Wilfried Heller (Hrsg.) Verschwundene Orte · um Deutsche, die aus anderen Regionen Böhmens...

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Wilfried Heller (Hrsg.) Verschwundene Orte Zwangsaussiedlungen, Neuansiedlungen und verschwundene Orte in ehemals deutschen Siedlungsgebieten Ostmitteleuropas

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Wilfried Heller (Hrsg.)

Verschwundene OrteZwangsaussiedlungen, Neuansiedlungen und verschwundene Orte in ehemals deutschen Siedlungsgebieten Ostmitteleuropas

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Das Verschwinden ganzer Dörfer ist keine Seltenheit. Im späten Mittelalter verschwanden in Europa viele ländliche Siedlungen infolge einer Klimaver- schlechterung von der fandkarte, und im 20. Jahrhundert wurden manche Dörfer in den Alpen aufgegeben, weil die Almwirtschaft unrentabel geworden war. Auch der Tagebau sowie die Anlage von Truppenübungsplätzen und Stau­seen haben bis in die Gegenwart den Untergang von Dörfern zu Folge gehabt.

Zu einem massenhaften Phänomen wurden derartige Wüstungen mit der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Im heute zu Russ­land gehörenden Königsberger Gebiet geht die Zahl der verschwundenen Ort­schaften in die Hunderte, und tschechischen Quellen zufolge sind allein im Sudetenland etwa 2.400 ländliche Siedlungen untergegangen. In geringe­rem Umfang sind auch in den heute polnischen Teilen Pommerns, Branden­burgs, Schlesiens und Ostpreußens ehemals deutsche Dörfer verschwunden.

Wirtschaftliche und soziale Verwerfungen sowie ein komplexer, bis heute an­dauernder Wandel der Kulturlandschaft sind die bisher wenig erforschten Fol­gen dieses Geschehens. Diese Veröffentlichung möchte am Beispiel des Sude­tenlandes und Masurens einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten und zu weiteren Forschungen anregen, denn die Geschichte und die Kultur dieser verschwundenen Siedlungen gehören zum historischen Erbe Europas.

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Ich danke Herrn Prof. Heller für die herausgeberische Bearbeitung der Texte und dem Verleger Konrad Badenheuer, der vor der Drucklegung der Texte auch mehrere inhaltliche Verbesserungen vorgeschlagen hat, die berücksichtigt werden konnten.

Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Ronald Berndt in Ansbach für die großzügige Unterstützung dieser Veröffentlichung.

München/Altenmarkt im Mai 2017

Dr. Wolf-Dieter Hamperl

Kulturwart des Bundes der Egerländer Gemeinden Deutschlands und Bundeskulturreferent der Sudetendeutschen Landsmannschaft

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Inhalt

Wilfried Heller:Entvölkerung, Entsiedlung, Wüstfallen ländlicher Siedlungen.Eine Einführung 8

David Kovarik:Der Untergang von Siedlungen im Grenzgebiet der BöhmischenLänder zwischen 1945 und I960 17

Sandra Kreisslovä:Die verschwundenen und wiederentdeckten Dörfer imböhmischen Erzgebirge 25

Wolf-Dieter Hamperl:Verschwundene Dörfer im ehemaligen Bezirk Tachau im südlichen Egerland 34

Franz Worschech:Die tschechische Besiedlung des Grenzgebiets nach 1945 am Beispiel des Ortes Zummern im ehemaligen Bezirk Tachau 56

Ulrich Mai:Zur ethnischen Symbolik in der masurischen Landschaft 74

Anhang:Wikipedia über die Wüstungen in Polen 85

Ortsnamenregister 88

Landkarte 94

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Wilfried Heller

Entvölkerung, Entsiedlung und Wüstfallen ländlicher Siedlungen. Eine Einführung.

1. Entvölkerung, Entsiedlung und Wustfallen ländlicher Siedlungen als historische Phänomene

Prozesse wie Entvölkerung, Entsiedlung und Wüstfallen ländlicher Siedlungen sind oft wiederkehrende Ereignisse in der Geschichte Europas und anderer Kontinente. Außerhalb Europas, etwa in den USA, fallen die sog. Geisterstädte auf, die Hinweise auf diese Vorkommnisse geben. In Europa sind bekannte Beispiele die Wüstungs­prozesse, die im Hohen und im Späten Mittelalter ländliche Siedlungen betrafen1, oder im 19. und 20. Jahrhundert die Entvölkerung von hochgelegenen Siedlungs­gebieten in den Apen2 und im Zentralmassiv in Frankreich3. Diese Vorgänge waren im Wesentlichen ökonomisch und sozial bedingt. Sie wurden teilweise auch ausge­löst durch politische Faktoren sowie durch Klimaveränderungen und Naturkatastro­phen - wie beispielsweise in Hochgebirgs- und Küstenregionen. Im 20. Jahrhundert wurden infolge der Ausweisung von Truppenübungsplätzen so manche ländliche Siedlungen verlegt oder ganz aufgegeben oder sie mussten wegen des zunehmenden Energiebedarfs von Wirtschaft und Gesellschaft dem Braunkohletagebau oder der Anlage von Stauseen weichen.

Besonders gravierend waren die Wüstungsprozesse im ländlichen Raum Ost­mitteleuropas, die nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der Vertreibung von mehr als zwölf Millionen Deutscher abliefen, und zwar in denjenigen Gebieten, die der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei durch die Siegermächte zugeteilt wurden4. Auch aus Ungarn und dem Territorium Jugoslawiens wurde infolge des

1 Vgl. z.B. FEHN u.a. 1994 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)2 Z. B. MEYER 2016) (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)3 Z. B. BLOHM 1976 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)4 Vgl. z. B. KOSSERT 2009 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)

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Zweiten Weltkriegs Deutsche vertrieben, etwa 200.000 aus Ungarn5 und mehr als eine halbe Million aus Jugoslawien6.

Massive Entsiedlungen fanden ebenso während der Jahre und Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Grenzregionen der Ostblockstaaten statt, insbesondere an den Grenzen der DDR und der Tschechoslowakei zur Bunderepu­blik Deutschland. Diese Maßnahmen dienten der leichteren Kontrolle, durch die auch die Flucht in den Westen unterbunden oder zumindest erheblich erschwert werden sollte.

2. Thematischer Schwerpunkt dieses Buches: verschwundene Siedlungen in Ostmitteleuropa - insbesondere im ehemaligen Sudetenland in denen bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutsche Bevölkerung lebte.

Die Untersuchungsbeispiele dieser Publikation befassen sich mit verschwundenen Siedlungen, in denen bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutsche Bevölke­rung lebte. Der regionale Schwerpunkt liegt dabei auf dem ehemaligen Sudetenland, aus dem rund drei Millionen Deutsche vertrieben wurden. Für das Gebiet des ehe­maligen Sudetenlands werden in der tschechischen Statistik etwa 2.400 Orte als verschwunden bezeichnet7. Leider existieren Angaben zu den Ursachen des Ver­schwindens nur für etwas mehr als die Hälfte dieser Orte. Als häufigste Ursache wird die „Aussiedlung“ (tschechisch Odsun, eigentlich ,Abschub“) nach 1945 genannt, nämlich für mehr als ein Drittel der statistisch genannten Fälle. Danach folgen als Ursachen die Einrichtung von Truppenübungsplätzen, Grenzzonensicherung, An­lage von Stauseen, Kohleförderung und andere Gründe8.

Etwa seit dem Jahre 2000 wird vermehrt über verschwundene Siedlungen in der Tschechischen Republik publiziert9. Seit einigen Jahren geht auch die tschechische historisch-geographische Literatur auf die „Entvölkerung“ und den dadurch ausge­lösten komplexen Wandel der Kulturlandschaft ein. Manche Gebäude, die nicht verschwanden, wurden nur deshalb bewahrt, damit sie als Zweitwohnsitze und für Wochenendaufenthalte dienen können. Insgesamt bieten die bisherigen Publikatio­

5 Vgl. z. B. BEER 2011 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)6 Vgl. z. B. ENGEL 1993 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)7 Vgl. z. B. HELLER 2016, S. 86 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)8 Zanikle, obce a objekty 2016 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)9 Ebenda, S. 84, Fußnote 1 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)

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nen über verschwundene Siedlungen meistens entweder breite historisch-geographi­sche Übersichten über die Regionen, in denen Orte verschwunden sind, oder sie bestehen aus demographischen, ökonomischen, sozialen und vor allem physiogno- mischen Beschreibungen und Interpretationen der früheren Siedlungen und der heutigen Landschaft, in der die Siedlungen existierten. Es gibt auch einige wenige detaillierte historisch-geographische Analysen verschwundener Orte. Aber es sollten noch viel mehr Analysen dieser Art oder Untersuchungen zu einzelnen Aspekten verschwundener Orte folgen. Denn die Wüstungsprozesse von Siedlungen im ehe­maligen Sudetenland stellen ein Massenphänomen dar, das weitere Bearbeitung verlangt.

Arbeiten über diese Themen sind auch notwendig, damit die Erinnerung an die ehemaligen Siedlungsgebiete nicht verloren geht, damit das kollektive Gedächtnis für Kultur und Geschichte der ehemaligen Siedlungsgebiete bewahrt wird. Diejeni­gen Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Anreize des tschechoslowaki­schen Staates hin die Vertreibungsgebiete wiederbesiedelten, hatten meistens keinen persönlichen oder familiären Bezug zu ihrem neuen Siedlungsgebiet bzw. Siedlungs­ort. Es gab in der Regel keine Verbindung zwischen ihrem neuen Zuhause und der Geschichte ihrer Familie. Es war für sie schwierig, sich mit ihrem neuen Siedlungs­raum zu identifizieren10. Sie trafen auch kaum auf Bewohner dieses Raumes, die ih­nen die Geschichte und die Eigenheiten dieses Raumes hätten vermitteln können, die ihr Wissen über diesen Raum hätten an sie weitergeben können, die sie in ihre neue Umgebung hätten einführen können. Mit der Vertreibung der Deutschen war gleichsam auch die Erinnerung an diesen Raum vertrieben worden. Die relativ we­nigen nicht-vertriebenen, verbliebenen Deutschen, welche die Erinnerung bewah­ren können, bildeten im Allgemeinen eine kleine Minderheit, die im Laufe der Zeit weiter schrumpfte und zur Zeit der Volkszählung von 2011 in der Tschechischen Republik nur noch etwa 40.000 Mitglieder zählte11.

Die Vertreibung der Deutschen bewirkte nicht nur komplexe Veränderungen in der Landschaft, sondern minderte auch den Wohlstand der in den Vertreibungs­gebieten lebenden Bevölkerung. Die staatlichen Ansiedlungsprogramme konnten den Verlust der vertriebenen Bevölkerung bei weitem nicht ausgleichen12. So erga­ben sich große regionale Disparitäten der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen

10 Vgl. z. B. WILDE 2015 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)11 Vgl. z.B. ANTIKOMPLEX u.a. 2013 und WILDE 2015 (s. unten Literatur- und Quellen­hinweise)12 Vgl. WIEDEMANN 2007 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)

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zwischen dem ehemaligen Sudetenland und dem Binnenland des Territoriums der Tschechischen Republik, die sich im Laufe der Zeit weiter verschärften, worauf tschechische Wissenschaftler hinweisen13. Deren Publikationen behandeln auch ge­genwärtige Aktivitäten der Gemeinden und der Zivilgesellschaft im Grenzland (tschechisch: „pohranici“), wie sie das ehemalige Sudetenland auch bezeichnen. Sie berichten beispielsweise darüber, wie sich diese Aktivitäten auf die Restaurierung lokaler Monumente richten und wie sie oft zusammen mit früheren deutschen Ein­wohnern, die nun in Deutschland leben, durchgeführt werden. In ihren Publikatio­nen wird aber auch beklagt, dass viele Monumente, z. B. Kirchen, aufgegeben blei­ben und dass sich niemand um sie kümmert. Traurig sei, dass viele Monumente, welche die kommunistische Periode relativ gut überlebt hatten, erst danach, d.h. nach 1989, durch „Wandalen und Diebe“14 zerstört worden seien.

Im ehemaligen Sudetenland, dem heutigen Grenzland der Tschechischen Repu­blik, überlagern sich die Probleme, die entstanden sind durch die den Vertreibungen der Deutschen folgenden Wüstungsprozesse, mit den Problemen, die allgemein heute in den europäischen Ländern auf die regionalen Disparitäten zwischen Zent­rum und Peripherie zurückgehen. Diese werden durch fortdauernde Abwanderun­gen aus der Peripherie sowie die Überalterung und das Schrumpfen der dortigen Bevölkerung verschärft. So ergeben sich Raumordnungs- und Raumentwicklungs- probleme, wie sie auch beispielsweise in peripheren Regionen Deutschlands beste­hen15, aber mit dem Unterschied, dass diese Probleme in der Tschechischen Repub­lik wegen der Vertreibung und der darauf folgenden Wüstungsprozesse vor dem Hintergrund einer anderen Geschichte bestehen, die bei der Debatte über die Zu­kunft des Grenzlandes nicht ausgeblendet werden sollte.

Auch die vorliegende Publikation möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Regionen, die durch Entvölkerung und Entsiedlung schwer verletzt wurden, nicht vergessen werden. Die Erinnerung an die Geschichte und die Kultur verschwunde­ner Siedlungen sollte bewahrt werden als historisches Erbe Europas.

13 Z. B. KUCERA/KUCEROVÄ 2012 (s. Literatur- und Quellenhinweise)14 Ebenda, S. 176 (s. Literatur- und Quellenhinweise)15 Vgl. z. B. MÜLLER/SIEDENTOP 2003 (s. unten Literatur- und Quellenhinweise)

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3. Überblick über die Untersuchungsbeispiele dieses Buches

Die folgenden Ausführungen geben einen kurzen thematischen Überblick über die fünf empirischen Beiträge dieser Publikation.

David Kovarik beschäftigt sich mit den staatlich organisierten und auch mit illegalen Abrissaktionen, die im Zeitraum von 1945 bis 1960 im Grenzgebiet der Böhmi­schen Länder durchgeführt wurden. Dabei werden auch die verschiedenen Ursachen des Verschwindens berücksichtigt, nämlich die Vertreibung der deutschen Bevölke­rung, die Einrichtung von siedlungsleeren Grenzzonen durch den tschechoslowaki­schen Staat, die Anlage von Truppenübungsplätzen, der Bau von Staudämmen, der Braunkohletagebau und andere Ursachen. Des Weiteren wird auf die bevölkerungs­strukturellen, ökonomischen und landschaftlichen Folgen des Untergangs von Sied­lungen eingegangen.

Sandra Kreisslová greift auch die Themen des vorangegangenen Beitrags auf, aber sie konzentriert sich auf das böhmische Erzgebirge. Außerdem macht sie noch auf einen besonderen Aspekt der Bevölkerungs- und Siedlungsprozesse aufmerksam, den sie „Wiederentdeckung“ nennt. Unter diesem Begriff behandelt sie Orte, in die vom tschechoslowakischen Staat wenige Jahre nach der Vertreibung der deutschen Bevöl­kerung, die vor allem im Jahr 1946 erfolgte, wieder Deutsche eingewiesen wurden, weil sie als Arbeitskräfte für Bergwerke (z. B. für das Uranbergwerk in Joachimsthal [Jáchymov]) benötigt wurden. Bei diesen deutschen Neusiedlern handelte es sich um Deutsche, die aus anderen Regionen Böhmens stammten und die nicht ins Aus­land vertrieben worden waren, weil sie als Arbeitskräfte im Inland gebraucht wur­den. Schließlich werden von der Autorin auch Maßnahmen angesprochen, die in Böhmen seit den 1990er Jahren für die Erinnerung an die verschwundenen Orte ergriffen werden. In diesem Zusammenhang wird auch das wichtige Engagement von Bürgerinitiativen gewürdigt.

Wolf-Dieter Hamperl bietet einen Überblick über alle verschwundenen Ortschaften des ehemaligen Bezirks Tachau (Tachov) im südlichen Egerland. Er berücksichtigt dabei die naturräumlichen Verhältnisse der von den Wüstungsprozessen betroffenen Gebiete, die landwirtschaftlichen Aktivitäten, die Entwicklungen von Handwerk und Industrie, welche im Wesentlichen durch Holzreichtum und eine sehr differen­zierte Glasproduktion bestimmt waren, die Entwicklung der Bevölkerung und der

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Siedlungen seit ihrer Gründung einschließlich der Siedlungsformen sowie die Zer­störung der Kulturlandschaft. Zahlreiche Fotos veranschaulichen das ehemalige Siedlungs- und Landschaftsbild, zeigen die Überreste ehemaliger ländlicher Siedlun­gen und vermitteln einen Eindruck von der heutigen Abgeschiedenheit oder teil­weise sogar Ödnis der Region.

Franz Worschech studiert die tschechoslowakische Besiedlung des Gebiets an der Grenze zu Bayern nach 1945 am Beispiel des Ortes Zummern (Soumer) im ehe­maligen Bezirk Tachau. Dabei behandelt er die gesetzlichen Grundlagen der Ver­treibung und der Neubesiedlung - d. h. die sog. Benes-Dekrete und die tschecho­slowakische Bodenreform —, die Organisation, den Ablauf und die Probleme der Neubesiedlung, die regionale Herkunft und die Berufsstruktur der Neusiedler sowie das Schrumpfen der Einwohnerzahl des Ortes.

Ulrich Mai geht der Frage nach, wie sich die masurische Landschaft (südliches Ost­preußen, nach 1945 Polen) nach 1945 verändert hat und was an diesen Veränderun­gen ethnischen Ursprungs ist. Im Unterschied zum Sudetenland sind in Masuren nur sehr wenige ganze Dörfer verschwunden. Es sind aber des Öfteren alleinste­hende Häuser sowie auch Herrenhäuser und Schlösser zerstört worden. Die meisten -Bauernhöfe aber blieben bestehen, weil sie nach Flucht und Vertreibung der Deut­schen von polnischen Kleinbauern übernommen wurden und weil in Polen - im Unterschied zur DDR und zu anderen sozialistischen Staaten - kleine landwirt­schaftliche Betriebe nicht kollektiviert wurden. Durch den vom polnischen Staat in Gang gesetzten Bevölkerungsaustausch kam es nicht nur zu Umwidmungen deut­scher Symbole (z.B. bei Denkmälern und Privathäusern), sondern auch zu ihrer Eliminierung (z.B. bei Orts- und Straßennamen, Friedhöfen). Die symbolischen Spuren, welche die neuen Eigentümer hinterließen, zeigt Mai anhand einer Reihe von Beispielen auf und veranschaulicht seine Aussagen mithilfe von Fotos. Abschlie­ßend geht der Autor auf die Veränderungen im Dorfbild Masurens ein, die nach der politischen Wende 1990 stattfanden und die als Teile von Modernisierungsprozessen zu sehen sind. Dadurch wurde einerseits die alte ethnische Symbolik abgewertet, andererseits aber auch der interethnische Diskurs etwas entschärft.

