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Beiträge zur Integration Herausgeber: Volker Schönwiese und Gabriele Rath Internet-Volltext-Bibliothek BIDOK : http : //bidok. uibk. ac. at/ Valerie Sinason i0 t *"{ t- {t iJ ¡( n I Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins Ilbersetzung aus dem Englischen Barbara Strehlow Wolfgang J antzen (Gedichte) untersttitzt durch die Stiftung propter homines Zpd) Luchterhand

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Beiträge zur IntegrationHerausgeber: Volker Schönwiese und Gabriele RathInternet-Volltext-Bibliothek BIDOK : http : //bidok. uibk. ac. at/

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Geistige Behinderung und dieGrundlagen menschlichen Seins

Ilbersetzung aus dem EnglischenBarbara StrehlowWolfgang J antzen (Gedichte)

untersttitzt durch die Stiftung propter homines

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3 Primäre und Sekundäre Behinderung:Steven

Headbanger

Der Mann trat die Glotze zurechtund so drosch er, droschmit seinen gro/ìen Fdustenauf die vertraclúe Störungin seinem Gehirn einSeine Knöchel schwollen zu Keulenauf seiner Stirn wuchsen Beulenaber das Bild änderte sich nicht>Spøtzenhirn< schrie seine Mutterversorgte ihn mit Pflaster und lMaschlappenmit Schutzhelmen und UmarmungenSie konnte sehenes war ein verletzter Adlerder im Halbdcimmer seiner Augenflimmerteder würde nie zurecht kommenund wenn er seinen Augen erlaubtesich weit zu öffiendann trat er den Fernseherzu Klump

ren dar, fiel aber bald einem simplifizierenden Missbrauch zum opfer.lvenn ein behinderter Patient duich eine bessere Besetzung des Mitar-beiterstabes oder das Leben in der Einrichtung Fortschritte ;acht., dunny"r* die^ Bedeutung der Veränderung durcir die Feststellung någiert,der tsetrefl'ende sei von vornherein nicht wirklich behindert -ge*"s"rr.Entsprechend wurde die emotionale Not des organisch Behindãrten mitder pauschalen Ausrede_ abgetan, die emotionãle Störung r"i i"it ¿",Behinderung. In England bekam die psychoanalltikerin unã Kinder-psy-chotherapeutin Frances Tusrrx so oft zu hören, die verände*ng"n uêiihren autistischen Patienten seien der Tatsachó zu verdanke",-ãä, ,i"von Anfang an nicht autistisch gewesen seien, dass sie sich âaraufhinentschloss, jeden Patienten, den siè in Therapie zu nehmen gedachte, zuerstvon einem Íìihrenden Psychiater begutachten zu lassen þãrsrinlicúe Mit-teilung 1989).Kennzeichen gegenwärtigerr Fortschritts ist, dass wir mit der Auffassung."'abgeschlossen haben, dei Zustand des >echt< behinderten patienten seiallein durch die Hirnschädigung bedingt. verschieden" rorr"t "i isroo,1971; suarrea 1977) s1n{ zu-anaeren Ergebnissen gekomm"". oerÞsy.t -later L). sneprsn zum Beispiel hat herausgefunden, dass >>hirngeschadig-te Nicht-Leser sich offenbar nicht von ñicht-Leiern ohne Fiimschädi-gung unterscheiden....die meisten Auswirkungen von Hirnschädigung auf -idas verhalten scheinen indirekt zu sein.<< 1s. ãoz¡ obgleich ruri ã1" rir,-9:lrlt einem lQ unter. 5 0 einen organischèn Hirnscttí¿"" rruu"n ç*o',u,1 960)-rq{.anfülliger rrd ry psychiatrisch relevante Störungen inurtr*et al. 1970), sind sich Forschèr wie John coResrr (1g75) rJr,, Ètuì ¿ur-über, dass die Hirnschädjgung nicht der einzigekausale r'áktor sein tu.rrr,und dass der Grund für die grbßere verletzbalkeit daher eine ofie.re pra-ge ist. Roger D. Fns¡vaN (1970) hebt hervor, dass die emotionalen sto-rungen bei Jugendlichen miT. zercbralparese häufig sind, aber keinen di-rekten.Bezug zur Hirnschädigung habèn. In seineiErört"ru"g ãèi riLutu-strophischen wutanflille<, der Gefühlsausbrüche von Kindeä mit Epi-lepsie, die liyng einer Hirnschädigung zugeschriebe., *".d"rr, ?ìÈht K.Goi,osrsru (1948) in Betracht, dassiie ii"ilãi"rrt auf eine neinelon ¡at-toren zurückzuführen sind, etwa auf die übervorsichtige verschonungvor den üblichen Konsequenzen schlechten Betragens, dîe unterwerfun!unter schmerzhafte, unerwünschte prozeduren oã"r einen übermaßigeñund unvernünftigen Druck seitens der Umwelt.Die scþ¡¡¿lç¡igkeiten, organisch bedingte Behinderung im unterschieö1zur sekundären Behinderung zu definieien, sind substan"ziell. In deÀ v".- ,such, einen internationalen Konsens über die Klassifizierurg prv.rri"t ì- ischer störungen herbeizuführen, hat die wHo (weltg"r"n¿iãit'rã-rläi-sation) ein System entworfen, nach dem eine stòrunglaur""^.hãà-"n"nAchsen_festgehalten werden kann. Es ist unter ¿er gãzeichn""g;,N4"ili-axiale Klassifizierung kinderpsychiatrischer Störungen<< u"tunít j"*or-

Primåire und Sekundäre Behinderung: Steven 67

Valerie Sinason

Bei Kindern und Erwachsenen mit organisch bedingter Behinderungliegt eine genetische Schädigung, eine Schädigung der Chromosomenodõr des Gãfrirns vor. Sie ist real, messbar und unheilbar. Der Gebrauchoder der Missbrauch jedoch, den eine Person aus Gründen der Abwehrvon der primären Schädigung macht, kann manchmal umfassender seinals die úrsprüngliche Behinderung selbst. Diese Unterscheidung zwi-schen primärer und sekundärer Behinderung hat eine frühere Auffas-sung ü^berholt, die sowohl in den USA als auch in Großbritannien ge-goltén hat. Ein amerikanischer Exponent dieser früheren Auffassungivar E. Dorl. In seinem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahre 1953Counseling parents of severely retarded children (Beraigng v9.n Elternschwer teúidierter Kinder) hat DOLL zwischen dem >>echt< Minderbe-gabten und dem >Pseudo-schwachsinnigen<, dessen Intelligenz durchl{erkunft und Emotionen blockiert ist, unterschieden. Zunächst stell-te diese Theorie eine wichtige Anerkennung psychogenetischer Fakto-

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: den. Rurr¡,n, SHArrEn und Su¡pHr,no (I97 5) haben ursprünglich fünf Ach-sen herausgearbeitet: das klinische Syndrom, spezifische Entwicklungs-verzögerungen, das Intelligenmiveau, der medizinische oder organischeBefund und die psychosoziale, familiäre Situation. Selbst mit diesem In-strument, stellen sie klar, gibt es keinen Konsens darüber, welches Aus-maß an Verhaltensstörung als Teil geistiger Minderbegabung zu erwar-ten ist.In unserem Workshop an der Tavistock Clinic haben wir die Erfahrunggemacht, dass der IQ ein brauchbarer Maßstab für den Zustand ist, indem sich jemand zum Zeitpunkt des Tests befindet. Die nützliche Defini-tion von Jon Sror¡, (1985), Bçhinderung sei e-in Zustand,lzz-dør-triq{nund qq;. dem. heraus sich. dieietroffenen*b.aw"egçn,Jnuss man dabei imHinterkopf behalten. Wenn natürlich jemand schwerst behindert ist, dannist die Zeit in einem Zustand der Behinderung länger, aber auch dann istein Wegweiser von Nutzen, wie weit reichend und tief greifend solch einZustand ist. Bemerkenswert ist, dass der einzige behinderte Patient, dereinen IQ-Test bei meiner Kollegin Sheila BIcHnno nicht durchführenwollte, Tomás war (Kap. 5), also genau der eine Patient, der eine Lang-zeittherapie nicht durchstehen konnte. Alle anderen fanden es befriedi-gend, mit jemandem zusammenzukommen, der sich bemüht hat, Unter-schiede für sie herauszuarbeiten.

sich die Frage, ob die organische Krankheit ein Gefühl physischen Un-behagens im Gehirn hinterlässt, aber auch psychodynamische Fragen nachder Natur des Angriffs werden aufgeworfen. Therapie hat leider in allenFällen mit einer Frequenz von nur einer Wochenstunde stattgefunden.Das ist zum Teil auf eine Situation zurückzuführen, die sich gesundheits-politisch als Hindernis auswirkt. Die Möglichkeit einer psychoanalyti-schen Psychotherapie mit dieser Patientengruppe ist so neu, dass es dafürkeine finanzielle Vorsorge gibt. Als ich mit dieser Arbeit anfing, hatteich nur zwei ständige Einheiten pro Woche (insgesamt sieben Stunden)zur Verfügung. Wegen der Dringlichkeit und der Art der Uberweisungenbin ich bald dazu übergegangen, zusátzlich weitere ca. 18 Stunden vonmeiner privaten Zeitbereitzustellen, die meine Klinik gelegentlich teil-weise aus Forschungsmitteln vergüten konnte. Vor einiger Zeit hat dieTavis tock Foundation eine ehrenamtliche Koordinatorin für Spendenauf-rufe ernannt, Jill WarrER, der es gelungen ist, zusätzliche Mittel für dieArbeit mit geistig Behinderten einzuwerben. Das deckt meine klinischeArbeit flir zwei Jahre. Zum Problem meiner eigenen begrenzten Zeitkommt hinzu, dass die meisten behinderten und gestörten Patienten min-

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destens zwei stunden von der Klinik entfernt wohnen. Ihre Störung ist sogravierend, dass die Mitarbeiter den Zeitaufivand frir wert halteñ, eineBegleiçerson mit Fahrer für letztendlich über einen halben Tag pro wochezu erübrigen.In einer Sitzung von filnfzig Minuten, nach Besprechung mit dem zu-ständigen medizinischen Berater, kann ich sorgfÌiltig tiber ãie Bedeutungeiner selbstattacke nachdenken und brauche dén patienten nicht mit Gurlten zu fixieren. Die Mitarbeiter aber, die mit solchen Klienten über einenzeitraum von jeweils acht Stunden zusammen sind, können diese Hal-tung nicht einnehmen, sonst würden ihre Patienten sterben. Manche kön-nen sich selbst solche schrecklichen wunden beibringen, dass ohne Fi-xierung der Tod eintreten wtirde. selbstverständlicti wtirde ich keine

In diesem Kapitel stelle ich einen vor, der einene hatte - eine der

am weitesten verbreitete Ursache der Behinderung bei den Jungen, diezu uns überwiesen wurden. Seine sekundäre Behinderung schüizte ihnvor der Erinnerung an die primäre organische schädigung und auch andie Probleme in seiner umwelt. Ich sõllte ihn sechs lãnrã tang in einerTherapie mit einer wochenstunde'bèhándeln, bis er sechzehn'uiar und inëiri wöhnheim für Erwachsene umzog. das zu weit entfernt lag, als dasswir den direkten Kontakt hätten aufrechterhalten können.

