wille willkur

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Willkür und Wille bei Kant von Pirmin Stekeler-Weithofer, Konstanz I. 7.u Thema und Vorgehen Das Problem, mit dem ich mich hier beschäftigen will, ist der Widerspruch zwischen dem allgemeinen Kausalgesetz, nach welchem jedes Geschehen in der Welt als durch natürliche Ursachen bewirkt erscheint, und der Handlungsfreiheit, nach welcher unser Tun (zusammen mit seinen Folgen) als freie und daher erst verantwortliche Tat vorgestellt wird. 1 Bekanntlich stützt sich Kants Lösungsversuch dieses Dilemmas 2 wesentlich auf die Unterscheidung zwischen einer Welt der Erscheinungen oder Erfahrungen (mundus sensibilis) und einer Welt von Noumena, die er manchmal auch „Dinge an sich" nennt (mundus intelligibilis). Das Kausalgesetz gilt nach Kant ausschließlich in der und für die Erfahrungswelt. Der Mensch allerdings und sein Tun sei nicht nur als Erfahrungsgegen- stand, sondern auch als Noumenon zu betrachten. Was aber soll dies heißen? Wie soll etwa ein Mensch ,an sich selbst betrachtet' in der Lage sein, eine Ereigniskette, die doch als solche zur Erscheinungswelt gehört, willkürlich und frei neu anzufangen? 3 Was bedeutet es, daß diese ,Kausalität aus Freiheit', wie sich Kant ausdrückt, nicht einmal unter den Bedingungen der Zeitfolge stehen soll? Solange wir diese Fragen nicht beantworten können, bleibt Kants Lösung des Freiheitsproblems, das ja ein Grundproblem seiner Philosophie ist, zumindest dunkel, wie dies ja auch viele Kantinterpreten, in neuerer Zeit etwa J.Bennett oder auch P. Strawson behaupten. 4 Recht deutlich artikuliert diese Kritik jüngst auch G. Prauss in 1 Die hier vorgetragenen Überlegungen zu Kants drittem „Widerstreit der transzendentalen Ideen" in Kr. d. r. V. B 560—586 schließen sich inhaltlich an folgende zwei Aufsätze von F. Kambartel an: Autonomie, mit Kant betrachtet. Zu den Grundlagen von Handlungstheorie und Moralphiloso- phie, in: Das Experiment der Vernunft. Studien zur Weltorientierung in Philosophie und Wissenschaft (I.Teil, Zu Ehren von F.Kaulbach) = Perspektiven der Philosophie, Neues JB 4, 1978, S. 119-133; und: Theorie und Begründung. Bemerkungen im Blick auf Kant und Wittgen- stein, in: V. Gerhardt / N. Herold (eds.), Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985. 2 Mit unserer Überlegung zu vergleichen ist auch das zweite Kapitel von G.Ryle, Dilemmas (= The Tarner Lectures 1953), Cambridge 1966. 3 Kant spricht in Kr. d. r. V. B 561 von einem „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen". Vgl. dazu auch die Erläuterung in Kr. d. r. V. B 449. 4 J.Bennett, Kant's Analytic, Cambridge 1977 (U966). Ders., Kant's Dialectic, Cambridge 1977 ( 1 1974). P. Strawson, The Bounds of Sense, London 1966 (besonders: pt. 2, chap. 3). Vgl. auch B. Ortwein, Kants problematische Freiheitslehre, Bonn 1983. Brought to you by | SUNY - Binghamton Authenticated | 128.226.37.5 Download Date | 7/9/13 4:14 PM

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Willkür und Wille bei Kant

von Pirmin Stekeler-Weithofer, Konstanz

I. 7.u Thema und Vorgehen

Das Problem, mit dem ich mich hier beschäftigen will, ist der Widerspruch zwischendem allgemeinen Kausalgesetz, nach welchem jedes Geschehen in der Welt als durchnatürliche Ursachen bewirkt erscheint, und der Handlungsfreiheit, nach welcher unserTun (zusammen mit seinen Folgen) als freie und daher erst verantwortliche Tatvorgestellt wird.1