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4. Künftige Forschungsthemen

Nach der Beschäftigung mit den genannten einzelnen Studien stellt sich die Frage, auf welche Themen das Studium über Entvölkerung und Entsiedlung künftig ge­richtet sein sollte. In allen Beiträgen ist die Auffassung erkennbar, dass weiterhin die Spuren der verschwundenen Orte festgestellt und gesichert werden sollten. Sie soll­ten als historisches Erbe der betroffenen Regionen bewahrt und gepflegt werden. Darüber scheinen jedoch noch weitere Maßnahmen erforderlich zu sein. So sollten beispielsweise übersichtliche statistische Bestandsaufnahmen dieser Orte nach den Ursachen des Verschwindens und nach ihrer ehemaligen Einwohnerzahl erarbeitet werden. Die künftigen Forschungen sollten mehr als bisher die Geschichte und die sozialökonomischen Strukturen der ehemaligen Siedlungen ins Blickfeld nehmen. Mit Hilfe von Archivmaterialien (z. B. Katasterkarten und Grundbüchern) sollten die ehemaligen Landnutzungs- und Eigentumsstrukturen festgestellt werden. Es sollten jedoch auch ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlungen nach ihren Erinnerungen befragt werden. Die Forschungsergebnisse könnten gerade dann sehr aufschlussreich sein, wenn Spätaussiedler (z.B. der 1960er Jahre aus der Tschechoslowakei) aus diesen Siedlungen in die Forschungen einbezogen werden können. Ebenso sollten die sog. verbliebenen Deutschen, die heute noch in den Regionen leben, und unbedingt auch die aktuelle Bevölkerung von Orten, die in der Nachbarschaft der verschwundenen Orte liegen, für die Interviews berücksichtigt werden. Die Forschungsthemen könnten auch für sog. stakeholders bereitgestellt werden, d. h. für diejenigen Akteure, die für die Regionalentwicklung in den ehema­ligen deutschen Siedlungsgebieten zuständig sind bzw. auf diese Entwicklung Ein­fluss nehmen können, wie z. B. lokale und regionale Behörden und Persönlichkeiten sowie auch Touristen. Objekte und Sachverhalte des kulturellen Erbes, wie z. B. sak­rale und andere Monumente, könnten gleichsam als Attraktionspotential - als „wei­che Standortfaktoren“ - für die Entwicklung der gegenwärtigen problembeladenen peripheren Regionen genutzt werden. Ein weiteres Forschungsthema wäre die sog. Innere Vertreibung. Gemeint ist damit die Vertreibung von Deutschen in andere Gebiete der Tschechoslowakei, in denen die Vertriebenen zur Arbeit gezwungen wurden, z. B. in Bergbaureviere Innerböhmens. Über die Orte, die nach dem Zwei­ten Weltkrieg von inneren Vertreibungen betroffen waren, ist bisher offenbar relativ wenig bekannt. Summa summarum: Es besteht noch sehr viel Forschungsbedarf.

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Literatur- und Quellenhinweise

ANTIKOMPLEX und SHROMÄZDENl NEMCÜ V CECHÄCH, NA MORAVE A VE SLEZSKU/LANDESVERSAMML UN DER DEUTSCHEN IN BÖHMEN, MAHREN UND SCHLESIEN (Hrsg.) : Züstali tu s nämi/Bei uns verblieben. Pribehy Ceskych Nemcü/Geschichten tschechischer Deutscher. Praha/Prag 2013.

BEER, Mathias: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. München 2011.

BLOHM, Eberhard: Landflucht und Wüstungserscheinungen im südöstlichen Mas- sif Central und seinem Vorland im 19. Jahrhundert. In: Trierer Geographische Stu­dien 1, Trier 1976.

ENGEL, Walter: Fremd in der Heimat. Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa unter­wegs nach Deutschland. Dülmen 1993.

FEHN, Klaus, u.a. (Hrsg.): Wüstungsprozesse - Wüstungsperioden - Wüstungs­räume. In: Siedlungsforschung. Archäologie — Geschichte - Geographie, Band 12, Bonn 1994.

HELLER, Wilfried: Lipnice - a historic-geographic portrait of a vanished village of Cheb region (Bohemia). In: Historickä Geografie, Prague 2016, Vol. 42/1, S. 83- 112.

KOSSERTAndreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München 2009.

KUCERA, Zdenek/KUCEROVÄ, Silvie: Historical Geography of Persistence, Dest- ruction and Creation. The Case of Rural Landscape Transformation in Czechia’s Resettled Borderland. In: Historickä Geografie, Prague 2012, Vol. 38/1, S. 165-184.

MEYER, Werner: Wüstungen. In: Historisches Lexikon der Schweiz. In: http://www. hls-dhs-dss.ch/textes/d/D7954.php (27.11.2013, letzter Zugriff: 10.06.2017).

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MÜLLER, Bernhard/SIEDENTOP, Stefan (Hrsg.): Schrumpfung - Neue Herausfor­derungen für die Regionalentwicklung in Sachsen/Sachsen-Anhalt und Thüringen. In: Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover 2003, Arbeits­material Nr. 303.

WIEDEMANN, Andreas: Komm mit uns das Grenzland aufbauen! Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952. Essen 2007

WILDE, Anja: Ausprägungen räumlicher Identität in ehemaligen sudetendeutschen Gebieten. Am Beispiel der Bezirke Tachov (Tachau) und Sokolov (Falkenau). Göt­tingen 2015. In: Praxis Kultur- und Sozialgeographie, Vol. 59.

Zanikle obce a objekty. Verschwundene Orte und Objekte. In: http://www.zanikleobce.cz/index.php2land=d&... (letzter Zugriff: 10.06.2017).

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David Kovafík

Der Untergang von Siedlungen im Grenzgebiet der Böhmischen Länder zwischen 1945 und 1960

Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Untergang von Ansiedlungen und Ort­schaften in den tschechischen Grenzgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Zeitlich fällt dieser Beitrag in die Jahre 1945 bis I960, als in diesen en Gebieten staatlich organisierte Abrissaktionen erfolgten.16 Die meisten verschwundenen Gemeinden und Ortschaften erloschen dort gerade in jener Zeit. Der Untergang von Ansiedlun­gen sowie auch ganzer Dörfer hatte mehrere Ursachen. Der Hauptgrund dafür war die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, wonach in den Grenz­gebieten viele dauerhaft verlassene Häuser zurückblieben. Im Jahre 1930 hatten die Grenzregionen der böhmischen Länder insgesamt 3,7 Millionen Einwohner, aber 1950 lebten in diesem Raum nur noch 2,3 Millionen Menschen. Die Bevölkerungs­dichte sank in diesem Zeitraum um 33 Prozent17, verbunden mit einer deutlich stärkeren Konzentration dieser geringeren Bevölkerung auf die Städte. Weitere Sied­lungen und Dörfer verschwanden, weil sie aus Sicht der Verantwortlichen zu nahe an der Staatsgrenze oder an Truppenübungsplätzen lagen.

Die Liquidation der Grenzsiedlungen begann kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Niederreißen verlassener Häuser wurde von Nationalausschüssen - den damaligen Gemeindeämtern - in den Grenzgemeinden nach Maßgabe eines Erlasses des Innenministeriums angeordnet. Abrissaktionen wurden auch vom Na­tionalen Bodenfonds durchgeführt, der die meisten konfiszierten deutschen Vermö­gen verwaltete. Die zum Abriss bestimmten Häuser wurden Einzelpersonen sowie auch sogenannten gesellschaftlichen Organisationen zugeteilt. Seit dem Ende der vierziger Jahre wurden die zum Abriss vorgesehenen Häuser vorzugsweise landwirt­schaftlichen Genossenschaften zugewiesen, denen das gewonnene Baumaterial unter

16 Diese Problematik wurde bisher wissenschaftlich und großräumig nicht aufgearbeitet. Einen Zugriff bietet jedoch die Dissertation des Autors: KOVARJK 2009. Zudem gibt es viele Artikel und Beiträge regionaler und populärwissenschaftlicher Literatur, z. B. ANTIKOMPLEX 2006, BINTEROVÄ 2006, BURES 2015; KINTZL/FISCHER 2016; PROCHÄZKA 2011.17 ANTIKOMPLEX 2006, S. 97. Zum Thema des Bevölkerungsaustausches im tschechischen Grenzgebiet vgl. auch ARBURG 2005 und WIEDEMANN 2006.

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anderem zum Bau von Rinderställen diente. Oft wurden Häuser aber auch illegal abgerissen. Menschen aus der ganzen Tschechoslowakei reisten in die Grenzgebiete und trugen verlassene Häuser ab, um so günstig an Baumaterial zu kommen.

Viele Gemeinden des Sudetenlandes gingen auch wegen Truppenübungsplätzen unter, die nach 1945 angelegt wurden. In den tschechischen Grenzgebieten entstan­den insgesamt sechs große militärische Übungsareale: Gutwasser (Dobra Voda) und Polletitz (Boletice) im Böhmerwald, Sangerberg (Prameny) im Kaiserwald, Rollberg (Ralsko) in Nordböhmen, Stadt Liebau (Mesto Libavä) im Odergebirge in Nord­mähren und Höfen-Duppau (Hradiste) im Duppauer Gebirge, mit 67 Gemeinden und Ortschaften der größte Truppenübungsplatz der Tschechoslowakei. Die meisten verlassenen Häuser sowie auch ganze Dörfer in diesen Übungsgebieten dienten als Ziele für Schießübungen.18

Die nächste große Demolierungswelle kam nach der kommunistischen Macht­übernahme im Jahr 1948, als die tschechische bzw. tschechoslowakische Staatsgrenze zum Westen hermetisch abgeriegelt wurde. Das kommunistische Regime leitete ver­schiedene Maßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze ein, um so vor allem die Emigration der eigenen Bürger und andere illegale Grenzübertritte - etwa von Schmugglern und Agenten - zu verhindern. Direkt an der Grenze wurden ein dop­pelter Stacheldrahtzaun, Wachtürme sowie weitere Sicherungsbauten errichtet. Im Grenzgebiet war nun die militärisch organisierte „Grenzwache“ (Pohranicni sträz [PS]) tätig. Der kommunistische Umsturz im Jahr 1948 versetzte damit der Kultur­landschaft des böhmischen Grenzlandes an der bayerischen und österreichischen Grenze einen weiteren schweren Schlag.

Ein weiterer Umbruch in der Nachkriegsgeschichte des böhmischen Grenzgebie­tes folgte schon Anfang der fünfziger Jahre. Am 1. April 1950 wurde entlang der Staatsgrenze zu Österreich und West-Deutschland und teilweise auch zur DDR auf der tschechischen Seite eine sogenannte Grenzzone („pohranicne päsmo“) einge­richtet. Die Grenzzone war zwischen 2 und 10 km breit, und in ihr lagen rund 500 Ortschaften und Gemeinden. Die Errichtung der Grenzzone wirkte sich sehr negativ auf die weitere Entwicklung des Grenzgebietes in der Tschechoslowakei aus. Zudem wurden aus der Grenzzone mehrere Tausend Bewohner ausgesiedelt, die als „staatlich unzuverlässig“ galten.19

18 VOJENSKE ÜJEZDY, 2006.19 Archiv bezpecnostnich slozek Kanice u Brna (Archiv der Sicherheitseinheiten Kanitz bei Brünn), Fond A 2/1 - Sekretariat ministerstva vnitra (Fonds A 2/1 - Sekretariat des Innenminis-

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Im Jahr 1951 wurde per Geheimbefehl des Ministeriums für nationale Sicherheit entlang der deutschen und österreichischen Staatsgrenze außerdem eine bis zu 2 km breite Sperrzone („zakäzana päsmo“, wörtlich: Verbotszone) eingerichtet. In dieser Zone durfte niemand mehr wohnen und niemand durfte sie betreten, mit Aus­nahme der Angehörigen der Grenzwache. Die Grenzdörfer in den Böhmischen Län­dern waren aber noch teilweise bewohnt. Hier lebten sowohl noch relativ viele Deut­sche, die aus verschieden Gründen nicht ausgesiedelt worden waren, wie auch neue tschechische Nachkriegssiedler.20

Aus der Verbotszone wurde von November 1951 bis Ende April 1952 die ge­samte Bevölkerung ausgesiedelt. Alle Ortschaften und Gemeinden mussten geräumt werden. Auch die tschechische Bevölkerung, die erst kurz zuvor hergezogen war, musste das Gebiet wieder verlassen. Am 16. August 1952 wurde festgelegt, dass sämtliche Gebäude in der Verbotszone abzureißen seien. Entlang der Grenze waren 130 Gemeinden und Ortschaften und ca. 3.000 Häuser von dieser Maßnahme be­troffen. Ausgenommen waren einige Gebäude, die von der tschechoslowakischen Armee oder von der Grenzwache genutzt wurden. Die verlassenen Häuser und an­deren Objekte wurden im Rahmen einer Abrissaktion zwischen 1953 und 1956 dem Erdboden gleichgemacht.21

Zur nächsten Welle von umfangreichen Abrissaktionen kam es in den tschechi­schen Grenzgebieten in den Jahren 1955 und 1958. Dieses Mal betraf sie die Dörfer, die in der erweiterten Grenzzone lagen, wo sich auch viele verlassene Häuser befan­den. Der Abriss der Gebäude in der Grenzzone wurde vor allem von der Baufirma Zemstav Praha durchgeführt. Diese Demolierungsaktionen hatten das Ziel, die ver­fallenden und halbzerstörten Bauten zu beseitigen. Die Abrissaktionen erreichten ihren Höhepunkt gegen Ende der fünfziger Jahre. Zu jener Zeit gab es in den Grenz­gebieten noch Tausende leer stehender Häuser. Ihr Abbruch verlief schleppend und wurde oft schlecht ausgeführt. Die unbewohnten Häuser verfielen und verwandel­ten sich in Ruinen.

Aus diesem Grund hat man zunehmend begonnen, über die vernachlässigten Grenzgebiete zu reden, und das auch außerhalb der Tschechoslowakei. Es kamen

teriums), Inv.-Nr. 216, Vynos ministerstva vnitra o zrizeni hranicniho päsma (Erlass des Innen­ministeriums über die Einrichtung der Grenzzone), 1. 4. 1950.20 Ebenda, Inv. - Nr. 1722, Smernice ministerstva närodni bezpecnosti o ustanoveni pohra- nicniho üzemi (Richtlinie des Ministeriums für nationale Sicherheit über die Festlegung des Grenzgebiets), 28. 4. 1951.21 KOVARI'K 2009, S. 78-105.

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Abb. 1: Abrissaktion im Jah r 1959. K irche in Kapellen (Kaplicky) in Südböhmen

nämlich verstärkt ausländische Touristen in die Tschechoslowakei, welche die ver­wahrlosten Dörfer oder die verkommenen und zerfallenden Häuser mit eigenen Augen sahen. Auch ausgesiedelte Deutsche, die deutsche oder österreichische Staats­bürger geworden waren, begannen in die ehemaligen sudetischen Ortschaften zu reisen. Sie kamen mit einem Touristenvisum, um sich ihr ehemaliges Zuhause anzu­sehen. Anschließend veröffentlichen sie in den Zeitungen der Landsmannschaft und Heimatbriefen ihre Berichte, und es gab dort auch Fotos der vernichteten Häuser, der verwahrlosten Ortschaften und der devastierten Landschaft.

Die tschechoslowakischen Behörden wandten sich gegen eine solche negative Publizität. Sie bezeichneten sie als antitschechoslowakische und antikommunistische Propaganda. Sie fürchteten insbesondere den Sudetendeutschen Tag in Wien im Jahr 1959, zu dem bis zu bis zu 300.000 Sudetendeutsche erwartet wurden und dann auch kamen. Viele von ihnen hätten dieses Treffen zu Gruppenreisen in die Tschechoslowakei nutzen können. Um das Aussehen der Grenzgebiete zu verbes­sern, beschloss die tschechoslowakische Regierung, eine zentrale Abrissaktion im gesamten Gebiet durchzuführen, in die auch die Armee und Tausende Angehörige der Sicherheitskräfte eingebunden waren. Diese umfangreiche Abrissaktion verlief in den Jahren 1959 und 1960, wobei weitere insgesamt 40.000 Objekte dem Erdboden

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Abb. 2: Sprengung d er K irche von Kapellen (Böhmerwald) im Jahre 1959(Quelle beider Bilder: Archiv bezpecnostnich slozek, Praha. Sbirka fotoa lb a fo togra fii [Archiv der Sicherheitsein­heiten, Prag. Sammlung Fotoalben und Fotografie])

gleichgemacht wurden (s. Fotos 1 und 2). Das aus diesen Abbrüchen gewonnene Baumaterial wurde damals auf 16 Millionen tschechoslowakische Kronen ge­schätzt.22 Die Abrissaktion betraf auch Kirchen und historische Denkmäler. Diese Bauten durften gemäß einer Direktive des Innenministeriums freilich nicht erhalten bleiben. Nur die historische Ausstattung und das Mobiliar sollten bewahrt werden.

Der Untergang von Siedlungen in den tschechischen Grenzgebieten wurde auch in Österreich und Deutschland verfolgt. Zum Beispiel dokumentiert eine Ansichts­karte des Grenzortes Böhmisch Waldheim im Böhmerwald von der bayerischen Seite aus die Liquidierung dieses Dorfes. Das Niederreißen ihrer ehemaligen Häuser sahen an einigen Orten auch ausgesiedelte Deutsche, die ihr neues Zuhause auf der anderen Grenzseite in Bayern oder in Österreich gefunden hatten. Diese Menschen beschrieben den Untergang von Ortschaften des ehemaligen Sudetenlandes häufig in den Zeitungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Oft handelte es sich um sehr emotionale Zeugnisse.

22 Ebenda, S. 120-138.

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Als Beispiel kann der Artikel ,Aus der alten Heimat“ in der Zeitschrift „Der Südmährer“ aus dem Jahr 1959 genannt werden, der über die untergegangene Gemeinde Münichschlag bei Neubistritz wie folgt berichtete: ,An der Straße von Münichschlag nach Griesbach lag knapp an der österreichischen Grenze die Pötsch- Mühle, die zur Gemeinde Münichschlag gehörte. Nach der Vertreibung der Deut­schen wurde die Mühle samt den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden von den Tsche­chen gesprengt und alles mit Planierraupen dem Erdboden gleichgemacht. Die Müllerin konnte vom sicheren österreichischen Boden aus der wilden Zerstörung ihres Besitzes unter Tränen und wohl auch mit Erbitterung im Herzen zusehen. Einige Zeit darauf wurde der Mühlteich abgelassen. Die Straße vergraste, und auf der wüsten Trümmerstätte des Hauses wuchsen Gras, Brennesseln und Gestrüpp. Im Juli dieses Jahres fiel den Tschechen ein, sie hätten ihr Zerstörungswerk noch nicht ganz vollendet. Zuerst wurde die Ruine des alten Münichschläger Kirchleins ge­sprengt, dann wurden das Gestrüpp und das dürre Gras auf dem Trümmerfeld der Pötsch-Mühle in Brand gesteckt. Das Feuer brannte den ganzen Tag bis in die Nacht hinein.“23

Nach 1960 wurde ein so massenhafter und großflächiger Abriss nicht mehr wie­derholt. Trotzdem gingen auch in den späteren Jahren nicht nur einzelne Siedlungen unter, sondern auch ganze Ortschaften, die nun vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen abgerissen wurden. Zu den bekanntesten Fällen gehören der Abriss der Altstadt von Brüx (Most) und anderer Ortschaften für den Kohleabbau sowie die Überflutung vieler Städte und Dörfer im Zuge der Errichtung von Staudämmen, wie z. B. die Überflutung von Muschau (Musov) bei Nikolsburg (Mikulov) im Süd­mähren oder von Pressnitz (Prisecnice) im Erzgebirge.24

23 Der Südmährer. Zeitschrift für die Kreise Znaim, Nikolsburg, Zlabings und Neubistritz. Jahr­gang 11,1959, Heft 9, S. 422-423.24 Vgl. SPURNY 2016; BINTEROVÄ/DED 2004, KORDIOVSKY 2000.