Steven

Dieser Junge, den ich steven nennen will, war das zweite von drei Kin-dem. Zur zeit seiner Geburt war die Ehe seiner Eltern bereits in Schwie-rigkeiten Jvegen der Belastung, die der sich verschrechternde körperlichezustand der ältesten Tochter Mary mit sich brachte. sie war -it "itretKörperbehinderung geboren worden und ist inzwischen verstorben. DieDepression angesichts der schweren Krankheit der Tochter bedeutete,dass fi.ir Steven wenig zeit ubrig blieb, und er passte sich der situationan' indem er ein >vollkommen ruhiges Baby< war. Erst bei einer Routi-neuntersuchung in der Klinik wurde seine Zerebralparese entdeckt.Als Steven zwei Jahre alt war, wurde Carole, eine gesunde Tochter, ge-boren. Auch wenn man erleichtert feststellte, dassiie normal war, wardie Schwangerschaft nicht bewusst geplant gewesen, und der.r"rró A.r-kömmling erhöhte die eheliche Belaitùng. Die Arbeitsrosigkeit des va-

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ters war eine zusätzliche Schwierigkeit. Steven wurde in einem Ganz-tagskindergarten untergebracht, damit seine Mutter mit dem neuen Babyund der anderen Tochter zurechtkommen konnte, und zeigte dort aggres-sives Verhalten. Zur Zeit, als sein Vater von zu Hause wegging - da warSteven drei - waren seine Attacken gegen sich selbst so geftihrlich, dasser in ein Krankenhaus eingewiesen wurde.Der Vater war vor der Trennung gewalttätig gegen die Mutter gewesen,und es bestand eine gewisse Sorge, dass vielleicht auch Steven, außerdass er Zeuge der Gewalt war, dabei verletzl worden war. Jedes Mal,wenn Steven das Krankenhaus verließ, ttaten seine Selbstattacken wie-der auf. Verhaltenstherapie half vorübergehend, am Ende war es aber nurein anderer Körperteil, den er attackierte. Mit sechs wurde er in ein Heimfür schwer mehrfach behinderte Kinder gebracht, aber seine Gewalttä-tigkeit blieb weiterhin bestehen und war so heftig - sich selbst gegentiberdurch Kopfschlagen und den Mitarbeitern gegenüber durch Beißen -,dass man Angst davor hatte, was geschehen würde, wenn er erst älter undstärker wäre.Weitere Hilfe wurde in der Abteilung für Verhaltenstherapie gesucht.Hier fanden die Mitarbeiter des Heims eine unschätzbare Unterstützungfür den Umgang mit den Schwierigkeiten. Zum Beispiel entdeckte man,dass das Wecken am Morgen einen Zustand auslöste, in dem er gewalttä-tig wurde. Der behaviouristische Ansatz war der, sanft mit Steven zusprechen, sodass er langsam und allmählich aufwachte. Die Mitarbeite-rin sollte einen physischen Abstand wahren, wenn sie ihn weckte. Ob-gleich Hilfestellungen wie diese die Zahl gewalttätiger Ausbrüche ver-ringerte, war die Selbstverletzung immer noch Anlass zu großer Sorge.Steven wurde schließlich im Alter von zehn Jahren zu mir überwiesen.Im Begleitbrief wurde darauf hingewiesen, dass keine der Beratungsstel-len in derNähe einen solchen Patienten übernehmen wolle, dass das Heimaber eine Begleitperson und einen Fahrer steller_r würde, wenn wir ihmeinen Platz anbieten könnten. Das ist bei den Überweisungen, die wirerhalten haben, merkwürdig oft vorgekommen. Eltern und Betreuer an-derer Kinder sind in der Regel hochambivalent angesichts einer in Aus-sicht stehenden Therapie, in dieser Gruppe dagegen hat es immer großeUnterstiitzung dafür gegeben.Es wurde vereinbart, dass ich einen ersten Besuch in Stevens Kinder-heim machen würde. In dem Begleitbrief zur Überweisung waren kom-plizierte Schichtdienste für die Mitarbeiter in diesem fachlich unterbe-setzten Heim erwähnt worden, und wir überlegten, ob die Raserei vonSteven teilweise damit zusammenhängen könnte. Ein Besuch im Heimbestätigte jedoch, dass es trotz der irritierenden Schichtdienste ein für-sorgliches Heim war, das die Kinder rechtzeitig vor allen Veränderungenwarnte. Steven, so wurde betont, fand alle Veränderungen unerträglich,das ging so weit, dass er sich ungern aus einer stehenden Position in eine

sitzende begab und umgekehrl. wir kamen überein, dass ich mich mitSteven zu einer Reihe von untersuchungsgesprächen treffen würde.

Erste Begegnung

Im Wartezimmer saß ein, zusammengesunkener, verdrehter, grimmigaussehender Junge eingeklemmt zwischen seiner Mutter und eìner de-rHauptbetreuerinnen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Als ich michvorstellte, vollführten seine Beine eine erstaunlich kraftvolle Bewegung,so als führten sie ein Eigenleben. Ich merkte, dass ich allein mil ihmnicht sicher wäre, und bat die Mutter und die Betreuerin, ihn in meinzimmer zu bringen und bei uns zu bleiben, Ich versucht", b"ilarrfig ^klingen, als ob das die ganze zeitiiber mein plan gewesen wäre, abeiichhatte_große Angst. Ich hatte nicht nur Angst vor dãr Gewalttätigteit aie-ses Kindes, dessen Gesicht ich noch nicht gesehen hatte, tn"ii" Angsthatte auch meine professionelle Zuversicht eischüttert. Ictrtat den Mitãr-beitern des Heims im stillen Abbitte. Als in dem überweisungsschreibenstand, seine Gewalttätigkeit bedeute, dass jederzeit zvvei Mitarbeiter inseiner Nähe nötig wären, hatte ich ungläu6ig reagiert. Nun begriff ich.Steven grur.,,te und schrie auf dem gan-zenwég zum zimmer,aù'er als erdort angekommen war, nahm er eiñe fiitale uãltung ein und sagte dannklar und deutlich das wort >>schüchtern<<. seine stirn:me war tiefînd gut-tural und wegen seiner Hirnschädigung leicht undeutlich, aber das wortwar nicht misszuverstehen. Die Sozialarbeiterin sah traurig aus, und ichwar ungeheuer ergriffen. Seine Mutter sagte, er habe das wort >schüch-tern< noch nie zuvor gesagt, sie wusste noch nicht einmal, dass er es\3nn1e. Steven. fing _an, wild auf seinen Kopf einzuschlagen. Das Ge-räusch tat richtig weh, aber ich hielt seine Mutter davon ab-, sich auf ihnzuzubewegen und seine Hände fest zu halten.Ich. fing an zu.sprechen und sagte, er habe geäußert, er sei schüchtem,und dass das nicht verwunderlich-sei, da ichline Fremde für ihn sei. Erkenne mich nicht. Seine Faust hielt mitten in der Luft inne. Ich sprachweiter und sagte, er teile uns allen mit, dass er seine Mama und seineHauptbetreuerin und alle Leute im Kinderheim kenne. Er sei daran ge-wöhnt, viele Leute zu sehen. Aber mich kenne er nicht. seine Hand fielkaftlos in seinen Schoß, und da war ich beruhigt; ich wusste, da gab eseinen Sinn, und ich war mitten in der Arbeit.Ich erklärte dann, warum er hierher komme. Andere machten sich Sor-gen darüber, dass er seinen Kopf verletze, und dass sie das Gefühl hätten,er sei traurig. Ich kündigte an, er werde ein paar Mal in dieses Zimmerkommen, und dass er Spielzeug auf dem Tisch finden könne. In demYoT:nr, als ich Spielzeug erwähnte, schlug er wild auf seinen Kopf ein.Als ich sagte, es beunruhige ihn, hier in eiñem neuen zimmer mit Spiel-

Erste 7t

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sachen zu sein, hörte er auf zu schlagen. Weitere AuffÌilligkeiten bei die-ser ersten Begegnung waren, dass er sich immer dann an den Kopf schlug,wenn von draußen ein Geräusch zu hören war. Oder aber er rollte sichã¡sammen und schloss die Augen wie ein Baby. Als ich sagte, jetzt seiennoch fünf Minuten übrig, bewegte er die verkümmerten Finger seinerdeformierten Hand und verbarg sie unter seinem Kopf. Ich überlegte laut,ob er mir jetzt, da es Zeit sei zu gehen, seine sich abmühende behinderteHand zeige, und vielleicht gebe es einen Kampf zwischen einem Steven,der kräftige Beine habe und rennen könne, und einem behinderten Ste-ven. Als es Zeitwat zù gehen, stieß er den Tisch mit großer Kraft gegenmich.

