Wie Politik Funktioniert

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Wie Politik funktioniert

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Ein Buch von Wolf Wagner

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  • Wie Politik funktioniert

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  • Wie Politik funktioniert

    Wolf Wagner

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  • Titelbild: Plenarsaal des deutschen Bundestages Foto: Deutscher Bundestag

    Diese Verffentlichung stellt keine Meinungsuerung der Landeszentralefr politische Bildung Thringen dar. Fr inhaltliche Aussagen trgt derAutor die Verantwortung.

    Landeszentrale fr politische Bildung ThringenRegierungsstrae 73, 99084 Erfurtwww.lzt.thueringen.de2010

    ISBN: 978-3-937967-62-2

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  • Inhaltsverzeichnis

    Einleitung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Warum Interesse an Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Mein Weg zur Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Die Geschichte meiner Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    ... und die Folgen fr mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

    Erstes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

    Ein Engel namens Satan oder: Was ist die beste Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

    Die erste Welt des Engels Satan:Die selbstlose Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

    Die zweite Welt des Engels Satan:Die egoistische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

    Die ideale Gesellschaft: Die Mischform von selbstloser und egoistischer Gesellschaft . . . . . . . . 39

    Zweites Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

    Die Milliarden Leben des Kolumbus oder:Das Verhltnis von Politik und Wahrheit . . . . . . . . . . . . 41

    Schwierigkeiten mit der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

    Von der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

    Die nicht beabsichtigten Folgen zielgerichteten Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    Politik unter Bedingungen der Ungewissheit . . . . . 50

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  • Wie viel Wahrheit ist mglich und ntig in der Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

    Konstruktivismus die Lehre von der Ungewissheit der Wirklichkeitsmodelle . . . . . . . . . . 52

    Freiheit: Die Erlaubnis zur Dummheit. . . . . . . . . . . . . 54

    Lehren fr die Politik: Eine Ethik der Ungewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

    Drittes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

    Robinson Crusoe oder: ber unterschiedliche Methoden, Freiheit zu gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

    Das Reich der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

    Moderne Robinsonaden und ihre Folgen . . . . . . . . 63

    Politik als Gegengewicht zur Robinsonade . . . . . . . 64

    Viertes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

    Die braven Folterer oder: Die notwendigen Grenzen von Macht und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 67

    Was macht uns zu braven Folterern? . . . . . . . . . . . . . 69

    Die erschreckenden Ergebnisse des Milgram-Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

    Die Mitleidshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

    Die Erziehungshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

    Die Bedeutung der Selbstdarstellung von Macht . 76

    Distanz macht mitleidlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

    Wenn die Autoritt versagt, ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

    Gewaltenteilung und Streit als Voraussetzung fr Zivilcourage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

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  • 7Fnftes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

    Die Eine-Million-Pfund-Note oder:Der Unterschied zwischen symbolischer und praktischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

    Symbolische und praktische Politik . . . . . . . . . . . . . . 86

    Praktische Politik in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

    Wie die Wahlentscheidung zustande kommt . . . . . 92

    Das Dilemma der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

    Die Arbeitsteilung zwischen praktischerund symbolischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

    Die Bedeutung der praktischen Politik . . . . . . . . . . . 96

    Sechstes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

    Der kleine Prinz und der Knig oder:Was macht eine gute Regierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

    Die Kunst des Regierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

    Die Verwandlung von Macht in Herrschaftals historischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

    Macht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

    Die Vorteile der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

    Siebtes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

    Huckleberry Finn oder: Wege aus der Hilflosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

    Die historische Bedeutung des Huckleberry Finn . 108

    Huckleberry Finn und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

    Brgerinitiative: Zivilcourage zusammen mit anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

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  • Die Vorteile der Parteiarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

    Kommunalpolitik als Einstieg in die Parteipolitik . 114

    Die Rolle von Parteimitgliedern in der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

    Last und Reiz der symbolischen Politik . . . . . . . . . . . 118

    Fazit: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

    Das zweitbeste, aber einzig praktikable System . . . . 121

    Der Engel Satan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

    Robinson Crusoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

    Milgram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    Die Eine-Million-Pfund-Note . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

    Der kleine Prinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

    Huckleberry Finn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

    Die bescheidene Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

    Glossar: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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  • Einleitung:

    Warum Interesse an Politik?

    Politik gilt bei vielen als unanstndig und langweilig. BeiUmfragen ber das Prestige der Berufe schneiden rzte undProfessoren am besten, Politiker am schlechtesten ab. Poli-tische Sendungen haben im Fernsehen die niedrigsten Ein-schaltquoten.Wozu dann ber Politik schreiben? Warum solltesich dafr jemand interessieren?

    Mein Weg zur Politik

    Ich war zehn oder elf Jahre alt, als ich zum ersten Malbewusst mit Politik in Berhrung gekommen bin. Das war inden Fnfzigerjahren. Es gab noch kein Fernsehen. Meine Mut-ter hrte beim Bgeln und Zusammenlegen der Wsche Ra-dio. Ich sa dabei und machte Hausaufgaben. Im Radio wurdeeine Debatte aus dem Bundestag bertragen. Es ging um dieWiederbewaffnung der Bundesrepublik1. Vom Inhalt derReden verstand ich wenig. Aber die Gefhle, die Dringlichkeitund die Leidenschaft, die erhobenen Stimmen, mit denen sievorgetragen wurden, kamen bei mir an. Alle sprachen mit In-brunst und schienen vllig berzeugt zu sein von ihrer Sacheund von der Gefhrlichkeit und Abwegigkeit der anderenPositionen. Strker noch beeindruckten mich die Reaktionenmeiner Mutter. Sie untersttzte die Gegner der Wiederbewaff-nung mit zustimmenden Ausrufen wie richtig,genau,gut

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    1 Fettgedruckte Begriffe werden im Glossar mit Zitaten in der Regel aus Wikipedia erlutert.

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  • so und kommentierte das Ende einer jeden Rede mit Lob, dassie an das Radio richtete, als ob sie dort jemand hren knnte.Eine hervorragende Rede! oder Das hat aber gesessen! Dakann doch niemand mehr dafr sein! Die Befrworter derWiederbewaffnung berhufte sie mit Geruschen derVerachtung und Kommentaren wie unerhrt,unglaublich,unmglich und beschimpfte sie am Ende ihrer Reden. Soeine schlechte Rede! oder Wie kann man so etwas sagen?Schmen sollten sie sich! Fr mich war es eher ein sportlichesEreignis, weil ich nicht so recht verstand, worum es ging. Aufjeden Fall war ich auf der Seite meiner Mutter und wnschte,dass ihre Seite gewinnen sollte. Sie verlor. Die Bundesrepublikbekam 1956 die Bundeswehr.

    hnlich war es beim zweiten politischen Ereignis, an dasich mich erinnern kann. Mutter und Gromutter hatten unsKinder mit auf den Marktplatz genommen. Dort wurden aufeiner groen Tafel die hereinkommenden Wahlergebnisseaus den Stimmbezirken ausgehngt. Es ging um die Wahlenzum Oberbrgermeister und zum Gemeinderat. Ich wei nichtmehr genau, warum die meiner Mutter so wichtig schie-nen. Ich erinnere mich auch hier mehr an die Leidenschaftenals an den Inhalt. Wie bei einem wichtigen Sportereignis gabes bei jedem neuen Ergebnis auf den anderen Seiten Beifall,Jubel und Buhrufe. Es war ein knappes Rennen und wir fieber-ten und jubelten mit unserer Mutter fr den Kandidaten, derschlielich unterlag.

    Das Gefhl war entscheidend. Meine Mutter zeigte mirmit ihrer Leidenschaft, dass es bei Politik um wichtige Dingeging. Denn sonst war sie nicht mit solchem Eifer bei der Sache.Dieses ungewhnliche Engagement hat mich neugierig ge-macht und wohl weil ich meiner Mutter gefallen wollte dazu gebracht, politischen Themen mit grerem Interesse zubegegnen. Die Gefhle waren die gleichen wie beim Mann-schaftssport. Man identifiziert sich aus irgendwelchen Grn-den mit einer Mannschaft und ist niedergeschlagen, wenn sieverliert. So wie kleine Jungs fr Fuball begeistert werden,wenn ihr Vater oder lterer Bruder sie ins Stadion mitnimmt, so

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  • begeisterte mich die Aufregung und Begeisterung der Leutein der Politik. Die Atmosphre prgte meine Haltung gegen-ber der Welt strker als rationale Einsichten. So uerte ichmit vierzehn Jahren nach den altersblichen Ausflgen insEisenbahnwesen und zur Polizei den Berufswunsch, Jour-nalist zu werden. Meine Mutter hatte ohne Absicht dieWeichen dazu gestellt. Doch wie kam sie selbst ganz un-gewhnlich fr Frauen ihrer Zeit, sie wurde 1910 geboren zuihrem Interesse an Politik?

    Die Geschichte meiner Eltern

    Nach allem, was ich wei, hat sich meine Mutter anfangsberhaupt nicht fr Politik interessiert. Im Gegenteil, sie musssie gehasst haben. Denn in ihrem Elternhaus war Politik derbestndige Anlass fr heftigen Streit. Der Vater meiner Mut-ter war bis ins Mark Katholik und als solcher engagiertesMitglied in der damals existierenden Zentrums-Partei. DieMutter meiner Mutter war eine strenge Protestantin mit ei-ner Abneigung gegen den Papst und alles Katholische wegendes Prunks und der Sinnlichkeit, die sie von den Protestan-ten unterschieden. Der Vater bestand darauf, dass man nurbei Katholiken einkaufen sollte. Die Mutter tat das Gegenteil.Der Vater hatte der katholischen Kirche seine Kinder verspro-chen. Die Mutter brachte drei der vier katholisch getauftenKinder dazu, in die protestantische Kirche berzuwechseln.Der Vater bejahte die Weimarer Republik. Die Mutter wolltezurck ins Kaiserreich. Politik, Religion und persnliche Rache-gefhle waren nicht mehr zu unterscheiden und wurden zumpermanenten Krieg. Das ging so weit, dass der Vater vorgab, erwolle noch ein Bier trinken gehen und stattdessen heimlich indie Kirche ging. Meine Mutter erzhlte mir mit Abscheu vondiesen Kmpfen und wie sie als Kinder zwischen die Frontengeraten waren.

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  • Als ihre beiden lteren Brder begannen, fr die Nazis zuschwrmen, wohl auch als Auflehnung gegen den strengenVater, spitzte sich der Streit in der Familie noch weiter zu. Frden Vater war es das Schlimmste, was ihm passieren konnte.Fr ihn waren die Nazis der Antichrist, der Niedergang dermenschlichen Zivilisation, der sichere Aufbruch in einen neu-en Weltkrieg. Fr die Brder war der Nationalsozialismus derAufbruch in eine neue, moderne Welt mit einem starken, kla-ren Deutschland. Die katholische Zentrumspartei ihres Vaterswar fr sie Inbegriff all dessen, was sie an der Weimarer Re-publik hassten: Das Eintreten fr Schwache, fr Menschen-rechte, fr internationale Kooperation, fr Kompromissbe-reitschaft, fr Frieden um jeden Preis. Fr sie war das Zentrumeine Partei der alten Leute. Sie selbst sahen sich und ihre Par-tei, die sie Bewegung nannten, als die Partei der Jugend, derZukunft, der Klarheit und der Macht.

    Die Positionen htten nicht krasser aufeinander treffenknnen. Jedes Essen, jedes Gesprch endete in Streit undTrenschlagen. Es war ein Mnnerstreit. Die Frauen suchten zuschlichten, wollten fr Ruhe sorgen, verboten politische The-men bei Tisch. Doch die Mnner hrten nicht auf sie. Immerwieder schrien sie sich an, drohten einander. Deshalb hatmeine Mutter damals Politik gehasst. Und vielleicht hat siesich auch deshalb in einen vllig unpolitischen Mann verliebt,grogewachsen, schlank, sportlich, der nichts anderes woll-te als eine glckliche Familie. Denn er war von seinem Vatermit einem unstillbaren Ehrgeiz geqult und angetrieben wor-den.Darum wohl hat er sich als Erwachsener allen Ansprchenverweigert, die ber das private Familienglck hinausgingen.