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Literatur und Quellen

ARBURG, Adrian von: Abschied und Neubeginn. Der Bevölkerungswechsel in den Sudetengebieten nach 1945. In: ARBURG, Adrian von (Hg.): Als die Deutschen weg waren. Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreussen, Schlesien, Sudeten­land. Berlin 2005 (Rowohlt), S. 185-217.

ATNIKOMPLEX: Zmizelé Sudety. Das verschwundene Sudetenland. Domazlice 2006 (Cesky les). (5. Aufl.).

BINTEROVA, Zdehka: Zaniklé obce Chomutovska a Kadanska od A do Z. Chomu- tov 2006 (Oblastni muzeum).

BINTEROVA Zdena/DËD, Stanislav: Prisecnice zatopenâ, aie nezapomenutâ. Preiss- nitz versunken, aber nicht vergessen. Chomutov 2004 (Oblastni muzeum).

BURE$, M ichal: Vesnice zaniklé po roce 1945 a kulturni krajina Novohradskych hör: priklad archeologické transformace. Vydäm: prvni. Plzen 2015 (Zapadoceska univerzita v Plzni).

DER SÜDMÀHRER. Zeitschrift für die Kreise Znaim, Nikolsburg, Zlabings und Neubistritz, Jahrgang 11, 1959.

KINTZL, Emil/FISCHER, Jan : Verschwundener Böhmerwald. Zlin 2016 (Kniha Zlin).

KORDIOVSKŸ, Emil: MUSOV 1276-2000. Znojmo 2000 (FPO).

KOVARiK, David: Demolicni akce v ceském pohranici 1945-1960. Dissertation, Masaryk-Universität Brünn 2009.

PROCHÂZKA, Zdenèk: Putoväni po zaniklych mfstech Ceského lésa. I. Domazlicko, H. Tachovsko. Wanderungen durch die verschwundenen Ortschaften des Böhmer­waldes. I. Kreis Taus, II. Kreis Tachau. Domazlice 2011 (Cesky Les).

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SPURNY, Matey. Most do budoucnosti. Laboratof socialisticke modernity na severu Cech. Praha 2016 (Karolinum).

Vojenske üjezdy Arrnady Ceske republiky, Praha 2006 (Ministerstvo obrany CR).

WIEDEMANN, Andreas: „Komm mit uns das Grenzland aufbauen!“ Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945—1952. Essen 2007 (Klartext).

Archivquellen:Archiv bezpecnostnich slozek Kanice u Brna (Archiv der Sicherheitseinheiten Kanitz bei Brünn), Fond A 2/1 - Sekretariat ministerstva vnitra (Fonds A 2/1 - Sekretariat des Innenministeriums).

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Sandra Kreisslová

Die verschwundenen und wiederentdeckten Dörfer im böhmischen Erzgebirge

Das Verschwinden von menschlichen Siedlungen, mit dem wir uns im Rahmen die­ses Sammelheftes beschäftigen, stellt kein historisches Ausnahmephänomen dar. Was das Ausmaß des Verschwindens und der kontrollierten Zerstörung von Städten und Gemeinden betrifft, ist jedoch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und wäh­rend der nachfolgenden Etappen der kommunistischen Diktatur auf tschechischem Boden sehr spezifisch. In dieser Zeit handelte es sich um einen besonders intensiven Prozess, der nicht nur die Transformation der Kulturlandschaft bedeutend beein­flusst hat, sondern auch in das Schicksal der Bewohner vor Ort eingriff, die ihr Zu­hause verlassen mussten. Zu den am stärksten betroffenen Gebieten gehörte in die­ser Hinsicht das Erzgebirge. Am Beispiel dieser Region und ihrer Umgebung möchte ich mich in diesem Text mit zwei Fragen beschäftigen: 1. Aus welchen Gründen kam es in dem betrachteten Zeitraum der Jahre 1945 bis 1989 zum Verschwinden von Siedlungen? 2. Welche Formen einer weiteren Entwicklung, Nutzung oder „Erneu­erung“ dieser Orte existieren heute?

Die Erzgebirgsregion war wie die Mehrheit der Orte in dem tschechischen Grenzgebiet vor dem Jahre 1945 überwiegend von deutschsprachiger Bevölkerung besiedelt, die in den ersten Nachkriegsjahren bis auf einige Ausnahmen vertrieben wurde.25 Nur einen Teil dieser Gemeinden gelang es, nach der Vertreibung mit einer neuen Bewohnerschaft besiedelt zu werden.26 Aufgrund der unwirtlichen Umge­bung gehörten die Bergregionen Joachimsthal (Jáchymov) und Weipert (Vejprty) hinsichtlich der Besiedlung zu den am wenigsten attraktiven und daher auch am wenigsten besiedelten Gebieten. Gleichzeitig waren dies allerdings auch die Regio­nen, in denen mehr als anderswo Teile der deutschsprachigen Bevölkerung verblie­ben, vor allem als sog. Spezialisten und Personen aus gemischten Ehen (mit tschechi-

25 Zur Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach 1945 vgl. z.B.ARBURG/STANEK 2010.26 Zur Besiedlung der Grenzregionen nach 1945 vgl. CAPKA/SLEZÄK/VACULiK 2005;w i e d e m a n n 2007.

25

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sehen Partnerinnen bzw. Partnern). Im Jahre 1948, als sich in der Tschechoslowakei die Vorbereitungen zur Umsiedlung der verbliebenen Deutschen ins Landesinnere („Innere Vertreibung“) auf dem Höhepunkt befanden, kam es auch zur Entschei­dung über die Umsiedlung eines Teils der deutschen Bevölkerung in die Gegend von Joachimsthal und Weipert zur Arbeit in den dortigen Uranminen. Die genaue An­zahl der auf diese Weise umgesiedelten Personen und ihrer Familienangehörigen kann nicht festgestellt werden. Sie wird auf insgesamt rund 5.000 bis 7.000 Perso­nen geschätzt.27 Der Zustrom einer so großen Zahl an neuen deutschen Bewohnern in Gemeinden, in denen vorher bereits Entsiedlungsprozesse stattgefunden hatten, stellte in den Grenzregionen ein einzigartiges und bisher unbekanntes Phänomen dar. Für einige Gemeinden bedeutete dies eine Umkehrung der bisherigen Entwick­lung und einen vorübergehenden Aufschub ihres Verfalls oder Verschwindens.

Unter fehlender Besiedelung litten vor allem die Bergregionen, in denen sich aufgrund der harten klimatischen und Lebensbedingungen Neusiedler nur in klei­nerer Zahl niederließen. Eine Reihe von Gemeinden und Siedlungen wurde gar nicht wieder besiedelt und verschwand. Als ein Beispiel für eine Gemeinde, die nach dem Jahre 1945 fast entvölkert wurde, kann die Gemeinde Reizenhain (Pohranici) genannt werden, die sich an der sächsischen Grenze befand und die von der gleich­namigen Nachbargemeinde auf der sächsischen Seite der Grenze nur durch einen Wasserlauf getrennt war. Die ersten Nachrichten über Reizenhain stammen aus der Urkunde vom Jahre 1401. Bis ins 19. Jahrhundert bildete die Waldarbeit die wich­tigste Einnahmequelle der hiesigen Einwohner, später wurde sie durch Tourismus ersetzt. Im Ort befanden sich drei Wirtshäuser, zwei Kolonialwarenläden, eine Bä­ckerei, eine Tabaktrafik, eine Werkstatt für die Herstellung von Souvenirs und eine Holzdrechslerei. Im Jahre 1930 lebten hier 223 Einwohner, 1950 betrug die Ein­wohnerzahl nur noch 26 und im Jahre 1955 wurde die Ortschaft amtlich aufgelöst. Im Dorf blieben nur vier ursprüngliche Häuser und eine Kapelle erhalten. Heute werden diese Gebäude als Wochenendhäuser benutzt. Zur definitiven Entvölkerung der Gemeinde trug wahrscheinlich auch die unmittelbare Nähe der Drahtzäune bei, welche die Staatsgrenze zwischen der Tschechoslowakei und der DDR im Rahmen der „Verbotszone“ („zakázaná pásmo“) markierten, die bis zum Jahre 1966 existierte. Die Maßnahmen, die zur Bewachung und Sicherung der Staatsgrenze nach dem Beginn des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei im Jahre 1948 ein-

27 Zum Thema der inneren Umsiedlung der Deutschen in der Tschechoslowakei nach 1945 vgl. DVORÄK 2012.

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geführt wurden, bezogen sich nämlich nicht nur auf die Grenzen zu Bayern und Österreich, sondern teilweise auch auf die Grenze zu Sachsen, also zur DDR. Im Jahre 1950 wurde eine sog. Grenzzone festgelegt, die auch einen Teil des Erzgebirges betraf. Im Jahre 1951 wurde zudem in unmittelbarer Nähe der Grenze die soge­nannte Verbotszone eingerichtet. Es handelte sich um ein Gebiet, in dem sich nie­mand aufhalten durfte, mit Ausnahme der Angehörigen der Grenzwache. Das Ein­richten der Verbotszone bedeutete in der Praxis, dass aus dieser Region alle Anwohner ausgesiedelt wurden und dass auch die dortigen Gemeinden komplett aufgegeben wurden.28 Obwohl die Verbotszone an der Grenze zur DDR nur einige hundert Meter breit war und damit eine weit kleinere Fläche einnahm als diejenigen an der tschechisch-österreichischen und der tschechisch-bayerischen Grenze betraf sie al­lein in den ehemaligen Bezirken Joachimsthal (Jachymov) und Graslitz (Kraslice) vierzehn Gemeinden und Siedlungen ganz oder teilweise. Einige dieser Gemeinden standen infolge der Vertreibung der ursprünglichen deutschen Bevölkerung bereits leer, in einigen stellten sich die Menschen aber auch offen gegen die Umsiedlung. Ihre Beschwerden gegen die Einrichtung der Verbotszone an der Staatsgrenze, die an die verbündete DDR grenzte, wurden allerdings abgelehnt, und die Gemeinden wurden entsiedelt. Auf dem betroffenen Gebiet befanden sich 1.073 Häuser mit 868 Einwohnern, die dort dauerhaft gewohnt hatten.29

Ein weiterer Grund für das Verschwinden von Gemeinden: Dutzende von Ge­meinden in der Umgebung des Erzgebirges wurden entsiedelt und anschließend abgerissen, und zwar nach dem Aufbau des größten Übungsgeländes der Tschecho­slowakischen Armee, dem Truppenübungsplatz Hradiste (Höfen) im Duppauer Ge­birge. Von der Anlage dieses Übungsgeländes im Jahre 1951 war eine große Region betroffen, die sich auf das Gebiet von drei damaligen Bezirken erstreckte, nämlich Kaaden (Kadan), Karlsbad (Karlovy Vary) undTheusing (Touzim). Dort wurden in den darauffolgenden Jahren 67 Gemeinden ausgelöscht und über 2.600 Häuser, 36 Mühlen und 12 Kirchen abgerissen. Obwohl die Einwohnerzahl nach der Zwangsaussiedlung der Deutschen in den betroffenen Gebieten bereits auf bedeu­tend weniger als ein Drittel des Vorkriegsniveaus gesunken war, mussten nach der Einrichtung des Militärbezirks über 5.000 Anwohner ihre Häuser schon wieder ver­lassen.30 Es wurde dort auch die ehemalige Bezirksgerichtsstadt Doupov (Duppau)

28 Vgl. KOVARiK/KREISSLOVÄ 2015, S. 9-33. Vgl. auch den Beitrag von KOVARIK oben in dieser Broschüre.29 Vgl. KOVARJK 2013, S. 54-63.30 Ebenda.

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dem Erdboden gleichgemacht. Heute erinnern an Duppau nur noch Stufen, die zur Klosterkapelle führten, das Lagergebäude am ehemaligen Bahnhof und die Gruft der Zedtwitzer.31 Aktuell sind die militärischen Tätigkeiten wieder eingeschränkt wor­den, als militärisches Übungsgelände wird nur noch ein Teil des ehemaligen Gebie­tes genutzt. Weil das Duppauer Gebirge vom Menschen nur noch wenig genutzt wird, bildet es aus ökologischer Sicht eine außerordentlich gut erhaltene Landschaft, in der sich auch seltene Pflanzen und Lebewesen finden. Hier erstreckt sich auch eines der größten Vogelschutzgebiete der Tschechischen Republik.

Zu außergewöhnlichen Eingriffen in die Kulturlandschaft und die Siedlungs­struktur der Erzgebirgsregion kam es auch aufgrund eines volkswirtschaftlichen In­teresses des Staates. Anfang der 70er Jahre mussten dem Bau des Stausees Prisecnice (Pressnitz) vier Gemeinden weichen. Unter ihnen befand sich auch die ehemalige Bezirksstadt Pressnitz. Die Bewohner von Pressnitz wurden in die umliegenden Ge­meinden umgesiedelt, zum größten Teil in das nahe Weipert, wo aus diesem Grund der Bau neuer Wohnungen einsetzte. Die Bewohner begannen im Jahre 1972 mit dem organisierten Umzug, die letzten Menschen verließen Pressnitz im Sommer 1973. Bereits im Laufe des Jahres 1972 wurden auch die ersten verlassenen Häuser und Gebäude abgerissen. Zuerst wurden, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Objekte, die sich in der Nähe der Schule und der Kirche befanden, demoliert. Im Zusammenhang mit einer archäologischen Erforschung der Pfarr- und Friedhofs­kirche im Jahre 1973 wurden die örtlichen Denkmäler entfernt und in die umliegen­den Gemeinden versetzt. Am meisten veränderte der Abriss vom 6. Juni 1973 das Gesicht der Gemeinde: Damals wurden mit 700 Kilogramm Dynamit das Schloss und eine Reihe von Häusern auf dem Hauptplatz gesprengt. Der Abriss dieser Bau­ten diente als Kulisse für den Film Traumstadt, der dort von westdeutschen Film­unternehmen gedreht wurde, und so kann man das Verschwinden dieser Stadt in den Aufnahmen dieses Filmes verfolgen. Amtlich hörte Pressnitz (Prisecnice) im Jahre 1974 auf zu existieren. Im Zuge des Abrisses von Pressnitz wurde auch der Abriss der Nachbargemeinden Reischdorf (Rusovä), Dörnsdorf (Dolina) und Köstel- wald (Kotlina) beschlossen.32

Nordwestböhmen war vor allem durch den Abbau von Braunkohle (Tagebau) betroffen. Eine Reihe von Gemeinden musste ihm weichen, auch die königliche Stadt Brüx (Most), deren Geschichte bereits im 13. Jahrhundert begann. Ungefähr

31 BINTEROVÄ 2000, S. 129-131.32 Ebenda, S. 79-81.

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Mitte der 1950er begannen die Überlegungen, diese Stadt zu vernichten. Der Reich­tum an Bodenschätzen, der ihr in der Vergangenheit eine Blütezeit ermöglicht hatte, wurde ihr jetzt zum Verhängnis. Im Jahre 1964 trat der Beschluss für den Abriss und die Liquidierung der Stadt in Kraft, während gleichzeitig das neue Brüx aufgebaut wurde. Die neue Stadt sollte modern und industriell sein und gleichzeitig auch luftig und grün - es sollte eine „Rosenstadt“ entstehen. Der Fortschritt, den das neue Brüx verkörpern sollte, wurde neben dem Kohleabbau zum Argument für den gezielten Abriss des alten Brüx. Im Zusammenhang mit seinem Verschwinden ging in die Geschichte vor allem die Versetzung der wertvollsten Stadtsehenswürdigkeit an ei­nen sicheren Ort, an dem es keine Kohle mehr gab, ein. Es handelte sich um die spätgotische Mariä-Himmelfahrt-Kirche. Die 10.000 Tonnen schwere Kirche wurde im Herbst 1975 auf speziell dafür gebauten Schienen innerhalb von einer Woche versetzt. Das gilt aus technischer Sicht noch heute als bemerkenswert. Die Rettung der Kirche wurde vom damaligen kommunistischen Regime zur Propaganda des technischen Niveaus der Tschechoslowakei und der Haltung des sozialistischen Staa­tes zu historischen Denkmälern genutzt. Zu diesem Zweck wurden auch einige Kurzfilme gedreht, welche die Geschichte der Kirche dokumentieren. Sie wurden sogar im Ausland aufgeführt.33

Im alten Brüx selbst wurde, genau wie im oben genannten Fall von Pressnitz, der amerikanische Film die Brücke von Remagen gedreht, der die Ereignisse am Rhein am Ende des Zweiten Weltkrieges zum Thema hatte. Die Trümmer von Gebäuderuinen und die Möglichkeit, direkt in Häuser zu schießen, machten die Stadt zu einer ge­eigneten Filmkulisse. So wurde die Liquidierung der Stadt noch zu Geld für die Regierung gemacht. Wie bereits erwähnt, waren die Einwohner von Brüx in neue Wohngebiete der neu errichteten Stadt umgesiedelt worden. In diesem Falle han­delte es sich allerdings um einen Sonderfall, da die meisten der betroffenen Orte für immer zerstört und von der Landkarte gelöscht wurden und ihre Bewohner in an­dere Gemeinden umgesiedelt wurden.

Der erste große Eingriff in die Siedlungsstruktur des nordböhmischen Braun­kohlebeckens war der Abriss der historischen Stadt Seestadtl (Ervenice) im Bezirk Komotau, der im Jahre 1957 begann. Die Einwohner der Stadt sollten in das mo­derne, neue Ervenice umgesiedelt werden. Diese neue Siedlung sollte 7.000 Einwoh­ner aufnehmen. Die aufwändigen Pläne für diese neue Siedlung wurden allerdings nie realisiert. Trotz des Widerstands der Bewohner und langwieriger Bemühungen,

33 Vgl. SPURNY 2016.

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den Abriss des alten Seestadtl zu verhindern, wurde sie abgerissen. Die Mehrheit der Bewohner fand in der nahegelegenen Stadt Görkau (Jirkov) ein neues Zuhause, in der zur Erinnerung an die verschwundene Siedlung ein Stadtteil entstand, der Nové Ervénice („Neu-Seestadd“) genannt wurde.34

Die meisten Abrisse von Orten infolge des Braunkohletagebaus fanden von den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts statt. Zu den am meisten betroffenen Regionen gehörten die Bezirke Brüx und Komotau.

Der letzte Grund für das Verschwinden von Orten, der zugleich mit dem Kohle­bergbau zusammenhing, war das amtliche Vorhaben, eine Aschedeponie für die nordböhmischen Kraftwerke anzulegen. Allerdings wurde auch diese Deponie nie errichtet. Vier Gemeinden in der Nähe von Klösterle (Klásterce nad Ohfi) wurden somit umsonst abgerissen. Die größte auf diese Weise verschwundene Gemeinde war Wernsdorf (Vernéíov), das vor dem Krieg über eintausend Einwohner hatte. Im unteren Teil der Gemeinde befindet sich heute ein Industriegebiet, der obere Teil ist bewaldet. Man erkennt nur schwer, dass hier einmal ein Dorf stand. An den Nach­barort Niklasdorf (Mikulovice), der aus den gleichen Gründen verschwand, erin­nern die Kirche St. Nikolaus, in der zweimal im Jahr eine Messe stattfindet, und die Grundmauern einiger ehemaliger Gebäude.

