahren kann.

Leider werden nach wie vor die meisten psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit

Schwangerschaft und Geburt nicht rechtzeitig erkannt. Dies kann eine Chronifizierung der Störung

zur Folge haben, die ein Leben lang anhält.

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Aus diesen Schilderungen ergeben sich für mich folgende Konsequenzen:

1. Psychische Störungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sollten Inhalt der

Ausbildungs- und Weiterbildungscurricula von Hebammen und GynäkologInnen sein.

2. Fachleute, Ehrenamtliche und die wenigen öffentlichen Stellen, die sich mit dieser Thematik

beschäftigen und auskennen, sollten untereinander vernetzt werden. Sie sollten sowohl Hebam-

men und GynäkologInnen beraten als auch betroffene Frauen und ihre Familien.

3. Potentiell traumatisierende Erlebensdimensionen, also Risikofaktoren für psychisches Leid,

sollten nach Möglichkeit im Zusammenhang mit der Entbindung vermieden werden.

Nicht alle, dieser Risikofaktoren, lassen sich von „außen“ durch GeburthelferInnen beeinflussen.

Dies gilt vor allem für die Werte, die einem bestimmten Geburtsideal zu Grunde liegen können, als

auch für die Bedeutungen, die Frauen dem Akt des Gebärens zuschreiben. Dies gilt ebenfalls für

die individuelle Vulnerabilität einer Frau und die ihr zur Verfügung stehenden Bewältigungs-

mechanismen. Diese Risikofaktoren lassen sich bestenfalls identifizieren und legen eine achtsame

Beobachtung der Frau im Anschluss einer Sectio nahe.

Leider entziehen sich auch existenziell bedrohliche Ereignisse während einer Entbindung - und die

häufig damit einhergehende Trennung von Mutter und Kind - der vollständigen Kontrolle durch

professionelle GeburtshelferInnen. Das bedeutet: Maßnahmen, die aufgrund einer lebensbedroh-

lichen Gefährdung von Mutter und/oder Kind medizinisch indiziert sind, werden auch im Rahmen

einer noch so gut vorbereiteten und überwachten Entbindung, immer durchgeführt werden müssen.

Diese oft invasiven medizinischen Handlungen werden von vielen Frauen belastend, jedoch nicht

zwingend traumatisierend erlebt. Hier scheint der Kontext und die menschliche Bezogenheit, die

diese Handlungen begleiten, entscheidend zu sein.

Anders ausgedrückt: Je belastender eine Maßnahme wirken kann, je mehr sie die Leibgrenzen einer

Frau verletzt und desto mehr sie von dem Geburtsideal einer Frau abweicht, desto größer sollte die

menschliche Bezogenheit sein, die sie begleitet.

Erfährt eine Frau diese Bezogenheit und Achtsamkeit nicht, können an sich wohl gemeinte und

medizinisch indizierte Maßnahmen gewalttätig, verletzend und als die Menschenwürde herabset-

zend erlebt werden.

Es ist also von entscheidender Bedeutung, wie etwas getan wird und nicht nur, was getan wird.

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Bewertung der Ergebnisse

Das Ziel dieser Studie war die Exploration des Erlebens von Frauen, die von ihrem ersten Kind per

Sectio entbunden wurden. Ein besonderes Gewicht kam der Erforschung derjenigen Erlebensdi-

mensionen zu, die traumatisches Potential beinhalten.

Da diese Studie die subjektive Wirklichkeit der betroffenen Frauen fokussiert, erschien mir ein

qualitativer Forschungsansatz der geeignetste Zugang zu sein. Meine Gesprächspartnerinnen soll-

ten die Möglichkeit haben, ihre subjektive Perspektive, ihr Erleben und Deuten von Situationen

darstellen.

Deshalb nutzte ich ein qualitatives Untersuchungsverfahren (halbstandardisiertes Interview), wel-

ches auf eine Expertenposition des Forschers verzichtet und davon ausgeht, dass die befragte Per-

son in der Lage und Willens ist, Auskunft zu geben.

Da aber eine ausführliche Exploration des Erlebens stark von der Fähigkeit zu Selbstbeobachtung

und Verbalisierung der Studienteilnehmerinnen abhängig ist, schließt die Studie den Erfahrungs-

schatz solcher Frauen aus, die sich weder in der Lage fühlen, ihr Erleben zu reflektieren noch die -

ses verbalisieren können (siehe auch Sprachlosigkeit).

Reflexive und verbale Fähigkeiten gehen häufig mit höherem Sozial- und Bildungsniveau einher,

wahrscheinlich ist dies der Grund, warum viele (11 von 19) Akademikerinnen an der Studie teil-

nahmen. Die meisten anderen Teilnehmerinnen arbeiteten in sozialen oder medizinischen Berufen,

welche ebenfalls kommunikative und reflexive Fähigkeiten voraussetzen.

So stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse dieser Studie auch z.B. auf junge Frauen mit niedrigem

Sozial- und Bildungsniveau übertragen werden könnten, oder ob in dieser Personengruppe

grundsätzlich andere Geburtserfahrungen vorkommen.

Ein weiterer interessanter Aspekt der Untersuchung ist, dass diejenigen Frauen, die sich zur Teil-

nahme an der Studie bereit erklärten, im Erstkontakt am Telefon häufig nicht erwähnten, dass sie

ihr Geburtserleben negativ bewerteten. Deshalb vermutete ich anfangs, dass positiv und negative

Bewertungen im Sample ausgeglichen seien. Diese vermutete Tatsache war erwünscht, da ich so-

wohl Interesse an der Schilderung positiver als auch negativer Erfahrungen hatte. Ich beabsichtigte,

einen Vergleich zwischen so genannten „Idealtypen“ und „Kontrastfällen“ (Flick, 1998: 255) her-

zustellen, um konkret herauszuarbeiten, welche Faktoren zu positivem, ausgeglichenem oder ne-

gativem Geburtserleben führen.

Dies ist mir nur bedingt gelungen, da nur ein „Fall“(siehe Anhang) ausschließlich positiv bewertet

wurde. Diese Einseitigkeit stellte sich allerdings erst nach dem Abschluss der Interviews heraus, so

dass in Folge versucht werden müsste, weitere Frauen zu finden, die ihr Geburtserleben per Sectio

ausschließlich positiv bewerten.

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Mir ist nicht klar, warum Die Studienteilnehmerinnen ihr Erleben am Telefon positiver darstellten

als später im Interview. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass für das Teilen sehr

schwieriger Erfahrungen ein Vertrauensverhältnis Voraussetzung ist, welches sich erst in der kon-

kreten Interviewsituation einstellte. Mehrere Frauen erzählten mir nach Abschluss der Gespräche,

dass sie teilweise erst im Interview entschieden hätten, mir bestimmte Dimensionen des Erlebens

zu schildern und dies vom Grad der empfundenen Sympathie abhängig gemacht hätten.

Ein anderer Grund das Geburtserleben erst positiver darzustellen könnte die Anpassung an gesell-

schaftliche Normen sein. Da eine Sectio in den Medien als auch im Diskurs häufig bagatellisiert

wird, nehmen manche Frauen ihre Gefühle vielleicht nicht Ernst, weil sie glauben, dass diese nicht

angemessen seien.