    So haben sich die beiden gefunden und geheiratet. Mei-ne Mutter wollte sechs Shne,weil sie in ihrer ersten bezahltenArbeit als Familienerzieherin von sechs wilden Jungs ihre ersteBewhrungsprobe bestanden hatte. Das passte zu seiner Vor-stellung vom privaten Glck. Eintrchtig ignorierten sie diePolitik, die sich damals mehr und mehr zuspitzte.

    Denn sie heirateten im Jahr 1938. Die Politik steuertedamals direkt auf den groen Krieg zu. Deutschland hatte sich

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  • unter den Nazis verwandelt. Die Politik war in den Alltag ein-gedrungen, selbst das Gren war zur politischen Nagel-probe geworden. Menschen in der Nachbarschaft wurdenabgeholt, Juden zuerst aus ihren Positionen, dann aus ihrenHusern und Wohnungen gedrngt. Ungeheuerlichkeiten ge-schahen berall, sichtbar fr alle. Meine Mutter erzhlte mir,wie mein Vater am 9. November 1938 entsetzt und erscht-tert von der Arbeit in der Berliner Innenstadt heimgekom-men sei und ihr mit Trnen in den Augen vom Brand derSynagoge und der Verfolgung von Juden in den Straen Ber-lins erzhlt habe. Und dennoch haben sie damals das Ange-bot von Verwandten abgelehnt, zu ihnen nach Australien zuziehen. Meine Eltern hatten gerade eine moderne Wohnungmit groem Balkon im Grnen bezogen und mit schickenneuen Mbeln im Bauhausstil eingerichtet. Meine Mutter warschwanger. Sie lebten in ihrer privaten Idylle und erlaubtensich kein Wissen von der Gefahr, in der sie schwebten. Dannschlug die Politik zu, wurde zum Krieg und zerstrte mit un-geheurer Wucht und Geschwindigkeit die Idylle, die sie sichaufgebaut hatten. Zuerst wurde mein unpolitischer Vater zumReichsarbeitsdienst und dann zum Militr eingezogen. Erwar gegen Krieg und Militr so wie er gegen Politik war.Dochdas ntzte ihm nichts. Zu seinem Glck wie er glaubte kamer nicht an die Front, sondern musste, weil er schon relativ altwar, Kriegsgefangene bewachen. Das war ein leichter Dienst,meinte er wohl. Doch er geriet in die Hlle. Die Nazis hat-ten Polen und Russen zu Untermenschen erklrt und be-schlossen, sie politisch, wirtschaftlich, kulturell und in groenTeilen auch physisch zu vernichten. Sie schufen Umstnde,die den Tod vieler Millionen Menschen an Hunger und Seu-chen unvermeidlich machten. Unter den polnischen und sow-jetischen Kriegsgefangenen wurde diese mrderische Politikbesonders radikal umgesetzt. Ihnen wurde entgegen derGenfer Konvention und im Unterschied zu den Gefangenenim Westen das Minimum an Nahrung und Unterkunft verwei-gert, das zum berleben notwendig gewesen wre. Millionenvon ihnen starben auf Transporten und in Lagern an Aus-

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  • zehrung und an ansteckenden Krankheiten wie Fleckfieber,Typhus, Ruhr.

    Mein Vater muss meiner Mutter im Urlaub von denSchrecken in den Lagern erzhlt haben. Denn sie, die bis dahinUnpolitische, wurde aufmpfig und kritisch gerade da, wo esam gefhrlichsten war. Sie verweigerte den Gehorsam ge-genber dem Befehl, sich zusammen mit den anderen Frauenund Kindern aus Berlin vor dem Bombenkrieg nach Osten, inehemaliges polnisches Gebiet evakuieren zu lassen. Sie sahdas Unheil kommen, die Niederlage und die Rache der Sie-ger. Statt ins besetzte Polen zog sie nach Schwaben zu ihrerMutter und erhielt fr ihren Ungehorsam kein Recht auf ei-genen Wohnraum und eine reduzierte Versorgung mit Le-bensmitteln.

    Die gewonnene politische Weitsicht hat nur ihr geholfen.Mein Vater war in eine Maschinerie geraten, die ihn nicht mehrlos lie. Er hatte im Lager selbst Fleckfieber bekommen undberlebt. Dadurch war er gegen Fleckfieber immun und konn-te in den verseuchten Lagern eingesetzt werden. Er war un-verzichtbar geworden. Man lie ihn nicht gehen. Und so muss-te er bis zum Ende sowjetische Kriegsgefangene bewachen,zuletzt in Norwegen. Dort geriert er in britische Gefangen-schaft und wurde nach Deutschland transportiert. Er war kurzvor seiner Entlassung, als die Politik ein letztes Mal zuschlug.Die Alliierten hatten festgelegt, dass jede Siegermacht die-jenigen deutschen Gefangenen bekommen sollte, die sie imVerdacht hatte, an ihren Staatsbrgern Kriegsverbrechen ver-bt zu haben.

    Mein Vater wurde aus einem britischen Entlassungsla-ger an die Sowjetunion ausgeliefert worden und kam in dasehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen nrdlichvon Berlin. Die fr arbeitsfhig Befundenen wurden nachSibirien in Arbeitslager verschickt, wo sie in Kohlebergwer-ken unter hnlichen Bedingungen schuften mussten wie ihrefrheren Gefangenen. Unterernhrung, Vitaminmangel, Er-frierungen und berarbeitung fhrten bei meinem Vaterbald zu Skorbut und einem allgemeinen Erschpfungszu-

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  • stand. Zhne und Haare waren ausgefallen. Schwere Herz-beschwerden kamen hinzu. Zusammen mit anderen hnlichverbrauchten Deutschen sollte er nach Deutschland entlassenwerden. Noch im Entlassungslager bei Moskau starb er anErschpfung. Das war in der Weihnachtszeit 1946 ber einJahr nach Ende des Krieges.

    ... und die Folgen fr mich

    Meine Mutter, die zusammen mit ihrem Mann alles ge-tan hatte, um der Politik aus dem Weg zu gehen, war vonder Politik eingeholt worden und sie hatte ihr alles genom-men. Ihr Mann war tot. Ihre schicke Etagenwohnung in Ber-lin war zerbombt. Die wenigen Mbel, die sie hatte ausdem berschwemmten Keller retten knnen, standen jetztin der Wohnung ihrer Mutter, wo sie mit ihren drei Kindern nun selbst wieder abhngig wie ein Kind untergekommenwar.

    Der Krieg hatte sie politisiert. Das, was sie erleben muss-te, sollte ihr nicht noch einmal passieren. Sie wrde sich ein-mischen. Sie wrde alles tun, um einen weiteren Krieg zuverhindern. Jetzt wollte sie das Ihrige tun, um ihr Schicksalwenigstens zum Teil selbst zu bestimmen. Deshalb hrtesie mit solcher Leidenschaft und Parteilichkeit den Debattenber die Wiederbewaffnung Deutschlands zu und nahm unsKinder mit zur ffentlichen Auszhlung der Stimmen bei derOberbrgermeisterwahl. So hatte sie fr mich einen emo-tionalen Zugang zur Politik geschaffen, hatte mit ihrem En-gagement ein Vorbild fr eigenes Engagement gesetzt. Anihrem Beispiel konnte ich sehen, welche Folgen Politik habenkann, weshalb es berlebenswichtig sein konnte, sich einzu-mischen. Deshalb studierte ich Politische Wissenschaft undwollte Journalist werden. Ich landete stattdessen in der Wis-senschaft, die ich bis heute betreibe.

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  • In all den Jahren als Politikwissenschaftler habe ich ge-lernt, dass in der Politik vieles in Wirklichkeit ganz anders ist,als es in den Medien und in der Politik selbst dargestellt wird.Schulbcher, Medien und vor allem die Parteien und ihreProminenz neigen dazu, ein idealisiertes Bild von der Demo-kratie zu zeichnen. Da geht es angeblich um das Gemeinwohl.Da geht es angeblich um den Whlerwillen, um das, was dasVolk will. Da werden hehre Prinzipien verkndet und angeb-lich verwirklicht.

    In all den Jahren wissenschaftlicher Beschftigung mitPolitik habe ich auch gelernt, dass bersteigerte, idealisierteErwartungen an die Politik das Gefhrlichste sind, was einerDemokratie passieren kann. Denn sie fhren unweigerlich zurEnttuschung. Solche bersteigerten und dann enttusch-ten Erwartungen sind die hufigste Ursache fr eine Abwen-dung und Verachtung fr die tatschlich praktizierte Demo-kratie. Manche fhrt solche Enttuschung zu autoritren odersogar diktatorischen Varianten der Politik. Denn diese tretenmeist mit dem Versprechen auf, die hufigste idealisierteErwartung an Demokratie erfllen zu knnen, nmlich dasGemeinwohl schnell und ohne Streit durch klare und ein-deutige radikale Lsung aller Probleme durchzusetzen, wennsie erst mal die ganze Macht haben.

    Meine Jahre wissenschaftlicher Beschftigung mit Poli-tik haben mich zu einer sehr nchternen Auffassung vonPolitik gefhrt, die ich hier gegen solche Idealisierungen undberhhten Erwartungen setzen und zur Erwgung stellenwill. Ich will die oft banale Wirklichkeit hinter den groenWorten aufdecken und zugleich dieser bescheideneren Wirk-lichkeit zu einer eigenen Ehre verhelfen. Zu einer solchenHaltung haben mich unter anderem die Bcher von MarkTwain gefhrt. Er hat sich sein Leben lang genau dieser Auf-gabe gestellt. Mit seinen Geschichten wollte er den Aufge-blasenheiten der Welt die Luft rauslassen.Debunking nann-te er sein Verfahren. Im Wrterbuch wird das ins Deutschebersetzt mit niedriger hngen, entlarven, des Nimbus be-rauben.

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  • Weil ich selbst vor allem durch emotionale Signale, Stim-mungen, Leidenschaften, Gefhle in den scheinbar rationalenBotschaften zu meinem Interesse an Politik gekommen bin,nehme ich in den meisten Kapiteln Mark Twains wundervollemotionale Geschichten als Einstieg und emotionalen Be-zugspunkt, so auch gleich beim ersten Kapitel.

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  • Erstes Kapitel:

    Ein Engel namens Satan oder:Was ist die beste Gesellschaft?

    Drei Jungen aus einem mittelalterlichen Dorf in ster-reich lernten eines Tages beim Spielen im Wald einen seltsa-men Fremden kennen. Der wusste alles ber sie. Sogar wassie gerade dachten. Er konnte aus dem Nichts Gegenstndezaubern, an die sie nur gedacht hatten. Und er formte ausLehm Eichhrnchen, die lebendig davonliefen, oder Vgel, dieaus seiner Hand flogen. Fasziniert schauten ihm die Freundezu. Schlielich traute sich einer von ihnen und fragte dengeheimnisvollen Fremden, wer er sei. Ein Engel antworteteder einfach.

    Als die Jungs darauf vor Ehrfurcht erstarrten, lste sieder Engel aus ihrer Befangenheit, indem er ihnen eine kleineWelt erschuf und so ihre ganze Aufmerksamkeit von sichselbst auf diese Welt lenkte. Er formte aus Lehm Hundertefingergroe menschliche Figuren, die kaum auf den Bodengesetzt, lebendig wurden und zu arbeiten begannen. Sierumten ein Stck Boden frei, rodeten das Gras wie einenWald, wlzten Steinchen und schleppten Holzstcke und bau-ten daraus Huser und Htten. Dann formten sie aus Lehmwinzige Ziegel, bauten Gerste, zogen Mauern hoch underrichteten in der Mitte auf einer kleinen Anhhe eine richti-ge kleine Burg mit Trmen, Wehrgngen, Graben und Zug-brcke. Gerade als einer der Jungen den Engel fragte, wie erdenn heie, rettete dieser eine der kleinen, lebendigen Fi-guren, die auf einem Gerst hoch oben am Turm der Burgausgerutscht war und sicher zu Tode gekommen wre, ht-te der Engel sie nicht aufgefangen. Darber htten sie bei-nahe seine Antwort berhrt: Satan.