Nach 1989 begannen viele Forscher damit, sich mit dem Thema der verschwun­denen Siedlungen in der Tschechischen Republik zu beschäftigen. So entstanden auch viele Vereine und Projekte, die versuchen, diese Orte zu dokumentieren bezie­hungsweise zu retten und verschiedene Denkmäler, die sich dort befinden, zu erneu­ern. Zu einem wichtigen Schritt gehörte das Projekt Das verschwundene Sudeten land des Bürgervereins Antikomplex, das verschwundene Orte im tschechischen Grenz­gebiet festgestellt und dokumentiert hat. Dies geschah anhand einer Präsentation erhaltener zeitgenössischer Fotografien der betreffenden Orte vor ihrem Verschwin­den, die dann mit dem heutigen Zustand der betroffenen Orte verglichen wurden.35

Mit dem Ziel, alle Siedlungen, Gemeinden, Städte und Gehöfte zu verzeichnen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach dem Jahre 1945 verschwanden oder deren Existenz bedroht ist, entstand im Jahre 2005 das einzigartige zweisprachige Internetprojekt Verschwundene Orte und Objekte. Es handelt sich dabei um eine Da­tenbank der Siedlungen, geordnet nach Bezirken, Grund für das Verschwinden, Zeitraum des Verschwindens und Zustand. Mit den aufgeführten Siedlungen ist in

34 BINTEROVÁ 2000, S. 35-36.35 ANTIKOMPLEX 2015.

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der Regel ein Beitrag über die Geschichte verlinkt, manchmal sind auch zeitgenössi­sche Fotografien und Diskussionen mit Zeitzeugen oder ehemaligen Bewohnern abrufbar. Jeder Internetbenutzer hat die Möglichkeit, sich an dem Projekt zu betei­ligen. Die Informationen, die sich hier befinden, sind aber nicht immer präzise. Es ist daher notwendig, diese mit Hilfe anderer Quellen zu überprüfen.36

Im Erzgebirge entstanden einige weitere Projekte, die sich um die Erinnerung an die verschwundenen Siedlungen in dieser Region bemühen. Bereits im Jahre 1996 wurde die gemeinnützige Organisation Zanikle ob ce a mesta chomutovskeho regionu (Verschwundene Gemeinden und Städte der Komotauer Region) gegründet. Ihr Ziel war es, das Gebäude der Barockkirche St. Wendelin in Pürstein (Perstejn) zu renovieren und dort eine Dauerausstellung über verschwundene Orte in der Komo­tauer Region einzurichten. Aus dieser Initiative heraus entstand im Jahre 2000 auch eine Publikation, welche die einzelnen Gemeinden dokumentiert und umfang­reiches Fotomaterial enthält.37 In Erinnerung an eine ehemals bestehende Gemeinde wurde dank dieser Organisation im Jahre 1999 in Pürstein auch ein Sühnekreuz eingeweiht. An das frühere Existieren verschwundener Orte erinnern außerdem ver­schiedene Gedenkstätten im gesamten Erzgebirge, die meistens in Form von Grab­denkmälern von den ehemaligen deutschen und tschechischen Bewohnern errichtet wurden. Bis heute treffen sich dort ehemalige Bewohner.

Zu einem einzigartigen Projekt in der betrachteten Region wurde das Land- art-Festival Königsmühle entwickelt. Die verschwundene Siedlung Königsmühle liegt in der Nähe des Keilbergs (Klinovec). Vor dem Jahre 1945 befanden sich hier acht Häuser, und es lebten dort 46 Einwohner. Als die Einwohner im Herbst 1946 aus Königsmühle vertrieben wurden, nutzten die verbliebenen Menschen von Stol­zenhain (Häj) ihre Häuser als Baumaterial. Die Siedlung verschwand auf diese Weise und wurde nahezu vergessen. Historische Informationen über diese Siedlung sind daher nur unvollständig. Diese zu rekonstruieren, gelang teilweise vor allem dank der in der Königsmühle geborenen Rosemarie Ernst, die sich an diesen Ort in ihrem Buch Reise in m eine K indheit erinnert. Heute befinden sich hier noch die Ruinen von sechs Häusern, zu deren Abriss es nie gekommen ist. Deshalb handelt es sich hierbei um eine Seltenheit. An diesem Ort findet seit dem Jahre 2012 in den Som­mermonaten ein Festival statt, in dessen Rahmen Konzerte, Ausstellungen, Theater­vorstellungen und Workshops stattfinden. An dem Programm beteiligen sich Künst­

36 Internetseite des Projekts: http://www.zanikleobce.cz/ (Zugriff: 11. 6. 2017).37 BINTEROVÄ 2000.

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ler aus Tschechien wie auch aus Deutschland. Königsmühle wurde so wieder belebt und wurde zu einem Erinnerungsort und einem Ort für tschechisch-deutsche Be­gegnungen entwickelt.38

Literatur

ANTIKOMPLEX: Zmizelé Sudety. Das verschwundene Sudetenland. Domazlice 2015 (Cesky les).

ARBURG, Adrian von/STANÉK, Tomás (Hrsg.) : Vysídlení Némcu a promény ceského pohranici 1945-1951: Cesi a Némci do roku 1945. Stfedokluky 2010 (SUSA).

BINTEROVÁ, Zdena: Historien' svédkové doby v Euroregionu Krusnohori. Histo­rische Zeitzeugen der Euroregion Erzgebirge. Perstejn 2000 (Zaniklé obce a mésta chomutovského regionu se sídlem v Perstejné).

CAPKA, Frantisek/SLEZAK, Lubomír/VACULÍK, Jaroslav: Nové osídlení pohranici ceskych zemi po druhé svétové válce. Brno 2005 (CERM).

DVORAK, Tomás: Vnitíní odsun 1947-1953. Závérecná fáze „ocisty pohranici“ v politickych a spolecenskych souvislostech poválecného Ceskoslovenska. Brno 2012 (Matice moravská).

KREISSLOVÁ, Sandra/KOVARÍK, David: Die Entwicklung des Eisernen Vorhangs im tschechisch-österreichischen Grenzgebiet und seine Präsenz in den Erinnerungen der Bewohner auf der tschechischen Seite. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropä­ische Volkskunde, Band 56, 2015, S. 9-33.

38 Das Projekt kann unter der folgenden Adresse eingesehen werden: http://konigsmuhle.cz/ (Zugriff: 11.6.2017).

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KOVARIK, D avid: Zänik pohranicnich sidel v letech 1945-1960. In: Promeny montänni krajiny. Historicke sidelni a montänni struktury Krusnohori, Loket 2013(NPÜ, ÜOP v Lokti), S. 54-63.

SPURNY, M atej: Most do budoucnosti. Laboratof socialisticke modernity na severu Cech. Prag 2016 (Karolinum).

WIEDEMANN, Andreas: „Komm mit uns das Grenzland aufbauen!“ Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952. Essen 2007 (Klartext).

Internetquellen:http://www.zanikleobce.cz/ (Zugriff: 11.6.2017) http://konigsmuhle.cz/ (Zugriff: 11.6.2017)

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Wolf-Dieter Hamperl

Verschwundene Dörfer im ehemaligen Bezirk Tachau im südlichen Egerland

Der ehemalige politische Bezirk Tachau (Tachov) grenzte im Westen in voller Länge an die Oberpfalz in Bayern. Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 stand das Bezirksgebiet zunächst unter dem Kommando der US-Army, die es am 31. Dezember 1945 den Tschechen übergab. Die Bürgermeister der Ge­meinden — unter ihnen auch diejenigen, die von den Amerikanern eingesetzt wor­den waren - , wurden durch tschech(oslowak)ische Nationalverwaltungen („Narodni vybor“) ersetzt. Auf die fast ausschließlich deutsche Bevölkerung des Bezirks wurde im Laufe des Jahres 1945 die sogenannten Benes-Dekrete angewendet. Der Histori­ker des Kreises, Dr. Franz Schuster, bezeichnet das Jahr 1945 als „das Jahr der Aus­peitschung“.39 In der Tabakfabrik des Internierungslagers Tachau hatten viele Bürger ohne gerichtliche Aburteilung Monate der Leiden bis hin zum Tod zu ertragen. Im Jahr 1946 erfolgte dann die planmäßige, gewaltsame Aussiedlung in die amerikani­sche und sowjetische Besatzungszonen Deutschlands. Nur wenige Deutsche blieben freiwillig oder gezwungenermaßen zurück, letztere oft in der Landwirtschaft (Schaf­zucht). Die Wiederbesiedelung des Gebietes bereitete den tschechoslowakischen In­stitutionen große Probleme. So kam es auch, dass nicht zuletzt wegen der Höhenlage der Region, z. B. von Paulusbrunn (Pavluv Studenec) (700 m über N. N.) und Wus- leben (Bohuslav) (600 m), eine Wiederbesiedlung scheiterte. Diese Orte wurden deshalb und auch wegen ihrer Lage unweit der Staatsgrenze dem Boden gleichge­macht. Aus militärischen Gründen erfolgte die Sprengung der Orte Reichenthal (Hranicky), Waldheim (Zahäji) oder Hermannsreith (Hranicnä), weil man für die Grenzbefestigungen des sogenannten „Eisernen Vorhangs“ freies Feld haben wollte. Schließlich ging 1974 der Ort Sorghof (Lucina) wegen der Anlage eines Stausees für die Wasserversorgung von Tachau unter.

39 SCHUSTER, Franz: Tachau-Pfraumberger Heimat. Weiden 1982, S. 28.

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Insgesamt verschwanden im Tachauer Bezirk 32 Ortschaften40 mit ihren histori­schen Baudenkmälern, Bauernhöfen und Bauten früher Industriekultur - wie die Zinnhäuser in Reichenthal und Sorghof, die Glas- und Spiegelpolituren, die Pfarr­kirchen und die Friedhöfe in Purschau (Porejov), Wusleben (Bohuslav), Paulus­brunn (Pavlouv Studenec), Neulosimthal (Novy Losimtal) und Neuhäusl (Nove Domky) oder das Feste Haus in Purschau. Viele Tschechen bedauern heute diesen Untergang böhmischer Kultur.41 Die untergegangenen 32 Ortschaften des Tachauer Bezirks verteilten sich auf 16 Gemeinden, von denen 11 ganz verschwunden sind. Im Einzelnen sind die folgenden Gemeinden und Ortschaften von diesen Vorgän­gen der Zerstörung betroffen (beginnend von Norden nach Süden, zunächst entlang der böhmisch-bayerischen Grenze):

1. Gemeinde Paulusbrunn (Pavluv Studenec)

Die längs der Grenze sich erstreckende Gemeinde Paulusbrunn bestand aus den Ortsteilen Hermannsreith, Baderwinkel, Wittichsthal, Vorderpaulusbrunn mit den Neubaugebieten Schanz- und Franzhäuser, Hinterpaulusbrunn, Goldbach, Insel­thal, Neuwindischgrätz und Paulushütte. Den Ursprung der Gemeinde bildete das 1681 erstmals genannte Forsthaus. In Vorderpaulusbrunn standen 1713 bereits 16 Anwesen, in Hermannsreith wurden 1722 fünf Anwesen gezählt, in Baderwinkel standen 1722 drei Häuser.42 Wittichsthal war die jüngste Siedlung (1792). Dazu gehörte die große Walddomäne Inselthal mit den drei ehemaligen Glashütten Gold­bach, Inselthal und Altfürstenhütte.

40 S. Karte „Die verschwundenen Dörfer und Ortschaften im ehemaligen politischen Bezirk Fachau auf den ersten beiden Innenseiten von HAMPERL, Wolf-Dieter: Die verschwundenen Dörfer im ehemaligen Bezirk Tachau im südlichen Egerland. Dokumentation von Zerstörung und Verfall der Egerländer Kulturlandschaft in der Mitte Europas nach 1946. Band III der Serie „Ver­treibung und Flucht aus dem Kreis Tachau im Egerland“. Altenmarkt 2008 (2. Auflage).*1 Z. B. AN TIKOMPLEX: Zmizele Sudety. Das verschwundene Sudetenland. Domazlice 2003 (5. Auflage 2007).42 Diese und alle weiteren Zahlenangaben sind - soweit nicht andere Quellen genannt werden - entnommen aus HAMPERL 2008 (s. Fußnote 2).

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Wirtschaft Frenzl G o ld b a c h (Bz, Taehau)

Abb. 1: D ie historischen Gebäude d er ehem aligen Glas­hü tte in Goldbach (Postkarte W Richter, Tachau 1910)

Auch in Paulushütte existierte eine Glashütte. In all diesen Hütten wurden Tafel- und Spiegelglas hergestellt. Die erwähnten, etwa 30 Kilometer von der alten Sprach­grenze entfernten Orte hatten, das sei an dieser Stelle angemerkt, bis 1918 noch keine tschechischen Namen. Diese wurden ihnen erst ab etwa 1920 nach und nach zugeteilt und dann auf den Ortstafeln und Wegweisern über den deutschen Namen angebracht, um den Anspruch der Tschechoslowakei auf das hier fast ausschließlich von Deutschen bewohnte Grenzgebiet gleichsam „toponomastisch“ zu untermauern und sicherlich auch, um das sudetendeutsche Grenzland für tschechische Siedler attraktiver zu machen.

Der Holzreichtum wurde für den Betrieb von Glashütten genutzt. In Goldbach wurde 1735 eine Glashütte von Wilhelm Fuchs errichtet. Weitere Hüttenpächter waren Johann Kaspar Lenk und Markus Bloch. 1894 wurde die Glashütte stillgelegt.

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' I V T X S Q K C E B S f l E S

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w : . m . m ■ t n W. iAbb. 2: Ehemalige Pfarrkirche von Paulusbrunn, Beobachtungspunkt (1975)

Die historischen Gebäude dienten der Forstverwaltung und als Schule. In Inselthal bestand von 1776 bis 1838 eine Glashütte. Die Namen der Betreiber waren Fichten­bacher, Anton Zacharias Fuchs und Franz Josef Lenk. 1874 errichtete Fürst Alfred von Windischgrätz hier ein Jagdschloss. In Neuwindischgrätz errichtete Johann Kas­par Lenk 1793 eine Glashütte.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung rasch trotz der Höhen­lage der Gemeinde und der schlechten landwirtschaftlichen Verhältnisse. 1930 leb­ten in der Gemeinde Paulusbrunn 1.451 Bewohner in 249 Häusern. Von 1890 an blieb die Bevölkerungszahl konstant. Da hier der Grenzübergang nach Bärnau (Oberpfalz) bestand, lebten hier laut Volkszählung von 1930 bereits 31 Personen „tschechoslowakischer“ (tatsächlich vermutlich allesamt tschechischer) Nationalität. Denn 1923 war hier das neue Zollamt gebaut worden, in dem tschechisches Perso­nal beschäftigt wurde. Die Gemeindebewohner fanden Arbeit in der Forst- und Landwirtschaft, als Holzarbeiter, Fuhrunternehmer, Holzdrechsler und in der hei­mischen Perlmuttknopfindustrie. Viele pendelten zu den Arbeitsplätzen der Knop- IIndustrie in Bärnau und der Porzellanfabrik in Mitterteich (Oberpfalz).

Im Jahr 1834 wurde die Pfarrkirche „Heilig Kreuz“ errichtet, 1914 wurde das neue Schulhaus gebaut.

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Abb. 3: Ehemalige Pfarrkirche von Paulusbrunn g ew e ih t 1839 (Aufnahme 1935)

Nach der Vertreibung dienten viele der neu erbauten Häuser gleichsam als Bau­materialiendepot, es wurden z. B. Fenster ausgebaut und Dachpfannen entfernt, um sie für andere Bauten zu verwenden. 1977 wurde der Kirchturm, der als Beobach­tungsturm gedient hatte, gesprengt. Von Paulusbrunn und seinen Ortsteilen ist heute nichts mehr zu sehen. Reste sind die Böttger-Säule43 und Teile des Friedhofs.

2. Gemeinde Böhm ischdorf (Ceskä Ves)

Nach Süden schließt sich das Gemeindegebiet von Böhmischdorf an. Zu Böhmisch­dorf gehörten die Ortschaften Böhmisch Neuhäusl (Ceske Nove Domky), Altpocher (Stary Pochr) mit Josephsthal und die Neufürstenhütte (Nova Knizeci Hut“). Der Ort befand sich nahe der Grenze gegenüber dem bayerischen Neudorf bei Neukir­

43 Die Böttger-Säule erinnert an den Straßenbau von Vorderpaulusbrunn nach Böhniischdorf. Dr. Böttger war der Initiator dieses Arbeitsbeschaffungsprogramms.

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chen St. Christoph. Für die Industriebetriebe Annapolier, Josephsthal, Neuwerk und das Makowetz-Werk wurde das Wasser der Zott (Celni potok) genutzt. In der ehe­maligen Glashütte Neufürstenhütte hatte man einen Stausee angelegt. Der Ge­meinde Böhmischdorf wurden drei Viertel des Gutes Waldheim zugeschlagen.

Bei der Volkszählung 1930 waren in Böhmischdorf 624 Bewohner in 86 Häu­sern registriert. Der Ort besaß eine Schule. Heute steht kein Haus mehr. An der Stelle des ehemaligen Industriebetriebs Annapolier wurde im Wald eine Schleifma­schine ausgegraben, die heute besichtigt werden kann.

3. Gemeinde Altfürstenhütte (Stara Knizeci H ut‘)

Zur Gemeinde Altfürstenhütte gehörte auch Leierwinkel. Das Gebiet gehörte zum Gut Waldheim. 1714 wurde hier eine Glashütte vom Fürsten Lobkowicz errichtet. Denn das Gebiet gehörte damals zur Herrschaft Waldthurn, das im Besitz des Fürs­ten Lobkowicz war. Genannt werden die Glashüttenbesitzer Christoph Ardtmann, Johann Donhofer und Johann Paul Kam. Das dazugehörige Pocher44 stand in Altpo- cher. Nach Abholzung des Waldes wurde Neufürstenhütte errichtet. Der Ort Leier­winkel wurde 1780 von der Herrschaft Tachau gegründet. 1930 lebten in den 57 Häusern der Gemeinde 325 Bewohner. Heute sind von Altfürstenhütte noch drei Häuser bewohnt.

4. Gemeinde Waldheim (Zahaji)

Der Ort Waldheim wird infolge des Kaufs des Waldgebiets durch Paul Schürer 1609 erstmals erwähnt. Das Waldgebiet war für eine Glashütte bestimmt. Schürer baute auf dem Schlossberg ein Herrenhaus. Der Besitz dieses Hauses wechselte häufig, bis er 1666 von Wenzel Eusebius zu Lobkovicz ging, dem die Herrschaften Störn- stein-Neustadt und Waldthurn in der Oberpfalz gehörten. Nach der Neuordnung Bayerns gelangte das Gut 1813 an Freiherrn Malowetz von Malowitz und Kosorz, der das Schloss neu baute.

Als Pocher wird ein Werk bezeichnet, in dem mit Wasserkraft Kieselsteine zerkleinert werden, ¡es ist notwendig für die Glasindustrie.

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Abb. 4: Ehemaliges Schloss Waldheim m it Brauhaus (Z eichnung nach ein er Aufnahme von 1920)

Nach Köferl45 soll es prachtvoll eingerichtet gewesen sein und von einem schönen Park mit Ruinen umgeben gewesen sein. 1934 erwarb der Altenstädter Kristall­glasfabrikant Zacharias Frank das Gut. Dieser versuchte, die Wälder des Gutes wie­der zusammenzufiihren. 1930 lebten in den 48 Häusern von Waldheim 304 Men­schen. Häuser und Schloss wurden nach den Vertreibungen durch Brand zerstört. Die Ruinen wurden 1955 mit Rammraupen eingeebnet. Heute stehen am Grenzübergang auf bayerischer Seite noch die Gaststätte und vier Häuser (Bayerisch Waldheim).