Weiterhin könnte sich das positiv geschilderte Erleben konkret auf die Durchführung der Sectio

bezogen haben und das Erleben davor, wurde von den Frauen als nicht relevant für mein

Forschungsinteresse erachtet.

Da bei der Auswertung der Daten sehr viel problematisches Erleben auftauchte, passte ich mich

dieser Sachlage während des Forschungsprozesses an. Deshalb fokussierte ich traumatische

Aspekte, obwohl dies anfangs nicht beabsichtigt war (Anmerkung: was sich auch im Titel dieser

Arbeit zeigt).

Da sich meine Vermutung bestätigt hat, dass traumatisches Erleben im Zusammenhang mit der

Entbindung per Sectio sowohl das subjektive Befinden der Frau als auch die Beziehung zu ihrem

Kind längerfristig stark beeinträchtigen kann, besteht meines Erachtens Bedarf, weitere Studien zu

diesem Themenkomplex zu initiieren.

Ferner vermute ich, dass die Ergebnisse dieser Studie größtenteils auch auf Entbindungen, die nicht

per Sectio beendet werden, übertragbar sind. (Manche Frauen erlebten die schließlich durch-

geführte Sectio als Erlösung von traumatischem Erleben). Auch dieses wäre in weiteren Studien zu

überprüfen.

Möglicherweise ist die gesteigerte Nachfrage nach einer Sectio ohne medizinische Indikation bei

Mehrgebärenden unter anderem eine Folge traumatischen Erlebens bei früheren Entbindungen.

Ich meine, das subjektiv empfundene Leid einer Mutter nach traumatischem Erleben im Zusam-

menhang mit der Entbindung darf nicht persönliches Schicksal einer Frau (Familie) bleiben, son-

dern sollte aus dem Schatten des Privaten durch wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs

in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden.

Dazu möchte ich mit dieser Arbeit beitragen.

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Zum Meer

Wer hat Dich geplant, gewollt

Dich bestellt und abgeholt

Wer hat sein Herz an Dich verlorn

Warum bist Du geborn

Wer hat Dich geborn

Wer hat sich nach Dir gesehnt

Wer hat sich an Dich gelehnt

Dich wie Du bist akzeptiert

Dass Du Dein Heimweh verlierst

Dass Du Dein Heimweh verlierst

Dreh Dich um, dreh Dich um

Dreh Dein Kreuz in den Sturm

Wirst Dich versöhnen, wirst gewährn

Selbstbefreien für den Weg zum Meer

Wer ersetzt Dir Dein Programm

Nur wer fallen auch fliegen kann

Wer hilft Dir, dass Du trauern lernst

Dich nicht von Dir entfernst

Dreh Dich um, dreh Dich um

Vergiss Deine Schuld, Dein Vakuum

Wende den Wind, bis er Dich bringt

Weit zum Meer, Du weißt wohin

Dreh Dich um, dreh Dich um

Dreh Dein Kreuz in den Sturm

Geh gelöst, versönt, bestärkt

Selbstbefreit den Weg zum Meer

Selbstbefreit den Weg zum Meer

Selbstbefreit den Weg zum Meer

Herbert Grönemeyer

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11. Anhang 11.1 Interviewbegleitbogen und -leitfaden

Datum: Ort: Dauer:

Name der Teilnehmerin: Geburtsdatum:

Adresse:

Telefon: Mail:

Familienstand:

Beruf und Ausbildung:

Anzahl der Kinder

Geburtsdaten der Kinder: SSW

Indikation, die zur Sectio führte:

Entbindungsklinik:

Besonderheiten während des Interviews

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1 Schwangerschaft

Schwangerschaftsverlauf

Die ideale Geburt: Wunschvorstellungen und Vorbereitung

Bedeutung des aktiven Gebärens

Auswahl der Klinik

Wissen um Komplikationen

Ängste

2 Geburtsverlauf

Warum kam es zum Kaiserschnitt

OP-Vorbereitung: Gefühle, Ängste und Bedürfnisse

OP-Verlauf: Narkoseart und Erleben der Entbindung

Nach der OP: Gefühle und Betreuung

3 Wochenbett

Betreuung und Pflege auf der Wochenstation

Schmerzen und Schmerzmittel

Stillen und Anleitung

Kontakt und Beziehung zum Kind

Konkrete positive und negative Erlebnisse auf der Wochenstation

Konkrete Veränderungswünsche

4 Information und Aufklärung

Vor der OP

Möglichkeit, die Geburt nach zu besprechen

Folgen und Konsequenzen der Sectio: Narbenpflege ect.

5 Körpergefühl während und nach der Sectio

6 Stimmung nach der Geburt

7 Bewertung des Geburtserlebens

8 Bewältigung und Integration

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9 Beziehung zum Kind

10 Qualität des Mutterseins

11 Motivation zur Interviewteilnahme

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11.2 Geburtsgeschichten

Isabelle: „Die haben mir das Kind aus dem Bauch gerissen!“

Isabelle ist 39 Jahre alt und hat Sozialpädagogik studiert. Sie arbeitet beim Kinderpflegedienst der

Stadt. Ihr Sohn ist zur Zeit des Interviews fünf Jahre alt und kam in der 32. SSW zur Welt. Die

genaue Indikation für die Sectio in Vollnarkose ist nicht bekannt. Die Ärzte vermuten eine vorzei-

tige Plazentaablösung.

Sie. beginnt ihre Erzählung in der 32. SSW. Eigentlich fertig, um ins Theater zu gehen, habe sie

plötzlich starke Schmerzen bekommen. Auf Empfehlung ihrer Hebamme begibt sie sich ins Kran-

kenhaus „(...)ich bin hingegangen mit dem Gefühl, die sagen mir jetzt, ich hab´ eine Blasenentzün-

dung und kann dann wieder nach Hause gehen, und dem war nicht so. Ich bin ins Krankenhaus

gekommen, und dann haben sie mir ein CTG geschrieben, und dann ging alles rasend schnell, also

ohne, dass man mir irgendwas gesagt hat, haben die angefangen, mich zu rasieren und für ´n OP

fertig zu machen , und mir hat immer noch keiner gesagt, was eigentlich los ist, was hier vor sich

geht (...) irgendwann kam der Anästhesist und hat gesagt, ich solle jetzt zum OP einwilligen, und

ich hab´ das aber erstmal nicht gemacht, also weil ich gemerkt hab´, es geht mir alles viel zu

schnell und hab´ ihn dann noch verärgert, weil seine Schicht zu Ende ging. Er hat gesagt, er macht

das nicht mehr mit, das Theater. (...) Und irgendwann haben sie mir gesagt, dass die Herztöne vom

Leander immer schlechter werden (...) , und dann habe ich in die OP eingewilligt, und dann ging

alles rasend schnell, dann wurd´ ich in den OP rein geschoben, ja, und als ich dann aufwachte,

hatt´ ich kein Kind mehr im Bauch, und das war für mich das Allerschlimmste (...) wenn man ein

Kind im Bauch hat und aufwacht, und das Kind ist weg, und man hat ´s aber nicht, man hat ´s nicht

gesehen und man hat ´s nicht angefasst, und es ist einfach nicht mehr da.“

Den ersten Kontakt mit ihrem Sohn 48 Stunden nach der Geburt beschreibt sie mit großer Traurig-

keit. „Und ich hab´ mich ganz schwer getan mit dem Leander, ich konnt´ mich überhaupt nicht

freuen über dieses Kind am Anfang, weil ich auch gar nicht wusste, ist es auch mein Kind. Am mei-

sten ist mir in Erinnerung, dieses Kind nicht annehmen zu können, also keine Muttergefühle für ihn

entwickeln zu können, sondern da lag ein Kind, dem ging ´s nicht gut, und ich muss es versorgen.