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  • Als sie nun statt in Ehrfurcht in Entsetzen verfielen indem Glauben, sie htten den Teufel vor sich, beruhigte sie derEngel Satan und erklrte, der Teufel sei nur ein entfernterOnkel von ihm, nach dem er benannt worden sei. Aber imGegensatz zu dem kenne er, der Engel Satan, keine Sndeund auch keinen Unterschied zwischen Gut und Bse. Wh-rend er das sagte, zerquetschte er zwischen seinen Fingernzwei der kleinen Figuren, die er geschaffen hatte. Sie warenin Streit geraten und hatten begonnen, aufeinander einzu-schlagen. Und whrend er sich mit einem Taschentuch dieblutigen Finger abwischte, sagte er: Die Moral ist die gr-te Strafe fr die Menschheit.

    Das ist der Anfang einer bitterbsen Geschichte vonMark Twain mit dem Titel:Der geheimnisvolle Fremde.2 MarkTwain, der amerikanische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts,hat im deutschen Sprachraum fr seine Romane Tom Saw-yer und Huckleberry Finn den Ruf eines harmlos-humo-ristischen Jugendschriftstellers erhalten. Tatschlich ist er einengagierter Freigeist gewesen, der mit scharfer Ironie dieScheinheiligkeiten und Aufgeblasenheiten seiner Zeit zu ent-larven versuchte.

    Uns soll der Engel Satan dazu dienen, unsere Fantasiefreizusetzen und uns von vorgefassten Vorstellungen und Er-wartungen zu lsen. Zusammen mit dem Engel Satan, derkeine Moral und kein Gut und Bse kennt und der aus Lehmganze Gesellschaften formen und wieder in Lehm zurckver-wandeln kann, wollen wir selbst in Gedanken einige Gesell-schaften bauen und an ihnen ausprobieren, was die besteGesellschaft ist.

    Als Kriterium zur Beurteilung der von uns erschaffenenFantasiewelten soll uns ganz unmoralisch ihr Erfolg dienen.Um den zu testen, lassen wir jede Gesellschaft einige Gene-rationen lang laufen und schauen zu, ob sie blht und gedeihtoder ob sie droht unterzugehen.

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    2 Mark Twain (1966) Der geheimnisvolle Fremde. In: Ausgewhlte Werke in 12 Bnden. Hrsg. vonKarl-Heinz Schnfelder (Aufbau-Verlag) Berlin.

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  • Als zweites Kriterium soll uns ein von dem US-ameri-kanischen Philosophen John Rawls entwickeltes Ma frdie Gerechtigkeit einer Gesellschaft dienen: Der Schleier desUnwissens. Eine Gesellschaft soll dann als gerecht gelten,wenn man ihre Regeln auch dann akzeptieren kann, wennman nicht wei, welche Position man in ihr einnehmen wird.Das ist das am wenigsten moralische und inhaltlich festge-legte Gerechtigkeitsprinzip und drfte demnach gut zu un-serem Engel Satan passen.

    Die erste Welt des Engels Satan:Die selbstlose Gesellschaft

    Auf die Frage nach der idealen Gesellschaft haben diemeisten Menschen eine schnelle Antwort: Es ist die selbstloseGesellschaft. Gemeint ist ein Organismus, in dem die Men-schen selbstlos, altruistisch sich fr die anderen und das Gan-ze einsetzen. Alle begeistern sich fr das Gemeinsame undstellen ihre Einzelinteressen zurck. berall herrscht die glei-che Regel: sich selbstlos mit allen Krften fr das gemeinsa-me Wohl einzusetzen. Wenn jeder fr alle sein Bestes gibt, istauch fr jeden selbst bestens gesorgt.

    Was ist Gesellschaft? Vor der Franzsischen Revolution1789 hie das, was wir heute Gesellschaft nennen, Land,Knigreich, Frstentum oder unter den Gebildeten respublica (lat.: die ffentliche Sache). Die Menschen galtennicht als einzelne Personen mit gleichen Rechten und glei-cher Wrde, sondern als Inhaber bestimmter Positionen.Man war nicht Mensch, sondern Frst, Priester, Nonne,Meister, Geselle, Buerin, Magd oder Knecht. In der vorre-volutionren, stndischen Gesellschaft waren deshalb all-gemeine, fr alle Menschen gleiche Rechte undenkbar.Jede Position hatte ihre eigenen Pflichten und Rechte. Der

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  • Knig hatte andere Pflichten als der Papst, der Bauer oderder Handelsknecht und hatte darum auch andere Rechte.

    Hier schuf das Geld erst die Voraussetzungen fr dieVergleichbarkeit des Unvergleichlichen. Geld hat den glei-chen Wert, egal, ob es vom Knig oder Bettler kommt. FrGeld hat alles seinen Preis, gleichgltig ob es sich bei derWare um Butter, Stoff, Land oder Vieh handelt. Das Geldmacht alles vergleichbar. Erst durch das Geld konntenMenschen nach ihrer Leistung verglichen werden. UnsereDenkweise vom Individuum war damals revolutionresGedankengut.

    Mit der amerikanischen Unabhngigkeitserklrung undder Franzsischen Revolution setzte sich diese Denkweisedurch. Mit Napoleon verbreitete sie sich ber ganz Europa.Das Individuum war entdeckt. Es sollte das Recht aufSelbstverwirklichung, auf freie Entfaltung haben, solangees andere nicht an der Ausbung des gleichen Rechteshinderte. Die US-amerikanische Unabhngigkeitserklrunghatte sogar das Recht jedes Einzelnen auf das Streben nachGlckseligkeit (Pursuit of Happiness) verkndet.

    Solche revolutionre Gleichmacherei bedeutete einenherben Verlust fr den Adel. Aus seiner Sicht bedeutete derrevolutionre Individualismus Niedergang und Zerfall dergottgegebenen Ordnung und Kultur. Gegen diese Ge-fahr setzten sie das Wort Gesellschaft. In ihm steckte dasWort gesellen ein altertmlicher Ausdruck fr denZusammenschluss vieler Menschen zu einem gemeinsa-men Zweck. Und so eignete sich das Wort perfekt zurPolemik gegen den Individualismus und Egoismus derRevolutionre. Im Wort Gesellschaft steckt also schon dasIdeal von der selbstlosen Gemeinschaft aller zum Wohledes Ganzen.

    Wenn wir dieser ursprnglichen Bedeutung des WortesGesellschaft gerecht werden wollen, mssen wir den EngelSatan als erstes eine solche selbstlose Gesellschaft bauen las-

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  • sen. Zum Engel wrde sie auch passen. Sie wre eine wahr-haft engelsgeme Gesellschaft.

    Beispiele fr die selbstlose Gesellschaft

    Was ist das Wohl des Ganzen? Zur Beantwortung bruch-te man den Zugang zur Wahrheit. Am besten wre es also, andie Spitze der Gesellschaft die besten Denker zu setzen. Siehtten nmlich mit ihrer Weisheit und ihrem berlegenenWissen und Intellekt noch am ehesten den Zugang zur Wahr-heit. Mit dem Wissen um die Wahrheit knnten sie dann dierichtige Politik machen. In der selbstlosen Gesellschaft wrePolitik eine saubere Sache: Von den fhigsten Personen inKenntnis der Wahrheit entworfen und unter Einsatz aller Krf-te von allen betrieben.

    Viele Menschen werden sagen: Wenn Politik so wre,knnte ich mich auch dafr begeistern. Sie wrde fr die Zu-kunft den richtigen Weg vorgeben und fr die Gegenwart Ge-rechtigkeit und Sicherheit bieten.

    Das Konzept ist so einleuchtend und berzeugend, dass esin der Menschheitsgeschichte immer wieder angestrebt undals Gedankenbild von Philosophen und Religionsgrndernentworfen worden ist.

    DIE ANTIKESchon die ltesten Gesellschaften versuchten dieses

    Ideal zu erreichen. Im antiken gypten sagten die Priester dieberschwemmungen vorher und die Pharaonen organisier-ten die Verteidigung des Landes, whrend die Bevlkerung frdie Produktion und Versorgung sorgte. Alles und jeder besaseinen sinnvollen Platz.

    Vom antiken Rom kennen wir das klassische Bild der orga-nischen, selbstlosen Gesellschaft: Sie sei wie ein menschlicherKrper. Die Eliten seien wie der Kopf, der alles zum Besten aller

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  • dirigiere, der aber ohne Bauch (Bauern), Beine (Transport undHandel) und Arme (Krieger und Handwerker) nicht berlebenknne.So habe alles seine Funktion und seinen Platz und funk-tioniere zum Besten aller.

    In Indien bestimmen bis heute solche Vorstellungen alsererbte Status- und Berufsgruppen das Leben der glubigenHindus. Als die Kastengesellschaft entstand, galten jedochandere Regeln als heute. Niemand sollte dauerhaftes Eigen-tum haben. Alle sollten das tun, was sie am besten konnten.Dazu sollten sie aus dem Gemeineigentum die Mittel erhalten,die sie bentigten. Die hchste Kaste sollte aus den bestenKpfen der Gesellschaft bestehen und Vorbild fr alle ande-ren sein. Sie sollte in ihrer Weisheit die Gesellschaft zum Bes-ten leiten. Die anderen sollten ihrem Rat folgen und sich inihrer jeweiligen Funktion dem vorgegebenen allgemeinenBesten unterordnen: Die Krieger sollten das Land verteidi-gen, die Bauern das Land bestellen, die Handwerker die Din-ge des Lebens herstellen, die Hndler sie ber das Land ver-teilen und die Diener sollten dienen und all die Ttigkeitenausben, die brig blieben. Erst als diese Positionen vererbbarwurden und damit durch Geburt festgelegt und als angeb-liche Belohnung und Strafe fr die Taten im vorherigen Le-ben fr unvernderlich und heilig ausgegeben wurden, ver-wandelte sich die einst selbstlose Kastenordnung in ein Mitteldes Egoismus und zur Unterdrckung der Bedrftigen. Weilaber glubige Hindus meinen, dass sie durch Einhalten derRegeln fr ihre Kaste in diesem Leben im nchsten Leben inhchste Position wiedergeboren werden knnten, ist die Ge-rechtigkeitsregel von Rawls erfllt. Auch die Angehrigen derniedrigsten Kasten, selbst die Kastenlosen, stimmen den Re-geln zu, weil sie fr sich eine Chance zur Verbesserung sehen solange sie glauben. Fr Nichtglubige entstand eines derungerechtesten Systeme, das es auf der Welt gibt.

    Auch im antiken Griechenland gab es solche Vorstel-lungen von Gesellschaft, die dem Bild eines einzigen Orga-nismus folgten. Platon etwa empfahl, die Gesellschaft durchden besten Philosophen leiten zu lassen. Alle anderen soll-

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  • ten sich freiwillig seiner Diktatur unterwerfen, die der Herr-schaft des Gesetzes berlegen sei. Whrend das Gesetz alleFlle gleich behandeln msse, knne der Philosoph erken-nen, wenn jemand mit guten Grnden gegen das Gesetz ver-stt. Der Philosoph wre allemal gerechter als das Gesetz, dieDemokratie und die Herrschaft des Volkes, da dieser den Zu-gang zur Wahrheit besitzt.

    DIE FRANZSISCHE REVOLUTIONIn der Zeit vor der franzsischen Revolution vertrat der

    Philosoph Jean Jacques Rousseau unter dem Einfluss deraufkommenden Idee von der Gleichheit eine interessante Va-riante zum Philosophenstaat Platons. Statt eines Einzigen soll-ten alle gemeinsam die Weisheit vertreten. Dazu sollten alleverheirateten Mnner nur sie galten als Brger exakt gleichviel Land und Vieh besitzen und vllig unabhngig voneinan-der leben. So sollte jeder Interessenkonflikt vermieden wer-den. Alle wrden die gleichen Interessen haben. Dann wrdeihr Denken nicht mehr durch Sonderinteressen bestimmt undihr Wille wrde immer automatisch das Gemeinwohl (volontgnrale) ausdrcken. Unausweichlich entstnde das Bestefr alle.