45 HAMPERL 2008, S. 103 (s. oben Fußnote 2). S. auch KÖFERL, Josef: Der politische Bezirk Tachau. Eine Heimatskunde für Haus und Schule, unter Mitwirkung der Bezirkslehrerschaft ver­fasst von Josef Köferl, Volksschullehrer in Tachau. M it mehreren Abbildungen. Band I, Tachau 1890; Band II, Supplement, Tachau 1895. Neuauflage, Geretsried 1985.

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Abb. 5: Waldheim. M it Räumfahrzeugen des M ilitärs w erden d ie Ruinen d er abge- brannten Häuser dem Erdboden g le ich gem a ch t (1955)

ACHTUNG n ic h t nmvDrohtzaun lieg) die Grenze

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Bitte beaebten Sie den G rtn s v e r la u f!

Abb. 6: Warntafel an d er Grenze bei Bayerisch Waldheim (1954)

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Abb. 7: Neulosimthal, im Jah r 1636nahe d er Draxelhütte g egründ et (Aufnahme 1939)

5. Gemeinde Neulosimthal (Novy Losimtäl)

Östlich an die Gemeinde Altfürstenhütte schloss sich Neulosimthal an. Es lag 600 m hoch und war eine typische „Waldhäusler Gemeinde“.46 Die ersten Sied­lungsversuche im Jahre 1626 (Neudonhausen)47 schlugen fehl. Ein neuer Versuch 1636 gelang. Grund war die Errichtung der „Draxelhütte“, der ältesten Glashütte aufTachauer Herrschaftsgebiet.

Seinen Namen bekam der Ort von Johann Anton Losi Graf von Losimthal, der im Jahre 1664 die Tachauer Herrschaft gekauft hatte. Die verkehrsgünstige Lage führte zu einem raschen Wachstum des Ortes. 1930 zählte der Ort 620 Bewohner in

46 Unter Waldhäuslersiedlungen versteht man Streusiedlungen in den gerodeten Waldregionen. Diese Siedlungsform geht auf eine deutsche Siedlungswelle nach dem Dreißigjährigen Krieg zu­rück. Die Siedler konnten sich bei der zuständigen Grundherrschaft um Land bewerben. Sie muss­ten für das erhaltene Land eine Erbpacht zahlen. Beispiele für solche Siedlungen sind Petlarn- brand, Thiergarten, Gakenhof, Neulosimthal.47 Neudonhausen ist der Name der ersten Ansiedlung, die später Neulosimthal genannt wurde. Man nimmt an, dass die Siedler aus Thanhausen von jenseits der Staatsgrenze kamen. Im Dialekt wird Thanhausen Donhausen genannt.

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106 Häusern. Eine Besonderheit war das Dr. Wenzel Güntner-Spital, eine Stiftung des aus dem Ort stammenden Chirurgen Dr. Wenzel Güntner, die 1898 mit der kostenlosen Krankenversorgung der Gemeindekinder begann. Infolge des Ersten Weltkriegs schwand das Stiftungsvermögen. 1937 wurde das Spital in ein Bezirksal- tenheim umgewandelt. Die Pfarrkirche St. Anna war im Jahre 1816 mit Religions- fondgeldern errichtet worden, der Turm wurde 1854 hinzugefügt. Der Hochaltar stammte aus der St. Anna-Kirche in Purschau (Pofejov).

Zu Neulosimthal gehörten die Orte Neuhütte, Kollerhütte, Mühlhäusel und das Forsthaus Rendezvous.

Die Häuser wurden nach 1946 vom M ilitär dem Erdboden gleichgemacht. Heute imponieren noch die gewaltigen Schutthaufen der Kirche (gesprengt 1966) und des Spitals. Im ehemaligen Dorfzentrum steht einsam ein Kriegerdenkmal. Die Mauer des Friedhofs wurde erneuert, viele Grabsteine fehlen aber. Ein Grabkreuz wurde von Vertriebenen errichtet.

Abb. 8: Unter den Bäumen: Reste des Friedhofs von Neulosimthal (1991)

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6. Ortschaft Reichenthal (Hranicky)

Auf der Straße von Neulosimthal nach Roßhaupt (Rozvadov) liegt Reichenthal, das zur Gemeinde Neuhäusl (Nove Domky) gehörte. Reichenthal war ein Industrieort. Bereits im Jahre 1755 wurde die dortige Glashütte aufgelassen. 1729/30 wurde die Eisenhütte mit den Eisenhämmern errichtet. Voraussetzung dafür war der Ausbau der Stauseen, des Mühlweihers und des hinteren Weihers am Alingbach. Das Eisen­werk mit seinem Hochofen und den Eisenhämmern 1, 2, 3, 4, 5 und 7 gehörten zu den herrschaftlich-kolowratschen Eisenwerken, die das Bergwerk in Zirk sowie die Eisenwerke in Frauenthal und Reichenthal umfassten. In einer weiteren Phase der Industrialisierung wurde die Wasserkraft für die Glas- und Spiegelglaspolituren (obere, mittlere und untere Politur) genutzt. Ein historisch bedeutendes Haus war das Zinnhaus mit seinem großen Dach. Im Jahre 1930 standen in Reichenthal 53 Häuser, in denen 334 Personen lebten.

Alle Häuser wurden nach der Vertreibung zerstört. Die Reste wurden vom 24. März bis zum 15. April 1983 vom M ilitär gesprengt. Nur das Kriegerdenkmal am Hammerberg blieb stehen. Die Reichenthaler stellten 1990 das Gemeindekreuz wie-

Abb. 9: Reichenthal: Hier standen noch Zeugen der Industrialisierung, w ie links das Zinnhaus und das Verwaltungsgebäude. Rechts das Schulhaus, dahinter die mächtige Krone der Dorflinde (1938)

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Abb. 10: Das neu errichtete Kreuz unter Abb. 11: Neuhäusl: Die Pfarrkirche den Dorflinden im öden Reichenthal „Mariä Heimsuchung", 1836gew eih t(1995) (1940). Die Kirche ist heute Ruine.

der auf, und zwar auf dem Dorfplatz, wo sie vor der Vertreibung ihre zahlreichen Ortsfeste gefeiert hatten (Weihnachten, Osterratschen, Maiandachten, Kirchweih). Auch einige Wegkreuze wurden erneuert.

7. Gemeinde Neuhäusl (Nové Domky)

Durch den Wald kommt man schließlich nach Neuhäusl nahe bei Roßhaupt. In Neuhäusl wohnten im Jahr 1930 in 76 Häusern 423 Menschen. Sie lebten von der Landwirtschaft und von Fuhrdiensten. Als Gründung der Herrschaft Großmeierhö- ien (Kolowrat) wurde der Ort 1710 erstmals erwähnt. 1786 wurde der Bau einer Kirche erlaubt, der Pfarrkirche M ariä Heimsuchung. Erst 1836 konnte der (heute als Ruine vorhandene) Steinbau eingeweiht werden.

Neuhäusl und Reichenthal hatten je eine eigene Schule. Heute stehen noch die ausgeraubte, ruinierte Kirche, etwa sieben Häuser und ein ehemaliges Holzhauer- liaus. Besonders erwähnenswert ist der von Vertriebenen gepflegte deutsche Friedhof unterhalb der Kirche, eine Oase des Friedens.

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Abb. 12: Eine Oase des Friedens — der F riedhof von Neuhäusl (Aufnahme von 2000)

8. Ortschaft Petlarnbrand (Zebräcky Zdar)

Östlich an das Gemeindegebiet von Reichenthal und nordöstlich an dasjenige von Neuhäusl erstreckte sich die Streusiedlung Petlarnbrand, die zur Gemeinde Petlarn (Zebräky) gehörte. Heute steht in Petlarnbrand, das bei der Volkszählung von 1930 154 Einwohner in 27 Häusern zählte, kein Haus, auch keine Ruine mehr. Nur das Kriegerdenkmal mit den Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs steht einsam an einem Feldweg. Es wurde von vertriebenen Einwohnern 1993 renoviert.

9. Ortschaft Ströbl (Stfeble)

Durch das südlich von Neuhäusl sich erstreckende Gemeindegebiet von Roßhaupt verläuft die ehemalige Reichsstraße von Nürnberg nach Prag. Unmittelbar südlich davon liegt am Rehlingsbach (auch Röhlingsbach, tschechisch: Hranicni potok) der Weiler Ströbl (Stfeble). Dieses ehemalige Hammergut (Gut mit einem Hammer­werk) wurde wohl von Waidhaus aus gegründet.

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Abb. 13: Das Hammerschloss in Ströbl (um 1911)

Der erste urkundlich genannte Besitzer (1358) war Rüdiger Puntzinger aus Eslarn. Wohl auch wegen der Streitigkeiten um die Zugehörigkeit wechselten die Besitzer häufig. 1586 ist belegt, dass jährlich 14 Taler an den Pfandherr, den Rat der Stadt Tachau, abzugeben sind. Seine beste Zeit erlebte der Besitz unter dem erfolgreichen Glasmeister Franz Koller, der bereits 1774 ein Schleif- und Polierwerk und eine Spiegelerzeugung zur Verarbeitung seines Rohglases (in der Kollerhütte, der Paulus­hütte und der Schönwalder Hütte) beantragte. Auch die Erlaubnis, einen Hammer (d. h. ein Hammerwerk) für die Erzeugung von Zinnfolie zu errichten, wurde ihm erteilt. Koller erweiterte und verschönerte auch das Schloss und schuf den Neuhof. Nach dem Brand des Schlosses im Jahre 1923 wurde der Besitz parzelliert und ver­kauft. Im Jahre 1930 lebten in 18 Häusern 133 Personen. Von Ströbl steht heute nichts mehr.

10. Gemeinde N eudorf (Nova Ves)

Nach Süden schließt sich das große Gemeindegebiet von Neudorf mit seinen Orts­teilen Dianaberg, Nowohradsky, Mühlhäusel und Altglashütte an. Die Gemeinde

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Neudorf zählte 1930 208 Häuser mit 1.314 Personen, davon waren 26 „tschechos­lowakischer“ Nationalität. Neudorf erscheint in der Geschichte erstmals in den Jah­ren 1497/98 in den Urkunden von Burgtrausnitz wegen eines Streites um Wasser­rechte am Pfrentschweiher. Die Pfarrkirche St. Leonhard trug am Türsturz die Jahreszahl 1522 eingemeißelt. Neudorf hatte eine Schule.

Auf dem Weg von Pfraumberg nach Neudorf kommt man an der ehemaligen Einöde St. Apollonia vorbei. Heute steht nur noch die Ruine der 1670 eingeweihten Wallfahrtskirche. Das Forsthaus und die anderen Häuser sowie das Brunnenhaus der berühmten Quelle sind geschliffen.

Vom Ort Dianaberg sind noch einige typische Holzhäuser übriggeblieben. Die großen Hallen der Holz verarbeitenden Betriebe (Fertighäuser, Baracken, Fenster) sind verschwunden. Ehemals waren Hunderte von Taglöhnern bei den „Westböh­mischen Forstbetrieben“ von Graf Kolowrat beschäftigt. Das barocke Jagdschloss Dianaberg, von Augustoni erbaut, war Altersheim. Es bedarf dringend einer Reno­vierung. Der ausgedehnte Besitz wurde nach 1990 restituiert und befindet sich wie­der im Besitz der Familie Kolowrat.

Am 13. April 1946 vernichtete ein Brand große Teile von Neudorf. Die tschechi­sche Verwaltung sprach von Sabotage. Vierzehn Täter wurden in das Internierungs­lager von Tachau gebracht und eingesperrt. Bis auf sechs Häuser wurden alle Ruinen abgetragen, auch die Kirche und die Schule. Vom Ort blieben nur noch Reste des ehemaligen deutschen Friedhofs übrig.

Im Inneren des politischen Bezirks Tachau sind die Orte Wusleben, Purschau, Wosant (Bozantov), Helldroth (Pastvina), Wandermühle (Borecek) und Sorghof (Lucina) untergegangen, worauf im Folgenden eingegangen wird.

11. Gemeinde Wusleben (Bohuslav)

Der Ort war eine slawische Gründung. Danach siedelten Oberpfälzer im Ort. Im Zehentregister von 1352 wird Bohuslaus erstmals genannt. Es war ein Pfraumberger Chodendorf.48 1930 wurden in Wusleben 298 Menschen in 67 Häusern verzeich­net. Sie lebten hauptsächlich von der Landwirtschaft und als Steinmetze.

48 Choden wurden slawische Bevölkerungsgruppen genannt, die vom böhmischen König im Grenzland angesiedelt wurden. Ihre Dörfer unterstanden Territorialherrschaften, wie z. B. den Herrschaften von Pfraumberg, Weißensulz oder Tachau. Die Choden waren Schützer und Bewa­cher des Grenzwaldes. Sie waren vom böhmischen König m it Privilegien ausgestattet.

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Die Pfarrkirche St. Martin wurde 1352 erstmals erwähnt. Wusleben war die Ur- pfarrei der späteren Pfarreien in St. Katharina, Neuhäusl und Neudorf. Der Pfarrhof mit seinem mächtigen Walmdach stammte aus dem 18. Jahrhundert. Die geringen Schäden an der Kirche durch Beschuss vom 1. Mai 1945 wurden noch im gleichen Jahr behoben. Nach der Vertreibung wurde sie Lagerhalle für Steine und Baumate­rial. Der im Jahr 1963 durch einen Blitzschlag geschädigte Kirchenbau wurde am 26. August 1966 gesprengt.

Die letzten Familien Wuslebens verließen den Ort am 14. und 17. April 1948. Der Ort konnte nicht wieder besiedelt werden, er verödete. Die Häuser wurden als Lager für Baumaterialien genutzt. Die Reste der Häuser wurden gesprengt, das Areal um Wusleben als militärischer Übungsplatz genutzt. Oberlehrer Georg Magerl richtete in den 1980er und 1990er Jahren die Wegekreuze (Marterln) des Ortes wieder auf.

12. Gemeinde Purschau (Porejov)

An der Straße von Langendörflas (Dlouhy Üjezd) nach Petlarn (Zebräky) lag Pur­schau. Der dortige Rittersitz, gegründet um 1275, war Teil desTachauer Lehensver­bands. Hier waren zunächst slawische Herren nachweisbar. Um 1500 gehörte Pur­schau den Herren von Dolitz, danach den Herren Pergier von Perglas (Sebastian und Hans), Asterl von Astfeld, von Götz, von Wunschitz und Losi von Losimthal.

Sebastian Pergier von Perglas erbaute um 1565 die Pfarrkirche St. Bartholomäus und das Schloss. Die Kirche wurde im Jahr 1740 mit einer guten Einrichtung baro- ckisiert. Die historischen Grabsteine bezeugen sie als Grablege der dortigen Adelsge­schlechter. Sie wurden im Lapidarium des Tachauer Museums erhalten. Im neuen Schloss waren die Judenschule und die Lehrerwohnung sowie — im 1. Stock - die Synagoge untergebracht. Schon im Jahr 1922 wurde die jüdische Gemeinschaft auf­gelöst und der jüdische Friedhof unterhalb der Straße von Purschau nach Petlarn von der Kultusgemeinde Tachau übernommen. 1930 lebten hier noch sechs jüdische Bürger unter den 589 Einwohnern, die 135 Häuser bewohnten.

Die bekannte Wallfahrtskirche St. Anna oberhalb des Ortes war eine Stiftung von Veronika Alsterl von Astfeld. Der Grundstein wurde 1660 gelegt. Nach einer Aufhebung und Plünderung der Kirche wurde sie 1808 wieder renoviert und neu eingerichtet, wobei die Bauern aus Wosant, Petlarn und Purschau reichlich spende­ten. So stammte das Hochaltarbild vom W iener Maler Heinrich Bauer (1873). Der Tachauer Schnitzer Johann Rumpler schuf die berühmte Abendmahlgruppe und

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Abb. 15: Purschau: Die Dorfmitte m it der Pfarrkirche St. Bartholomäus und der Nepomukstatue unter den Linden; rechts die neue Schule und Teile des Schlosses (1910)

Abb. 16: Ruine der St. Anna-Wallfahrtskirche in Purschau (Aufnahme 2001)

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den Ölberg. Heute ist die Kirche wegen Einsturzgefahr verschlossen. An Purschau erinnern noch zwei Bäume. Alles andere liegt unter einer Mülldeponie, der M üll­deponie des Kreises.

13. Gemeinde Wosant (Bazantov)

An das Gemeindegebiet Purschau schloss sich nach Norden das von Wosant an. Wosant war ein Dorf, das auf slawische Besiedlung zurückgeht. Seinen Namen hat es wohl von dem Gründer namens Wosmet erhalten. Es war kein Chodendorf und gehörte die meiste Zeit über zu Tachau. Die Dorfanlage entsprach der eines Rund­dorfes. Die Bewohner lebten fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Wosants Siedlungsbild vermittelte einen homogenen, geschlossenen Eindruck, weil es nach dem Großbrand von 1873 einheitlich wieder aufgebaut wurde. Im Jahr 1930 lebten in Wosant 251 Einwohner in 55 Häusern. Heute ist außer einigen Mardern (Wege­kreuzen) nichts mehr von Wosant zu erkennen.

14. Ortschaft Helldroht (Pastvina)

Auf der Straße von Wosant nach Norden gelangte man nach Helldroht (an der Straße von Schönbrunn nach Schönwald), das zur Gemeinde Schönbrunn gehörte. Das Besondere an dieser kleinen Ansiedlung (87 Bewohner in 17 Anwesen im Jahr 1930) war das „Gasthaus zur Sommerfrische“ von A. Hofmeister, das frühzeitig (in den 1920er Jahren) auf den beginnenden Tourismus setzte.

15. Ortschaft W andermühle (Borecek)

Ein weiteres untergegangenes Dorf im Inneren des Kreises war Wandermühle, das durch einen Bach, den Mühlbach, geteilt war. Der eine Teil gehörte zur Stadtge­meinde Haid (Bor), der andre zu Weschekun (Vysocany). Zusammen lebten hier 1930 in 21 Häusern 84 Bewohner. Wandermühle war ein reines Bauerndorf mit einer Mühle. An das Dorf erinnert heute ein großes Steinkreuz, errichtet 1852 in Wandermühle, das jüngst an der Straße von Pfraumberg nach Haid aufgestellt wurde.

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Abb. 17: Helldroht: A. Hofmeisters „ Gasthaus zur Sommerfrische “ an der Straße nach Schönwald (Aufnahme 1935)

Abb. 18: Gesamtansicht von Sorghof darüber die Pfarrkirche von Brand (Aufnahme1936)

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16. Gemeinde Sorghof (Lucina)

Sorghoflag zwischen Brand und Mauthdorf (Myto). Im Jahre 1523 war einer der vier freien Höfe im Besitz des Hans Sorger, der dem Hot den Namen gab.

W ie Reichenthal und Frauenthal war Sorghof ein Industrieort. Zunächst wurde eine Glashütte errichtet, die dann in ein herrschaftliches Eisen- und Blechhammer­werk umgebaut wurde. Der zugehörige Hochofen stand in Gakenhof (Jalovy Dvür). Durch eine weitere Änderung entstanden die Holzformenwerke von Fleißner in Sorghof und von Kroha in Aglejenthal, einem Ortsteil von Tachau. Viele arbeiteten als Heimarbeiter für die Knopfmdustrie. Im Jahre 1930 lebten in Sorghof in 101 Häusern 602 Bewohner.

M it dem Abriss von Sorghof wurde 1970 begonnen. Heute ist auf dem ehemali­gen Siedlungsgebiet ein Stausee für die Trinkwasserversorgung von Tachau angelegt.