Zweite Begegnung

Bei der zweiten Begegnung, wieder mit Mutter und Betreuerin im Raum,schrie und schlug er auf dem ganzen Weg zum Zimmer um sich, waraber ruhig, als er sich setzte. Er sprach kein Wort, schlief aber ein undregte sich nur, um seinen Kopf zu schlagen, wenn der Wind oder Schrittevon draußen zu hören waren. Einmal, als es einen großen Lärm gab, ver-fiel er in den Fallreflex eines Neugeborenen. Das ist die unwillkürlicheÜberlebensreaktion eines sehr kleinen Babys, die es in Schrecksituatio-nen instinktiv vollführt. Ich fragte mich hier, ob die Müdigkeit von demenoÍnen Energieaufiruand herkam, den die Aufrechterhaltung eines Un-geborenenzustands verbrauchte, wo kein anderes Leben existierte.

3. und 4. Stunde

Ich habe bis zur dritten Stunde gebraucht, um Steven zu sagen, dass ichnicht bereit sei, ihn allein zu sehen, bis ich das Gefühl hätte, ich könnteihn und mich vor seiner Gewalttätigkeit schützen. Ich dachte, dass wirerst für ihn mehr Zusammenhänge herstellen mussten, damit ich meiner-seits mir diesen Gedanken erlauben und ihn äußern konnte und er sichseinerseits nicht auf den Kopf schlug, wenn ich es sagte. Fünfzehn Minu-ten vor Ende der Stunde schlief er ein. Ich war völlig übenascht vonmeiner eigenen Schwierigkeit, laut zu sagen, dass ich mich nicht sicherfühlte. Aus dieser Erfahrung habe ich viel gelernt. \W'enn ich seither ir-gendeinen gewalttätigen Patienten gesehen habe, habe ich immer erläu-tert, warum wir uns nicht allein treffen. Für ausgebildete Fachleute, diesich selbst zugute halten, dass sie die Bedeutung von Gewalt verstehen,können wir manchmal der ziemlich dummen Ansicht sein, wir bräuchtenuns deswegen nicht davor zu fürchten. Auf einer Tagung in Leeds mitPsychologen aus Yorkshire, die psychodynamisch mit geistig Behinder-

5. Stunde: allein 73

ten arbeiten, und mit denen wir insbesondere die Probleme in der Be-handlung gewalttätiger Patienten mit Behinderungen beleuchten woll-ten, waren wir, Nigel BrerrL, Pat FneNnss und ich, uns alle darin einig,dass die Angst des Therapeuten ein wesentlicher anti-therapeutischèrFaktor ist und einen Patienten geradezu noch verrückter vor Angst wer-den lassen kann.In der vierten Stunde ereignete sich eine wichtige Veränderung. Zumersten Mal, allerdings bei abgewandtem Kopf, hielt Steven beide Händehoch, um mir nicht nur den Unterschied zwischen der behinderten undder nicht-behinderten Hand zu zeigen, sondem auch das sekundäre Han-dicap, das er sich selbst durch sein Schlagen zugefügt hatte. Er hielt die-se Hand so, dass nur ich sie sehen konnte. Auf zwei Knöcheln war eineriesige Schwellung zu sehen, mit jeweils einer roten Abschürfung ganzobenauf. Mir kam der Gedanke, dass er zwei Bri.iste gemacht hattè, ãasser vielleicht in rasender Wut über seinen behinderten Körper, mit dem erausgestattet worden war, seine Mutter angriff, diese Attacke aber auchzugleich gegen seinen Körper richtete. Ich hatte das Gefühl, dass ich einesolche Bemerkung nicht vor seiner Mutter und der Betreuerin machenkonnte. Da dies der erste vertrauliche Gedanke war, den ich hatte, nahmich ihn als Hinweis, dass j etzt die Zeit für mich gekommen war, mich mitihm allein zu treffen. Ich sagte, er zeige mir, wie wütend er über seineBehinderung sei und dass er, wenn er sich an den Kopf schlage, auchseine Knöchel größer mache. Dann sagte ich, und fühlte mich dabei ängst-lich und waghalsig, dass ich in der nächsten Woche allein mit íhm nt-sammenkommen würde, seine Mutter und seine Betreuerin ihn aber brin-gen und wieder abholen würden. Wie üblich schlief er fünfzehn Minutenvor Stundenende ein.

5. Stunde: alleinDie fünfte Stunde war die erste, in die er allein kam. Sie war von großerBedeutung, da sie darüber entscheiden sollte, ob eine Therapie möglichwäre. Nach dem üblichen Schlagen und Treten wurde er vonìeiner Mut-ter und der Sozialarbeiterin auf den Stuhl gesetzt; danach gingen sieschnell, sie sahen erleichtert und besorgt zugleich aus. Stevèn befandsich in seiner üblichen ftitalen Position. Erst in dieser stunde fiel mir auf,dass er sich immer so einrollte, dass die normale Seite des Gesichts zusehen und die behinderte versteckt war. Ich blickte traurig auf die dun-kelbraunen Locken an der >normalen< Seite seines Gesichts. trch nahmmir ein Herz und äußerte meine Gedanken laut. Einen Moment lang saßich starr vor Schrecken. Zu meiner Verwunderun g set e er sich plöúlichkerzengerade auf und wandte sich mir zu. Er sah stolz und wütend aus.Ich war überwältigt. Ein zehnjähriger Junge mit braunen Locken und

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dunkelbraunen Augen blickte mich aufrnerksam an. Die Spuren der Hirn-schädigung waren natürlich zu sehen, aber keineswegs so auffÌillig odergrotesk wie seine verdrehte Haltung es irgendwie nahe gelegt hatte.Die Gefühle, die er in diesem Moment in mir wachrief, haben mich dar-auf aufmerksam gemacht, dass die verdrehten Haltungen, die er einnahm,eine schreckliche Karikatur seiner ursprünglichen Behinderung waren,sodass er nicht so gesehen werden konnte, wie er wirklich war. Ich warvoller Bilder aus Krankenhäusem mit Geisteskranken und all den ver-drehten Bewegungen und der gutturalen Sprache, die ich bis dahin fürdie unumgängliche Folge der Minderbegabung gehalten hatte. Ich fingan, meine Annahmen in Frage zu stellen. Ich sagte, jetzt könne er mirzeigen, wie er wirklich sei und dass er weniger behindert sei, als er sichselbst den Anschein gebe, vielleicht aus Gründen des Schutzes. Stevenschlief zu seiner üblichen Zeif. fünfzehn Minuten vor Stundenende ein,und diesmal konnte ich die Bemerkung machen, er wisse, dass die Zeitallmählich zu Ende gehe, und er wolle schlaien.Er saß ruhig und wachte auf, als ich zu ihm sprach. Auch fiel mir wiederauf, dass er offenbar in einem Ungeborenenzustand verharrte, wo dochdas Leben ihn so enorm ermüdete. Die Mitarbeiter des Heimes erzählten,dass er stundenlang schlafe oder auch nur jeweils kurz einnicke. Ganzam Ende fragte ich ihn, ob er weiter zu mir kommen wolle. Keine Ant-wort. Ich bat ihn, einen Finger zu heben, wenn er mit den Stunden beimir fortfahren wolle. Er hob einen Finger und kam weitere sechs Jahrezu mir, mit nur zwei Fehlstunden wegen Erkältung, beide Male war esdie letzte Stunde vor einer Ferienpause.

Die nächsten drei MonateNachdem eine Langzeittherapie für Steven vereinbart war, verabredeteich ein gemeinsames Treffen mit dem Leiter des Heimes, der Hauptbe-treuerin und der Mutter. Bei diesem Treffen konnte die Mutter klarstel-len, dass sie es, obwohl sie bereit war, Steven zu seiner Therapie zube-gleiten, keinesfalls bewãltigen könnte, wenn er zu Hause bei ihr wohnenwürde. Sie hatte vollauf mit ihren beiden Töchtern zûtun, von denen dieeine ständige Aufsicht verlangte, wenn sie zu Hause war, und obendreinhatte sie, was nicht verwunderlich war, Angst vor Steven und seiner Ge-walttätigkeit. >Auch wenn er mein einziges Kind wäre, könnte ich dochnicht mit ihm fertig werden.<<Im Verlauf der nächsten paar Wochen gab es eine große Veränderungbei Steven. Im Wartezimmer konnte man ihn aufrecht sitzen oder stehenund seine Mutter umarnen sehen. Einige meiner Kollegen erzählten, ihrePatienten würden diesen Jungen im Wartezimmer erwähnen, der immerso schrecklich aussah, jetzt aber wirklich nett anzusehen sei. Das Heim

Die nächsten drei Monate 75

berichtete, er sei nach dem Besuch bei mir für den Rest des Tages und amnächsten Tag ruhig. Wir kamen überein, dass der nächste wichtige Schrittdarin bestünde, ihn allein zum Therapiezimmer und am Ende wieder zu-rückzubringen. Nach zwei Monaten habe ich das tatsächlich getan, undfuhlte mich beim ersten Mal furchtbar ängstlich. Er schaffte es aber dannund von da an immer, abgesehen von einer Regression nach dem Todseiner Schwester.Der Triumph, den Steven und ich empfanden, nachdem wir beide dieAngst vor seiner Gewalttätigkeit überwunden hatten, war an dem Stolzzu sehen, mìt dem er seine Mutter und seine Betreuerin bei seiner Rück-kehr umarmte, nachdem er den Weg allein mit mir gegangen war. Selbstseine Mutter sagte: >>Gut gemacht, mein tapferer Junge.<<Die Veränderungen, die sich in den nächsten drei Monaten (nach denenwir beschlossen, die Therapie ohne zeitliche Begrenzung fortzusetzen)zeigten, verliefen in gewisser Weise langsam, aber sie waren unerhörtaufregend und ergreifend. Meine eigenen gemischten affektiven Reak-tionen bestanden aus Hoffrrung und Panik. Die Veränderungen habenverdeutlicht, wo er Schritt für Schritt mehr Nähe zulassen konnte. Hiersind ein paar Beispiele:

10. Stunde: Er sagt >Hallo<, und ich kann ihn trotz seines sprachlichenDefekts verstehen.

11. Stunde: Er fragt genau vor dem Ende der Stunde: >>Schon Zeit?<<Eïhat bereits eine präzise innere Uhr. Auch schaut er kurz auf die Spielsa-chen (bisher hat er sie noch nicht angerührt).