    Ob nach dem Kastensystem der Hindus, der Philoso-phendiktatur Platons, der volont gnrale Rousseaus al-len gemeinsam ist die Vorstellung, die Gesellschaft zu einemOrganismus zu formen, in dem es keine Sonderinteressen ge-be. Allen gemeinsam ist die Vorstellung, man msse der Ge-sellschaft nur einen idealen, gemeinsamen Zweck setzen, unddie Gesellschaft wre auf bestem Kurs und knne allen Ge-fahren trotzen.

    Nehmen wir an, der Engel Satan, der kein Gut und Bsekennt und darum vllig unvoreingenommen ist, habe einesolche Gesellschaft gebaut und lsst sie Probelauf nach Pro-belauf, Generation nach Generation vor sich hin funktionieren.Was kommt dabei heraus?

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  • Von den Nachteilen der selbstlosenGesellschaft

    DAS PROBLEM DER ELITENAUSWAHLDas zentrale Problem der selbstlosen, hierarchischen

    Gesellschaft hat Platon selbst schon benannt: Im Bienenkorbist die Knigin leicht zu erkennen, auch in einer Herde vonTieren ist der menschliche Hirte deutlich von den Tieren zuunterscheiden. Aber wie erkennt man den Philosophen, einenMenschen unter anderen Menschen?

    Jede Gruppe in der Gesellschaft kann einen anderenMenschen als den Philosophen prsentieren und schon wreder Streit gegeben, den die selbstlose Gesellschaft vermeidensoll. So kommt es, dass manche diesen und andere jenen frdie am besten geeignete Person halten. Und jeder vertritt sei-ner Meinung nach die weiseste Entscheidung. Und schon hatman den verwirrenden, von Egoismen, Rechthaberei undStreit geprgten Zustand sich bekmpfender Parteien, vondenen jede behauptet, nur sie habe Recht und nur ihr Kan-didat sei der Beste.Wir haben normale Politik.

    Immer wieder zeigen sich in solchen Gesellschaften diegleichen Probleme. Zuerst: Wie erkennt man den Besten derBesten, fr den es lohnt, die eigenen Interessen zu opfern? Eszeigt sich immer wieder, dass Menschen auch bei grtermaterieller Gleichheit unterschiedliche Interessen und Sicht-weisen haben und sich nicht einig sind, wer der Beste und wasdas Beste fr die Gesellschaft ist.

    DAS PROBLEM DER INFORMATIONSAUSWAHLSelbst wenn es gelnge, die Besten der Besten an die

    Spitze der Gesellschaft zu bringen, kme bald ein weitereschronisches Problem zum Tragen: Diejenigen oben sind aufdie Informationen derjenigen unten angewiesen. Denn dieoben sind von der Wirklichkeit abgeschnitten. Sie haben kei-nen unmittelbaren Zugang mehr zu ihr. Wie eine Isolier-schicht stehen zwischen ihnen und der Wirklichkeit die Grup-

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  • pe der Diener und Handlanger, die Ausfhrer ihrer Befehleund Berichterstatter ber die Folgen.

    Der Philosoph Hegel hat das am Beispiel Herr undKnecht beschrieben. Der Herr erfhrt ber den Knecht von derWelt. Der Herr behauptet aber von sich, er sei im Besitz derWeisheit. Wegen seiner behaupteten berlegenheit kann ernicht zulassen, vom Knecht belehrt zu werden. Der Knechtdagegen lernt dazu. Er muss sich anpassen an die Vern-derungen der Wirklichkeit. So wird er bald der Fhigere undWirklichkeitstchtigere von beiden und merkt, dass ihn derHerr in die Irre fhrt. Will er in der vernderten Wirklichkeitbestehen, muss der Knecht den Herrn strzen und sich selbstzum Herrn machen. Und dann geht laut Hegel die Ge-schichte, die er Dialektik nannte, wieder von vorne los.

    Der Herr, der diese Gefahr ahnt, muss demnach im Na-men der organischen Gesellschaft und seiner berlegenenWeisheit darauf bestehen, dass er der Beste ist und dass sichder Knecht der besseren Einsicht des Herrn unterwirft. Undschon sind wir bei einer irrationalen Diktatur angelangt, demGegenteil dessen, was die selbstlose Gesellschaft anstrebt.

    Ist die Diktatur einmal installiert, verschrft sich dasProblem: Die Unterdrckten, die Unterworfenen und Unter-tanen trauen sich nicht mehr, dem Diktator missliebige In-formationen zu bermitteln, denn das knnte tdlich sein. DieDiktatoren sorgen so selbst dafr, dass sie systematisch be-logen werden und sich zunehmend in einer Scheinwelt be-wegen. Die Untertanen leben in einer wirklichen Welt, die sichimmer radikaler von der Scheinwelt der Herrschenden un-terscheidet. Die ursprnglich ideal konzipierte Gesellschaftverwandelt sich in ihr Gegenteil: eine verlogene und schi-zophrene Diktatur.

    NATIONALSOZIALISMUS UND STALINISMUSErst richtig durchgesetzt hat sich das Modell von der

    selbstlosen Gesellschaft im 20. Jahrhundert mit dem Aufkom-men groer Ideologien Und dann hat es gleich zwei groeKatastrophen erzeugt: Nationalsozialismus und Stalinismus.

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  • Wie im Krper sollte bei den Nazis jedes Glied derGesellschaft in seiner speziellen Funktion mit den anderenGliedern zusammenwirken und harmonieren. Nach dem latei-nischen Wort fr Krper corpus nannte sich die Idee Kor-poratismus. Die unterschiedlichen Funktionstrger der Ge-sellschaft, die Unternehmer, die Arbeiter, die rzte, die Bauernetc. sollten sich in Krperschaften organisieren und unter derLeitung der allwissenden Partei des Fhrers zum Besten desVolkes wirken. Und wie bei einem wirklichen Krper solltenSchadstoffe, Wucherungen und infektise Eindringlinge iden-tifiziert und ausgemerzt werden.

    Hitler und seine alten Kmpfer hatten sich ein zu ihrerZeit weit verbreitetes populrwissenschaftliches Weltbild an-gelesen, wonach das Wohl und Wehe der Menschheit von denangeborenen Fhigkeiten der Menschen abhnge. So war esnoch um 1900 allgemeine Anschauung in der Wissenschaft,dass Kriminalitt genauso wie Armut ein Ergebnis der Ver-erbung sei. Wurde doch Armut und Kriminalitt nachweisbarhufiger bei Kindern von Armen und Kriminellen angetroffen.Wie in der Tierwelt gebe es auch unter Menschen gute undschlechte Rassen. Zwischen ihnen herrsche ein Kampf umsberleben wie in der tierischen Natur. Und wie dort setze sichauch in der Gesellschaft nur die strkste und genetisch besteRasse durch. Das war im Verstndnis der Nazis die germani-sche, whrend die jdische als besonders schlecht galt. Ei-ne Vermischung mit schlechten Rassen musste demnach denUntergang bringen. Darum schien es im berlebenskampfnicht nur gerechtfertigt, sondern unverzichtbar, der gegen-wrtigen Genera-tion Selbstlosigkeit und schwerste Opfer frdas zuknftige Glck aller abzuverlangen. Die Gene solltendurch kluge Zuchtwahl verbessert und alle schlechten Ei-genschaften durch Sterilisierung und Ausrottung eliminiertwerden.

    Nach ihrem Selbstverstndnis waren die Nazis selbstloseIdealisten.Denn sie begingen nach ihren eigenen Angaben all ihre Morde und Untaten nicht aus Freude am Qulen, son-dern wie sie meinten zum Wohle der zuknftigen Mensch-

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  • heit. Heinrich Himmler, der Chef der SS, hielt am 4. Okto-ber 1943, mitten im Krieg, bei einem SS-Fhrertreffen in Po-sen eine Rede. In ihr wird die ganze Monstrositt diesesIdealismus auf den Punkt gebracht: Auf seinen Befehl hattedie SS viele Hunderttausende Juden umgebracht. Zur Zeit derRede hatte die SS gerade mit der systematischen Ermordungder Juden in Vernichtungslagern begonnen. Himmler sprachin seiner Rede offen von der Ausrottung des jdischen Vol-kes. Und: Von euch werden die meisten wissen, was es heit,wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn 500 dalie-gen, oder wenn 1000 daliegen. Und das durchgehalten zuhaben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahme-schwchen, anstndig geblieben zu sein, hat uns hart ge-macht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennen-des Ruhmesblatt. Denn so seine Logik sie htten dieReinheit der zuknftigen Rasse und damit die Zukunft derMenschheit gegen den drohenden Untergang verteidigt. Dievom Fhrer erkannte Wahrheit rechtfertigte in der Sicht derNazis ihr entschlossenes und konsequentes Handeln ohnefalsche Sentimentalitten, wie die Nazis Mitleid und Mit-menschlichkeit nannten.

    Heute hat die Entschlsselung des menschlichen Ge-noms gezeigt, dass es politisch wenig sinnvoll ist, bei Men-schen von Rassen zu sprechen. Biologisch sollen Rassenim Sinne von Unterarten durch uere Merkmale deutlichunterschiedene Gruppen einer Art zusammenfassen undvoneinander unterscheiden, die dennoch gemeinsame Nach-kommen zeugen knnen. Die genetischen Prgungen, auf diejene wenigen sichtbaren Unterschiede zwischen den angeb-lichen Rassen zurckzufhren sind, etwa die Hautpigmen-tierung, die Augenstellung, die Form der Nase oder hnliches,machen nur einen winzigen Bruchteil der Gesamtinformatio-nen aus, die eine Person zu der machen, die sie ist. Die gene-tischen Unterschiede sogar zwischen Geschwistern sind weitgrer als die Summe der genetischen Informationen, die alleAngehrigen einer Rasse von denen einer anderen unter-scheiden.

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  • Menschen nach solchen uerlichen Merkmalen als An-gehrige unterschiedlicher Rassen einzuteilen und darauspolitische Folgerungen zu ziehen, etwa auf die Qualitt derMenschen zu schlieen, ist so dumm, wie wenn man Nah-rungsmittel nach ihrer Farbe einteilen wollte: Rote Grtze,Paprika, Erdbeeren, Rote Beete, Rotwein und Rotkohl in eineEssensrasse und Weiwein, Weikohl, Milch, Quark, weierRettich, Vanilleeis, Hhnerbrust und Meerrettich in eine an-dere und dann sagen wrde, weie Nahrungsmittel sindden roten berlegen und darber den Unterschied zwischenMeerrettich und Vanilleeis vergessen wollte. Genauso absurdwie diese Betrachtung der Lebensmittel nur nach ihrer Farbeist die Einteilung der Menschen nach ihrer Hautfarbe, Nasen-oder Augenform in Rassen. Der Grund, dass es auch heutenoch Anhnger der Lehre von der unterschiedlichen Wertig-keit von Rassen gibt, liegt also nicht in den wissenschaftlichberprfbaren Gegebenheiten, sondern in den Bedrfnissender Rassisten. Sie brauchen etwas, um ihr Bedrohungsgefhlzu erklren oder um sich anderen gegenber berlegen zufhlen.

    Zur Zeit des Nationalsozialismus war der unsinnige Glau-be an den Rassismus so weit verbreitet, dass fr viele Men-schen die Machbarkeit einer idealen Zukunft der Menschheitdurch Zuchtauswahl einleuchtend schien. Zugleich erfllteauch damals der Rassismus das Bedrfnis, sich berlegen zufhlen und andere irgendwelche mglichst fremde andere als gefhrlich und minderwertig hassen zu drfen. Hitler hatsolchem Hass Legitimitt gegeben, ihn fr zulssig, ja fort-schrittlich erklrt. Nur so ist verstndlich, dass Hitler so vielund anhaltend Zustimmung finden konnte. Sein Glaube andie Wahrheit einer zuknftigen und besseren Welt der Ras-senreinheit war damals Allgemeingut und hat seiner DiktaturLegitimitt und den Anschein von Selbstlosigkeit gegeben.