Am 23. Dezember 1989 durchtrennten die Außenminister Jiri Dienstbier (Tschechoslowakische Republik) und Hans-Dietrich Genscher (Bundesrepublik Deutschland) zwischen Neuhäusl und Reichenthal den Stacheldraht des so genann­ten Eisernen Vorhangs. Deutsche strömten über die Grenze zu den verschwundenen

Abb. 19: Das „versonnene Land“: Die Abgeschiedenheit von Paulusbrunn (1992)

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Dörfern. Inzwischen ist der Verkehr wieder ruhig geworden. Markierte Wander- und Radwege ziehen durch den grünen Grenzstreifen und bringen die Wanderer zu ihren einsam gelegenen Zielen: zu Mauerresten, Marterln und Dorfkreuzen, ver­landeten Weihern und Resten von Friedhöfen. Den tschechischen Schriftsteller Ladislav Stehlik zog es immer wieder hierher, weil er die Ruhe dieses „versonnenen Landes“ so schätzte.49

(Bildnachweis: Alle 19 Bilder zur Illustration dieses Beitrags sind Privateigentum von Wolf-Dieter Hamperl. Es g ib t keine Copyright-Ansprüche von anderer Seite.)

Literaturhinweise

ANTIKOMPLEX: Zmizele Sudety. Das verschwundene Sudetenland. Domazlice 2003 (5. Auflage 2007).

HAMPERL, Wolf-Dieter: Die verschwundenen Dörfer im ehemaligen Bezirk Tachau im südlichen Egerland. Dokumentation von Zerstörung und Verfall der Egerländer Kulturlandschaft in der M itte Europas nach 1946. Band III der Serie „Vertreibung und Flucht aus dem Kreis Tachau im Egerland“. Altenmarkt 2008 (2. Auflage).

KOFERL, Josef: Der politische Bezirk Tachau. Eine Heimatskunde für Haus und Schule, unter M itwirkung der Bezirks-Lehrerschaft verfasst von Josef Köferl, Volks­schullehrer in Tachau. M it mehreren Abbildungen. Band I, Tachau 1890. Band II, Supplement, Tachau 1895. Neuauflage, Geretsried 1985.

NOWEY, Waldemar: In die Freiheit vertrieben. Heimatsuche im Herzen Europas. Waldsassen 1999.

SCHUSTER, Franz: Tachau-Praumberger Heimat. Weiden 1982.

49 Zitiert nach NOWEY, Waldemar : In die Freiheit vertrieben. Heimatsuche im Herzen Euro- Pas. Waldsassen 1999, S. 25.

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Franz Worschech

Die tschechische Besiedlung des Grenzgebietes nach 1945 am Beispiel von Zummern im ehemaligen Bezirk Tachau

Die tschechoslowakische Nachkriegsgesellschaft ist von zwei großen Umbrüchen ge­kennzeichnet. Neben der Vertreibung und Zwangsaussiedlung der ehemals deut­schen Bevölkerung war dies die zeitlich parallel verlaufene Neubesiedlung insbeson­dere der Grenzgebiete der ersten Tschechoslowakischen Republik. Im Folgenden soll dieser Neuaufbau einer Gesellschaft ohne Deutsche am Beispiel des Dorfes Zum­mern (tschechisch: Soumer) dargestellt werden. Dem geht eine allgemeine Beschrei­bung der Neubesiedlung in der Gesamtgesellschaft und besonders im Bezirk Tachau (Tachov) voraus. Der ehemalige politische Bezirk Tachau grenzte an das bayerische Grenzgebiet, mit Bärnau im Norden und Waidhaus im Süden.

Abb. 1: Der ehemalige politische Bezirk Tachau (1939)(Quelle: Heimatkreis Tachau. Stadtmuseum Weiden)

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1. Grundlagen der Vertreibung und der Neubesiedlung

Die Vertreibung der Deutschen aus den angestammten Gebieten, wo sie jahrhun­dertelang lebten und arbeiteten, das wirtschaftliche und kulturelle Leben prägten, und die folgende Neubesiedlung dieser Region durch Tschechen und in geringerem Umfang auch Slowaken, Roma und ethnische Ungarn (Magyaren) wurden zur hauptsächlichen Staatsaufgabe der Tschechoslowakei der ersten Nachkriegsjahre.

1.1 Benes-Dekrete und BodenreformEine wichtige gesellschaftliche Veränderung in der Nachkriegszeit der Tschechoslo­wakei war die Bodenreform, wie im damaligen Sprachgebrauch die Maßnahmen des Dekretes über die Konfiszierung des Bodens der „Deutschen, Kollaborateure und Verräter“ beschönigend genannt wurde. Ein weiteres Dekret regelte die Aufteilung dieses Bodens an die landwirtschaftlichen Arbeiter, die Landlosen und die kleinen Landwirte. Die Durchführung dieser Maßnahmen hat die tschechoslowakische Ge­sellschaft nachhaltig verändert.

„Folge dieser Reformen, die deutlich sozialistische Züge trugen, war eine neue Sozial­struktur — ohne d ie beiden Extreme der alten Gesellschaft. Die wirtschaftliche und p o li­tische Macht der Monopole und des Finanzkapitals verschwand vollkommen. Die Mehr­zahl der Angehörigen der ärmeren Schichten siedelte in d ie Grenzgebiete um, wo sich ihr Lebensniveau plötzlich erheblich verbesserte. Sie verwandelten sich in ,neue Mittel­bauern“, in ,neue Kleinhändler', Gewerbetreibende u n d ,neue Arbeiter' und sie dankten diese ihre neue Existenz dem volksdemokratischen Regime. “50

Im Binnenland betrafen die beiden Dekrete meistens Großgrundbesitzer, im Grenz­land wurde der konfiszierte Grund und Boden der deutschen Bewohner verteilt.

M it der bereits unmittelbar nach dem Krieg begonnenen „wilden Vertreibung“ und der geplanten organisierten Vertreibung ging gleichzeitig die Besiedlung der sudetendeutschen Gebiete einher, obgleich die Zustimmung der Siegermächte zum »Transfer“ noch nicht vorlag. Man sprach von der Besiedlung der Grenzgebiete. Mit Grenzgebiet/pohranici meinte man bereits in der Ersten Tschechoslowakischen Republik das hauptsächlich von Sudetendeutschen bewohnte Gebiet, das in West- böhmen und Nordmähren bis zu 65 Kilometer weit ins Landesinnere reichen

50 KAPLAN, Karel: Der kurze Marsch. Kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslo­wakei 1945-1948. München, W ien 1981, S. 42.

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Abb. 2: Plakataufruf zur Besiedlung des Grenzgebietes 1945/46(Quelle: Fotografie des Autors)

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tion, die ökonomisch nicht besonders lohnenswert erschienen. Dazu gehörten auch die Bezirke Tachau (Tachov) und Plan (Plana).57

Die Neubesiedlung verlief nicht so schnell, wie man sich das ursprünglich ver­mutlich gedacht hatte, trotz umfangreicher Werbemaßnahmen mit Plakaten, auf denen der Neuaufbau für eine neue Heimat beworben wurde.

Es mussten immer wieder neue Anstrengungen der Anwerbung unternommen werden, wenngleich die Regierung 1952 den Besiedlungsprozess als abgeschlossen betrachtete. Im Jahre 1953 sah man sich gezwungen, durch ein Programm zur ab­schließenden Besiedlung (dosidlovaci akce) den Arbeitskräftemangel in der Land­wirtschaft zu minimieren und die Produktion der Landwirtschaft zu erhöhen. Aus diesem Grund hat man sogar Bulgaren als Landarbeiter angeheuert, z. B. in Haid.58

1.3 Probleme bei der BesiedlungDie mit dem Programm der Neubesiedlung hervorgerufene nationale Euphorie hat geeignete wie ungeeignete Personen in die Grenzgebiete gelockt. Darunter befanden sich vermutlich nicht wenige, die sich nur am beweglichen Mobiliar der übernom­menen Häuser bedienen wollten und bald wieder die Region verließen. Von der Mehrheit, die ernsthaft den Boden bewirtschaften wollte oder in ihren angestamm­ten Gebieten verblieben war, wurden sie denn auch verächtlich als „Goldgräber“ („zlatokopy“) bezeichnet.

Zunächst war nicht sichergestellt, dass die Interessenten für Bauernhöfe auch tatsächlich für die Bewirtschaftung geeignet waren, auch wenn sie subjektiv mit den besten Absichten und Zielen gekommen waren:

„ Viele Neusiedler sahen sich bald m it Schwierigkeiten konfrontiert. Die zugeteilten Höfe reichten ofi nicht aus, um die Versorgung der a u f ihnen wirtschafienden Siedler zu g e ­währleisten. Die Felder in den Grenzgebieten befanden sich in höheren Lagen m it ande­ren klimatischen Bedingungen. Althergebrachte Arbeitsmethoden konnten oftmals nicht angewendet werden. Siedler, die bisher als landwirtschafiliche Hilfsarbeiter gearbeitet haben, wurden über Nacht zu Hofbesitzern und waren überfordert. ( ...) Die Überschul­dung, Misserfolge bei der Bewirtschaftung und die mangelnde Bodenbindung der neuen Bauern bewirken ein e Abwanderung in die Städte. Zwischen 1946 und 1949 gaben rund 35.000 Neubauernfamilien ihren H of auf, traten den landwirtschaftlichen

57 Vgl. SLEZÄK: Die landwirtschaftliche Besiedlung. 1983, S. 184/185.58 Vgl. hierzu meine Geschichte von Haid (Haid. Zur Geschichte einer ehemals deutschen west­böhmischen Stadt; im Sommer 2017 in Drucklegung).

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3: Zeitungsausschnitt aus Tachovska Jiskra („Tachauer Funke“) von 1957. Übersetzung der ersten beiden Zeilen: „Die Region Tachau ruft euch! Helft bei der Zuendebesiedlung des Grenzlandes. Aus der Geschichte des Chodenlandes Tachau. “

Nach dem Jahre 1955 wurden auf gesamtstaatlicher Ebene keine Maßnahmen mehr zur weiteren Besiedlung der Grenzgebiete unternommen. Etwas anders war dies im Bezirk Tachau. Dort wurde noch 1957 in einem Artikel des Tachovska Jiskra (Tachauer Funke) dazu aufgerufen, bei der weiteren Besiedlung des Grenzgebietes zu helfen.

Die tschechoslowakischen Behörden waren sehr bemüht, die Bedeutung der Neubesiedlung den neuen Bewohnern auch nahezubringen. So fanden offizielle Ver­leihungen der Besitzurkunden auf dem Marktplatz in Tachau statt. Die Besitzurkun­den selbst waren von einem tschechischen Künstler ansprechend gestaltet.

Die Neusiedler für die Landwirtschaft wurden von den Orts- und Bezirks- bauernkommissionen ausgewählt65. Vermutlich wurden außer den politischen bzw. ideologischen Kriterien - ein „Fehlverhalten“ unter deutscher Herrschaft hat sich

65 Ein Archivbestand der Bezirksbauernkommission Milevsko liegt im Archiv nicht vor.

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Abb. 4: Übergabe von Besitzurkunden an Neusiedler a u f dem Marktplatz von Tachau im Jahre 1946(Quelle: SOkA Tacbov, Bildarchiv)

negativ ausgewirkt - keine fachlichen Kriterien der Eignung angelegt, wenngleich dies in der öffentlichen Kundmachung „Besiedlung des konfiszierten Bodens im Grenzgebiet“ von 1946 angesprochen wird.66 Es ging schlicht darum, überhaupt genügend Neusiedler zu finden.

Gesucht wurden nicht nur Neusiedler für die Landwirtschaft, sondern auch für verschiedene Industriezweige, wie das folgende Plakat zeigt, auf dem Arbeitskräfte für die Porzellan- und Keramikindustrie angeworben wurden.

Der Bezirk Tachau war für potentielle Neusiedler dermaßen unattraktiv, dass selbst bei dem erwähnten Versuch der weiteren Neubesiedlung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre nicht viele dem Ruf in die Grenzgebiete folgten.

Der tschechische Historiker Topinka hat diese gescheiterten Versuche und ihre Gründe wie folgt zusammengefasst:

66 Das Plakat befindet sich im SOkA Pisek (Písek). (SOkA=Státmí okresni Archiv/Staatliches Bezirksarchiv).

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Abb. 5: Werbung um Arbeitskräfte fü r die Porzellan- und Keramikindustrie aus dem Jahre 1946(Quelle: SOkA Pisek, Bildarchiv)

„Zum Hauptziel der Wiederbesiedlung des Grenzgebietes der Region Pilsen wurden in der zweiten Hälfte derfünfziger Jahre d ie schon nach dem Krieg besiedelten Kreise Tachov (Tachau), Stfibro (Mies) und Horsovsky Tyn (Bischofteinitz). Hier litt man unter dem überhaupt niedrigsten Lebensniveau, was einen negativen Einfluss a u f die Gesamtresul­tate des ganzen Vorgehens hatte. Zuerst musste man m it großen Kosten d ie verlassenen Häuser der ehemaligen deutschen Bewohner, die nach dem Krieg vertrieben worden waren, reparieren. Die Umbauten verliefen langsam, waren schlechter Qualität und man wirtschaftete dabei auch nicht gut. Der nächste Faktor war das moralische Profil der Neuankömmlinge, ins Grenzgebiet kamen nämlich viele nur wegen finanzieller Begüns- tigung, nach Erschöpfung dieser Quellen gingen sie w ieder weg. Die Resultate des ganzen Vorgehens wurden auch von den schlechten persönlichen Beziehungen unter den ur­sprünglichen Nachsiedlern, d ie gleich nach dem Krieg kamen, und den Spätnachsiedlern, d ie noch durch d ie unterschiedlichen Nationalitäten der Nachsiedler beeinträchtigt waren. Bis zum Jahr 1959gelan g es in den Landgebieten der Region Pilsen nicht ganz viertausend Menschen anzusiedeln, mehr als ein Drittel von ihnen kehrte aus verschiede­

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nen Gründen in die Region, woher sie kamen, w ieder zurück. Die schlimmste Bilanz ist im Kreis Horsovsky Tyn (Bischofteinitz) zu verzeichnen. Verbessert hat die Gesamtlage hier erst die Änderung der staatlichen Politik, der Beginn einer komplexen Nachbesied­lung auch in die nicht-landwirtschafilichen Bereiche nach dem Jahr 1959. In die Grenz­geb iete begann man mehr zu investieren, besonders dann in die Infrastruktur und in die Dienstleistungen. Dadurch verbesserte sich d ie Situation, als Beispiel kann der Kreis Tachov nach 1960genannt werden. Dieses Beispiel zeigt, dass es richtig gewesen wäre ins Grenzgebiet schon frü h er zu investieren, so hätte man die Nachbesiedlung verhindern können. Der Staat hatte jedoch weder in den fün fz iger noch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre so viel Mittel, um diese ungünstige Situation im westböhmischen Grenz­land rückgängig zu machen. “67

Geändert hat sich im Bezirk Tachau also erst etwas, als man die industriell domi­nierte Wirtschaftspolitik der ersten zwanzig Jahre korrigierte, unter der Gebiete mit landwirtschaftlicher Struktur benachteiligt waren.

3. Ethnische und konfessionelle Auswirkungen

Die Neubesiedlung hatte Konsequenzen hinsichtlich der ethnischen und konfessio­nellen Zusammensetzung der Grenzgebiete.

Die Planung der Besiedlung sah vor, dass Neusiedler zunächst bevorzugt aus für die Grenzgebiete zuständigen innerböhmischen Bezirken kamen. Für den früheren deutschen politischen Bezirk Tachau war dies der Bezirk Mühlhausen (Milevsko) und vereinzelt auch der Bezirk Strakonitz (Strakonice). In Grenzgebieten, in denen schon in der Ersten Republik nennenswerte tschechische Bevölkerungsteile angesie­delt worden waren, war diese Gruppe ein wichtiger Bestandteil der Neusiedler. Diese Gruppe von Neusiedlern war entweder nie weggegangen oder sie kam nach dem Krieg wieder zurück. Im Bezirk Tachau war dies nur sehr wenige. In anderen Gebie­ten mit einem größeren Anteil an Altsiedlern kam es zu Konflikten mit den tsche­chischen Neusiedlern aus Innerböhmen.

Eine weitere Gruppe von Neusiedlern waren Slowaken aus Gebieten außerhalb der Ersten Republik, z. B. aus Rumänien, und natürlich Tschechen und Slowaken

67 TOPINKA, Jiri: Dosidloväni pohranici Plzenka 1954-1960 [Die Zuendebesiedlung des Grenzgebietes im Raum Pilsen], In: M inulosti Zapadoceskeho Kraje [Vergangenheit des west­böhmischen Kreises], Plzen 2008, S. 530 f.

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aus dem Ausland. Konflikte gab es auch mit Slowaken. Zu dieser Gruppe gehören auch Tschechen aus der Ukraine und Roma aus anderen Gebieten der Republik.

Die tschechoslowakischen Behörden versuchten ethnische Tschechen aus allen möglichen Regionen der Welt zurückzuholen. Als Beispiel hierfür kann die Ansied­lung von ehemals protestantischen tschechischen Exulanten gelten, die nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 nach Polen ausgewandert waren und sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Gegend von Weseritz (Bezdruzice) niederließen.68

Zwischen diesen Gruppen gab es in 1950er und 1960er Jahren soziale Konflikte.

4. Besiedlung von Zummern (Soumer)

Zummern liegt von der bayerisch-tschechischen Grenze etwa 25 Kilometer entfernt in Nähe der beiden Kleinstädte Neustadtl (Sträz u Tachova) und Haid (Bor u Tachova). In der Zeit der tschechoslowakischen Republik hatte es um die 250 Ein­wohner.

Das Dorf wurde 1380 das erste Mal erwähnt und im Verlauf der letzten 100 Jahre vor der Vertreibung hatte sich ein kleines Soziotop mit einer beachtlichen Infrastruktur entwickelt: So gab es vier Mühlen, eine Kunstschreinerei, zwei W irts­häuser, einen Krämerladen und eine Schneiderei.69

4.1 Herkunftsgebiete der Neusiedler

Viele der tschechischen Neusiedler in Zummern (Soumer) stammten aus dem seit dem 15. Jahrhundert ausschließlich tschechisch-sprachigen Bezirk Mühlhausen (Milevsko), der südöstlich von Pilsen in der Nähe der jetzigen Kreisstadt Pisek (Pisek) liegt.

Die Anwerbung von Neusiedlern begann — wie oben ausgeführt — bereits unmit­telbar nach Kriegsende. In Mühlhausen wurde für die Besiedlung der Grenzgebiete in einer Zeitungsannonce des vom Bezirksnationalausschuss vierzehntägig heraus­gegebenen Milevsky Kraj vom 1. August 1945 geworben.

68 Vgl. HOVORKÄ, Zdenkä: Repatriace ceskych pobelohorskych exulantü z Polska na Bez- druzicko po druhe svetove vaice. Diplomova Präce, Plzen 2008. [Repatriierung der tschechischen Exulanten aus der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg aus Polen in die Region Weseritz nach dem Zeiten Weltkrieg. Diplomarbeit Universität Pilsen 2008].69 Vgl. W ORSCH ECH , Franz: Zummern. Geschichte eines westböhmischen Dorfes und seiner Bewohner von 1380 bis zur Gegenwart. Weiherhammer 2014.

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Abb. 6: Der Dorfplatz von Zummern aus den 1930er Jahren. (Die Häuser a u f der lin­ken Seite sowie d ie Bäume waren bereits in den 1980er Jahren nicht mehr vorhanden.)(Foto aus dem Privateigentum des Autors. Es existieren keine Copyrights von anderer Seite.)