12. Stunde: Er spricht seinen längsten Satz, als wir zusammen zum War-tezimmer gehen: >Hallo, hast du meine Mama gesehen?<

13. Stunde: Er schaut die ganzeZeitdie Spielsachen an.

14. Stunde: Seine Nase läuft, und er schaut verzweifelt auf die Schachtelmit Taschentüchern auf dem Tisch. Er kann es nicht ertragen, seine Handdanach auszustrecken. Ich biete ihm eins an. Er sagt langsam: >Nein,danke.<

15. Stunde: Er tritt gegen den Sack mit Spielsachen, sodass der umfÌilltund er die Spielsachen sehen kann. Ich bemerke dant, der Tisch sei zu weitvon ihm entfernt, als dass er ihn ohne zu gehen erreichen könnte. Ich hatteihn nach unserer ersten Stunde als Schutz vor seiner Gewalttätigkeit ver-schoben, frihlte rnich aber jetzf im Stande, die Situation zu handhaben.

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76 Primäre und Sekundäre Behinderung: Steven

16. Stunde: Ich rücke den Tisch näher zu ihm hin. Er tritt den Spielzeug-sack haarscharf, sodass die Spielsachen direkt in seine Nähe fallen under sie genau anschauen kann, ohne sie zu berühren.

Er gibt die Selbstverletzung aufDie nächste große Veränderung trat nach einem Jahr Therapie mit einerWochenstunde ein. Mir fiel plötzlich auf, dass Steven, wenn er auf sei-nen Kopf schlug, laute Spuckgeräusche und Geräuscheffekte machte, aberin Wahrheit nur so tat, als schlüge er auf seinen Kopf ein. Als ich sagte,er tue seinen Gedanken nicht mehr so weh und er denke mehr darübernach, was ich gesagt hätte, hob er die Hand, um mir zt zeigen, dass dieBeulen verschwunden waren. Ich setzte die Mitarbeiter des Heimes vonmeiner Beobachtung in Kenntnis, und sie merkten daraufhin, dass sieauch in ihrer Umgebung zutraf.Es ist wichtig zu erwähnen, dass ich hinsichtlich der Selbstverletzung beiSteven eine bevorzugte Position innehatte. Fünfzig Minuten lang war esfür mich zu ertragen, dass ich seinen Selbstattacken keine Beschränkun-gen auferlegte, es sei denn, ich hatte den Eindruck, er könnte sich selbstbewusstlos schlagen. Mein Ziel war es, die Bedeutung der verschiedenenSchläge zu verstehen. Aber für die Mitarbeiter im Heim, die den ganzeîTag mit ihm zusammen waren, sah das ganz anders aus. Wäre ihm ge-stattet worden, ungehindert weiterzumachen, dann wäre er zweifellosgestorben. Ich rege deshalb Mitarbeiter, die psychodynamisch über Selbst-verletzungen nachdenken möchten, dazrr an, dass sie in der Woche eineregelmäßige Beobachtungszeit von fünf bis zehn Minuten festlegen sol-len, wo sie die Bewegung nicht fixieren müssen, damit sie Raum zumNachdenken haben, wo sie sonst handeln müssen.Sofern es keine schmerzhaften Ereignisse gab wie etwa die Verabschie-dung von Mitarbeitern oder Veränderungen im Schichtdienst, hörte dasKopfschlagen von Steven auf - mit Ausnahme eines Vorfalls. Ich warüberrascht, ihn eines Tages mit der alten, wohlvertrauten Schwellung ander Stirn zu sehen. Es war ihm anscheinend peinlich, und er deckte sieab. Ich konnte nicht verstehen, was sie zu bedeuten hatte. Seine Haupt-betreuerin erklärte mir später kleinlaut, ein Mitarbeiter habe gegen denFernseher getreten, als der nicht funktionierte. Steven hatte das offenbarsehr ruhig mitangesehen. Der Tritt hat den Fernseher wieder ordentlichzum Funktionieren gebracht, und Steven fing an, auf die Störung in sei-nem eigenen Gehirn einzuschlagen. Mir war nach Lachen und Weinenzu Mute.Ich war nicht eher in derLage,ein Stundenprotokoll zu schreiben, bis ichdas Gedicht geschrieben hatte, das diesem Kapitel voransteht. Ähnlichwar es mir in meiner Arbeit mit Mr. JonNsoN gegangen (Kap. 2).

>Old MacDonald<: das zweite Jahr

>Old MacDonald(: das zrveite JahrNach anderthalb Jahren hörte Steven auf, in den Stunden einzuschlafen,und ich merkte, wie sehr das Schlafen ihm als Schutz gegen die Erschöp-fung gedient haben musste, in der Welt zu sein und sich anstrengen zumüssen, all die Geräusche und die Akfionen um sich herum unter Kon-trolle zu halten. Wenn ich eine Bemerkung machte, die ihm nicht gefiel,dann mimte er einen Schlag auf den Kopf, und dann tat er so, alJob erschliefe, und dann öffnete er die Augen und sagte >halt den Mund<<, daswar einer der wenigen Sätze, die et je zu mir sagte. Er war dabei, seinesekundäre Behinderung und seine Abwehr gegen Sinnzusammenhåingezu verlieren, und er hatte sehr gemischte Gefühle dabei und fi¡hlte siõhausgeliefert.An diesem Punkt brach es plötzlich aus ihm heraus, und er sang in einerschrecklichen Karikatur eines Behinderten >Old MacDonald haã a farm,iia iia hoo< - oder vielmehr, mir fiel erst in diesem Moment auf, dass eseine Karikatur sein musste. Er sang mit der gutturalen Stimme, von derich oft gemeint hatte, sie gehöre wesentlich zur Behinderung dazu, eben-so wie ich das früher von den verdrehten Körperhaltungen geglaubt hat-te. Dabei ließ er aber etwas Bedeutungsvolles mitschwingen, das mir zusagen eingab, er habe vielleicht das Gefühl, hier sei Platz für Tiergeräu-sche und -gefühle in ihm; aber vielleicht wolle er auch sehen, ob ich eineIdiotin sei, die glaube, dass das seine richtige Singstimme sei. Er sahmich erschrocken, aber stolz an. Ich saß da und schlang die Arme ummich und erwartete einen Schlag oder irgendeine Katastrophe. Er flüster-te >Old MacDonald had a farm< mit einer normalen Stimme, in der nurein leichtes Anzeichen des Hirnschadens zu hören war, und dann fing erschrecklich und aus tiefster Seele zu weinen an. Dieses Mitleid effegen-de Weinen war für die nächsten sechs Monate besonders kennzeichnènd,und es ist schwer in Worte zu fassen. Es ist kein Weinen, das um einWort oder eine Umarmung bittet. Es ist ein Weinen, das mit einem schreck-lichen Gefühl des Alleinseins zu tun hat und mit dessen Unwidemrflich-keit. Neville SyrvrrNcrox hat (persönliche Mitteilung, 1984) dazu ange-merkt, dass das Weinen kommt, wenn bei diesen Patienten ein Durõh-bruch geschieht, und dass es ein wirkliches Gewahrwerden des garrzen,einst verloren gegangenen Sinnzusammenhangs und der gànzenEinsam-keit in der Behinderung zum Ausdruck bringt. Seine Mutter und seineSozialarbeiterin waren sehr verzweifelt tiber diese Phase des Weinens, inder sich Steven befand. Sie waren besorgt, ob die Therapie für ihn nichtzu grausam sei. Ich war besorgt über seinen Schmerzzustand, und als ereinmal verzweifelt weinte >Mami sehen, jetzt gehen<, war ich in einemDilemma. Ich sagte, er sei in der Lage aufzustehen und den Raum zuverlassen, und ich könnte ihm dabei helfen. Aber ebenso glaubte ich, erbrauche die Gewissheit, dass ich seinen Kummer ertragen könne. Meine

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18 Primäre und Sekund?ire Behinderung: Steven

eigene Stärke und Stevens Wahrheitsdrang waren vereint nötig, ihn indiesem Stadium imZimmer zu behalten.