    Mit einem ganz anderen Inhalt, einer anderen Begrn-dung und vllig entgegengesetztem Ziel glaubten sich auchLenin, Trotzki, Stalin und seine Zeitgenossen im Besitz derWahrheit. Nur meinten sie, die Welt nicht durch Zuchtwahl

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  • gestalten zu mssen, sondern durch die Vernderung derProduktions- und Eigentumsverhltnisse. Aus den Schriftenvon Karl Marx hatten sie gelernt, dass das Privateigentum anProduktionsmitteln und die Arbeitsteilung den Niedergangder Menschheit durch eine kleine Minderheit verursachen.Deshalb schien es ihnen mehr als gerechtfertigt, die Machtdieser Minderheit zu brechen und sie durch eine Diktatur derMehrheit zu ersetzen. Auch fr sie galt der Einzelne nichts.Auch fr sie war Mitleid eine gefhrliche Schwche angesichtsder welthistorischen Mglichkeit, die Menschheit insgesamtzu retten. Sozialismus oder die Barbarei lautete damals dieAlternative angesichts der Grauen des Ersten Weltkrieges undder Ausbreitung des Faschismus in Europa. Die gerade leben-de Generation konnte und musste geopfert werden fr einegreifbar nahe ideale Zukunft der Menschheit insgesamt. DerKommunismus stellte sich als die angeblich selbstlose Gesell-schaft in Reinform dar.

    Nur so ist verstndlich, dass sich Kommunisten bereit-willig in die Lager transportieren und zu Tode ausbeutenlieen und dabei immer noch Stalins Lob sangen und mein-ten, dies alles geschehe ohne sein Wissen. Nur so ist verstnd-lich, dass die Opfer der groen Schauprozesse sich selbstbezichtigten und auch ohne Folter Gestndnisse auf sich nah-men, die vllig absurd waren. Ihnen leuchtete ein, dass siesich zum Wohl des Groen Ganzen zu opfern hatten. Diekommunistischen Fhrer fhrten ein Leben, das sich nurwenig von dem der einfachen Genossen unterschied. Allesollten die gleichen Interessen haben. Es galt nur noch, dieFhigsten zur Fhrung der Gesellschaft auszuwhlen. Und danur die besten geeignet sind, Fhigkeiten zu erkennen, soll-ten sie auch diejenigen auswhlen, die zu ihnen gehrten. DieWahl erfolgte von oben nach unten. Die hhere Einheit be-stimmte, wer gewhlt werden sollte und die untere Einheitvollzog diese Wahl. Man nannte das demokratischen Zentra-lismus.

    Die Besten der Besten wrden das Zentralkomitee bil-den, das aus seinen Reihen wiederum den Besten als Sekretr

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  • whlte. Dem ZK und seinem Sekretr wrde durch die Parteiund die staatlichen Organisationen das beste Wissen aus allenTeilen des Landes zugetragen. Dann knnten die weisestenEntscheidungen getroffen und ein Plan entworfen werden,der dem Wohle aller dienen wrde. Keine Privatinteressen,kein Egoismus, kein Individualismus sollte das Funktionierenund Blhen des Ganzen stren.

    Die Herrschaft der Wahrheit wird zum Terrorismus derPartei und ihrer Geheimdienste gegen jede wirkliche oderwahrgenommene Abweichung von dieser Wahrheit insbeson-dere innerhalb der Partei. Die selbstlose Herrschaft der Mehr-heit ber die Minderheit wird zur totalitren Machtausbungber den Rest der Bevlkerung.

    Das Fazit zur selbstlosen Gesellschaft

    Als meine Eltern in die Mhlen der Nazipolitik gerieten,waren sie nur zwei von vielen Millionen Opfern eines Wahr-heitsglaubens, einer Opferung der Menschen fr ein fr wahrgehaltenes zuknftiges Paradies. Sie sind genauso wie all dieanderen als vernachlssigbare Gren benutzt worden, zueinem menschlichen Zement verrhrt und als Baumaterialeiner neuen Welt verarbeitet worden, meine Mutter als Kin-dergebrerin, mein Vater als Kriegshelfer und Arbeitssklave.Ihr eigenes Wohlergehen und Empfinden, ihr eigener Willespielten dabei keine Rolle.

    Die selbstlose, einer angeblichen Wahrheit verpflichteteGesellschaft, stellt sich hufig als der schnellste Weg zur to-talitren Gesellschaft dar. Welche andere Mglichkeit hat derEngel namens Satan, der kein Gut und Bse kennt, Gesell-schaft zu konstruieren? Er versucht es mit der egoistischenVariante.

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  • Die zweite Welt des Engels Satan:Die egoistische Gesellschaft

    Die egoistische Gesellschaft besteht aus lauter unabhn-gigen Untereinheiten, Individuen, Familien, Unternehmen, dienur das eigene berleben und den eigenen Erfolg im Kopfhaben und sich um die Anderen nur so weit scheren, wie esihrem eigenen Vorteil dient.

    Die Konstruktion der egoistischenGesellschaft

    Der Grundgedanke der egoistischen Gesellschaft ist ein-fach: Wenn jede Gesellschaftseinheit fr sich ihr Wohlerge-hen steigert, geht es auch der Gesamtheit besser. Es gilt dasPrinzip: Jede Einheit sorgt fr ihr eigenes Wohl. Jede Einheitwei fr sich selbst am besten, was gut fr sie ist. Das Herr-und-Knecht-Problem der altruistischen Gesellschaft stellt sichnicht, denn jede Einheit ist ihr eigener Herr und Knecht zu-gleich. Alle Vernderungen der Wirklichkeit werden von den-jenigen wahrgenommen, die sie angehen, und sie reagierendarauf in der fr sie besten Weise. Jede zentrale Steuerungwre in der Sicht der egoistischen Gesellschaft ein vllig un-ntiger und potenziell schdlicher Umweg.

    Jede Einheit spezialisiert sich stattdessen selbststndigauf das, was sie am besten kann. Eine solche Arbeitsteilungfhrt zur optimalen Steigerung der Produktion und verschafftden Produzenten die besten Chancen fr einen gewinnbrin-genden Austausch. Im Endeffekt so die Theorie erreicht dieegoistische Gesellschaft auf diesem Weg viel effektiver undzuverlssiger das Ziel, das zu erreichen die selbstlose Gesell-schaft fr sich beansprucht: das Beste fr alle.

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  • Der Engel Satan msste unsere kleine Modellgesell-schaft so bauen, dass jedes ihrer Mitglieder einen eigenenWillen und vor allem das eigene beste berleben im Kopf hat.Eine solche Ansammlung von Egoisten mit recht unter-schiedlichen Interessen htte nmlich einen weiteren Vorteil:Anstatt einer einzigen Strategie, wie bei der selbstlosenGesellschaft, gibt es in der egoistischen Gesellschaft vieleStrategien. Jede Einheit verfolgt ihre eigene. Manche dieserStrategien erweisen sich als falsch und die Einheiten, die sieverfolgten, scheitern. Doch wenn einzelne Einheiten unter-gehen, bedroht das nicht die Existenz der Gesamtheit. Wennaber die eine Gesamtstrategie falsch ist, droht Gefahr fralle.

    Mark Twains Engel Satan lehrt damit die erste unmora-lische Erkenntnis ber Gesellschaft: kleine, allein auf ihrenVorteil und ihr bestes berleben ausgerichtete, egoistischeEinheiten geben einer Gesellschaft grere Chancen aufErfolg. Das zeigt sich, wenn man die Geschichte betrachtet:Von allen Gesellschaftsformen ist die egoistische Marktgesell-schaft bisher am erfolgreichsten gewesen. Sie hat alle ande-ren Gesellschaften berlebt und berflgelt, hat sich dieWelt erobert und ist heute als Marktwirtschaft die Siegerinber alle anderen Gesellschaftsformen.

    Von den Nachteilen der egoistischen Gesellschaft

    DAS MATTHUS-PRINZIPAuch die egoistische Gesellschaft trgt wie die selbstlo-

    se Gesellschaft eine Tendenz zur Diktatur in sich und drohtsich damit selbst zu widerlegen. Bei ihr nennt man die Dikta-tur Monopol. In ihrem Streben nach Vorteil sind manche Ein-heiten erfolgreicher als andere. Damit gewinnen sie fr dienchste Runde bessere Ausgangsbedingungen im Wettbe-

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  • werb der Egoisten. Das erhht ihre Chancen, in den folgen-den Runden erneut andere Einheiten auszustechen. Denn dieegoistische Gesellschaft funktioniert nach dem Prinzip ausdem Matthus-Evangelium: Wer hat, dem wird gegeben!

    Zwar entstehen immer neue Einheiten, die ein neues,erfolgreiches Produkt auf den Markt bringen. Und manchengelingt es ein Monopol zu erringen. Haben einzelne Einhei-ten mehrere Branchen monopolisiert, kommt auch die Politiknicht mehr gegen sie an. Dann gelten fr die egoistischeGesellschaft die gleichen Nachteile wie fr die selbstlose Ge-sellschaft. Auch hier bekommen die oben nur noch einge-schrnkte Informationen ber die Wirklichkeit, auch sie nei-gen dazu, innere und uere Opposition auszuschalten, undsie werden durch ihren weiterhin ungebremsten Egoismus zueinem Klotz am Bein der Gesellschaft. Sie saugen sie aus, ohneihr etwas zu geben. Die egoistische Gesellschaft verliert mitder Monopolisierung ihren wichtigsten Vorteil: die Multista-bilitt. Sie ist auf wenige Strategien festgelegt. Diese mag inihrer materiellen bermacht sehr durchsetzungsfhig sein.Doch gerade ihre Strke raubt ihr die Flexibilitt.

    Trotz dieser Gefahr hat die egoistische Gesellschaft im-mer wieder triumphiert. Die groen Monopole des 19. und20. Jahrhunderts, Krupp und Carnegie, kennt heute kaumjemand mehr. Die Kohle- und Stahlindustrie ist der Chemieund diese der Informationstechnologie gewichen. Die altenMonopole sind eingeschmolzen worden, sind untergegangenund durch neue Marktbeherrscher ersetzt worden. Die egois-tische Gesellschaft hat bisher ber ihre eigene Tendenz zurmonopolitischen Erstarrung gesiegt.

    DAS PRINZIP NUR WER VERKAUFT, KANN KAUFENJede Einheit verkauft ein Produkt oder die eigene Ar-

    beitskraft. Nur so kommt sie an das Geld, mit dem sie selbst alldas einkaufen kann, was sie zum berleben und zur erneutenProduktion braucht.

    Nur wer verkauft, kann kaufen. Das ist das Grundprin-zip der Marktwirtschaft. In der egoistischen Gesellschaft ent-

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  • scheidet allein das Geld, die Kaufkraft, welche Bedrfnissebefriedigt werden und welche nicht.

    Heute knnen 5 bis 20 Prozent der Menschen nichtsoder zu wenig zum berleben verkaufen. Es sind die Armen,die Behinderten, die Arbeitslosen. Sie mssten ohne Un-tersttzungszahlungen der Gesellschaft verhungern. Und invielen Teilen der Welt verhungern sie tatschlich. Die egois-tische Gesellschaft produziert ihre Millionen Opfer jedes Jahreinfach durch das Gesetz: Wer nichts verkaufen kann, kannauch nichts kaufen.

    Zwischenbilanz

    Die Millionen Opfer sind ein rein moralisches Argument,das den Engel Satan weder beeindruckt noch interessiert,denn er kennt weder Gut noch Bse. Ihn interessiert nur, obdie Gesellschaft funktioniert. Sichert sie ihre eigene Weiter-existenz und ihr berleben auch in einer sich schnell wan-delnden Welt? Und wird sie von ihren Mitgliedern gengendakzeptiert, so dass ihre Weiterexistenz gesichert ist? Beidestrifft fr die egoistische Gesellschaft eindeutig zu. Sie hat alleheien und kalten Kriege, alle Wirtschaftskrisen, alle Streik-aktionen und all die anderen Krisen eines mehrere Jahr-hunderte whrenden Klassenkampfes berstanden. DieKommunisten prophezeiten stndig ihren Untergang. Unter-gegangen sind sie selbst. Geflohen sind die Menschen nichtaus der Marktwirtschaft in den Kommunismus, sondern um-gekehrt von der altruistischen in die egoistische Gesellschaft,auch dann, wenn ihnen ihre sptere Position in der egoisti-schen Gesellschaft nicht bekannt war. Damit ist auch dasGerechtigkeitsprinzip des Philosophen Rawls erfllt.