Es ist davon auszugehen, dass im Bezirk Mühlhausen ebenfalls bereits nach Kriegsende mit der Anwerbung von Neusiedlern begonnen wurde. Im ganzen Land wurde die Bevölkerung mit großen und farbigen Plakaten auf die Neubesiedlung hingewiesen. In der Werbung versuchte man, der Bevölkerung die historische Be­deutung der Neubesiedlung zu vermitteln. Dies soll am Beispiel des Textes eines Werbeplakats (Übersetzung) gezeigt werden:

„Besiedlung des konfiszierten Bodens im Grenzgebiet

In den ersten Wochen unserer nationalen Revolution sind viele Landwirte ins Grenz­geb iet gefahren. Hier haben sie angefangen, verlassene Landwirtschafisgüter zu bewirt- schafien. Diese Maßnahme ist unorganisiert verlaufen und o ft musste der Interessent selber längere Zeit um ein e Landzuteilung ersuchen. Oft ist er ohne Erfolg zurückgekom­men,, weil er Gemeinden besichtigt hatte, wo schon die meisten Objekte besetzt waren.

Die Kundgabe des Landwirtschafisministeriums vom 3. August 1945 über die Abgabe der Anmeldung zur Landzuteilung im Grenzgebiet und d ie Richtlinie des

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Landwirtschaftsministeriums über d ie Besiedlung des Grenzgebietes bilden die rechtliche und organisatorische Grundlage der Besiedlung. Damit endet d ie Besiedlung des Grenz­gebietes a u f eigene Faust. Stattdessen w ird d ie Besiedlung des konfiszierten Landes g e ­p lan t verlaufen.

Die Anmeldungen zur Landzuteilung im Grenzgebiet werden bei der örtlichen Bau­ernkommission fü r Besiedlung in dem Ort des festen Wohnsitzes der Bewerber abgegeben, und dort wo es diese Kommission nicht gibt, beim Nationalausschuss. Die Bewerber — Nationalverwalter — sollen ihre Anträge am Ort des festen Wohnsitzes abgeben. Die Anmeldungen werden nach der Überprüfung durch d ie örtliche und Bezirksbauernkom- mission an das Landwirtschaftsministerium weitergeleitet, dieses w ird die ganze Besied­lungsmaßnahme steuern. Die Besiedlung w ird nach einem Plan durchgeführt, es werden dabei d ie fa ch lichen Fähigkeiten des Bewerbers und d ie Produktionsbedingungen am jetzigen Wohnsitz und auch in dem Ort der Besiedlungsaktion berücksichtigt.

Die Abschiebung der deutschen Bevölkerung w ird in der Regel kurz vor der Ankunft unserer Landwirte stattfmden. Die Verteilung der Grundstücke w ird schnell durchge­fü h r t und das Land und die Gebäude m it dem zugehörigen Inventar werden ins Privat­eigentum der berechtigten Bewerber übergehen.

Aus den häufigen Bekanntmachungen der maßgeblichen Stellen ist klar ersichtlich, dass sich d ie Regierung der Republik um eine umfassende Absicherung der neuen Land­besitzer kümmern wird.

Die Informationen über Besiedlung des Grenzgebietes geben d ie örtliche und Bezirks­nationalausschüsse. “70

In dieser Kundmachung werden organisatorische Mängel angesprochen, die sich da­raus ergeben haben, dass die Neusiedler sich möglichst schnell ins Grenzgebiet bege­ben sollten - ohne hinreichende Vorbereitung seitens der Behörden. Vermutlich sind einige der Neusiedler auch aus Eigeninitiative aufgebrochen.

Die polizeilichen Anmeldekarten des Bezirks Mühlhausen, die noch aus der Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren stammen, geben Auskunft über die Abmel­dung der Neusiedler, den neuen Aufenthaltsort und den Beruf.

Die Karte von Ludvik Rizek enthält folgende Daten: Beruf (Tischler), Datum der Abmeldung, der neue Wohnort ist ebenfalls vermerkt (Zummern, Hausnummer 53). Leider sind die Anmeldekarten nicht vollständig erhalten, sodass sich über die berufliche Struktur der Neusiedler aus dem Bezirk Mühlhausen kein vollständiges

70 Es handelt sich um den Text eines Plakates, das damals in Anwerbungsgebieten aushing.

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Bild ergibt. Aus den vorhandenen Karteikarten der in Zummern neu Angesiedelten ist folgende Berufsstruktur zu erkennen: Arbeiter, Häusler, Kutscher, Gastgewerbe, Gastwirt, Landwirtschaftsarbeiter. Vermutlich ist davon auszugehen, dass die Mehr­zahl der Neusiedler in Zummern einfache Arbeiter waren, ohne weitere Ausbildung und vor allem ohne Besitz von Boden, vielleicht auch ohne Hausbesitz.

Von den Neusiedlern in Zummern haben mindestens zwei ein Grundstück oder Feld in ihrem Herkunftsgebiet zurückgelassen. Die örtlichen Nationalausschüsse ha­ben den zurückgelassenen Grund und Boden in der Regel zwangsverpachtet, da er von den ehemaligen Besitzern nicht verkauft wurde. Zurückgelassene Häuser sind verfallen, da sie nicht bewohnt wurden.

4 .2 Die ersten tschechischen Neusiedler in Zummern und ihre Verteilung auf Höfe und Häuser (Oktober und November 1945)

Am 16. Oktober 1945 trafen die ersten zehn Neusiedler aus dem Bezirk Mühlhau­sen nachts auf dem Dorfplatz in Zummern ein.71 Für die alteingesessenen deutschen Bewohner von Zummern muss dies ein überraschendes Ereignis gewesen sein. Sie weigerten sich, die neu Angekommenen in die Häuser zu lassen. Erst als diese am nächsten Tag Bestätigungen des ONV Tachau (ONV, Okresni Närodni Vybor/ Bezirksnationalausschuss) beibrachten, konnten sie die Türen nicht weiter verschlos­sen halten.

Die ersten Häuser wurden bereits im Oktober und November 1945 an Neusied­ler überschrieben. Aus der tschechischen Chronik von Zummern ergibt sich die sukzessive Besiedlung des Dorfes: Im November 1945 waren bereits 15 Häuser be­siedelt, was der Chronist als „großen Erfolg“ bezeichnet. Im Frühjahr 1946 kamen weitere Neusiedler, darunter auch Slowaken, womit weitere 17 Häuser belegt waren, also insgesamt 32 der 45 Häuser, die von Deutschen bewohnt worden waren.

Im Vergleich zu manch anderen Gemeinden im Bezirk Tachau verlief die Besied­lung von Zummern recht zügig. Wenngleich die Bewohnerzahl von ca. 250 deut­schen Bewohnern nie erreicht wurde, so war die Einwohnerzahl von 1948 doch recht stattlich, nämlich 170. 1955 hatte das Dorf immer noch 165 Einwohner, dann

71 Dies ist einer kleinen tschechischen Dorfchronik von Zummern zu entnehmen, die vermut­lich der damalige Vorsitzende des Ortsnationalausschusses verfasst hat. Das gesamte Protokoll ist abgedruckt in der Geschichte von Zummern (W ORSCHECH 2014)

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allerdings sank die Zahl beträchtlich. 1965 — zehn Jahre später - lebten dort nur noch 84 Einwohner. Und heute hat es — Zummern ist unterdessen in Neustadtl (Straz) eingemeindet - lediglich noch 30 Einwohner.

Literatur- und Quellenverzeichnis

HOVORKA, Zdeñká: Repatriace ceskych pobélohorskych exulantü z Polska na Bezdruzicko po svétové válce, Diplomová Práce, Plzeñ 2008. (Repatriierung der tschechischen Exulanten aus der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg aus Polen in die Region Weseritz nach dem Zweiten Weltkrieg. Diplomarbeit Universität Pilsen 2008)

KAPLAN, Karel: Der kurze Marsch. Kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei 1945-1948. München, Wien 1981

SLEZAK, Lubomir: Die landwirtschaftliche Besiedlung des Grenzgebietes der Böhmischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Histórica XXIII, Praha 1983, S. 165-225

TOPINKA, f i f i : Dosídlování pohranici Plzeñka 1954-1960 (Die Zuendebesiedlung des Grenzgebietes im Raum Pilsen). In: Minulosti Západoceského Kraje (Vergan­genheit des westböhmischen Kreises). Plzeñ 2008, S. 530-531

URBAN, Rudolf: Die Wiederbesiedlung der sudetendeutschen Gebiete. In: Zeit­schrift für Ostforschung, 1955, H .3, S. 426-432

WIEDEMANN, Andreas: „Komm mit uns das Grenzland aufbauen!“ Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952. Essen 2007

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WIEDEMANN, Andreas: Zur Problematik von Migration und Integration in den Grenzgebieten der Böhmischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Bohemia, Band 50, 2010, H. 1 ,S . 3-22

WORSCHECH, Franz: Zummern. Geschichte eines westböhmischen Dorfes und seiner Bewohner von 1380 bis zur Gegenwart. Weiherhammer 2014

WORSCHECH, Franz: Haid. Geschichte einer ehemals deutschen Stadt in West­böhmen. Weiherhammer 2017

Archivquellen: SOkA Tachov; SOkA Pisek

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Ulrich Mai

Zur ethnischen Symbolik in der masurischen Landschaft

Natürlich gab es auch in Masuren, dem südlichen Teil der ehemaligen Provinz Ost­preußen, nach 1945 einen gewaltigen Bevölkerungsaustausch. Hier wurden nach dem Krieg Polen, vor allem aus den verlorenen polnischen Ostgebieten angesiedelt, nach 1947 im Zuge der „Aktion Weichsel“ auch Ukrainer, die sich bis dahin im Südosten des Landes in einer Art Partisanenkrieg mit der polnischen Armee befun­den hatten.72

Was aber geschah mit den Deutschen? Ein Großteil der deutschen Bevölkerung war Anfang 1945 vor der heranrückenden Front, meist unter furchtbaren Umstän­den, in den Westen geflohen. Je nach Frontverlauf gab es aber in manchen masuri­schen Dörfern noch bis in die 60er Jahre eine beachtliche deutsche Minderheit oder gar Mehrheit. Tatsächlich lebten um 1950 noch ca. 170.000 Deutsche in Masuren, die dann freilich sukzessive ausgesiedelt wurden oder auch später im Rahmen deutsch-polnischer Vereinbarungen über die Familienzusammenführung nach Deutschland kamen. Heute rechnen sich noch etwa 8.000 Personen zur deutschen Minderheit in Masuren.73 Übrigens hat die sehr große Mehrheit dieser 170.000 bzw. heute noch 8.000 Menschen nach 1945 nur deswegen in ihrer Heimat verbleiben dürfen, weil sie den damaligen polnischen Verantwortlichen trotz ihrer bis dahin deutschen Staatsbürgerschaft ethnisch nicht als Deutsche, sondern als - mehr oder weniger oberflächlich „germanisierte“ - Slawen, eben als Masuren galten. Diese Menschen mussten sich einem sogenannten Verifizierungsverfahren unterziehen an dessen Ende ein Treueid auf den polnischen Staat stand, das Verfahren entsprach dem in Oberschlesien angewandten. Tatsächlich hatte die sehr große Mehrheit die­ser Menschen trotz ihrer oft slawischen Familiennamen und auch Sprachkenntnisse

72 Die Ukrainer waren im Zweiten W eltkrieg Verbündete der Deutschen Wehrmacht. Auch deshalb wurden sie, ähnlich der deutschen Minderheit, in Masuren auf viele Jahre als ethnische Minderheit diskriminiert, durften anfangs in den Gemeinden auch nur eine kleine kontrollierte Minderheit bilden. Heute haben sie immerhin einige wenige eigene Schulen (Karp 1991).73 M itglieder in deutschen Vereinen. Aktuelle Auskunft (9. März 2017) des Verbandes der deut­schen Gesellschaften in Ermland und Masuren. Olsztyn (Allenstein).

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vor und nach 1945 eine stabile deutsche und zugleich ostpreußische Identität, dazu unten mehr.

Im Folgenden gehe ich der Frage nach, wie sich die masurische Kulturlandschaft nach 1945 verändert hat, vor allem der Frage, was an diesen Veränderungen ethni­schen Ursprungs ist. Dem liegt die wichtige theoretische Annahme zugrunde, dass eine neue Heimat nicht nur besitzrechtlich, sondern eben auch symbolisch angeeig­net werden muss. Denn nur wer sich in seiner neuen räumlichen Umgebung durch das Hinterlassen von Spuren einrichtet, d.h. nach eigenen Wünschen gestaltet, fühlt sich dort auch zu Hause und macht sie so zur Heimat.74 Dazu nenne ich sogleich eine Reihe von Beispielen.

Zunächst aber noch einige Vorbemerkungen. In Masuren sind, anders als im Sudetenland und auch anders als im seit 1945 russischen Teil Ostpreußens75, nur sehr wenige ganze Dörfer nach dem Krieg beseitigt worden. Meist waren es sehr kleine Ortsteile bzw. Weiler, die Zahl bewegt sich im untersten zweistelligen Be­reich76.

74 MAI 1995.75 In diesem Gebiet, dem heutigen Bezirk Kaliningrad, wurde die Verstaatlichung der Landwirt­schaft konsequent durchgesetzt, m it der Folge, dass hier tatsächlich hunderte Dörfer dem Erd­boden gleichgemacht wurden und verschwanden. Die Zahl der Wüstungen ist insbesondere im östlichen Teil dieser Region höher als in jedem anderen Gebiet, aus dem gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschen flohen oder dann vertrieben wurden. In einzelnen ehemaligen Landkreisen sind bis zu 90% aller früheren Siedlungen untergegangen, vor allem in den früheren Kreisen Pillkallen (1938-45 Schloßberg, russ. Dobrowolsk), Lasdehnen (1938-45 Haselberg, russ. Krasnosnamensk) und Stallupönen (1938-45 Ebenrode, russ. Nesterow).76 Folgende Liste dürfte der Vollständigkeit nahekommen: Przepiorki (Przepiorken) im ehem. Kreis Lyck, nach 1965; K%tki (Klein Kanten) bei Deutsch-Eylau, nach 1950; Golubie Dubeninki (Gollubien) im ehem. Kreis Goldap, nach 1945; Kokoszki (Kokosken) im ehem. Kreis Lyck, nach 1960; Lunau, Gemeinde Schalmey (Szalmia) im ehem. Kreis Braunsberg, 1945, dieser Weiler hat keinen polnischen Namen erhalten; M alga (Malga) im ehem. Kreis Neidenburg, 1953; Oströwko (Ostrowken) im ehem. Kreis Goldap, bald nach 1945; Pelkity (Polkitten) im ehem. Kreis Barten­stein, bald nach 1945; Poganowo (Groß Bürgersdorf) im ehem. Kreis Rastenburg, 1945 oder bald danach; Sowirog (Sowirog) im ehem. Kreis Johannisburg, 1948; Stablawki (Stablack) im ehem Kreis Gerdauen, 1945.

Malga (vor 1945 knapp 500 Einwohner) musste einem Truppenübungsplatz weichen. Gollu­bien wurde im Oktober 1944 bei Kämpfen total zerstört, ebenso vermutlich Lunau bei den Kämp­fen um Heiligenbeil im März/April 1945. Polkitten und Stablack lagen ab 1945 unmittelbar an der neuen Grenze zur UdSSR, ähnliches galt für Ostrowken. Sehr kleine Weiler waren Kokosken, Przepiorken und Klein Kanten. Unklar sind die Gründe für den Untergang von Sowirog (1938/39 169 Einwohner) und Groß Bürgersdorf (1939 329 Einwohner). - Angegeben werden hier die Polnischen und die traditionellen deutschen Ortsnamen. Viele Orte in Masuren und mehr noch im baltisch geprägten Nordosten Ostpreußens wurden Mitte/Ende der 1930er Jahre umbenannt,

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Jedoch sind auf dem Lande des Öfteren gerade alleinstehende Häuser abgebaut worden, vor allem weil es im Sozialismus an Baustoffen aller Art mangelte und sich in der unbekannten dörflichen Einsamkeit die wenigsten der Neusiedler niederlas­sen wollten. Ähnliches gilt für die vielen Schlösser und Herrenhäuser in Masuren, die erst von der Sowjet-Armee, dann auch von den Polen, für Plünderungen freige­geben wurden. Das hatte auch damit zu tun, dass die sozialistische Ideologie gerade im aristokratischen Landadel, nicht zuletzt wegen des beachtlichen Landbesitzes, einen wichtigen Systemfeind sah. Aus diesem Grund sind heute gerade von den al­ten Herrenhäusern und Schlössern in Masuren häufig nur noch Ruinen übrig. Die restlichen Bauernhöfe sind auch deshalb weitgehend intakt geblieben, weil sie von polnischen Kleinbauern übernommen wurden, deren persönliches Interesse in der Erhaltung der Produktionsfähigkeit des jeweiligen Hofes bestand. Im Übrigen hat es in Polen bis zur Wende 1989/90, völlig anders als in der DDR und anderen sozia­listischen Staaten, keine Umwandlung von Kleinhöfen in Staatsgüter bzw. LPGs gegeben. Das geschah in der Regel nur mit dem alten Landbesitz der Schlösser und Güter. Ansonsten aber blieben die kleinkammerigen Agrarflächen, ein wichtiger Teil der masurischen Kulturlandschaft, im Charakter bis heute erhalten.

Wo aber waren die Veränderungen in der masurischen Kulturlandschaft nach1945 gravierend und unübersehbar? W ichtig war der polnischen Verwaltung nach dem Krieg vor allem die Beseitigung von evidenten Spuren deutscher Vergangenheit und Geschichte, dies offensichtlich als Teil einer Legitimationsstrategie für die „Wie­dergewinnung“ Masurens. So wurde von der polnischen Verwaltung eine Kommis­sion eingesetzt, die alle deutschen Orts- und Straßennamen durch polnische ersetzte. Gleiches gilt für deutsche Inschriften auf Häuserfassaden, egal welcher Art. Ähnlich verhält es sich mit alten deutschen Friedhöfen, die zum Teil verwüstet wurden, zum Teil aber heute wieder, dann offenbar von speziell Beauftragten, gepflegt werden.

M it Kriegerdenkmälern verhält es sich etwas komplizierter: Im Allgemeinen wurden Kriegerdenkmäler, natürlich auf den Ersten Weltkrieg verweisend, schlicht zerstört oder anderweitig beseitigt. Zum Teil aber wurden sie auch gleichsam symbo­lisch umgewidmet, d. h. anstelle der deutschen mit polnischen Inhalten aufgeladen. Dazu die nun folgenden Fotos aus Masuren:

weil den damaligen deutschen Machthabern die Namen zu slawisch bzw. baltisch erschienen. Sol­che Umbenennungen gab es in geringerem Umfang bereits seit den 1920er Jahren. Von den o.g. Orten wurden vor 1945 umbenannt: Przepiorken bereits 1926 in Wachteldorf, Gollubien 1938 in Unterfelde, Kokosken 1930 in Hennenberg, Ostrowken 1938 in Waldbude und Sowirog 1934 in Loterswalde.

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Abb. 1: Kriegerdenkmal in Abb. 2: Kriegerdenkmal in Wydminy (Widminnen), Pieczarki (Piezarken) beiM itte der 1990er Jahre Gizycko (Lötzen), um 2010

(Alle Fotos zu diesem Beitrag sind Privateigentum des Autors. Es existieren keine Copyrights a u f anderer Seite.)