Das war am Anfang eher so eine mechanische Beziehung (...) und es war ganz furchtbar, weil ich

mich so auf den Leander gefreut hatte.“

Isabelle erlebt die Geburt ihres Sohnes gegen ihren Willen, ohne genau über die Notwendigkeit der

Sectio, informiert worden zu sein und ohne menschliche Anteilnahme. „Und ich denk´ auch, wenn

man eine Frau ist, die das einfach nicht möchte, dann ist ´s ein gravierender Eingriff, also ich hatte

wirklich das Gefühl, da wird mir was weggenommen, was in dem Moment noch nicht hätte raus

sollen. Das wurde mir rausgerissen.“

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Auch zur Zeit des Interviews ist nicht klar, warum die Sectio notwendig wurde. Die behandelnden

Ärzte äußern sich widersprüchlich, auch darüber, ob die Plazenta „eingeschickt“ wurde oder nicht.

Drei Jahre nach der Geburt sucht sie noch mal das persönliche Gespräch in der Geburtsklinik, aber

auch dieses Gespräch bringt keine endgültige Klärung der Sectioindikation. Sie versucht damit

abzuschließen.

Im Interview stellt sich ihr Geburtserleben auch überdeutlich dar. Kaum hatte ich das Tonband

eingeschaltet, war Leander schon geboren. Ich fühlte mich überrumpelt und fast handlungsunfähig.

Es dauerte eine Weile bis wir beide begriffen, dass das in ihrem Erleben genau so war.

Rückblickend sagt sie: „ Wenn jemand mit mir geredet hätte, wenn ´s mir jemand erklärt hätte,

dann hätt´ ich auch einwilligen können, dann hätt´ ich auch mitmachen können, aber dieses war

wirklich ganz schlimm. Es war einfach, das denk´ ich nach wie vor, menschenunwürdig (...)dieses

Ausgeliefert sein, diese Hilflosigkeit und diese Ohnmacht.“

In den folgenden Wochen fühlt sich Frau A. sehr depressiv, wie im Nebel. „Alles hat sich in mei-

nem Kopf abgespielt, meinen Körper hab´ ich gar nicht mehr wahrgenommen, außer über die

Schmerzen, aber sonst war es so, und das ist ganz schwierig auszudrücken, durch die Schuldge-

fühle, die ich mir von Anfang an, schon als ich aufgewacht bin. Was hab´ ich falsch gemacht, dass

mein Kind so früh auf die Welt gekommen ist? Dadurch hab´ ich meinem Körper überhaupt kein

Mitspracherecht mehr eingeräumt. Der hatte seine Schuldigkeit getan. Ich habe gedacht, ich habe

etwas falsch gemacht, ganzheitlich, nicht nur von meinem Körper, sondern ganzheitlich muss ich

irgend etwas falsch gemacht haben.“

Frau A. hat die Sectio körperlich gut verkraftet, aber sie leidet heute noch unter Schuldgefühlen,

ihrem Sohn wichtige Erfahrungen vorenthalten zu haben. Bis jetzt kann sie diese Erfahrung nicht

völlig bewältigen. „Ich merke es an der Trauer, jedes Mal, wenn ich darüber rede. Ich glaube diese

Traurigkeit geht nie weg. Mir hilft es nach wie vor immer wieder darüber zu reden.“

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Kathrin: „Ich bin optimal betreut worden!“

Kathrin ist 40 Jahre alt und von Beruf Hauswirtschaftsleiterin. Sie arbeitet in einem großen Kran-

kenhaus. Ihr Sohn ist zur Zeit des Interviews 3 Jahre alt und wurde in der 36 SSW wegen vorzeiti-

gem Blasensprung und Beckenendlage per Sectio in Intubationsnarkose geboren.

Kathrin berichtet von einer rundum positiven Geburtserfahrung. Sie hatte bereits ein Kind in der 10

SSW verloren und war sehr traurig darüber. Die erneute Schwangerschaft ein halbes Jahr später

verlief komplikationslos. Im 6. SSM konfrontierte ihr Frauenarzt sie mit der Möglichkeit einer

Sectio, weil sich das Kind noch nicht gedreht hatte. Schon damals erschreckte der Gedanke eines

Kaiserschnittes Kathrin nicht. „Wenn es sein muss, muss es eben sein.“

Von der Geburt hatte sie sich keine bewussten Vorstellungen gemacht, Sie wollte „das offen hal-

ten.“ Allerdings wollte sie von Anfang an nur unter PDA gebären. „Was ich wollte, war die PDA,

weil ich mir gesagt hab´, ab der Taille keine Schmerzen mehr zu empfinden, das ist doch ange-

nehm. Alles andere kriegst du mit. Du kannst dich verbal äußern. Du kannst sagen, nee, das passt

mir jetzt nicht, sorry, das ist mein Körper und nicht ihrer (...) Also es gibt wirklich Leute, die mei-

nen, der Schmerz muss sein, unbedingt, und die Frauen müssen da jetzt durch. (...) Man ist im

Krankenhaus immer ein bisschen ausgeliefert. Das ist wie beim Zahnarzt, sie unterhalten sich mit

ihm, und sie haben einen offenen Mund und sollen antworten; ja, das ist immer so ein bisschen

witzig. Und dieses totale Ausgeliefert sein, ich hab´ nichts gegen medizinisches Personal. Das Pro-

blem ist nur, wenn ich was gefragt werde, oder ich etwas möchte, kann ich mich gar nicht äußern

vor lauter Schmerz, Schmerz, Schmerz und nichts anderes, ja, wie sollen die das dann auch wis-

sen? Ich finde der Dialog klappt dann besser.“

Kathrin entscheidet sich für die Entbindung in einem Belegkrankenhaus, in dem auch ihr Frauen-

arzt belegt hat. In der 36 SSW hat sie einen vorzeitigen Blasensprung. Sie erzählt: „Es war die

Nacht einer Mondfinsternis. Das ist wichtig. 26 Kinder wurden in dieser Nacht dort geboren, und

ich war die Nummer, ich weiß nicht. Ich lag auf dem Gang, als ich kam (...) und dann wollt´ ich ja

eigentlich ´ne PDA haben, Schmerzen, nein danke. Ich hasse Schmerzen, nur keine Schmerzen.

Dabei sein ja. War alles abgesprochen, aber es war keine Zeit mehr, weil es hätte eine halbe

Stunde gedauert, das Blut zu nehmen, die PDA für mich richtig anzusetzen. Du brauchst Zeit, und

die Zeit hatten wir nicht und dann haben die gesagt, das geht nicht, wir machen ´ne Vollnarkose.