    Die egoistische Gesellschaft hat fr viele einen nie zu-vor gekannten Wohlstand produziert. Heute leben die rm-sten in Deutschland auf einem Lebensniveau, von dem die

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  • Reichsten des Mittelalters nicht zu trumen gewagt htten:Fenster mit Glasscheiben, Zentralheizung, Khlschrank, Fern-seher, Radio, Musik und Frischobst zu allen Tages- und Jah-reszeiten. Die Frsten des Mittelalters lebten in zugigen, stn-dig kalten Burgen, bekamen im Winter durch VitaminmangelSkorbut, so dass ihnen Zhne und Haare ausfielen. Zur Un-terhaltung hatten sie allenfalls Musiker und Narren.

    Die egoistische Gesellschaft hat wie keine andereGesellschaft Unterschiede eingeschmolzen und dort, woMenschen ber Zahlungskraft verfgen, zuvor ungekannteEntfaltungsmglichkeiten geschaffen. Die egoistische Gesell-schaft will nur verkaufen. Geld und Profit sind hchst de-mokratisch und vorurteilsfrei. Sie schauen nicht auf Herkunft,Hautfarbe, berzeugung oder Geschlecht. Wer zahlt, demwird geliefert. Das Problem, wrde der Engel Satan argumen-tieren, ist nicht die egoistische Gesellschaft. Das Problem ist,dass sie sich noch nicht gengend ber die ganze Erde ver-breitet hat. Die vielen Millionen Hungertoten sind nicht deregoistischen Gesellschaft anzulasten, sondern ihrer ungen-genden Durchsetzung.

    Die Grenzen der egoistischen Gesellschaft

    Da ist aber noch ein zweites, nicht allein moralischesProblem, das der Engel Satan mit seiner egoistischen Gesell-schaft lsen muss: In allen Gesellschaft gibt es Probleme undLebensbereiche, die nicht ber den Markt gesteuert werdenknnen. Dazu gehrt beispielsweise die Liebe.

    Von den Propagandisten der Marktwirtschaft wird be-hauptet, auch die Liebe erledige sich nach dem Prinzip vonAngebot und Nachfrage. Sie meinen, was nichts kostet, seinichts wert. Und natrlich kostet Liebe etwas: Zeit, Nerven,Geschenke, Herzschmerz. Doch Liebe ist gerade dadurch ge-kennzeichnet, dass sie nicht Leistung mit Gegenleistung ver-

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  • rechnet. Sie bedeutet Hingabe. Sie erwchst nicht aus Kal-kulation und ist nicht zu kaufen, nicht einmal vorherzusehen.Das gilt fr die Elternliebe wie fr die geschlechtliche Part-nerschaft, ohne die die Gesellschaft nicht existieren knnte.

    Das gilt auch fr das Netzwerk von Freundschaften undVerwandtschaft. In ihm treffen wir auf ein marktfernes Ge-webe von Untersttzung, Zuneigung und gemeinsamen Ak-tivitten. Ohne dieses Beziehungsgeflecht knnten wir nichtaufwachsen. Wir knnten kein emotional ausgeglichenes Le-ben fhren. Ohne diesen Bereich, der Zivilgesellschaft ge-nannt wird, weil er weder der konomie noch Staat und Politikzuzuordnen ist, knnte keine Gesellschaft berleben.

    Schwerwiegender noch: Was fr die Einzelnen gilt, gilterst recht fr die ganze Gesellschaft. Sie kann nicht leben oh-ne Solidaritt. Das Hineinwachsen der Kinder in die Gesell-schaft erfordert von ihr eine nicht-egoistische, gemeinsameLeistung zur Organisation von Erziehung, Schule und einesbehteten und behtenden Gemeinschaftslebens. AllflligeKrankheiten, Unflle, Brand und Diebstahl sind Risiken, dienicht von den Einzelnen alleine getragen werden knnen,sondern nur durch solidarische Verteilung auf viele.

    Darber hinaus muss die Gesellschaft als Ganze sich vorgemeinsamen Gefahren schtzen: Katastrophen, Seuchen,Kriege. Sie muss ein Rechtssystem entwickeln mit unabhn-gigen und unbestechlichen Organen der Rechtsprechung.Sie muss Polizeikrfte vorhalten, die ihren Gesetzen Geltungverschaffen und die Urteile der Justiz vollziehen. Wenn Polizeiund Justiz kuflich sind, bricht auch der Markt zusammen.Denn der braucht die Eigentumsgarantie, die Gltigkeit vonVertrgen, die Gewaltfreiheit und Bestandsgarantien beimAushandeln von Preisen und Vertragsbedingungen.

    In vielen sogenannten Entwicklungslndern sind alleinegoistische Gesellschaften nicht fhig, die notwendigen ge-meinschaftlichen Leistungen zu erbringen z. B. Straen, Schu-len, Krankenhuser, Forschungseinrichtungen zu unterhalten,oder die Menschen mit sauberem Trinkwasser zu versorgenund ihren Abfall zu entsorgen. Das sind nur die einfachsten

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  • Beispiele fr das hufige Versagen der egoistischen Gesell-schaft.

    In ihrer Reinform ist die egoistische Gesellschaft nichtberlebensfhig. Das ist ein Einwand, der unseren Engel Sa-tan beeindruckt. Der Engel Satan muss seine egoistische Ge-sellschaft umbauen.

    Die ideale Gesellschaft: Die Mischform von selbstloser und egoistischer Gesellschaft

    Die Entscheidung darber, wann die marktwirtschaftli-che Organisation nicht funktionieren kann oder notwendigeLeistungen nicht im notwendigen Umfang erbringt, ist dieAufgabe der Politik. Auch die Entscheidung darber, was inErgnzung der Marktwirtschaft vom Ganzen geleistet werdenmuss und wie das geschehen soll, liegt bei der Politik. Dennder Apparat, der die nicht-marktwirtschaftlichen Leistungenerbringen muss, ist der Staat. Der Staat ergnzt die Markt-wirtschaft um ihre gesellschaftliche Dimension, indem er siezuletzt altruistischen Prinzipien unterwirft. Das Ergebnis istdie soziale Marktwirtschaft.

    Das Wort sozial hat in der Alltagssprache die Bedeu-tung von mildttig und helfend. Dabei heit es nichts ande-res als gesellschaftlich. Eine soziale Marktwirtschaft ist nichtetwa eine mildttig helfende, sondern eine gesellschaftlichausgerichtete Marktwirtschaft, die sich jenseits der konomieum das Funktionieren der Gesellschaft als Ganzes kmmertund berall regelnd eingreift, wo die Marktwirtschaft nicht diegewollten Ergebnisse bringt.Die soziale Komponente darf nie-mals die Marktwirtschaft selbst in Frage stellen, sich zur Plan-wirtschaft entwickeln, denn damit wrde sie die Kuh schlach-ten, von deren Milch sprich Steuern sie lebt.

    In jeder Gesellschaft gibt es Lebensbereiche, die wederTeil der konomie noch Teil der Politik und ihres Staates sind.

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  • Wenn die Menschen weder arbeiten noch Politik machen,bewegen sie sich in dem, was man Zivilgesellschaft nennt, inder Sphre des Privaten, in der Familie und im Freundeskreis,in Vereinen und in der ffentlichkeit. Dort herrschen nicht dieGesetze von Angebot und Nachfrage oder die Regeln derPolitik, sondern es gelten kulturelle Normen, die festlegen, wasmoralisch richtig und falsch ist.

    Das erste Resultat des amoralischen Spiels des EngelsSatan war, dass der Eigennutz ein besserer Berater bei derGestaltung von Gesellschaft ist als der Altruismus und dieAufopferung fr ein angebliches Gemeinwohl. Das zweiteResultat ist, dass der Eigennutz allein nicht trgt. Es geht nichtohne gemeinsame Aktivitten und Kommunikation jenseitsdes Marktes. Es geht nicht ohne die Zivilgesellschaft. Und esgeht auch nicht ohne eine bergreifende Instanz, die sich umdie Lsung fr gemeinsame Probleme jenseits des Markteskmmert. Das ist die Politik. Das heit: Ohne Politik geht esnicht!

    Damit stellt sich nun die Frage nach der Konstruktioneiner idealen Gesellschaft anders als noch am Anfang diesesKapitels. Denn jetzt wissen wir, dass sie hauptschlich nachdem Prinzip des Rette sich wer kann funktionieren muss, er-gnzt durch einen gemeinschaftlichen Bereich, der durch Po-litik gestaltet wird. Statt Welches ist die beste Gesellschaft?lautet nun die Frage: Was ist die beste Politik? Sie muss dieungewollten Folgen des Rette sich wer kann in der Wirt-schaft ausgleichen und entscheidet somit ber die Gte einerGesellschaft.

    Es stellt sich damit erneut die Frage nach der Wahrheit.Denn hnlich wie bei der selbstlosen Gesellschaft wre sicher-lich diejenige Politik die beste, die sich an der Wahrheit und andem durch sie zu bestimmenden Gemeinwohl ausrichtenwrde.

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  • Zweites Kapitel:

    Die Milliarden Leben des Kolumbus oder:Das Verhltnis von Politik und Wahrheit

    Zurck zu der Geschichte von Mark Twain ber dengeheimnisvollen Fremden: Der Engel Satan hatte sich mit denJungs in dem mittelalterlichen sterreichischen Dorf so an-gefreundet, dass er ihnen einen Gefallen tun wollte. Er botihnen an, das Leben eines ihrer besten Freunde zu seinemBesten zu verndern. Die Jungs stimmten begeistert zu undmalten sich schon aus, wie ihr Freund gro herauskommenwrde, vielleicht als General oder Minister.

    Dann erklrte der Engel Satan, wie er das Leben vonNikolaus, ihrem Freund, verndern werde: In zweieinhalbMinuten wird Nikolaus aus seinem Schlaf erwachen und mer-ken, dass der Regen zum offenen Fenster hereinblst. In sei-nem bisherigen Leben war es ihm vorherbestimmt, dass ersich umdrehe und er wieder einschlafe. Aber ich habe be-stimmt, dass er aufstehen und das Fenster schlieen wird.Durch diese Kleinigkeit wird sich sein Lebenslauf vollstndigndern. Er wird am nchsten Morgen zwei Minuten lngerschlafen als es ihm durch die bisherige Verkettung derLebensumstnde vorbestimmt war und deshalb wird keinsder Glieder der bisherigen Verkettung mehr stimmen. Ni-kolaus, erklrt der Engel Satan weiter, werde deswegenzwlf Tage spter um Sekunden zu spt an einem See an-kommen, in dem ein kleines Mdchen treibt und um Hilfeschreit. Nikolaus werde sich ins Wasser strzen und hinaus-schwimmen, um das Mdchen zu retten. Ohne die Verz-gerung wre er gerade recht gekommen und htte sie imnoch niedrigen Wasser gerettet. So werde sie bereits ins Tiefehinausgetrieben sein und beide werden ertrinken.

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  • Was soll denn daran ein Vorteil sein? protestierten dieentsetzten Freunde und flehten den Engel Satan an, allesbeim Alten zu lassen. Der Engel Satan klrte sie auf: WennNikolaus frher an den See gekommen wre, htte er zwardas Mdchen retten knnen, doch er htte sich dabei eineLungenentzndung und dann in seinem geschwchten Zu-stand eine so schwere andere Krankheit zugezogen, dass erfr weitere sechsundvierzig Jahre blind und gelhmt im Bettgelegen und jeden Tag nur um seinen baldigen Tod gebetethtte. Und das gerettete Mdchen htte nach einem Lebenvoller Elend als Mrderin auf dem Schafott geendet. Da tueich beiden mit einem frhen Tod einen groen Gefallen!Fassungslos stimmten die Jungs dem Engel Satan zu undbaten ihn um die versprochene tdliche Verbesserung.