I Ich brauchte die Untersttitzung meiner eigenen Analyse und die des Work-shops, um die ethischen Fragen emotional zu bewältigen und mich damitauseinander zvsetzen,was Shirley HoxrEn (1986, S. 87) im Hinblick aufkörperlich kranke und behinderte Kinder so prägnant formuliert hat: >Wirfinden, dass unsere psychotherapeutischen Methoden vom Kind verlan-gen, dass es sich einer Erfahrung stellt und sie assimiliert, die zum Glückweit jenseits dessen liegt, was die meisten von uns erleben müssen ...Manchmal werden wir uns fragen, ob es nicht besser ist, die Dinge ruhenzu lassen, diese Kinder in ihrem Zustand der Nicht-Integration zu belas-sen, wo sie die barmherzigen Abwehrmechanismen der Verdrängung,der Verleugnung und der Spaltung oder sogar des extremen Rückzugsnutzen können, halblebendig statt schmerzhaft am Leben. Die Schmer-zen der Integration mögen sich lohnen, wenn sie zum )nornalen mensch-lichen Unglück< führen, aber wir fühlen uns schuldig und grausam, wenndie lntegration lediglich die Erduldung des Leidens zu bieten hat.<<Ich glaube jedoch, dass sich um der Wahrheit willen der Schmerz lohnt.Steven war emotional in der Lage, durch dieses Stadium hindurchzuge-hen, und das Weinen hörte auf. Es kündigte sich in einer Stunde an, inder Steven in dem Moment, als ich sagte, es sei Zeit zu gehen, in seineTasche griff und eine Spielzeuguhr nach mir warf. Es lag viel Arger indiesem Wurf, und er zielte sehr genau, aber ich war entzückt. Es war einSpielzeug, das er aus seinem Kinderheim mitgebracht hatte, nicht einevon den im Therapiezimmer bereitliegenden Spielsachen, und es konnteauch nicht so recht von einem symbolischen Gebrauch der Zeit die Redesein. Die Zeitflogr. Und sie flog auf mich zu! Aber ich hatte sein Weinenund seine Einsamkeit ertragen und er auch, und er vertraute darauf, dassich seinen Ärger wtirde überleben können.Danach hörte das Weinen auf, und Steven wurde liebevoller und ansprech-barer. Er hörte auf, sich selbst zuverletzen Den Mitarbeitern gegenüberwar er aber immer noch gewalttãtig, und er war inzwischen geführlicher.Fri.iher musste er nur einfach auf einen Stuhl gesetzt werden, und er schliefein; jetzt stand er sofort wieder auf und griff sein Gegenüber an, weil ihmphysische Veränderungen nicht mehr so viel ausmachten! Er war nichtmehr erschrocken über Geräusche von außen, und er schlief normal lan-ge, wie ein Junge seines Alters.Das ist in Langzeitlherapien mit selb stverletzenden, schwer behindertenJungen ein bisher regelmäßig aufhetendes Muster gewesen. Man musses mit den betroffenen Hauptbetreuern oder den Eltern genau durchspre-chen, weil sie es nicht als eine Verbesserung empfinden. Ein Vater hat ineinem vergleichbaren Stadium der Therapie einmal die Bemerkung ge-macht: >Sie haben bei unserem Sohn aus einem gewalttätigen, schlafen-den Zombie einen gewalttätigen, mobilen Psychopathen gemacht!<<

>Old MacDonald<: das zweite Jahr 79

Nach zwei Jahren Therapie gab es eine Stunde, in der in die Stille hineinmein Darm laut gurgelte. >Dein Bauch?<, fragte er. Ich sagte, ja, es seimein Bauch. Er kicherte. Ich sagte, er wisse, dass das Geräusch in mei-nem Bauch sei. Er nickte. Es fing an zu regnen. >>Regen draußen<, kom-mentierte er. Es entstand eine erschrockene Pause. Ein Telefon klingelteim Nachbarzimmer. Steven legte eine Hand ans Ohr. >Anderes Zimmer<,erklärte er. Von diesem Moment an bekamen die Hoffnung und die Le-bendigkeit in den Stunden zusätzlich Nahrung. Steven hatte zwischeninnen und außen differenzierl, und er war bei seiner >psychischen Ge-burt< (MeHlen et al. 1975) angelangt.Kurz danach kaufte ich für das Therapiezimmer ein weiches Spielzeug,einen Bären, weil mir Steven als Weihnachtskarte immer eine mit einemBären daraufüberreicht hatte, und weil er die anderen Spielsachen nachwie vor nicht berührte. Als er ihn zum ersten Mal sah, nachdem er etlicheWochen darauf vorbereitet worden war, hielt er ihn an sich gedrückt undumarmte ihn, wobei er mir den Rücken zugewandt hielt und die ganzeStunde über kein Wort und keinen Laut von sich gab. Er hat es nie wiedergeschafft, thn ztt berühren, er sah ihn immer nur von feme wehmütig an.Als ich kommentierte, er habe Angst davor, mir, dem Bären oder denSpielsachen nahe zu kommen, Angst, er könnte gewalttätig werden, sag-te er >dumm<. Er kennt die Bedeutung des Wortes >>dumm<<, weil er weiß,dass er es in Wirklichkeit nicht ist. Danach fing er an, mit der Decke,dem Stuhl, dem Bären zu flüstern, so leise, dass ich es nicht verstehenkonnte. Es war, als ob es ihm gelungen sei, sich auf den Bàren zuzube-wegen und ein erstes, noch unausgereiftes Übergangsobjekt zu finden.Aus dieser ersten zaghaften Verbindung hatte er einen Ubergangsraumgeschaffen. Im Heim, erzählten die Mitarbeiter, verbringe er Stundendamit, zu allen Gegenständen in seinem Zimmer zu sprechen. Er konntedann jede Woche eine Stunde bei seiner Mutter verbringen, aber seineGewalttatigkeit blieb weiterhin ein Problem. Die Mitarbeiter mussten teil-weise wegen Bissverletzungen genäht werden und sich nach gewaltigenFußtritten in Behandlung begeben.Als er drei Jahre lang in Therapie war, schickte sein Heim einen Bericht,in dem es hieß: >Seit seinen Besuchen in der Tavistock Clinic hat derMitarbeiterstab Fortschritte in seiner Entwicklung beobachtet. Er istmanchmal dazu in der Lage, vor seiner Aggression zu warnen, und erfühlt sich jetzt schuldig flir manche Verletzungen, die er verursacht. EsfÌingt an, dass er sagen kann, wen er vermissen wird, und er fragt nachMitarbeitern, die gehen. Er konnte seiner Mutter und seinen Schwesternnäher kommen, wenn er am Wochenende zu einstündigen Besuchen nachHause geht. Obgleich er zeigt, dass er sich durch Verständnis entwickelnkann, kann seine Gewalttätigkeit jedoch so übermächtig sein, dass erschwer zurückzuhalten ist. Er ist jetzt 13 Jahre alt, und es besteht dieSorge, wie man mit ihm umgehen soll, wenn er erst älter und stärker ist.<

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80 Primäre und Sekundåire Behinderung: Steven

Das dritte Jahr: ein TrauerfallAn diesem Punkt, als Steven schon drei Jahre in Therapie war, erlitt ser-ne älteste Schwester Mary eine akute Verschlechterung ihres Zustandes.Sie konnte weder Arme noch Beine bewegen, und es war klar, dass siesterben würde. Vorübergehend trat das Kopfschlagen bei Steven wiederauf, und die Mitarbeiter berichteten, dass er den Fernseher und auch ei-nen neuen Sozialarbeiter getreten habe. Auch Carole bot in der SchuleAnzeichen einer seelischen Störung.Merkwürdigerweise nahm ich rnir plätzlich das Gedicht wieder vor, dasich geschrieben hatte. Warum hatte ich das Gedicht mit einem Tritt ge-gen den Fernseher enden lassen? Ich war eindeutig in Panik, dass er esdann, wenn er brutal und unwidernuflich mit der Unheilbarkeit seinerprimären Behinderung konfrontiert wäre, nicht aushalten könnte und ex-plodieren würde. Die Verschlechterung einer unheilbaren körperlichenErkrankung und Behinderung bei seiner Schwester erinnefte ganzklatauch an seinen Schmerz über seinen Ztstand.Obgleich er eine Zerebralparese hatte, war sie bei ihm doch nicht allzugravierend, und er konnte laufen. Etliche Stunden lang dachte ich an sei-ne starken, Tritte austeilenden Beine und die sterbenden, lahmen seinerSchwester. Es dauerte eine Weile, ehe ich meine Gedanken verstand.Wir waren so sehr mit Sr¡,v¡,Ns Behinderungen, seiner Abwehr, seinerAngst vor dem Sprechen beschäftigt, dass wir seine Position in der Ge-schwisterreihe darüber aus dem Blick verloren hatten. In der nächstenStunde kam Steven herein und rollte sich sehr still zusammen. Plötzlichstreckte er sein linkes Bein aus und trat gegen den Tisch. Es war keinaggressiver Akt. Es war, als wolle er mir zeigen, dass es ihn umtrieb,warum seine Beine so funktionieren konnten und die Beine seiner Schwe-ster nicht. ich stand vor einem schwierigen technischen Dilemma. Infor-mationen von außen einzubringen, konnte übergriffig und anti-therapeu-tisch sein. Bei einigen behinderten Patienten aber, die nicht leicht den-ken und sprechen können, habe ich es wichtig gefunden, solchen Ereig-nissen Stimme zu geben, wenn ich denke, dass sie eine bedeutsame Rollein meinen Gegenübertragungsgefühlen spielen.Ich sagte, es sei vielleicht befremdlich, ein Steven mit Beinen zu sein,der eine ältere Schwester habe, deren Beine nicht funktionierten. Stevenwurde steif vor Aufmerksamkeit. Ich sagte, er erinnere mich daran, wasfür ein ruhiges Baby er gewesen sei, als seine Eltern sich so sehr umMary gekümmert hatten, und wie wütend ihn das möglicherweise ge-macht habe. Vielleicht denke er manchmal, er müsse sehr still sitzeî,damit er nicht merke, dass seine Beine sehr wohl funktionierten, unddann wäre er nicht so böse auf seine Eltern, Mary und Carole.Langsam streckte er abwechselnd seine Beine aus. Ich sagte, er probieresie beide aus, um sich zu überzeugen, dass sie noch da wären und noch