Wir haben keine Zeit mehr, das Wasser ist weg, wir müssen jetzt Gas geben. Um sechs war mein

Arzt da, und um sieben war das Kind da.“

Kathrin kann sich mühelos auf die neue Situation einstellen, sie fühlt keine Angst und vertraut der

Professionalität des med. Personals. „(...) und ich muss sagen, das schätz´ ich an so ´nem Kaiser-

schnitt, sie haben ´nen Kinderarzt, sie haben ´nen Gynäkologen, sie haben ´ne Anästhesistin und

zwei Schwestern. Das sind fünf Leute, die wirklich nur um ihr Wohl besorgt sind."

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Die Zeit auf der Wöchnerinnenstation erlebt sie optimal: „(...) ein Superkrankenhaus, eine Wöch-

nerinnenstation 1a, eine Fürsorge unwahrscheinlich, obwohl ich normalerweise mit den geistlichen

Damen so meine Probleme habe, aber von Kinderpflege haben die Ahnung (...) und in den zehn

Tagen kannst du soviel lernen und soviel mitkriegen und soviel fragen (...) Die Schwestern, das war

eine gute Mischung. Da gab ´s eine, die hat sich immer besonders liebevoll um das Essen für die

Mütter gekümmert, die andere war eine absolute Stillexpertin.“

Kathrin kennt auf Grund der eigenen Berufstätigkeit die Regeln eines Krankenhauses und akzep-

tiert sie. Sie hat Vertrauen in die menschliche und fachliche Kompetenz der Mitarbeiter, „(...)wenn

man die Grundeinstellung hat, ist alles wunderbar, ihr helft mir hier, dann ist man ganz offen, ist

nicht ängstlich und verspannt (...) die erklären ´s dir auch (was sie machen), aber man muss auch

auf die Leute ein bisschen zugehen.“

Die Schwestern vermitteln ihr ein Gefühl von Sicherheit und „bemuttern“ sie in einer Weise, die

ihr hilft Verantwortung für das Kind und sich selbst abzugeben, aber trotzdem entscheidungs- und

handlungsfähig zu bleiben „(...) und da haben mich die Schwester und die Hebamme angespro-

chen, von sich aus, und haben gemeint, wir wollen ihnen nicht reinreden, aber wollen sie nicht mal

eine Nacht durchschlafen, dann haben sie auch am nächsten Tag richtig Kraft, und das ist auch für

den Milchfluss besser. Setzen sie mal eine Nacht aus, und morgens rufen wir sie gleich. (...) Und

nach dieser einen Nacht, da ging dann alles viel besser. Ich hatte wieder mehr Kraft. Sie sehen ja

das sind Leute, die haben Ahnung, und dann muss ich mich auch mal fügen und sagen, die wissen

das, und die wissen warum die mir das jetzt sagen, ja, und das konnt´ ich gut annehmen.“

Rückblickend ist Kathrin. froh, dass sie die „normale Geburt ganz groß umschifft“ hat. „Es ist

nicht so, dass ich glaube, dass mir da irgendetwas fehlt (...) und ich sag´ ihnen, ich bin meinem

Sohn dankbar, dass er sich nicht mehr gedreht hat. Ich bin froh, dass es ´ne PDA gibt, und ich

begreif´ nicht warum man jemanden quälen muss, dadurch zu gehen.“

Frau F. erzählt ihre Geburtserfahrung sehr überzeugend. Ich bin beeindruckt von der klaren Argu-

mentation.

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Marianne: „Traumatisch war nicht der Kaiserschnitt, sondern der Wehenschmerz davor!“

Marianne ist 40 Jahre alt und hat Bio logie studiert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Angestellte.

Ihre Tochter ist zur Zeit des Interviews 7 Monate alt und kam per Sekundärer Sectio auf die Welt.

Marianne beginnt ihre Erzählung so: „Vielleicht generell zum Kaiserschnitt, wollt´ ich vorab sa-

gen, dass das für mich eigentlich nie ein Problem war, auch vor der Geburt nicht. (...) Es war so-

gar so, weil ich ein Schisser bin, was Schmerzen angeht, hab´ ich gedacht, ha, so unangenehm

kann das vielleicht auch nicht sein. Man geht dahin. Du kriegst ´ne Betäubung und gut ist. (...)

Also, es war für mich keine Horrorvision, das Kind kommt per Kaiserschnitt. Dazu bin ich irgend-

wie zu naturwissenschaftlich geprägt. Das nur vorab“

Nach problemloser Schwangerschaft setzen in der 40. SSW die Wehen ein. Zuerst läuft alles gut,

der Muttermund öffnet sich für eine Erstgebärende recht schnell, doch irgendwann werden die

Schmerzen unerträglich „(...) und das ging dann schon den ganzen Samstag (...) und irgendwann

war ´s so, dass der Muttermund dann schon ganz offen war und alles prima, und ich hab´ dann

aber irgendwie schon die Krise gekriegt und hab´ gemeint, ich halt´ das nicht mehr aus. Ich will

jetzt irgendwie eine Betäubung haben oder ein Schmerzmittel. Dann nee, nee, bräucht´ ich nicht,

kein Thema. Das kommt jetzt demnächst und dann war auch Schichtwechsel und bis der Anästhe-

sist kommt mit der PDA, das dauert viel zu lange, auch bis es wirkt, und dann ist das Kind schon

längst da. Und es tat sich nichts und es tat sich nichts (...), dann haben sie versucht über bestimmte

Stellungen den Kopf von der Carla in die richtige Position zu drehen, und ich weiß nicht genau,

was dann da war. Ich war schon jenseits von Gut und Böse (...) ich hab´ das nur so halber im Tran

mitgekriegt, und es war mir in dem Moment auch völlig wurscht.“

Die Wehen lassen nach. Per Wehentropf „soll noch mal so richtig Speed gemacht werden“, Mari-

anne erhält jetzt die PDA und fühlt sich etwas besser. Trotz Wehentropf rutscht Carlas Kopf nicht

in Geburtsposition, so dass die Entscheidung zum Kaiserschnitt fällt. Für Marianne eine Gnade.

„Also mein Problem war, also als Geburtstrauma sozusagen (...), dass ich nicht klar kam mit den

Schmerzen, also das war für mich ganz schlimm. Und ich hab´ mich gefragt (...) muss das so sein?