Bekanntlich stützt sich Kants Lösungsversuch dieses Dilemmas2 wesentlich auf dieUnterscheidung zwischen einer Welt der Erscheinungen oder Erfahrungen (mundussensibilis) und einer Welt von Noumena, die er manchmal auch „Dinge an sich" nennt(mundus intelligibilis). Das Kausalgesetz gilt nach Kant ausschließlich in der und für dieErfahrungswelt. Der Mensch allerdings und sein Tun sei nicht nur als Erfahrungsgegen-stand, sondern auch als Noumenon zu betrachten. Was aber soll dies heißen? Wie solletwa ein Mensch ,an sich selbst betrachtet' in der Lage sein, eine Ereigniskette, die dochals solche zur Erscheinungswelt gehört, willkürlich und frei neu anzufangen?3 Wasbedeutet es, daß diese ,Kausalität aus Freiheit', wie sich Kant ausdrückt, nicht einmalunter den Bedingungen der Zeitfolge stehen soll?

Solange wir diese Fragen nicht beantworten können, bleibt Kants Lösung desFreiheitsproblems, das ja ein Grundproblem seiner Philosophie ist, zumindest dunkel,wie dies ja auch viele Kantinterpreten, in neuerer Zeit etwa J.Bennett oder auchP. Strawson behaupten.4 Recht deutlich artikuliert diese Kritik jüngst auch G. Prauss in

1 Die hier vorgetragenen Überlegungen zu Kants drittem „Widerstreit der transzendentalen Ideen"in Kr. d. r. V. B 560—586 schließen sich inhaltlich an folgende zwei Aufsätze von F. Kambartel an:Autonomie, mit Kant betrachtet. Zu den Grundlagen von Handlungstheorie und Moralphiloso-phie, in: Das Experiment der Vernunft. Studien zur Weltorientierung in Philosophie undWissenschaft (I.Teil, Zu Ehren von F.Kaulbach) = Perspektiven der Philosophie, Neues JB 4,1978, S. 119-133; und: Theorie und Begründung. Bemerkungen im Blick auf Kant und Wittgen-stein, in: V. Gerhardt / N. Herold (eds.), Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985.

2 Mit unserer Überlegung zu vergleichen ist auch das zweite Kapitel von G.Ryle, Dilemmas(= The Tarner Lectures 1953), Cambridge 1966.

3 Kant spricht in Kr. d. r. V. B 561 von einem „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen".Vgl. dazu auch die Erläuterung in Kr. d. r. V. B 449.

4 J.Bennett, Kant's Analytic, Cambridge 1977 (U966). Ders., Kant's Dialectic, Cambridge 1977(11974). P. Strawson, The Bounds of Sense, London 1966 (besonders: pt. 2, chap. 3). Vgl. auchB. Ortwein, Kants problematische Freiheitslehre, Bonn 1983.

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seinem Buch Kant über Freiheit und Autonomie: Die ausgedehnte Literatur zu Kantspraktischer Philosophie täusche, so sagt er, „über nichts geringeres hinweg, als daßKant seine Praktische Philosophie insgesamt ... zuletzt doch nur auf Sand gebaut hat.Denn die Grundlegung für sie, das heißt ein von Moralität noch unabhängigesArgument für die Wirklichkeit von Wille, Freiheit und Handlung als solche ist erschuldig geblieben." Kant habe also „eine generelle Theorie des Handelns ... nichtgeliefert".5

Demgegenüber sieht F. Kaulbach6, ähnlich wie etwa der amerikanische Kant-Spezia-list L. W. Beck7, den Grundgedanken der Philosophie Kants gerade darin, daß wir einebesondere, nicht bloß beobachtende, Perspektive einnehmen, wenn wir menschlichesTun als Handeln ansehen. Auch unser wissenschaftliches Forschen und Reden sei nurin der handlungstheoretischen Perspektive zu verstehen, so daß die Versuche, Hand-lungen wissenschaftlich (kausal) zu erklären, zirkulär, ja absurd, würden.

Ich denke zwar, daß dieser Interpretationsansatz in die richtige Richtung weist.Bedarf es aber wirklich bloß eines Perspektivenwechsels, um ein Tun als freie Handlungzu verstehen, statt es im Rückgriff auf Erfahrungswissen zu erklären?8 Sollte das Tununter dem Gesichtspunkt eines bloßen Geschehens beschrieben und (vollständig) durchVerlaufsgesetze erklärbar sein, so besteht, wie ich zu zeigen versuche, begrifflich keineMöglichkeit mehr, es überhaupt als ein (per definitionem: ,frei gewolltes') Handeln zuverstehen: Es kann nicht einfach dasselbe Tun gleichzeitig zwei Erklärungen' haben,die naturkausale und diejenige, welche auf die Rede von einem freien und daher als gutoder böse bewertbaren Willen rekurriert. Dabei ist allerdings jede reifizierendeHypostasierung dieser Rede als irreführend abzulehnen, sowohl die (letztlich theologi-sche) Seelenlehre als auch naturalisierende Deutungen des Willens als einer Art innererund nicht direkt erfahrbarer Triebkraft, wie wir sie etwa in der SchopenhauerschenWillensmetaphysik finden.