Das dritte Jahr: ein Trauerfall 81

funktionierten. Er könne seine Beine ausstrecken und laufen, und Marykönne das nicht, aber dafür schlage sich Mary nicht an den Kopf oderhabe es schwer, Worte herauszubringen, und Carole habe keines der bei-den Probleme. Er schaute mich lebhaft an, schlug sich dann aber gegenden Kopf.Ich sagte, er könne meine Worte hören und ein wenig darüber nachden-ken, aber dann könnten sie wehtun. Er hörte auf, sich zu schlagen undwar sehr still. Eine Woche später starb Mary. Die Mutter wollte nicht,dass das Wort >Tod< vor Steven ausgesprochen wurde, und sie wollteihn nicht bei der Beerdigung dabeihaben. Sie meinte, sie habe gÇnugdamit zu tun, für sich selbst und Carole zu sorgen. Das ist regelmaßìg einProblem bei geistiger Behinderung. Manchmãl proliziert e-in Elternteildie eigene UnfÌihigkeit, etwas zu bewältigen, in das behinderte Familien-mitglied hinein, dem dann der Ztgangzu etwas verwehrt wird, wie etwain diesem Fall die Beerdigung, damit die übrige Familie damit fertig wer-den kann. Ich spreche hier natürlich nicht von den geistig Behinderten,die obendrein geisteskrank sind, und deren spezielles verhalten ein sol-ches Ereignis wie beispielsweise die Beerdigung allzu kompliziert ma-chen wlirde.Die Mutter wollte jedoch mit niemandem über diese neuerliche Tragödiein ihrem Leben sprechen. Die Mitarbeiter des Heims wussten nicht-. wassie machen sollten, da sie sicher waren, dass Steven verstand und in ei-nen schlimmeren Zustand geraten würde, wenn ihm die Nachricht vor-enthalten würde. steven selbst löste das Problem schließlich für sie, in-dem er begierig eine Schmierenkomödie im Fernsehen verfolgte, wo einBaby starb. >Baby tot. Mary tot((, sagte er. Nachdem er geieigt hatte,dass er wusste, was geschehen war, erlaubte die Mutter dèn Betreuern,ihn zum Friedhof zu begleiten.Es folgte eine entsetzliche Zeit, in der er auf seinen Kopf einschlug. Unddann wurde er plötzlich ruhig in den Stunden. Er kam herein, rollte sichauf dem Lehnstuhl zusammen und verbarg sein Gesicht in den Armenoder unter einer Decke. Er ließ kein Wort und keinen Laut vernehmen.Etliche wochen lang deutete ich die unterschiedlichen Schattierungendes Schweigens.Dann trat eine Veränderung ein. In einem bestimmten Moment verlor ichdie Konzentration auf Steven. Meine Gedanken waren doch tatsächlichzu d9n Einkäufen abgeschweift, die ich später noch erledigen musste,ehe ich an dem Tag nach Hause ging. Einen Moment lan[ wollte ichdiesen Augenblick unprofessionellen Abschweifens in dem Bericht ver-tuschen. Aber natürlich war das Nachdenken darüber von größter Be-deutung. Ich merkte, dass Steven so gut wie tot war, sodassich gerade-wegs an Einkaufslisten oder im Grunde an alles Mögliche denken konn-te, außer an ihn. Ich fragte mich laut, ob er so schweigsam sei, als wäre ertot, damit er mir nicht zur Last fiele. Vielleicht sei er in Sorge, dass auch

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82 Primäre und Sekundäre Behinderung: Steven

ich eine tote Tochter Mary habe und ärgerlich wäre, dass er und nicht sieam Leben sei. Es herrschte ein erstarrtes Schweigen, und dann brach eineFlut von Tränen aus ihm heraus. Anders als bei dem einsamen, verhee-renden Weinen vor zwei Jahren weinte er hier aus Trauer über den Ver-lust eines anderen, nicht über den Verlust seiner eigenen Fähigkeiten.Als er dann rief: >>Mama, jetzt, bitte(, deutete ich, er riefe nicht nur nachder Mama im Wartezimmer, sondern nach einer herbeigesehnten Mama-im-Zimmer, die vielleicht so erschüttert sei über eine tote Mary und übereinen wütenden Mann, der von zu Hause weggegangen ist, dass sie nurnoch ein braves, ruhiges, totes Baby Steven haben wolle. Am Ende derStunde streckte Steven seine Hand aus, um sie mir zum Halten zu geben.Das hatte er noch nie getan. Als ich danach griff, schaute er den unbe-rührten Bären an und sagte dann: >Arm tut weh<, und weinte. Er tratnach der Puppenmutter und dem Puppenvater, die er vorhin geworfenhatte und die nun auf dem Boden lagen. Es waren drei Jahre erforderlich,um durch die sekundäre Behinderung zum Trauma der organisch beding-ten Behinderung, seinem versehrten Arm, und seines Familienlebensvorzudringen. Der versehrte Arm schien symbolisch für Mehreres zu ste-hen: für die organisch bedingte primäre Behinderung, die seinen Armbetroffen hatte, für das Paar, das ihn hervorgebracht hat (vgl. Kap. 7) undfür die traumatische Gewalttätigkeit in seinen füihesten Erlebnissen inder Familie.

Viertes Jahr: Wiederkehr eines Gedenktages

Das nächste Jahr wurde von seiner Trauer um Mary beansprucht. Andersals in den ersten drei Jahren seiner Therapie, in denen er lediglich eineleichte Erkältung gehabt hatte, bekam Steven jetzt ernste Bronchial- undHalsentzündungen. Dass er menschlicher wurde, schien ihn auch anftilli-ger für Infektionen zu machen. Die gesamte Arbeit hatte mit seiner Über-lebensschuld zu tun.

' Ein behindertes Geschwister zu haben, ist für jeden schmerzlich. Ein Kindmöchte seinen Bruder oder seine Schwester in fairem Kampf schlagenund beweisen, dass es der Liebling ist, derjenige, der in Wahrheit dasbeste Kind seiner Eltern ist. Wo ein Geschwister behindert ist, hat sichein schrecklicher Triumph bewahrheitet. Wo das Geschwister stirbt, sind

- $chmerz und Schuldgefühle umso stärker (Juoo 1989). Ich war auch umCarole und die Mutter besorgt, aber zu diesem Zeitpunkt wünschte dieMutter keine Familienberatung.In den nächsten sechs Monaten war Steven größtenteils schweigsam undstill. In seinem Kinderheim war er wieder zunehmend gewalttatig. Etwazu dieser Zeit beschloss ich, dass ich zusätzlich Supervision brauchte,damit ich verstehen lernte, warum die Therapie nicht vorwärts kam. Ich

Viertes Jahr: Wiederkehr eines Gedenktages 83

gingnt der Psychoanalytikerin Susannah Isn¡.cs-Er-rr¿Hnsr, die in der Er-ziehungsberatungsstelle am Tavistock Centre als Konsiliarärztin gear-beitet hatte. Sie hatte damals vor über vier Jahren den Bericht über meineersten diagnostischen Gespräche mit Steven mitangehört. Nachdem siedie Beschreibung seines blassen Gesichts und der erhöhten Aggressivitätangehört hatte, fragte sie, wann sich der Todestag von Mary jähre.Zttmei-nem Schock entdeclcte ich, dass es nur noch eine Woche bis dahin war.Bereit zur Wiedergutmachung in der nächsten Stunde, war ich außeror-dentlich besorgt, als Steven nicht pünktlich eintraf. Nach 25 Minuten riefich im Heim an und erfuhr, dass das Auto ihn rechtzeitig abgeholt habeund dass es also einen Stau gegeben haben müsse. Steven kam an, als nurnoch zehn Minuten von seiner Stunde übrig waren. Ich konnte ihn denFlur entlang schreien und toben hören und schrak zusammen. Als ich zuihnen ging, sagte seine Betreuerin, es habe einen fürchterlichen Stau gege-ben, und Steven sei in einer ebenso fürchterlichen Stimmung: es könntesein, dass ich allein mit ihm nicht sicher sei. Ich sagte, ich bestünde darauf.Steven sah entsetzlich aus. Er war extrem blass, und auf seinem Gesichthatte ein Ausschlag lauter Flecken gebildet. Seine Stirn war rot und vonseinem erneuten Kopfschlagen geschwollen . >Armer Steven<, sagte ich.>Wie schrecklich, heute in solch einen Riesenstau zu geralen.< Er schrie:>Nein!<< und fing an zu spucken, aber ich fühlte mich sicher. In meinemZimmer stieß sein Betreuer ihn in eine kniende Haltung und versuchteso, ihn vom Kopfschlagen abzuhalten. Ich sagte, sie sollten gehen.SrsveN sah mich aufmerksam an, während er auf seinen Kopf einschlug.Das Geräusch, wie Fleisch auf Knochen und Fleisch schlug, tat heutebesonders weh, und ich fragte mich, ob Marys schmerzhafter Tod derGrund dafür war. Ich sagte, er habe sich in den letzten paar Wochenschrecklich gefühlt, und erst jetzt hätte ich gemerkt, warum. Morgen jäh-re sich Marys Todestag zum ersten Mal. Es entstand eine atemlose Pau-se. Einen Moment lang hatte ich Angst, Steven würde sich auf mich stür-zen und mich angreifen.Er erhob sich jedoch vorsichtig, sodass er sich wie üblich hinsetzen konnte,und starrte mich weiter hungrig an, seine Augen ließen dabei die meinennicht los. Ich sagte, er habe sich vielleicht verängstigt gefühlt, weil derVerkehr heute so schlimm war; vielleicht habe er sich Sorgen gemacht,ich könnte verärgert sein über sein Zuspätkommen, und dann würde ichsagen: >Warum kommt Steven, wenn Mary tot ist?< Vielleicht habe ersich sehr schlecht gefühlt, dass Mary gestorben ist, wo er doch an Zer-bralparese nicht sterbe. Er könne seinem Kopf schlimm wehtun, wenn erdarauf einschlüge, und er könne schwere Erkältungen bekommen, be-sonders wenn er sich elend fühle, aber sterben würde er davon nicht.Steven heftete weiter seine Augen an meine. Ich sagte, er schaue michheute ganz genau an, halte mein Gesicht im Blick und lasse mich seineAugen und sein Gesicht sehen, als ob er es besonders nötig habe, mich zu