    Schwierigkeiten mit der Zukunft

    Was hat diese Geschichte mit der Frage zu tun Was istdie beste Politik?, mit der das vorangegangene Kapitel en-dete? Politik soll nach der Logik des vorangegangen Kapitelsdie Mngel der Marktwirtschaft ausgleichen. Sie stellt dem-nach einen gegenwrtigen oder drohenden Mangel fest undergreift Manahmen, um ihm abzuhelfen. Politik handeltdemnach von der Zukunft. Die Vorhersehbarkeit der Zukunftist fr sie von allerhchster Bedeutung. Die Geschichte vomEngel Satan und dem besseren Leben des Nikolaus handeltauf die fr Mark Twain typisch verquere Art von den Schwie-rigkeiten bei der Vorhersehbarkeit der Zukunft. Mit der Ge-schichte stecken wir also mitten im zentralen Thema derPolitik.

    Denn wie verndert der Engel Satan das gesamte Lebenzweier Menschen? Durch das Schlieen oder Offenlasseneines Fensters, durch das es hereinregnet. Nikolaus, der sonstdurchgeschlafen htte, wird durch den Regen geweckt und

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  • steht nun auf, um das Fenster zu schlieen. Diese wenigenSekunden, diese absolut zufllige und banale Kleinigkeit, ver-schiebt das sptere Zusammenspiel und Zusammentreffenvon Ereignissen und erzeugt eine neue Kette von Ursachenund Wirkungen.

    Mark Twain lsst das seinen Engel Satan so erklren:Das Leben ist nicht gttlich vorbestimmt, sondern durch dasZusammenwirken von eigenen Handlungen und Umwelt. Dieerste Handlung bestimmt die Zweite und alle anderen, diefolgen. Aber nimm einmal an, dass ein Mensch eine der Hand-lungen auslsst, eine anscheinend vllig unbedeutende zumBeispiel. Nimm an, es sei ihm festgelegt, dass er zu einer be-stimmten Zeit, zu einem bestimmten Bruchteil einer Sekun-de an den Brunnen geht und er macht das nicht, dann wirdvon diesem Zeitpunkt an sein Leben ein vllig anderes. Bis zuseinem Grab wre es ein anderes als das, was seine erstenHandlungen als Baby fr ihn festgelegt htten. Es knnte sein,dass er zum Knig geworden wre, htte er den Gang zumBrunnen nicht ausgelassen, dass er aber nun als Bettler endet.Oder Kolumbus: Wenn er auch nur eine seiner vielen Hand-lungen ausgelassen htte, die durch seine ersten kindlichenHandlungen entworfen und unvermeidlich gemacht wordensind, dann htte er als armer Priester irgendwo in Italien ge-endet, ohne je Amerika gesehen zu haben und Amerika w-re erst zweihundert Jahre spter entdeckt worden. Ich ha-be die Milliarden mglichen Lebenslufe von Kolumbus allegrndlich untersucht. Und nur in einem einzigen von ihnenkommt Amerika vor.

    Die Milliarden Leben des Kolumbus werfen ein Schlag-licht auf die Schwierigkeiten der Politik. Politik versucht, Zu-kunft zu gestalten. Wenn Zukunft so sehr vom Zusammen-spiel winziger Kleinigkeiten und Banalitten abhinge, wie inder Geschichte von Mark Twain, dann wre Politik ein schwie-riges, ja unmgliches Unterfangen. Wir mssen also unter-suchen, inwieweit der Engel Satan Recht hat. Und natrlichstimmt seine Analyse nicht. Denn selbst wenn Nikolaus we-gen des Fensters, das er geschlossen hat, an diesem Tag ln-

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  • ger schlft als sonst, bedeutet es nicht, dass er auch am fol-genden Tag lnger schlft. Mit grter Wahrscheinlichkeithat das Schlieen des Fensters in der Nacht zwlf Tage zu-vor keinerlei Auswirkungen auf das zeitliche Zusammenspielder Ereignisse am Tag des Unglcks. Wre das Mdchen amTag des Fensterschlieens ins Wasser gefallen, wre Nikolaustatschlich einige Sekunden zu spt hinzugekommen. Dannwre die Argumentation des Engels Satan bzw. Mark Twainsplausibel.

    Im Rckblick erscheint das eingetretene Leben als daseinzig Mgliche und Vernnftige und nichts liegt ferner alsder Gedanke einer unberschaubaren Zahl vllig unter-schiedlicher mglicher Lebensverlufe. Doch das Leben dermodernen Menschen ist voller kritischer Situationen. JedeAutofahrt, jeder Flug, jede Zugreise kann in einem lebens-verndernden Unfall enden, in den man durch eine verhng-nisvolle Verkettung von zeitlichen Ereignissen und winzigenZuflligkeiten hineingert oder ihm glcklich entgeht. In derPolitik gibt es noch viel hufiger solche kritischen Situatio-nen: Psychisch Gestrte, die es auf Prominente abgesehenhaben; politische Gegner, die sich Intrigen ausdenken; zufl-lige Ereignisse, eine Flut etwa oder Sieg oder Niederlagebei der Fuballweltmeisterschaft die das Wahlergebnis be-einflussen; das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Krf-ten, die zielgerichtetes Handeln verstrken oder wirkungslosmachen knnen.

    Ein Beispiel: Am Abend des 8. November 1923 amHhepunkt der Geldentwertung durch den verlorenen Ers-ten Weltkrieg (ein Brot kostete mehrere Millionen Reichs-mark), am Hhepunkt der innen- und auenpolitischen Wir-ren (es hatte mehrere gescheiterte Aufstandsversuche derKommunisten und Putschversuche der Rechten gegeben, dieFranzosen waren ins Ruhrgebiet einmarschiert) erklrteAdolf Hitler bei einer Massenkundgebung im MnchnerBrgerbrukeller zugleich die bayerische, die Reichsregierungund den Reichsprsidenten fr abgesetzt. Am nchsten Tag,einem der vielen bedeutsamen 9. November der deutschen

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  • Geschichte, inszenierte Hitler mit seinen Anhngern und ei-nigen prominenten Figuren des Ersten Weltkrieges einenMarsch auf Berlin. Damit folgte er dem Vorbild der italieni-schen Faschisten, die mit ihrem Marsch auf Rom die Macht inItalien erobert hatten. Schon nach wenigen hundert Metern,in Mnchen an der Feldherrenhalle, stieen die Marschiererauf einen Trupp regierungstreuer Polizisten. Die forderten diePutschisten auf, sich zu ergeben oder es werde geschossen.AlsHitler und seine Mannen weitermarschieren, feuerte die Po-lizei und ttete sechzehn Mann. Hitler htte einer von ihnensein knnen. Die Kugel verfehlte ihn nur um Zentimeter, weilder Mann an seiner Seite getroffen wurde und im Sturz Hitlerzu Boden riss. Die Zeitungen htten von seinem tragischenTod berichtet und die Geschichte Deutschlands und derganzen Welt wre ganz anders verlaufen. Sie wre nur durchdie Verschiebung des Gewehrlaufes um ein paar Millimeterbewirkt worden, eine genauso kleine und banale Vernderungwie das offene Fenster in der Geschichte von Mark Twain.

    Die Geschichte, die tatschlich stattgefunden hat und dieuns heute wie naturgegeben erscheint, ist wie die Milliar-den Leben des Christoph Kolumbus nur eine von vielen mg-lichen Geschichtsverlufen. Hier nur eine der denkbarenAlternativen: Hitlers Tod bringt die linken und rechten Put-schisten zum Aufgegeben. Die Weimarer Republik stabilisiertsich. Sie findet eine breite Basis in der Bevlkerung und auchdie konservativen Parteien akzeptieren Demokratie und Par-lament. Auenpolitisch wendet sich die Weimarer Republikzusammen mit England und Frankreich gegen das faschisti-sche Italien und schafft es, die USA aus ihrer Isolationspolitikzu lsen und fr eine antifaschistische Politik im Vlkerbundzu gewinnen. Das faschistische Italien wird mit Sanktionenund Handelsboykott vom Rest der Welt isoliert und findet sichbald zu einer weniger radikalen Politik bereit. Dadurch verlie-ren die sonstigen faschistischen Bewegungen in Europa anGlaubwrdigkeit und werden zu bedeutungslosen Splitter-parteien. Die Sowjetunion reibt sich durch ihre inneren Macht-kmpfe auf und verliert ohne die faschistische Gefahr an Ein-

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  • fluss. berall in Europa gewinnt daher die Sozialdemokratiedie Oberhand, insbesondere weil sie im Einklang mit derArbeitsbeschaffungspolitik Roosevelts die Weltwirtschaftskri-se besser bewltigt als die Lnder mit brgerlichen Regie-rungen. Und so verbreitet sich in den vierziger Jahren derdemokratische Sozialismus ber die ganze Welt.

    Diese heute fantastisch klingende Alternative hattedamals die gleiche Wahrscheinlichkeit,Wirklichkeit zu werden,wie das, was wir heute als Geschichte kennen. Alle Elementedieser Gedankenkonstruktion waren damals gegeben. Sie ht-ten geschehen knnen, wenn die antidemokratische Propa-ganda der Rechtsradikalen vom Schlage Hitlers damals nichtdie konservativen Parteien immer weiter nach rechts und ge-gen die Weimarer Republik getrieben htte. Die Verhltnissestanden damals auf der Kippe. Es wre auch mglich gewe-sen, dass Hitler erfolgreich zum Mrtyrer der nationalen Bewe-gung ausgerufen und durch einen noch fanatischeren, nochwirksameren, charismatischeren Nachfolger ersetzt wordenwre, der die Konservativen so unter Druck gesetzt htte, dassdie Nazibewegung schon 1931 eine parlamentarische Mehr-heit errungen htte. Doch auch dann wre die Geschichte eineandere geworden als wir sie heute kennen. Vielleicht htte esein Bndnis mit den faschistischen Bewegungen in Italien,Frankreich, Polen, Ungarn und Spanien gegeben, das sich miteiner kontinentalen Autarkiepolitik gegen die Wirtschaftskri-se erfolgreich zur Wehr setzte und sich immer mehr ausbrei-tete, und Europa wre auf friedlichem Weg faschistisch ge-worden.

    Durch geringe Vernderungen zuflliger Kleinigkeitenwie das offene Fenster bei Mark Twain, kann Geschichtedurchaus einen anderen Verlauf nehmen, besonders dann,wenn die Verhltnisse auf der Kippe stehen. Es sind vielleichtkeine Milliarden, aber viele Tausende alternative Leben desKolumbus durch solche kleinen Vernderungen denkbar.Seine Reise stand bekanntlich fter auf der Kippe, so dassin den meisten von ihnen Amerika tatschlich nicht vorkom-men drfte.

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  • Von der Willensfreiheit

    Das Ganze wird noch komplizierter durch unsere Wil-lensfreiheit. Es spielt nmlich nicht nur der Zufall eine Rolle imWirrwarr der Verkettungen von Ursache und Wirkung. Wirhaben die freie Wahl. Wir knnen uns fr oder gegen eineHandlung entscheiden.