Kann man da nicht früher reagieren. Kann man nicht früher anfangen mit ´nem Kaiserschnitt? Ich

hab´ gedacht, was muss man die Leut´ so lang quälen.“

Die Vorbereitung zur OP beschreibt sie so: „Ich war dann auch so fix und fertig (...) und hatte da

auch das erste Mal Angst, ja ich war völlig hinüber, war nur noch am Zittern und konnte nicht

aufhören. Irgendwann hat das Zittern dann aufgehört. Ich weiß nicht, was sie mir da gegeben ha-

ben (...), aber ich hatte ein mulmiges Gefühl, die Vorstellung bei lebendigem Leib den Bauch auf-

geschnitten zu kriegen (...). Da war die Angst, die Betäubung wirkt nicht.“

Die Anästhesisten können Frau L. die Angst nehmen, die Stimmung im OP ist ruhig und ange-

nehm. Tochter Carla wird ohne Komplikationen geboren und der Mutter nach 10 Minuten kurz an

die Wange gehalten und dann weggetragen. „Das einzige was ich schlimm fand, also wirklich

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schlimm, man hört sie dann brüllen, aber ich seh´ nichts. Ich lag´ da hinter dem grünen Ding da,

und man liegt da, und man sieht das Kind nicht und weiß nicht, und das war schrecklich (...). Die

machen dann irgendwelche Sachen und waschen sie und wiegen sie, aber man hat das nicht gese-

hen. Man kriegt sie nicht blutig in Tücher gewickelt, sondern erst gesäubert, gereinigt und gestylt.“

Positiv empfindet sie, dass sie sofort nach der OP stillen kann, dennoch bleibt ein paar Tage ein

Fremdheitsgefühl ihrer Tochter gegenüber. „Es war nicht vorstellbar. Wie, das ist jetzt meins und

das ging auch noch ein paar Tage danach so. (...) Vielleicht ist das auch typisch für einen Kaiser-

schnitt, weil man ja nicht sieht wie es rauskommt, dass da was fehlt. (...) Ich hatte erwartet, es muss

irgendwie ein absolutes Glücksgefühl einen überkommen, was man noch nie in seinem Leben ge-

fühlt hat. Aber das war nicht der Fall.“

Die Pflege und Betreuung auf der Wochenstation erlebt Marianne befriedigend, aber die Hilflosig-

keit und die Abhängigkeit, die mit einem Kaiserschnitt verbunden sind, machen ihr zu schaffen.

Im Rückblick auf die Geburtserfahrung sagt sie im Interview: „Es war der reinste Horrortrip.“ Sie

fühlte sich trotz Geburtsvorbereitungskurs überhaupt nicht vorbereitet. „Man hatte es schon gern,

dass einen jemand vorbereitet und sagt: ‚Mach dich da mal auf einiges gefasst. Das macht ja auch

die Hebamme nicht, die will ja die Schwangeren nicht erschrecken.’ (...) Die (Hebamme) sagt:

‚Man muss die zulassen und muss sich von Wehe zu Wehe, muss auf Aaaaa ausatmen und so’, und

ich hab´ dann während der Wehen gedacht, so ´n Scheiß, nützt sowieso nichts (...) am Anfang, da

konnt´ ich noch ein paar Sachen umsetzen, und dann hab´ ich nur noch gedacht, ich will hier weg.

Ich will davonlaufen von dem Ganzen, und ich will das nicht mehr (...). Und ich hab´ getobt und

geflucht und was weiß ich nicht noch und gebrüllt, und ja, musste das sein?“

Marianne erzählt ihre Geburtserfahrung mit einer gehörigen Portion Selbstironie. Kann auch im

Interview noch nicht fassen, wieso sie so die Kontrolle verloren hat.

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Martina: „Ich kann das nicht verarbeiten, weil es so existenziell war.“

Martina ist 36 Jahre alt und von Beruf Verwaltungsfachangestellte. Seit der Geburt ihres ersten

Kindes ist sie Hausfrau.

Zur Zeit des Interviews sind ihre Kinder 9, 6 und ein gutes Jahr alt. Alle drei kamen per Kaiser-

schnitt auf die Welt.

Luisa, die erste Tochter, wurde in der 34. SSW per Notkaiserschnitt wegen drohendem Kindstod

entbunden. Im vierten Schwangerschaftsmonat hatte Martina Blutungen bekommen und war dau-

erhaft krankgeschrieben worden. Mit einer Frühgeburt hatte sie aber nicht gerechnet. Luisa war

allerdings auf dem Ultraschall schon immer etwas zu klein gewesen.

Als Martina sich in der Entbindungsklinik vorstellte und dort ein Ultraschall durchgeführt wurde,

riet der Arzt ihr zu einer Doppleruntersuchung. „(...) Und dann wurde die Miene immer ernster von

dem Arzt, und dann hat er gesagt: ‚Ihr Kind kommt heut` noch, das kriegt schon seit Tagen keine

Nahrung mehr und muss sofort geholt werden.’ Wir waren total weg und ich weiß noch wie ich

gesagt hab: ‚Ich kann heut´ nicht. Ich muss auf einen Geburtstag.’

Es war dann ein Notkaiserschnitt, Vollnarkose, und als ich aufgewacht bin, war das Kind weg, und

so ist es mir dann auch gegangen. Ich war ziemlich allein (...) und dann durfte ich die Luisa erst

am 5. Tag sehen, und da hatte mein Mann schon ´ne richtig gute Beziehung aufgebaut, und ich

überhaupt nicht. Und es war dann so, als ich reinkam (beim ersten Besuch in der Kinderklinik),

dass ich unter der Tür eigentlich wieder gehen wollte, als ich den Brutkasten gesehen hab´. Sie war

nur 1300 gr. schwer und es war ein schrecklicher Anblick und mein Mann hat mich dann wieder

rein genommen und sie hat die ganze Zeit geschlafen. Sie hat mich keines Blickes gewürdigt und

ich war ganz enttäuscht.“

Martina erholt sich bald von der OP, die Mutter-Tochter-Beziehung wird nie so eng wie sich Mar-

tina das gewünscht hätte.

Die Schwangerschaft mit dem zweiten Kind verlief unproblematisch, allerdings wurde im 7.SSM

eine Plazenta praevia festgestellt.

Der Entbindungstermin wurde festgelegt. Martina entschied sich für die PDA und wollte gern, dass

ihr Mann bei der Sectio anwesend ist. „(...) Dann ist mir die Rückenmarkspritze gelegt worden und

mein Mann war auch schon da. Wir haben gescherzt im OP wegen der Musik, war eigentlich alles

ganz nett und dann ist angefangen worden, und ich hab´ noch gesagt, man merkt ja gar nichts, Ja,

der Bauch ist geöffnet, und plötzlich kamen halt so Schmerzen, unheimliche Schmerzen, sie sind

immer schlimmer geworden, und ich hab´ gemerkt, dass die Narkose eigentlich nicht wirkt, und es

ging auch unheimlich hektisch hinter dem Abgehängten zu, mein Mann hat mir dann später erzählt,

wie sich die Ärztin in meinen Bauch hineingestemmt hat. Und ich hab´ das auch gemerkt. Ich hab´

alles gespürt und irgendwann hat dann jemand gesagt, dass der Collin jetzt da ist, aber man konnt´

ihn nicht schreien hören. Er ist dann raus gebracht worden und net mir gezeigt, und plötzlich hat

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man meinen Mann nach draußen gerufen, und da hab´ ich gedacht, jetzt ist was mit dem Kind. (...)

Irgendwann kam dann die Hebamme und hat ihn gebracht und hat dann gesagt, es geht ihm sehr

schlecht, er muss beatmet werden und er muss in die Kinderklinik, er hätte sehr viel Blut verloren

und ich hab´ mich dann verabschiedet.