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84 Primåire und Sekundäre Behinderung: Steven

sehen, wenn ich über solche Dinge spreche wie eben. Er gab einen Lautvon sich - >Errr<. Schweigen. Er entspannte sich wieder und fuhr fort,mich anzusehen. Ich sagte, da sei ein Laut in seinem Inneren, der habeals Wort herauskommen wollen, habe es aber nicht geschafft. Ich über-legte mir, was er hãtte sagen wollen, wenn er sprechen könnte.Es entstand ein langes freundschaftliches Schweigen. Ich fing an, Stevenunsere gemeinsame Geschichte zu erzählen; dass er zehnwar, als er zumersten Mal hierher kam, und jetzt sei er vierzehn. Dass seine kleine Schwe-ster zwölf sei, und dass sie zwei Jahre jünger sei als er, und dass Maryzwei Jahre älter gewesen sei, und dass er in nur einem Jahr so alt seinwürde wie Mary, als sie starb. Vielleicht, sagte ich, hätten seine Erkäl-tungen etwas damit zu tun. Auf seine Art wolle er herausfinden, ob ersterben müsse und so wie Mary, mit fünfzehn.Ein paar Minuten vor Stundenende klopften zwei Sozialarbeiter heftigan die Tür und kamen herein, ohne die Antwort abzuwarten. Sie hatteneindeutig die Erwarlung, dass sie mich retten müssten, und waren über-rascht, einen gedankenversunkenen, friedlichen Steven auf seinem Stuhlsitzend vor sich zu sehen. Als die Mutter hereinkam, erzëthlte ich ihnenallen vom Jahrestag von Marys Tod. Alle hatten sie ihn, wie ich vor mei-ner Supervision, völlig vergessen. Seither bin ich äußerst sorgfÌiltig daringewesen, mich an Geburts- und Jahrestage zu erinnern.

Das Ende der Therapie

In den nächsten zwei Jahren stand Steven vor verschiedenen äußerenSchwierigkeiten. Es gab sehr viel Wechsel unter den Mitarbeitern, undschließlich wurde sein Heim geschlossen, und nach einer Vorankündi-gung von nur zwei Wochen wurde er in eine andere Einrichtung gebracht'Die war so weit weg, dass wir eine wöchentliche Therapie nicht einrich-ten konnten, obwohl ich telefonisch in Kontakt blieb. Nach sechs JahrenTherapie konnte Steven die Betreuer warnen, wenn Gewalttätigkeit inihm aufstieg, er konnte Beziehungen aufrechterhalten und nach Verän-derungen im Schichtdienst fragen.Bei mir war er bis zur letzten Stunde größtenteils stumm. Bei jedem neu-en Schlag, den ihm die Umwelt versetzt, nimmt er wieder ZufTucht zumKopfschlagen, hört aber damit auf, wenn die Situation sich ändert. Ichdenke, er wird das Leben immer schmerzlich finden, er ist aber jetzt fÌi-hig, aus dem, was ihn umgibt, größeren Gewinn zu ziehen.

Zusammenfassung

Hätte ich bei Steven und bei Ali (vgl. Kap. 4) die Therapie nach zweiJahren beendet, wäre ich darin viel optimistischer, was Therapie zubie-ten hat. Langzeitarbeit, die die Höhen und Tiefen, insbesondeie die Tie-',fen, institutionalisierten oder traumatisierten Lebens aufgreift, wirft denBetroffenen wieder und wieder auf seine erschöpften Rðserven zurück.Ich verstand allmählich, dass Steven immer anfÌiitig bleiben würde, sich*auf den Sopf zy schlagen, wenn die Dinge schlechtitünden, so wie jeder>Normale< vielleicht darauf zurückgreift, wieder zu trinken, ,r, rarrõh"n,Schund zu lesen, zu viel zu essen, Kopfschmerzen zu bekommen odersich zu erkälten, wenn er sich vor Schwierigkeiten gestellt sieht.Stevensl\4utter spricht laut und liebevoll und langsam mit ihm. Er spricht,außerhalb des Therapiezimmers, schnell, aber stereotyp mit ihr. >In Ord-nung?<, fragt er sie etwa, so wie sie ihn oft fragt. Wie ich in Kapitel 4näher ausfÌihre, denke ich, diese Frage enthält dai wissen, dass dei Spre-chende selbst nicht in ordnung ist, der Hörer das aber nicht ertragenkaln und beschwichtigt werden muss. Stevens Mutter fragte mich: >ilster in Ordnung?<Von Steven wurde nicht als von einem Individuum gesprochen, sondemvon einer schattenhaften Repräsentanz des nicht richtiþ betrauerten ge-sunden Zwillings seiner selbst, der er eigentlich hatte seln sollen. Als ichdie Bemerkung machte, wie sehr er in den lefztenFerien gewachsen sei,sagte seine Mutter traurig: >>Ja. Er wäre so groß gewordõn.< Ihre realeSprache richtete sich an den anderen Steven, den gesunden, der nie ge-lebt hat und nie starb, und von dem nie Abschied gãno--"í*rrde. Dasständige Nicht-angesprochen-sein ist, so meine ich, die wiederholung frü-herer, nicht von wechselseitigkeit geprägter Erfahrungen; es erinnerì dar-an, dass er zur falschen Zeit in Schwierigkeiten hineingeboren wurde.!Iau! MemroNr (1967) erkennt in diesem indirekten Sprechen beides,den Todeswunsch des jeweiligen Elternteils und/oder dèn unbewusstenW,nsch, das Kind möge krank bleiben, wie ich im 4. Kapitel noch nähererläutern werde. wenn Steven den weg weiter beschreiteì, worte zu ver-wenden und seine Gefühle zu empfinden und nahe Beziehungen einzu-gehen, statt sie zu agíercn, dann wird sich die Frage erheben] ob er beiseiner Mutter wird leben können. Seine Mutter wilt ihn nicht. Allmäh-lich bewegt er sich darauf zu, dem alten und doch neuen Trauma insGesicht zu sehen.Als Neville Svn¿ncroNs Patient Hany (1981) f:ihig wurde, die Intelli-genz, die in ihm steckte, mehr zu zeigenund anzuerkennen, rief er aus:>Ich bin zu mehr fühig, als jeder von mir denkt, aber es kommt morgenund dann Sonntag und dann Montag!< Das bedeutet, dass Harry nñhtnur die Anstrengung gespürt hat, die neu erfahrene Integration rr.rã Int"l-ligenz für ein paar Tage festzuhalten, ohne sie zu attaikieren, sondern

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86 Primäre und Sekundäre Behinderung: Steven

ich denke, dass ihm aufgeht, was eine Zukunft ohne die Behinderung alsAbwehr bedeutet. Der Angst vor dem Todeswunsch der Eltern muss manins Auge sehen, und sie reicht sogar bis in pränatale Erfahrungen zurück.Viele schwer und schwerst behinderte Patienten rollen sich in eine fotaleHaltung zusammen, wenn sie schlafen. Steven schlief in den füihen Sta-dien der Therapie mehrere Stunden am Tage und auch bei Nacht, als obSchlaf die einzig friedliche Zeit flirihn gewesen wäre. Pierce Clnm (1933)meinte, dass exzessives Schlafen und die fotale Stellung der behindertenPatienten eine Rückkehr zum fötalen Stadium bedeute, mit der man denzu dem Zeitpunkt noch bevorstehenden Schaden der Behinderung umge-hen könne. Neville SvnmcroN (1981) hat dem hinzugefügt, dass die Fan-tasie des Patienten, er sei im Mutterleib verlefzt worden (durch die Ent-stehung der Behinderung), möglicherweise auf Realität beruhe. Wnmt-corr (1949) hat ganz sicher die Erfahrungen in utero frir bedeutsam ge-halten, ebenso wie das Trauma der Geburt selbst. Er meinte, dass dasGeburtstrauma aufgrund von Verändemngen im Gehirn oder die anäs-thetische Behandlung der Mutter von hoher Signifikanz sei. Steven hatseine ftitale Schlafstellung und die eingerollte Position hinter sich gelas-sen. Er war in der Lage, sich der Verletzung, die seine Geburt ihm aufer-legt hat, zu stellen und in eine lärmende Welt voller Geschwister undanderer Leute hinauszugehen. Das war ein wesentlicher, bemerkenswer-ter Schritt, den er zu tun im Stande war.Steven hatte deprimierte Eltern, als er geboren wurde. Er war als Klein-kind Zeuge und möglicherweise Opfer extremer Gewalttätigkeit, und seiter vier ist, lebt er von seiner Familie getrennt. Sein IQ (40) liegt im unte-ren Bereich, und seine widrigen Familienverhältnisse sind ganz unab-hängig von seinem Himschaden behindernd. Steven hat sich erschöpftund abgestumpft, indem er Sehnsüchte und Mitteilungen in Schweigenoder Schläge gegen seinen Kopf übersetzthat, den Sitz seiner Gedanken,um seine Welt, auf die so entsetzliche Ubergriffe geschehen sind, abzu-schirmen. Er hat mit seinen gewalttätigen Attacken gegen die Umstehen-den wohl auch versucht, seiner Hilflosigkeit, die jedem Trauma inne-wohnt, Herr zu werden (Wnnrcorr 1949).Der amerikanische Psychoanalytiker Goloscur¿tor ( I 986) beschreibt je-nes Stadium äußerst prägnant, das nach einem Trauma erst durchschrit-ten werden muss, und was auch das Stadium ist, in dem sich Steven be-fand, als ich ihn das letzte Mal sah. Ich denke an die Art und Weise, wieklar und deutlich er nach Beendigung der Stunde >Hallo<< oder >>Zeit zugehen< sagen konnte. GoLDSCHMInT spricht von einem traumatisiertenPatienten und sagt: >>Seine große Hilflosigkeit war etwas, das er mir erstam Ende seiner Stunde zeigen konnte - genauer, nach dem Ende, so dassich nicht mehr mi1 ihm darüber sprechen konnte. Es war, als erlebte erdie Therapie oder mich wie ein elektrisches Kabel, mit dem er einerseitsdringend in Kontakt kommen wollte, um zum Leben gebracht zu wer-