Foto 1 zeigt ein Kriegerdenkmal aus der Kleinstadt W ydminy (W idminnen)77. Der Sockel des Denkmals aus der deutschen Zeit ist erhalten, freilich ohne die alte deut­sche Inschrift. Auf dem Denkmal befindet sich heute der polnische Reichsadler, bis zum Ende des Krieges stand hier ein metallener Soldat des Deutschen Heeres, das zu Beginn des Ersten Weltkrieges unter Ffindenburg die russische Invasion zurück- gedrängt hatte. Angehörige der deutschen Minderheit müssen diese Umwandlung des Denkmals als bewussten Akt symbolisch-ethnischer Unterwerfung verstanden haben.78

Foto 2 zeigt ein weiteres Kriegerdenkmal aus dem Dorf Pieczarki (Piezarken), nörd­lich von Gizycko (Lötzen, polnisch hieß die Stadt bis 1946 Lee; der Name Lötzen/ Lee ist prussischer, also baltischer Herkunft), wie es sich auch noch heute präsen­

77 Hinweis des Verlages: Auf Wunsch des Autors werden in diesem Beitrag die polnischen Orts­namen zuerst genannt, m it den deutschen Namen dahinter in Klammern.78 MAI 1997.

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tiert. Dies Denkmal aus der deutschen Zeit wurde nach dem Krieg nicht verändert und ehrt bis heute die im Ersten Weltkrieg Gefallenen des Dorfes, die namentlich einzeln aufgeführt sind, viele von ihnen mit unverkennbar polnischen Namen. Oben auf dem Denkmal, vor allem zur Überraschung vieler deutscher Touristen, das alte Eiserne Kreuz, Sinnbild des deutschen Militarismus.

Wieso aber ist dieses Denkmal verschont worden? Nun muss man wissen, dass es in Masuren auf polnischer Seite eine eigentümliche Ideologie ethnischer Kontinuität gibt, d.h. in der öffentlichen polnischen Debatte lebten seit dem späten Mittelalter vor allem Polen in Masuren, trotz staatlicher Zugehörigkeit zum Deutschordensland ab dem 13. Jahrhundert bzw. ab 1525 zu Preußen. Tatsächlich sind zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert aul Einladung des preußischen Staates, der davon nur pro­fitierte, vor allem Polen aus dem nahen Mazowien, daher auch der Name Masuren, zugewandert — und geblieben. Folgerichtig wurde bis in das 20. Jahrhundert im ländlichen Masuren „Masurisch“, ein altertümlicher Dialekt des Polnischen, mit vie­len Lehnwörtern aus dem Deutschen natürlich, gesprochen, das durch die Sozialisa­tionseinflüsse von Schule, Kirche und M ilitär freilich zunehmend zurückgedrängt wurde.

Während die masurische Sprache neben dem Deutschen durchaus lebendig blieb, hatte die überwältigende Mehrheit ihrer Sprecher eine so stabile deutsche Identität, dass nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht einmal die Aussicht, durch Wechsel des nationalen Bekenntnisses auf die Seite der Sieger zu gelangen, ihr etwas anhaben konnte. Dies zeigt sich beim Vergleich der deutschen Volkszählung von 1910 mit dem Ergebnis der unter straffer Aufsicht der Entente durchgeführten Volksabstimmung von 1920. Insgesamt votierten in einem Gebiet, das 1910 zu 44,1 % masurisch-sprachig war, dennoch 97,9% der Bevölkerung für den Verbleib beim Deutschen Reich. Dieser Aspekt der masurischen Geschichte ist der polni­schen und auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit wenig bekannt.

Auch wenn es im ländlichen Masuren bis 1945 eine spezifische ethnische M i­schung aus Deutschen, Polen, Hugenotten, Salzburgern, altgläubigen Russen und Holländern gab und auch die alten ethnischen Masuren79 fast alle längst nach

79 Viele jener ethnischen Masuren, die nach dem Kriege zunächst im Lande verblieben waren, noch jenes Masurisch sprachen und durchaus bereit waren, sich auf die neuen polnischen Nach­barn einzustellen, wurden freilich wie Deutsche behandelt und zogen wegen anhaltender Diskri­m inierung eine Ausreise nach Deutschland vor. Bei dieser Entscheidung dürften allerdings auch gewisse Prosperitätserwartungen eine Rolle gespielt haben.

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Abb. 3: Die protestantische Abb. 4: Polnisches Denkmal Kirche von Gizycko (Lötzen), von Gizycko (Lötzen), um um 2010 2010

Deutschland ausgesiedelt sind, hat sich diese angesprochene Ideologie polnisch-eth- nischer Kontinuität bis heute im öffentlichen Diskurs gehalten.

Auf diesem Hintergrund jedenfalls ist in gewisser Weise nachvollziehbar, dass für die heutigen Polen die im Ersten Weltkrieg gefallene Masuren eben auch einheimi­sche Polen waren — zudem in einem Krieg gegen die ungeliebten Russen. Die vielen polnischen Namen auf dem Ehrenmal scheinen ja auch ein Beleg dafür zu sein.

Foto 3 zeigt die protestantische Kirche in Gizycko (Lötzen). Sie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von einem Schinkel-Schüler erbaut, ist auch nach dem Krieg den Protestanten erhalten geblieben und ist noch heute, zusammen mit dem nahen Ge­meindehaus, einer der wichtigsten Treffpunkte der Angehörigen der deutschen M in­derheit, aber auch mancher deutscher Touristen. Unmittelbar gegenüber dieser Kirche, auf der Ostseite des alten Marktplatzes, wurde 1920 eine „Deutsche Eiche“ zum Andenken an den eindrucksvollen Sieg der deutschen Seite im damaligen vom Völkerbund veranlassten Referendum über den Verbleib Masurens im Deutschen Reich gepflanzt. Im damaligen Lötzen hatten weniger als 20 Personen für eine Ein­

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gliederung Masurens in das neu entstandene Polen gestimmt.80 Die angesprochene Eiche steht noch, freilich ohne jede Plakette zu deren symbolischer Bedeutung, ist inzwischen aber auch kaum noch zwischen den vielen schneller wachsenden Linden auf dem Platz auszumachen.

Nach 1945 unternahm die polnische Obrigkeit einiges zur Neutralisierung von Kirche und Deutscher Eiche als Symbole des Deutschtums auf dem alten Markt­platz. Zunächst wurde der Platz in „Plac Grunwaldzki“ umgetauft. Nun lernt jedes Kind in Polen erstaunliche Details über Grunwald. Hier fand 1410 die Schlacht von Tannenberg (Grunwald) statt, als der Deutsche Ritterorden vom verbündeten pol­nisch-litauischen Heer vernichtend geschlagen wurde, und noch heute finden in Masuren jedes Jahr mit beachtlicher Popularität Gedenkfeiern statt, die offenbar für die kollektive Identität Polens, gerade im Verhältnis zu Deutschland, eine anhaltend wichtige Rolle spielen.

Foto 4: Diese Symbolik zur Neutralisierung, ja symbolischen Unterwerfung, des Deutschtums nach 1945 wurde später ergänzt durch ein Denkmal auf der anderen Seite des Plac Grunwaldzki. Hier nämlich wurde ein riesiger Findling postiert mit der Aufschrift „Bojownikom o Polskosc Ziemi Mazurskiej“ („Den Kämpfern für das Polentum in Masuren“). Gemeint sind jene in der masurischen Geschichte, die sich stets zum Polentum bekannt hatten, unter anderem auch in jenem Referendum 1920, wobei der für die Polen desaströse Ausgang dieser Abstimmung hier natürlich verschwiegen wird. Die Konstruktion ethnischer Genealogie, Identität und Legiti­mation hat mit historischer Objektivität eben nicht immer viel zu tun.81

Nun einige Beobachtungen zur Veränderung des Dorfbildes in Masuren: Wie bereits angedeutet, gab es in Masuren eine erstaunliche Kontinuität der alten dörfli­chen Landschaft. Neubauten waren extrem selten, ebenso Renovierungen, dies we­gen der Armut der neuen dörflichen Gesellschaft, aber eben auch wegen der Knapp­heit von Baustoffen im Sozialismus. Dennoch gab es, meist unter geringem materiellem Aufwand, auch Versuche symbolischer Aneignung, d.h. der optischen Veränderung, durch die neuen Bewohner mit dem Ziel, Zeichen für die Schaffung einer neuen Heimat zu setzen.

Foto 5 zeigt ein Bauernhaus in der kleinen Gemeinde L^kuk M aly (Klein Lekuk) nahe Orlowo (Orlowen, 1938-45 Adlersdorf). Es handelt sich um einen der vielen

80 BELZYT 1996.81 MAI 1998.

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Abb. 5: Bauernhaus in L$kuk Maly (Klein Lekuk) bei Orlowo (Orlowen/Adlersdorf), um das Jahr 2000

Klinkerbauten aus der Gründerzeit. Die vorgenommenen Veränderungen waren vor allem farblicher Natur. Das sog. „Deutsche Band“, eine durch einen um einen hal­ben Stein hervorgehobene Markierung der Linie zwischen Erd- und Obergeschoss, wurde mit weißer Farbe überarbeitet, ebenso die Fugen über Türen und Fenstern. Durchaus charakteristisch für die neuen Bewohner aus Ostpolen, nicht zuletzt die Ukrainer, ist das Blau von Tür- und Fensterlaibungen. Eher selten war das Zumau­ern bzw. Verkleinern von Fenstern. Insgesamt ergibt sich nach der Neubesiedlung der masurischen Dörfer, jedenfalls im Vergleich zu den alten rötlichen Klinker- fassaden aus der deutschen Zeit, ein relativ buntes Bild, wobei die traditionelle Bau­substanz durchaus erhalten blieb.

W ie aber hat sich das Dorf-Bild mit der Wende 1989/90 und der damit einher­gehenden gesellschaftlichen Transformation verändert? Foto 6 zeigt ein traditionelles dörfliches Biotop, aufgenommen Mitte der 90er Jahre in der Gemeinde Przerwanki (Przerwanken, von 1938-45 Wiesental): Eine Flausfassade mit alten Hohlpfannen, der alten Regenrinne, dem Staketen-Zaun, mit wild wachsendem Knöterich, zudem einer beachtlichen Nutzungsvielfalt im Garten, haben wir es hier, trotz der Verände­rungen durch Putz und blaue Farbgebung, mit einer erstaunlichen Kontinuität des alten masurischen Dorfbildes zu tun.

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Abb. 6: Traditionelles dörfliches Biotop in Przerwanki (Przerwanken/Wiesental), um 1990

Abb. 7: Dasselbe Haus w ie a u f dem B ild davor, um 2005

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Foto 7, aufgenommen ca. 2005, zeigt dieselbe Hausfassade etwa zehn Jahre später. Kaum kann man das alte Bild wiedererkennen: neue Fenster, neue Türen, andere Farbgebung der Fassade, eine neue Regenrinne, im hinteren Teil eine neue Dachein- deckung, ein neuer Maschendraht-Zaun ersetzt den traditionellen Staketen-Zaun, der wilde Knöterich ist beseitigt. Überhaupt macht das Ganze jetzt einen eher mo­dernen, pflegeleichten Eindruck. Offenbar sind die alten Hauseigentümer nach der Wende zu Geld gekommen, gar nicht so ungewöhnlich wäre es aber auch, wenn neureiche Zugezogene, meist aus Warschau, das Haus übernommen hätten.

Dieser Vorgang ist durchaus charakteristisch. Nach der Wende hat sich das Dorf- Bild, natürlich auch das Stadt-Bild, gravierender verändert als zuvor. Dies ist als Teil eines Modernisierungsprozesses zu sehen, wie er auch in anderen Teilen Polens und in anderen ehemals sozialistischen Ländern zu beobachten ist. Und dieser Moderni­sierungsprozess orientiert sich nicht an irgendwelchen alten ethnischen oder natio­nalen Standards, sondern eher an globalen bzw. internationalen. So sieht man in jüngster Zeit in masurischen Dörfern immer wieder Neubauten von wohlhabenden Zugezogenen, meist städtischen Charakters, z.T. aber auch mit Säulen und Terrassen auf der Straßenseite, ganz wie in amerikanischen TV-Serien aus den Südstaaten, dies offenbar auch, um den eigenen Reichtum zu demonstrieren.

Überhaupt hat der anhaltende Modernisierungsprozess die alte ethnische Sym­bolik erheblich abgewertet. Damit einher geht aber auch eine gewisse Entschärfung des interethnischen Diskurses. So ist nicht nur die deutsche Minderheit heute als öffentliche Organisation anerkannt, auch der Sejm, das polnische Parlament, hat eine gesetzlich gesicherte Anzahl von Abgeordneten, die sich der deutschen Minder­heit zurechnen und deren Interessen wahrnehmen. Auf der lokalen Ebene stößt man in Masuren heute immer wieder auf deutsche Inschriften in Häuserfassaden, die offenbar wieder hergestellt wurden und nun auch geduldet werden. Und selbst öf­fentliche Gebäude wie der völlig neu sanierte Bahnhof von Rastenburg (polnisch seit1946 K^trzyn, davor Rastembork82) trägt neben dem polnischen Namen wieder die alte Inschrift „Rastenburg“ in Frakturschrift. Zudem sind in heutigen Landkarten von Masuren, die natürlich auch von vielen Touristen benutzt werden, meist in Klammer und in kleineren Buchstaben gesetzt, die alten deutschen Ortsnamen ver-

82 Die Umbenennung von 1946 sollte den allzu deutsch klingenden Namen „Rastembork“ durch einen völlig polnisch klingenden Namen ersetzen und war damit ganz analog motiviert wie die zahlreichen ebenso unhistorischen Umbenennungen der 1930er Jahre, die vice versa Orts­namen m it baltischer oder slawischer Herkunft durch rein deutsche Namen ersetzen sollten.

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Ortsnamenregister

Nichtdeutsche Ortsnamen sind, soweit nicht anders verzeichnet, tschechisch, sonst polnisch.

Adlersdorf —► Orlowen Braunsberg 75Aglejenthal 54 Brüx (Most) 22, 28-30Allenstein (Olsztyn) 74Altfürstenhiitte (Starä Knizeci Hut“) Chomutov —* Komotau

35, 39, 42 Ceskä Ves BöhmischdorfAltglashütte 47 Ceske Nove Domky —* BöhmischAltpocher (Stary Pochr) 38f NeuhäuslAsch 63

Deutsch-Eylau 75Baderwinkel 35 Dianaberg 47, 49Bärnau 37 ,5 6 Dlouhy Ujezd LangendörflasBartenstein 75 Dobra Voda —* GutwasserBayerisch Waldheim 40f Dörnsdorf (Dolina) 28Bezdruzice —► Weseritz Dolina -H► DörnsdorfBischofteinitz (Horsovsky Tyn) 66f Domazlice —* TausBöhmerwald 1 8 ,2 1 ,2 3 Doupov —> DuppauBöhmischdorf (Ceskä Ves) 38f Duppauer Gebirge 18, 27fBöhmisch Neuhäusl (Ceske Nove Duppau (Doupov) 18, 28

Domky) 38EgerBöhmisch Waldheim —► Waldheim 5 ,6 3

Bohuslav —* Wusleben Egerland 7, 12, 34f, 55

Boletice —► Polletitz Ervenice —» Seestadtl

Bor u Tachova —► Haid Erzgebirge 7, 12, 22, 25-28, 31f

Borecek —► WandermühleBozantov —* Wosant Falkenau 16, 63

Brand 53f

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Galtenhof (Jalovy Dvür) 54 Kaiserwald 18

Gerdauen 75 Kaplitz 63Gizycko —* Lötzen Karlovy Vary —* KarlsbadGörkau (Jirkov) 30 Karlsbad (Karlovy Vary) 27, 63Goldbach 35f K^tki —* Klein KantenGoldap 75 Keilberg (Klinovec) 31Gollubien (1938-1945 Unterfelde, K^trzyn —* Rastenburg

poln. Golubie Dubeninki) 75f. Klasterce nad Ohri —* KlösterleGolubie Dubeninki —» Gollubien Klein Kanten (K^tki) 75Graslitz (Kraslice) 27 Klein Lekuk (L^kuk Maiy) 80f

Groß Bürgersdorf (poln. Poganowo) 75 Klinovec —* KeilbergGutwasser (Dobra Voda) 18 Klösterle (Klasterce nad Ohri) 30

Köstelwald (Kotlina) 28Haid (Bor uTachova) 52, 61, 68, 73 Kokosken (1930-1945 Hennenberg,Häj —*■ Stolzenhain poln. Kokoszki) 75fHelldroth (Pastvina) 49, 53 Kokoszki —* KokoskenHennenberg —► Kokosken Komotau (Chomutov) 29-31Hermannsreith (Hranicna) 34f Kotlina —* KöstelwaldHöfen-Duppau (Hradiste) 18 Kraslice -+ GraslitzHorsovsky Tyn BischofteinitzHradiste —* Höfen-Duppau Langendörflas (Dlouhy Üjezd) 50Hranicky —♦ Reichenthal Lee LötzenHranicna —♦ Hermannsreith Leierwinkel 39

L^kuk M aly —♦ Klein LekukInnerböhmen 14, 67 Lötzen (poln. Gizycko, bis 1946 Lee)Inselthal 35, 37 77, 79

Loterswalde —♦ SowirogJachymov -♦Joachimsthal Lucina —* SorghofJalovy Dvür —♦ Galtenhof Lunau 75Jirkov —► Görkau Lyck 75Joachimsthal (Jachymov) 12, 25-27Johannisburg 75 Malga —* MalgaJosephsthal 38f Malga (poln. Malga) 75

Marienbad 63Kaaden (Kadan) 27 Masuren 7, 13, 74-84Kadan —► Kaaden Mauthdorf (Myto) 54

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49, 57, 59, 61-63, 67f, 72fWidminnen (poln. Wydminy) 77 Wiesental —► PrzerwankenWittichsthal 35Wosant (Bozantov) 49f, 52Wusleben (Bohuslav) 34f, 49f

Weseböhmen

Zahájí —♦ Waldheim Zentralmassiv 8Zummern (Soumër) 7, 13, 56-73 Zebrácky Zdar —* Petlarnbrand Zebráky —► Petlarn

W ydminy —► Widminnen

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Das Verschwinden ganzer Dörfer ist keine Seltenheit. Im späten Mittelalter verschwanden in Europa viele ländliche Siedlungen infolge einer Kllmaver- schlechterung von der Landkarte, und Im 20. Jahrhundert wurden manche Dörfer in den Alpen aufgegeben, weil die Almwirtschaft unrentabel geworden war. Auch der Tagebau sowie die Anlage von Truppenübungsplätzen und Stau­seen haben bis in die Gegenwart den Untergang von Dörfern zu Folge gehabt.

Zu einem massenhaften Phänomen wurden derartige Wüstungen mit der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Im heute zu Russ­land gehörenden Königsberger Gebiet geht die Zahl der verschwundenen Ort­schaften in die Hunderte, und tschechischen Quellen zufolge sind allein im Sudetenland etwa 2.400 ländliche Siedlungen untergegangen. In geringe­rem Umfang sind auch in den heute polnischen Teilen Pommerns, Branden­burgs, Schlesiens und Ostpreußens ehemals deutsche Dörfer verschwunden.

Wirtschaftliche und soziale Verwerfungen sowie ein komplexer, bis heute an­dauernder Wandel der Kulturlandschaft sind die bisher wenig erforschten Fol­gen dieses Geschehens. Diese Veröffentlichung möchte am Beispiel des Sude­tenlandes und Masurens einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten und zu weiteren Forschungen anregen, denn die Geschichte und die Kultur dieser verschwundenen Siedlungen gehören zum historischen Erbe Europas.

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