(...) Und ich bin aufgewacht, und mir ging ´s furchtbar schlecht, trotz allem, dass ich ihn gesehen

hab.“

Nach der OP ging es Martina sehr schlecht. Die operierende Ärztin hatte durch die Plazenta ge-

schnitten, beide, Mutter und Kind haben sehr viel Blut verloren. „(...) Am vierten Tag durfte ich

dann ins Krankenhaus, der Collin war auf der Intensivstation, hat auch Blut gekriegt, und er lag

halt auch da wie die Luisa ziemlich klein 2000gr. (...) Und ich hing ziemlich schwer da und bin

trotzdem am 8. Tag entlassen worden. Der Stationsarzt hat mich dann mal in sein Zimmer geholt

und hat gesagt, ich müsste dingend psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Hab´ ich dann aber

hinterher nicht gemacht, weil der Collin immer so krank war.“

Martina sucht Monate später das Gespräch mit der operierenden Ärztin, weil sie sich nicht vorstel-

len konnte, warum der Kaiserschnitt so dramatisch verlaufen ist. Die Ärztin weicht ihr aus.

Später stellt sich heraus, dass vor der OP kein Ultraschall gemacht worden war; die operierende

Ärztin hatte nicht gewusst, dass die Plazenta in den letzten Schwangerschaftswochen ein Stück

nach oben gewachsen war und hatte deshalb die Gebärmutter genau durch die Plazenta eröffnet.

Collin ist das erste Jahr ständig krank und wird zum Sorgenkind der Familie. Martina ist erschöpft

und entwickelt eine schwere Depression. Trotzdem wünscht sie sich bald ein drittes Kind. Ihr

Mann möchte nicht, und es dauert lange, bis auch er einverstanden ist. „(...) Und irgendwann hab´

ich dann gesagt, jetzt muss das Kind her. Ich wollt ´s für mich, einfach zum besser Fühlen wieder.“

Frau S. erlebt eine wunderbare Schwangerschaft. Auch Maja soll per Kaiserschnitt entbunden wer-

den. „(...) Ich möchte wieder ins (...)Krankenhaus. Ich möchte, dass die alles gut machen, was die

da versaut haben, und inzwischen war der neue Chefarzt da und wir haben auch ein Gespräch

gehabt und dem hab´ ich ´s dann auch gesagt, wie ich mich gefühlt hab´ bei der letzten Geburt und

er hat dann auch zugegeben, dass da viele Fehler gemacht wurden.“

Martina hatte ziemlich viel Angst vor der Narkose „(...) Und ich hab ´s auch gesagt, dass ich so

Angst hab´ und es war ein ganz toller Arzt und ein toller Assistent, die mich da versorgt haben. (...)

Der Oberarzt hat dann die OP gemacht und es war superschön, ich hab´ überhaupt nichts gespürt

und dann kam die Maja raus und hat gleich geschrieen und dann ist sie mir dann da vorne

hingelegt worden und ich hab´ nur Speckfalten gesehen und hab´ gesagt, das kann nicht mein Kind

sein. (...) Und mir ging ´s richtig gut, außer den starken Nachwehen, ich hab´ dann endlich mal

gewusst, was Wehen sind. (...) Und ich hab´ dann die Woche im Krankenhaus richtig genossen.“

Obwohl die Geburt von Maja rundum positiv verläuft und die Mitarbeiter des Krankenhauses sich

sehr um Martina sorgen und kümmern, können sie die zweite Geburtserfahrung nicht heilen. Mar-

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tina ist immer noch depressiv und sagt, dass sie dieses Erlebnis nicht verarbeiten kann, weil „(...)

zwei Leben in Gefahr waren, und die Situation so existenziell war.“

Frau S. schildert die Geburt ihrer drei Kinder sehr neutral, möchte und kann nicht fühlen. Ihr war

im Interview wichtig, die Kontrolle zu behalten und nicht zu weinen, wie sie zum Abschied be-

merkte.

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Daniela : „Einmal barfuß durch die Hölle!“

Daniela ist 32 Jahre alt und von Beruf Arztfachangestellte. Ihre Tochter Ronja ist zur Zeit des In-

terviews 3 Jahre alt. Sie wurde in der 27. SSW mit nur 565gr per Notkaiserschnitt geboren. Auch

Daniela hatte im gleichen Jahr schon ein Kind in der 9. Woche verloren.

Sie beginnt ihre Erzählung in der 24. SSW. „Ja, wo fang ich jetzt an? Ja, 24. Woche. Ich war super

fröhlich schwanger. Ich hab´ das genossen ohne Ende. Ich fand das ein schönes Gefühl, die

Schwangerschaft an sich, nur hatt´ ich ein Arbeitsverhältnis, was mich psychisch sehr unter Druck

gesetzt hat. Ich war Erstkraft in einer großen Arztpraxis mit sehr viel Verantwortung und mein

Arbeitgeber hat mir die Schwangerschaft persönlich sehr übel genommen.“

Daniela merkt bereits zu diesem Zeitpunkt, dass irgend etwas nicht „ganz rund läuft“, spricht die-

ses Gefühl auch bei ihrem Frauenarzt bei einer der Vorsorgeuntersuchungen an: „(...) Und dann

hab´ ich eben geäußert, dass ich das Bedürfnis nach Ruhe hätte.(...) Ich bin müde; ich hab´ ir-

gendwie körperlich das Gefühl; ich hab´ keine Reserven mehr. Hier läuft irgendwas auch nicht

rund.“ Ihr Frauenarzt weigert sich, sie ein paar Tage krankzuschreiben „Stellen Sie sich nicht so

an. Schwangerschaft ist ja keine Krankheit.“

Daniela versteht bis heute nicht, warum sie den Frauenarzt nicht einfach gewechselt und gegen ihr

Gefühl weiter gearbeitet hat.

In der 27. SSW wacht sie auf. Ihr ist schlecht und sie kann ihr Kind nicht mehr spüren. Trotzdem

geht sie am Morgen zur Arbeit, will ihren Arbeitgeber nicht verärgern. Sie hat Angst um ihr Kind,

möchte früher gehen, aber ihr Chef ist nicht einverstanden. In der Mittagspause sucht sie ihren

Frauenarzt auf. Der kümmert sich erstmal nicht um sie, sondern Daniela wird zwei Stunden an ein

CTG gehängt: „Und auf einmal krieg´ ich einen brettharten Bauch, (...) ich hab´ nicht gewusst,

dass das Wehen sind. Ich war erstmal glücklich. Aah, da ist noch was in meinem Bauch (...) dann

hab ´ich tatsächlich meinen Gynäkologen noch mal gesehen, der dann: ‚Na ja, so ganz in Ordnung

ist das nicht. Sie sollten einfach mal zu einem Wehenbelastungstest ins Krankenhaus fahren. Das

Kind spielt wahrscheinlich nur mit der Nabelschnur.’ Ich soll mir keine Sorgen machen.“

Daniela fährt mit ihrem Mann gegen 16:00 Uhr ins (...)Krankenhaus: „Ich lag dann wiederum zwei

Stunden am CTG und immer, wenn ich was spüre, soll ich Striche machen, und ich mach´ da meine

Striche und kein Mensch sagt mir was.“ Irgendwann kommt eine Ärztin, die sich den Befund an-

schaut. „In dem Moment kommt dann noch ´ne Assistenzärztin rein, guckt sich das an, kriegt ein

sorgenvolles Gesicht, verschwindet. Ich lieg´ wieder da und mach´ meine Striche. In dem Moment

steht der Oberarzt dann da: ‚Jetzt machen wir mal ´nen Ultraschall, gucken und machen... Ja ha-

ben Sie denn nicht gemerkt, dass sie kein Fruchtwasser mehr haben (laut und vorwurfsvoll).’ Und

ich: ‚Bitte, was habe ich nicht mehr?’ ‚Ihre Tochter liegt ja im Trockenen!’ Und ich: ‚Ach meine