den, das er aber andererseits nicht wirklich berühren durfte, da es ihnhätte umbringen können.<Ein opportunistischer Aspekt dieser Abwehr gegen eine furchtbare Erin-nerung waren Stevens äußere Erscheinung, das behinderte Lächeln, sei-ne Haltung und Sprache. Indem er auf seine Gedanken einhämmerte, be-einträchtigte er jede Möglichkeit zur Kommunikation. Wo einem oppor-tunistischen Handicap ein Trauma zugrunde liegt, muss man sich lhmsorgfültig zuwenden. Goloscnlr,ttr (1986) schreibt, >der patient mussdie traumatische Situation Sttick fìir Stück wiedererleben, aber in Ge-genwart eines Objekts, das die Funktion eines abschirmenden Reizschut-zes übernimmt.< Er zitiert HrvvraN (1957), der über die Notwendigkeiteiner schützenden Person geschrieben hat. Bei Steven hat die Einhaliungeiner körperlichen Distanz während der ersten paar Monate bedeutet, dasiich ihn und mich vor seiner Gewalttatigkeit gèschützt habe.Während bekannt ist, dass die behinderten Kinder unter den Fällen kör-perlich misshandelter Kinder überrepräsentiert sind (Fruozucu und Bo-RosKrN, 1976), bleibt die Frage offen, ob das auf einen Mangel an liebe-voller Bindungsfühigkeit am Anfang (Bucuen und Mpvsni 1983) zu-rückzuführen ist oder auf einen Mangel an Hilfsangeboten und Unter-stützung im Umgang mit Kindern, die im Zusammenhang mit ihrer Be-hinderung schwere Störungen im seelischen Bereich und in ihrem Ver-halten aufirueisen. Robin BaLBEwm, ein Kinder-Psychotherapeut in poo-le, hat mit einem leicht behinderten Jungen gearbeitet, dei sich gegenden Kopfgeschlagen hat. Er fand heraus (1985), dass das Kopfschlagendie körperliche Attacke wiederholte, der er als kleines Kind ausgesetztwar.SrsveNs Schwierigkeit zu sprechen und die Jahre des Schweigens bei mirwerden leichter verständlich, wenn wir Maud MamçoNrs Kommentar mitheranziehen (1967): >>Vy'enn wir es mit einem Kind zu tun haben, das inden Todeswtinschen seiner Eltern verfangen ist, dann müssen als erstesseine Worte entwirrt werden.< Mit seinem ersten Geschenk, dem Wort>schüchtern<<, hat Steven dafür gesorgt, dass seinen Worten Beachtungzuteil wurde. M¡sNoNr fÌihrt fort, als sie über die Bedeutung der Worte iãder Beziehung zwischen dem zurückgebliebenen Patienten und dem The-rapeuten nachdenkt und sie in Verbindung setzt zu einem Geschenk: >Wirhaben ihm selbst das Kind zurückgegeben, das durch Panik eingemauertund in Nicht-Kommunikation versteinert war, sodass er nun seinerseitszur Welt gehören mag.( (5.224) Manchmal hatte ich das Gefühl, dassSteven nicht mit mir sprach, weil er seine neuen guten rrvorte so konkretals Geschenke ansah, die er für seine Mutter aufbewahren wollte, undfürchtete, er könnte sie aufbrauchen.Steven sehnte sich nach Kontakt, obgleich es ihn schier umbrachte, undsprach jn einen Übergangsraum hinein Worte, die ich nicht richtig ver-stehen konnte. Es ist vielleicht so, wie c¡Nerrr in Die provinz des-Men-

Zusammenfassung 81

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88 Primäre und Sekundäre Steven

schen resumiert: >Manchmal sagt man sein Bestes und Wichtigstes eln-fach irgendjemandem. Man muss sich deshalb nicht schämen, denn manspricht nicht immer zu Ohren. Die Worte wollen gesagt sein, nur damitsie existieren.<< Der Wunsch der Worte, zu existieren, hatte sich in Ste-vens Fall erst durch die Befriedigung im Zusammensein mit einer Thera-peutin entwickelt, die die Bedeutung der non-verbalen wie auch der ge-legentlich verbalen Kommunikation ertragen konnte. ZuOhren direkt zusprechen, zum gesunden, sehenden, hörenden Zeugen emotionaler, se-xueller oder organischer Verletzungen, heißt nicht nur, sich mit den se-kundären und opportunistischen Behinderungen zu konfrontieren, son-dern auch mit dem Vorfall selbst und dem Mangel an elterlichem Schutz.Darüber hinaus gibt es das Gebot der Eltern, nichts zu merken (Bowr-ev1979). Zur ohnehin weit verbreiteten Angst vor der Mutter als Lebens-spenderin und Todbringerin kommt ein zusätzliches traumatisches Ele-ment hinzu, wenn es einen realen Wunsch gibt, ob in Worte gefasst odernicht, das behinderte Kind möge sterben.M,q.Rrova und Kollegen (1984), Psychologen und Forscher an der Stir-ling University in Schottland, waren von ihren Forschungsergebnissenüberrascht, dass haemophile Kinder, obgleich sie weniger geschickt,leichtsinniger und aufgeregter waren als die Vergleichsgruppe, sobaldsie mit scharfen Gegenständen hantierten, von ihren Müttern nicht zu-rechtgewiesen wurden, wenn sie ein Messer stümperhaft und unbeküm-mert gebrauchten. Ich frage mich, ob die Mütter durch ihr fehlendesSchutzverhalten nicht unbewusste Todeswünsche vermittelt haben. Esist natürlich auch möglich, dass ihr Handeln einem kontraphobischenMechanismus entstammte, um eine übersteigerte Schonhaltung zu ver-meiden.Auf einer noch tieferen Ebene ist die Trauma-Ab.wehr, die über die Jahrehinweg aufgebaut worden ist, eine komplizierte psychotische Lösung.Sich die Auslöschung des Geistes zu Nutze zu machen, das Sehen oderdas Hören zu kappen, zu schlafen oder ein Roboter zu werden, ein dahin-vegetierendes Leben in Einrichtungen für Schwachsinnige zu verbrin-gen, das ist nicht gesund. Es funktioniert nicht. Gedanken wachten wiederauf egal wie sehr sich Steven bemühte, sie sich aus seinem Kopf zu schla-gen. Das Gespenst des Sinnzusammenhangs verfolgte ihn dennoch.Steven und andere behinderte Kinder und Erwachsene sind in manchenAspekten ihrer selbst verdummt, benommen vor Kummer. Sie könnenaber nur dann die Bedeutung des rWortes >dumm<< verstehen, seinen Ge-setzen in Sprache und Gesichtsausdruck folgen und Augen und Ohren,Gefühle und Denken abschneiden, wenn sie irgendwo nicht dumm sind.Um mit PRsr¡,uns tiefsinnigen Worten auf dem Totenbett zu sprechen:>>Bp,RNaR¡ hat recht. Der Erreger ist nichts; der Boden ist alles.<

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4 Das behinderte Lächeln:Alis Abwehr gegen Trauma

Wcir mir's nicht untersagt,Das Inn're meines Kerkers zu enthüllen,So höb ich eine Kunde an, von derDas kleinste l(ort die Seele dir zermalmte ...

Shakespeare, Hamlet I,5

Welche inneren und du/3eren kausalen Bedingungensind es, die den Prozess des Sich-Abschottens beije-mandem in Gang setzen ...?

John Bowlby, On knowing what you are notsupposed to lcnow and feeling what you are

supposed to feel

Sylvia FRasrR, eine bedeutende kanadische Schriftstellerin, hat sich be-müht zu verstehen, warum in ihren erfolgreichen Romanen gewalttätigeSexualität vorkommt. Sie kam dann allmählich in Kontakt zu einem an-deren Selbstanteil, dem kleinen Kind und der Jugendlichen, die regelmä-ßig von ihrem Vater sexuell missbraucht worden ist. Langsam undschmerzlich kehrten weitere Kindheitserinnerungen zu ihr zurück.In MyFather's House (1987, S. 252) schreibt sie, dass sie als Kind nur durchVergessen überlebt habe, aber als Erwachsene >wurde die Amnesie zueinem ebenso großen Problem wie das, was sie verhüllen sollte<. Als siezum ersten Mal ihrer Erinnerung wieder habhaft wurde, kam der kata-strophische Augenblick eines Abgrunds an Hilflosigkeit wieder an dieOberfläche. >So habe ich meinen Kopf von meinem Körper abgeschrauþLals wäre er der Deckel eines Gurkenglases. Von da an hatte ich ein zwei- --

faches Selbst - das wissende Kind, mit einem schuldigen Körper, der;Papi gehört, und ein Kind, das nicht mehr wagt, zv wissen, mit einemunschuldigen Kopf, der sich auf Mami eingestellt hat.< (S. 221) Dieseseelische Spaltung enqöglichte es ihr,.zu -überleben, aber um einen ho-fièri'Preisì dëiìn ðás Gedächtnis, das Wissen und das Gefühl sind der un-schuldigen Sylvia verloren gegangen, während der missbrauchten Syl-via, dem Selbst, das sie >das wissende Kind< nennt, sexuelles Wissen,Gedächtnis, Schuldgefühl und Triumph zugeteilt sind.Etwas an Sylvia FnnssRs persönlicher, angeborener Begabung - einerBegabung, die sie berechtigterweise dazu führt, ihrem Buch den Unterti-tel zu geben >Eine Biographie des Inzests und der Heilung< - hat sie vorweiterer intellektueller Verkrtippelung bewahrt. Bei weniger gut begab-ten Kindern aber sind Lernschwierigkeiten regelmäßige Begleiterschei-