Mit dem Ziel einer begrifflichen Auflösung des damit angesprochenen Grundpro-blems jeder Handlungs,theorie' werde ich zunächst auf einige wichtige sprachlicheUnterscheidungen in unserem Reden über Handlungen hinweisen. Wichtig ist dabei,daß sich gerade auch nach Kant Sinn und Bedeutung unserer Worte immer imZusammenhang unserer Praxis des Redens und Handelns zeigen muß. Daß und warumdas bloße Ideal einer durchgängigen Kausalerklärung der Erscheinungswelt zusammenbestehen kann mit der Idee der Handlungsfreiheit, beruht dann darauf, daß Kausaler-

5 G. Prauss, Kant über Freiheit ah Autonomie, Frankfurt 1983, S. 10.6 F. Kaulbach, Das Prinzip der Handlung in der Philosophie Kants, Berlin 1978.7 Vgl. L.W. Beck, A Commentary of Kant's Critique of Practical Reason, Chicago 1960. Ders.,

The Actor and the Spectator, Cassirer Lectures, New Haven 1975. Vgl. auch W. A. Harper/R. Meerbote (eds.), Kant on Causality, Freedom, and Objectivity, Minneapolis 1984; darinbesonders: R. Meerbote, Kant on the Nondeterminate Character of Human Actions, S. 138-163.

8 Vgl. V. Gerhardt/F. Kaulbach, Kant, (= Erträge der Forschung, Bd. 105) Darmstadt 1979, S. 80:„Die Differenzierung in zwei dem Menschen gleichermaßen mögliche Standpunkte erlaubt,Determiniertheit und Freiheit nebeneinander zu denken."

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klärungen (auch stochastischer Art) menschliche Konstruktionen sind, deren Realität4

oder ,Wahrheit' sich nur im Erfahrungs- und Handlungszusammenhang zeigt: Es gibtIdeen und Ideale nur in unserer fa9on de parier über mehr oder weniger vage bestimmtepotentielle* und zielgerichtete Fortsetzungen von Folgen von Handlungen oder Ereig-nissen (wie wir dies aus der Mathematik kennen) - es sei denn, wir hypostasierenderartige Reden auf pythagoräistische oder ,platonistische' Weise.

Wir werden in unseren Erläuterungen zu Kants Gebrauch der Worte Willkür, Wille,Freiheit und Kausalität das so genannte »principle of charity'9 zu beherzigen suchen: Eshandelt sich dabei um eine semantische Maxime, die zugleich eine wissenschaftsethischeist und besagt, daß wir die Reden anderer so ,kohärent wie möglich' interpretierensollten, ohne vorschnell deren Unverständlichkeit oder auch nur einen Dissens zuunseren Ein- oder Ansichten anzunehmen. Außerdem haben wir gelegentlich auchunsere Sprachform zur Disposition zu stellen und zu variieren, also auch andereAusdrucksweisen zu ,lernen', um sie mit der uns gewohnten vergleichen zu können. Dawir wissen, wie schwierig es schon in einem Dialog mit einem realen Gesprächspartnerist, ,alle möglichen' Mißverständnisse zu vermeiden, und da eine Interpretation nichtsanderes ist als eine (fiktive) Fortsetzung eines Dialogs mit dem Autor, ist diese Maximeeine notwendige Bedingung für jeden ernsten Verstehensversuch eines Textes, obwohlsie natürlich keine Garantie liefert dafür, daß die Interpretation ,richtig' ist - in dem(fiktiven!) Sinne, daß der Autor ihr zustimmen würde.