Tochter, ich wusst´ gar nicht, dass wir ein Mädchen bekommen.’ ‚Ja, das ist jetzt eh vorbei, die

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bewegt sich ja gar nicht mehr’, so in diesem Ton, und ich lag da und ich hab´ angefangen zu heu-

len. Ich fand das einfach furchtbar, diese Art und Weise.“

Daniela erhält eine Spritze, die die Lungenreife bei Ronja forcieren soll. Der Oberarzt glaubt nicht,

dass das Kind eine Chance haben wird. „Das war auch der Moment, wo ich mich irgendwo ein

Stück weit ausgeklinkt habe, wo ich einfach das Gefühl hatte, ich schaff´ das nicht mehr.“

Frau W. und ihr Mann möchten in das Perinatalzentrum verlegt werden, wenn ihr Kind eine

Chance hat, dann dort. „Sie haben sich geweigert, mir einen Krankenwagen zu bestellen (...) sie

haben mir auch keine CTGs mitgegeben (...) diese junge Assistenzärztin hat dann angerufen im

Klinikum gegen die ausdrückliche Order vom ihrem Oberarzt.“

Gegen 20:00 Uhr kommen sie im Perinatalzentrum an, um 22:00Uhr „klappt“ Daniela zusammen,

die Geburt lässt sich nicht mehr herauszögern. „(...) In der Viertelstunde ging´ s dann aber so ra-

pide bergab, dass wir nicht mehr warten konnten, bis Prof. U. da war. Sie haben mich dann da rein

gefahren in den Kreißsaal, und es war klar aufgrund der Situation, dass ich keine Periduale mehr

haben kann, dass ich ´ne Vollnarkose kriege. Und dann weiß ich eigentlich nur noch, dass ich

wahnsinnige Angst gehabt hab´, ich hab´ mein Kind (zögert) gespürt, ich hab´ das in dem Moment,

die ganze Zeit auch schon so wahnsinnig geliebt, weil ich wollte nicht aufgrund von dem Geburts-

gewicht und der SSW, dass man sie am Leben erhält, nur, weil man ´s kann. Mir ist das zwar

wahnsinnig schwer gefallen, aber ich hab´ das gesagt (...) Dann weiß ich nur noch, in dem Moment

kam Prof. U. rein und hat ´s mir versprochen und dann wurd ´s dunkel.“

Daniela wacht in der Nacht mit „wahnsinnigen Wadenkrämpfen“ auf: „Und das erste, was ich

gemacht habe, ich hab´ geschrieen wie am Spieß, (...) und dann war die Dr. V. da gewesen, und die

hat mich einfach nur festgehalten, und dann sind da so ziemlich alle Dämme gebrochen. Ich wollte

zu meinem Kind (...), dieses Gefühl war ein ganz Eigenartiges. Das ganze Geburtserleben hab´ ich

nicht gehabt. Ich hab´ nur diesen leeren Bauch und ich weiß, es ist alles viel zu früh und meiner

Tochter und mir fehlen ganz wichtige Sachen, Sachen, die auch mir emotional wichtig gewesen

wären.“

Die nächsten drei Tage fehlen komplett in der Erinnerung. Nur langsam tauchen Einzelheiten wie -

der auf. Der erste Kontakt zwischen Mutter und Kind: „(...) dann durfte ich meine Tochter endlich

richtig sehen, und sie war angeschlossen an ein Beatmungsgerät, also ´zig Monitore, und ich hab´

das nicht gesehen, ich hab´ mein Kind gesehen und obwohl sie so klein war wie eine Hand (...),

war´ s natürlich das allerschönste Kind dieser Welt, weil ein Kind, was mit so vielen Widerständen

kämpfen muss und fertig wird, das ist einfach nur klasse.“

Ronja entwickelt sich gut und wird am 6. Lebenstag extubiert, beide Eltern wissen, dass es ihre

kleine Tochter (31cm) schaffen wird. Trotzdem ist es ein Leben zwischen Hoffen und Bangen. „Es

gab´ Tage, da ging es mir wirklich so was von scheiße, einfach, anders kann ich ´s nicht sagen,

weil ich hab´ funktioniert wie ´ne Maschine, ich wollt´ unbedingt stillen und grad, wenn man ver-

sucht, so was aus so ´ner Brust rauszukriegen, ich meine, das ist schlimm genug, wenn man sein

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Kind anlegt, aber man kann ein 500gr. Baby nicht anlegen, und dann ging diese Abpumperei und

so weiter los und dann hatte ich, wie ich heute weiß, nicht nur ein Baby-Blues, ich hatte so ´ne

richtige waschechte Wochenbettdepression, die soweit ging, dass ich ein dreiviertel Jahr auch den

Bezug zu meinem Körper und mein Empfinden komplett verloren hab´. (...) Ich hab´ nicht gegessen,

weil es mir jetzt geschmeckt hat, sondern weil ich gedacht hab´, ich mach´ das jetzt für mein Kind.

Ich muss jetzt, weil ich als Frau so jämmerlich versagt hab´. Nicht genug, dass ich nicht mal eine

gescheite Geburt hingekriegt hab´, ich hab ´s ja noch nicht einmal geschafft, mein Kind bis zum

Ende auszutragen, ja, das war ´s.

Zeitweise hat Daniela verrückt zu werden, überlegt psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen,

weil sie die ambivalenten Gefühle ihrem Kind gegenüber kaum aushalten kann.

Die Bewältigung des Gefühlschaos dauert lange, der Ehemann wird zur einzigen Stütze.

Daniela schildert ihre Geburtserfahrung und die damit verbundenen Gefühle vorbehaltlos offen.

Das Interview wird zum Test. „Wie weit bin ich tatsächlich, weil ich ja wusste, wenn ich so ein

Gespräch mache, was das bedeutet und natürlich die stille Hoffnung, dass auch mein Beitrag hilft.

Und ich hab´ nicht geheult; das war gut.“

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Kerstin: „Und für mich stand wieder mal ein Kind auf dem Spiel!“

Kerstin ist 33 Jahre alt und von Beruf Heilerziehungspflegerin. Ihr Sohn Julian ist zur Zeit des In-

terviews 14 Monate alt und kam in der 28. SSW im Oktober 2001 per sekundärer Sectio zur Welt.

Im gleichen Jahr hatte sie schon ein Kind in der 12. SSW verloren.

Die erneute Schwangerschaft wurde von ihr zwar erfreut wahrgenommen, gleichzeitig fühlte sie

sich aber auch sehr unsicher und verhalten durch die zurückliegende Fehlgeburt.

In der 27. SSW traten vorzeitige Wehen auf, denen Blutungen vorausgingen. Zusätzlich wurde eine

Muttermundsinfektion festgestellt, die aber durch die behandelnde Frauenärztin nicht antibiotisch

behandelt wurde.