    Zwar zeigt die Hirnforschung zur Zeit, dass es begrn-deten Zweifel an unserem freien Willen gibt: Wenn man imExperiment jemanden bittet, zu entscheiden welchen Fin-ger er bewegt und seine Hirnstrme dabei misst, zeigt dasAreal, das fr die Entscheidung zustndig ist, erst nach demAreal Aktivitt, das die Bewegung auslst. Das Gehirn spie-gelt uns also so meint die Hirnforschung nur die Illusioneiner freien Entscheidung vor. Irgendetwas hat in uns lngstvorher entschieden. Fr uns selbst und fr andere ist die Ent-scheidung nicht vorhersehbar und hat daher die gleicheWirkung wie eine freie Entscheidung, gleichgltig was sie be-wirkt hat. Fr die Politik hat es auch die gleiche Wirkung wieeine tatschliche freie Entscheidung: Eine weitere Flle nichtvorhersehbarer und unkalkulierbarer Einflussfaktoren auf dastatschliche Geschehen. Sie multiplizieren in kippeligen Si-tuationen die Anzahl der mglichen Geschichtsverlufe einweiteres Mal.Wieder ein Beispiel aus der Geschichte:

    Adolf Hitler, der den 9. November 1923 berlebte, feier-te als Diktator jedes Jahr sein berleben. Immer am 8. No-vember abends kehrte er in den Mnchener Brgerbrukel-ler zurck und hielt dort, an derselben Stelle, an der er damalsden Putsch ausgerufen hatte, eine Rede an seine Anhnger.Fr den 8. November 1939 hatte Georg Elser ein Attentat vor-bereitet. Er hatte in die Sule, vor der Hitler jedes Jahr immerzur gleichen Zeit sprach, eine Bombe mit Zeitznder versteckt,der genau auf den Zeitpunkt der Rede eingestellt war. Mitdem Attentat wollte Georg Elser den Krieg verhindern, wieer spter vor der Gestapo aussagte.

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  • Hier kommt der freie Wille ins Spiel: Hitler entschied sichzuerst, wegen seiner Kriegsplne ausnahmsweise in diesemJahr berhaupt nicht zu reden. Statt seiner sollte sein Stell-vertreter, Rudolf Hess, sprechen. Dann entschied sich Hitlerwieder um und beschloss, doch zu reden. Er wollte eine grund-stzliche Rede halten. Wegen des schlechten Flugwetters undTerminen am nchsten Morgen in Berlin entschied er sichdann aber, viel krzer zu reden als sonst. Als die Bombe dannzum vorher eingestellten, normalerweise richtigen Zeitpunktexplodierte und alle im Umkreis der Sule ttete, war Hitlerbereits auf dem Weg zum Flughafen. Die Willensfreiheit Hitlersrettete ihm das Leben und zerstrte in der Folge vielen Mil-lionen anderen das ihre. Denn wenn er zu diesem frhen Zeit-punkt des Krieges gestorben wre, htten seine Nachfolgerwahrscheinlich den Frieden mit den Westmchten gesucht.

    Das eine Leben, das Wirklichkeit wird, das wir tatschlichleben, erscheint im Nachhinein als das einzig logische, oftgenug als das einzig mgliche Leben selbst dann, wenn in ihmzum Beispiel ein Lottogewinn oder das zufllige Zusammen-treffen mit einer Jugendliebe eine entscheidende Rolle ge-spielt haben. Diese Wahrnehmungsverschiebung macht unsblind fr die schwer vorstellbare, verborgene Welt dessen,was htte sein knnen. Wir ahnen sie nicht einmal mehr, dieVariationen des Mglichen. Also immer, wenn es darum geht,Zukunft zu gestalten, also immer wenn es um Politik geht,stehen wir in der Regel vor einem kaum bersehbaren Feldvon Mglichkeiten, die wir spter wieder vergessen.

    Die nicht beabsichtigten Folgen zielgerichteten Handels

    Politik ist zielgerichtetes Handeln. Nehmen wir zumBeispiel die Gesundheitspolitik. Ziel ist es, die Gesundheits-versorgung der Bevlkerung bei zahlbaren Kosten so zu op-

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  • timieren, dass niemand, egal in welcher sozialen Schicht, un-ntig leiden oder sterben muss. Wie bis jetzt deutlich ge-worden ist, findet Politik in einem Feld sehr vieler Variablenstatt, deren Zustand und Entwicklung nur zum Teil vorher-sehbar sind. So kann jederzeit eine neue tdliche Grippe-epidemie ber das Land hereinbrechen oder die jungenFrauen rauchen noch mehr als jetzt schon und verursachendamit einen rasanten Anstieg des Lungenkrebses der Frauenschon im arbeitsfhigen Alter. All das sind Beispiele aus demArsenal des Engels Satan, die kaum vorhersehbar und nochweniger steuerbar ber ein Land hereinbrechen und alle po-litischen Planungen zunichtemachen knnen.

    In diesem Feld kaum zu berschauender Variablen mussPolitik versuchen, ihr Ziel dennoch zu erreichen. Um sichzum Beispiel gegen die Grippe zu wappnen, wird eine Impf-pflicht eingefhrt. Gegen die Gesundheitsgefhrdung durchdas Rauchen wird die Tabaksteuer so erhht, dass sich derPreis von Zigaretten verdoppelt. All das erscheint auf den ers-ten und zweiten Blick eine vernnftige, zielgerichtete Hand-lung zu sein. Weil man aber mit seinem Handeln in einemFeld mit vielen unbekannten Variablen agiert, kann es im-mer zu unvorhergesehenen und ungewollten Folgen kom-men. Im ersten Beispiel: Die Massenimpfung fhrt bei aller-gischen Frauen einer bestimmten Blutgruppe zum Vollbildder Krankheit. Bei ihnen kommt es zu Mutationen des Virus,die sich rasend schnell auch bei den schon Geimpften aus-breiten. Im zweiten Beispiel: Die Preiserhhung bei Zigaret-ten um das doppelte macht den Zigarettenschmuggel solukrativ, dass eine ganz neue kriminelle Szene mit groenVerdienstmglichkeiten aufblht. Schmugglerbanden liefernsich blutige Schlachten in den Stdten und unterbieten ein-ander im Preis. Fr junge Szenefrauen gilt es als besondersschick, geschmuggelte blutige Zigaretten zu rauchen. In derFolge gibt es Zigaretten so billig wie nie zuvor.Der Anteil sch-tiger Raucherinnen schon an den Schulen nimmt rasant zu.

    Die Beispiele zeigen, wie sich aus dem Feld der oft un-berschaubaren Variablen jederzeit eine unvorhergesehene

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  • Folge ergeben kann, die einen htte man sie vorhergesehen von der Handlung wahrscheinlich abgebracht htte. Manerkennt die unerwnschten Folgen aber erst nachdem sie ein-getreten sind. Dann handelt man erneut zielgerichtet undtrifft hufig auf neue unerwnschte Folgen. Man stellt eineeigene Polizeitruppe gegen den Schmuggel auf, die an denSchulen so rabiat auftreten, dass die Eltern rebellieren und beider nchsten Wahl der Opposition zur Macht verhelfen. Manverhngt ber die Grippeerkrankten eine strikte Quarantnemit der Folge einer schweren Wirtschaftskrise, die auch denVerlust der Macht einlutet. So gilt: Die Probleme von heutesind meist die Folgen der Lsungen von gestern. Wir ent-wickeln das Auto, um schneller von A nach B zu kommen. Undals nicht beabsichtigte Folge unseres zielgerichteten Han-delns stehen wir im Stau.

    Politik unter Bedingungen der Ungewissheit

    Wie kann unter solchen Bedingungen Politik gemachtwerden? Politik soll und muss Gefahren abwehren, Proble-me lsen, die Zukunft voraussehen und die Gesellschaft ge-gen Bedrohungen schtzen. Doch Planen ist in einer freienMarktwirtschaft schier unmglich. Denn die meisten Ereig-nisse in ihr entstehen unbeeinflusst von Politik durch die frei-en Entscheidungen der Marktteilnehmer. Waren werden nachfreier Entscheidung gekauft und verkauft. Politik soll aberdennoch die Folgen dieser kaum steuerbaren Prozesse auf-fangen. Doch in einer Marktwirtschaft sind die Komplexittder Probleme und die Vielfalt der Variablen so gigantisch, dasseine klare Zukunftsplanung und sicher vorhersehbare Hand-lungsablufe unmglich sind. Politik kann unter solchen Um-stnden nur in einem Korridor der Wahrscheinlichkeitenhandeln. Sie muss Ziele haben und dem Weg der wahr-scheinlichsten Entwicklungen folgen. Aber Politik muss auch

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  • auf weniger wahrscheinliche neue Tendenzen achten, ber-raschende Folgen zielgerichteten Handelns bedenken undauf fr vllig unmglich gehaltene, berhaupt nicht bedach-te uere Ereignisse vorbereitet sein und zielfhrend reagie-ren.

    Dabei gilt Murphys Gesetz: Wo etwas schief gehen kann,wird es schief gehen, denn nichts ist idiotensicher, weil dieIdioten zu einfallsreich sind. Das heit, der Zufall macht auchdas extrem Unwahrscheinliche mglich. Und wenn es mglichist, tritt es irgendwann ein vielleicht schon morgen.

    Mark Twains Engel Satan lehrt mit seiner Geschichte vonden Milliarden Leben des Kolumbus die zweite unmoralischeErkenntnis ber Gesellschaft: Politik kann gar nicht mit derWahrheit dienen. Das Eintreffen ihrer Versprechungen undPlanungen liegt nur zu einem kleinen Teil in ihrer Hand. Dienicht beabsichtigten Folgen ihres zielgerichteten Handelnsholen sie immer ein. Es kommt immer und unausweichlichanders als man denkt. Man kann sich nur bemhen, die Folgensolcher unvorhergesehenen Entwicklungen zu mildern. Dochdabei wird es wieder unvorhergesehene und unerwnschteFolgen geben. Und auch um diese wird man sich kmmernund wieder neue, nicht beabsichtige Folgen erzeugen. Und soweiter bis in die Unendlichkeit. Nichtstun, ist keine Alternative.Denn auch das verursacht unvorhergesehene und wahr-scheinlich auch unerwnschte Folgen.

    Politik kann somit kein souvernes Planen nach vernnfti-ger Einsicht sein, wie man es so gerne htte. Politik ist immerzielgerichtet und insofern vernnftig.Aber sie muss immer mitunbeabsichtigten Folgen und unvorhergesehenen Ereignis-sen rechnen, auf die sie reagieren muss. Es ist nicht das Fah-ren eines vorausberechneten Kurses auf ruhiger See, wie mansich das gerne vorstellt und wie die Politik sich gerne ffent-lich prsentiert. Vielmehr ist sie durch wechselnde Winde,unvorhersehbare Strmungen, verborgene und erst spt er-kannte Eisberge, unangemeldeten Gegenverkehr und immerneue Wnsche der Auftraggeber gezwungen, einen Schlin-gerkurs mit teils groen Umwegen zu fahren, der aber immer

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  • auf das Ziel ausgerichtet ist und sich diesem irgendwie im-mer mehr nhert und es vielleicht irgendwann tatschlicherreicht, aber in meist so vernderter Form, dass es mit demursprnglichen Ziel kaum mehr etwas zu tun hat. Politikstellt sich in den Programmen und Wahlkmpfen gerne als dersouverne Akteur dar. In Wirklichkeit ist es immer ein Durch-wurschteln im Korridor der Wahrscheinlichkeiten.

    Wie viel Wahrheit ist mglich und ntig in der Politik?

    Wie schon gezeigt, gibt es noch ein weiteres, noch schwer-gewichtigeres Problem mit der Wahrheit in der Politik. Zwarwre es das Beste, wenn eine Gesellschaft von der Wahrheitregiert werden knnte, doch endeten die meisten Gesell-schaften, die im Namen der Wahrheit angetreten sind, alsTerrorgesellschaften. Denn wenn jemand glaubt, die Wahrheitzu besitzen, muss es selbstverstndlich und logisch erschei-nen, die Wahrheit auch gegen den Widerstand derjenigendurchzusetzen, die sich der Wahrheit verschlieen. Das ist diegroe Gefahr der Wahrheit, wenn man sie zu haben meint. DieFrage ist, ob sie berhaupt zu haben ist

    Konstruktivismus die Lehre von der Ungewissheit der Wirklichkeitsmodelle

    Die Wahrheit ber die Welt, wie sie wirklich ist und sichentwickeln wird, kann vermutlich weder durch Vernunft nochWissenschaft ermittelt werden. Denn Vernunft und Wissen-schaft entwerfen Theorien und Modelle ber das Verhaltender Wirklichkeit. Die Wirklichkeit selbst erfassen sie dabei ver-