Daniela wurde Krank geschrieben und freute sich, eine Weile zu Hause sein zu können. In der

Nacht darauf setzten Wehen ein, was eine sofortige Einweisung in die Klinik zur Folge hatte. Sie

wurde dort erstmals mit dem Gedanken konfrontiert, dass ihr Kind zu früh kommen könnte.

In der folgenden Woche wurde sie tocolytisch (Wehen hemmend) behandelt, weiter erhielt sie An-

tibiotika und zur Beruhigung Valium. Daniela litt sehr unter den Nebenwirkungen der Medika-

mente, nahm diese aber aus Sorge in Kauf. „Und man hat mir in Aussicht gestellt, wenn sich der

innere und äußere Muttermund nicht weiter verkürzt, dann könnt´ ich eventuell mit ´ner Medikation

nach Hause entlassen werden, und das war auch ´n bisschen das, wo ich innerlich drauf hingear-

beitet habe.“

Nach einer Woche traten nachts wieder Wehen auf, der Muttermund hatte sich auf einen cm geöff-

net, Frau K. wurde sofort Perinatalzentrum verlegt. „Ich hab´ mich vollkommen überfordert ge-

fühlt, also schon am Aufnahmetag hatte ich dann zwei Tage damit zu tun, dass ich halt ´ne Frühge-

burt erwarten könnte, dass halt wieder mal ´n Kind für mich auf dem Spiel steht.“

Die nächsten vier Tage verbrachte sie. in einem Beobachtungszimmer, mit Valium ruhig gestellt

und unter Atemnot leidend „(...)das ging dann soweit, dass ich auch keine Luft mehr gekriegt hab´,

dann hatt´ ich halt so ´n Sättigungsgerät an ´nem Finger hängen und hab´ mich erbärmlich gefühlt.

(...) Ich hab´ nichts mehr gegessen, und ich war wie im Dämmerzustand.“

Den Geburtsbeginn beschreibt sie so: „Ich hab´ dann Wehen gekriegt und in der Nacht war das

dann so, dass ich eh keine Luft mehr gekriegt hab´, dass das richtig heftig war (...). Ich hatte das

Gefühl, dass es mir den Brustkorb zusammendrückt, ich wusst´ nicht mehr wie ich mich legen sollte

und ab dem Moment hab´ ich dann auch alles nur so ganz verschwommen in Erinnerung, ich hab´

dann ´ner Schwester Bescheid gesagt, die hat dann ´ne Ärztin geholt und die hatte dann, wie ich im

Nachhinein erfahren habe, den Oberarzt hinzugezogen, der hatte dann geguckt und gemeint: ‚Das

lässt sich nicht mehr aufhalten, der Muttermund sei schon auf 5 cm und ja und ab da war bei mir

so eine Panik da um das Kind, weil er meinte dann, ich soll das spontan kriegen (...) und für mich

war irgendwie klar (...), ich wusste, dass ich das Kind, falls es auch früher kommt, nicht so zur

Welt bringen würde, weil ich, ich wusst´ auch, dass man mir das Kind halt wegnimmt, dass es

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vielleicht noch vor meinen Augen intubiert wird und das wollt´ ich nicht (wird leise und beginnt zu

weinen).“

Kerstin setzt den Kaiserschnitt gegen den Willen des Oberarztes durch.

Als sie aus der Narkose aufwacht, ist ihr Freund an ihrem Bett und zeigt ihr ein Foto des gemein-

samen Kindes. „Ich kann das ganz schlecht beschreiben, irgendwie, was man da fühlt in so ´nem

Moment, so wie hin - und hergerissen (weint), man hat irgend etwas verloren und hat dann was, mit

dem man sich noch gar nicht so richtig identifizieren kann, auch mit dieser plötzlichen Mutter-

rolle.“

Kerstin erholt sich körperlich recht schnell. Julian wird erst auf die Frühchenstation, dann aber

noch wegen einer Sepsis auf die Intensivstation verlegt. Die erste Zeit beschreibt sie so: „Was mir

halt alles ein bisschen erschwerte, war einfach meine Übersensibilität (...) Ehm, es war am Anfang

unheimlich schwer, das Kind als meins zu betrachten und ich hatte auch gar nicht am Anfang die -

ses erwartete Muttergefühl. Es war befremdend und distanziert und ich musst´ mich einfach ir-

gendwie daran gewöhnen, dass ich jetzt erstmal als Mutter zurückgestellt bin, ja die Schwestern da

jetzt die kompetenteren sind und mehr mit meinem Kind zu tun haben.“ Sie leidet unter der teilwei-

sen schlechten Kommunikation und mangelnder Empathie des medizinischen Fachpersonals. „Also

ich finde, man müsste da schon etwas mehr Eltern bezogen arbeiten oder auch sich besser einfüh-

len, also ein bisschen empathischer vorgehen und das war halt nicht der Fall (...). Und es war halt

auch ein paar mal so, dass man mir das Kind einfach weggenommen hat beim Stillen (traurig), ja

der Augenarzt sei jetzt da (...) und ich hab´ das Kind dann schreien hören im anderen Zimmer und

ich wär´ halt gern dabei gewesen und die wollten das partout nicht. Oder einmal musste der Julian

auch ´ne Stunde vorher getropft werden, ja und die hatten dann mit der Taschenlampe, also wäh-

rend dem Stillen, ich musste das Kind von der Brust nehmen, die hatten dem dann die Augen auf-

gemacht, reingeleuchtet und diese Tropfen rein gemacht und einmal hatt´ ich da auch geweint

(traurig). Ja ich konnt´ einfach nicht mehr, ich war einfach überfordert. Mein Alltag bestand ohne-

hin aus Milchabpumpen und Klinikbesuchen und der (Julian) tat mir halt unheimlich leid.“

Frau K. schildert ihre Geburtserfahrung sehr reflektiert und emotional. Am stärksten belastet hat sie

die Auseinandersetzung mit dem Oberarzt. Während des Interviews liest sie mir aus dem Arztbe-

richt vor „(...) bei unaufhaltsamer Wehentätigkeit mit Muttermundsöffnung bis 5 cm bei strikter

Ablehnung einer spontanen Geburt durch Frau K. sekundäre Sectio.“ Sie kommentiert „Ich fand

das einfach unmöglich, dass man so was da rein schreibt. Aus diesem Arztbericht geht nicht her-

vor, dass ich Fieber hatte (...), dass ich Wasser in der Lunge hatte und dass das Nebenwirkungen

von dieser Tocolyse waren (...), so was stand hier nicht drin, aber, dass ich ´ne Spontangeburt

abgelehnt habe, das stand hier drin (...). Also das klingt wie ein Weihnachtswunschzettel, als hätt ́

ich schon immer mal ´ne Intubationsnarkose gewollt, und ich denk´ halt, so was geht durch meh-

rere Hände und stellt ein Bild von mir dar wie irgendeine zickige Gans.“

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Daniela sucht ein halbes Jahr nach der Geburt Kontakt mit dem betreffenden Oberarzt und schildert

ihm ihre Sicht der Dinge. Dieses Gespräch, in dem sie sehr wertschätzend behandelt wird, hilft ihr

wesentlich bei der Bewältigung ihres Geburtserlebens.

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Eidesstattliche Erklärung

„Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe selbständig verfasst und

nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinn nach aus anderen

Werken entnommene Stellen sind unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht.“

Christiane Jurgelucks