Die folgenden Spracherläuterungen, auch die von Kant gegebenen, enthalten leichteterminologische Normierungen zur Artikulation von Unterscheidungen, die der Klä-rung der behandelten begrifflichen Probleme dienen, und daher nicht als allgemeineBeschreibungen unseres tatsächlichen Redens gelesen werden sollten, zumal da dieses inallerlei Kontexten verschiedene Interessen und Probleme berücksichtigt und daher,allgemein betrachtet, als ,vage' erscheint. Derartige Normierungen sind mit Urteilskraftund nicht unter Verwendung einer (formalistischen) ,Goldwaage' mit unseren alltägli-chen Reden auf geeignete Situationen hin zu vergleichen, und zwar im Hinblick auf dieanvisierten Absichten. Im übrigen bilden sie keine (irgend zu Begründende') ,Theoriec,bestenfalls eine (übersichtliche) Ordnung wichtiger Unterscheidungen.

II. Handlungen, Intentionen und Zwecke

Sprechen wir von Handlungen, welche wir ausführen, so unterscheiden wir zwischenden Einzelhandlungen, dem Handeln qua Tun, und den diesem konkreten Tun von unsselbst meist vorab zugeordneten ,generischen Handlungen' (von Wright) oder auch,Handlungsschematac (Kamiah)10. Während die Rede von generischen Handlungendarauf hinweist, daß wir einzelnes Tun als ein Tun einer bestimmten Art verstehen,

9 Vgl. W. V. O. Quine, Word and Object, Cambridge, Mass (MIT) 1960, S. 59.10 Vgl. W.Kamlah/P.Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967, S. 58 ff.

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wenn und nur wenn wir es in das uns schon Bekannte einordnen, es jeweils unterbestimmten Gesichtspunkten in seinen (Einzel-)Umständen mit anderem Tun in ande-ren Situationen als gleich bewerten, verdeutlicht der (nicht allzu wörtlich zu verste-hende) Vergleich mit Fällen, in denen einübbare schematische Anweisungen die (rich-tige) Ausführung einer Handlung bestimmen, daß wir in der Regel lernen (müssen undkönnen), Handlungspläne auszuführen. Nur wenn einer über das Handlungsschemaverfügt, wenn er es ,in der Regel1, also wiederholt und in einem gewissen Sinneybeliebig' aktualisieren kann, sagen wir in einem Einzelfall, daß er (so ...) gehandelthabe. Wir nennen ein Tun dagegen eine bloße Verhaltung — Kant spricht dabeigelegentlich von einer ,Naturhandlung£l1 -, wenn es vom Akteur nicht bewußt unterein ihm verfügbares Handlungsschema gestellt ist, wenn wir nur in beobachtenderPerspektive sagen können, er verhalte sich gemäß dem ,(Verhaltens-)Schema X', etwawenn er X gar nicht tun wollte, die Verhaltung aber nicht verhindern konnte. Dies mag,wie im Fall von Widerfahrnissen, äußere, oder auch innere (etwa physiologische)Ursachen haben; es könnte auch daran liegen, daß er gar nicht weiß (sagen könnte), waser tut, vielleicht auch, weil er glaubt (sagen würde), etwas anderes zu tun, als er tut.

Mögliche generische Handlungen, die man auszuführen beabsichtigt, heißen Inten-tionen, ihre bei einem bloßen Aktualisierungs^ers^c^ oft bloß erhofften Ergebnisseheißen Zwecke — wobei gelegentlich auch die Handlung selbst ihr eigener Zweck seinkann. Vielfach gehören nicht nur das Vorgehen (der Handlungsversuch) und dieangestrebten Zwecke, sondern auch der erfolgreiche Abschluß begrifflich zur Hand-lung, was sich an der Bedeutung von ,Erfolgsverben', drastisch etwa am Beispiel:„jemanden töten", sehen läßt.

Vielfach sind uns (zielgerichtete) Handlungspläne nur dadurch möglich, daß wir siesymbolisch fassen, laut oder leise artikulieren: Die menschliche Sprache erlaubt es unsdabei, angestrebte oder erwartete Zustände bzw. Wege dahin - mehr oder wenigergenau - zu charakterisieren, etwa ,modellhaft' vorwegzunehmen und auf ihre Folgenoder ihren Wert hin zu beurteilen. Indem wir mit anderen oder still mit uns reden,können wir unser weiteres Tun überlegen oder planen. Bewußt handelnd tun wir dannall das, von dem wir (etwa auf eine Kontrollfrage hin) sinnvollerweise sagen könn(t)en,daß wir es tun, und zeigen könn(t)en, daß wir es tun können. - Ähnliches sagt auchKant: „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund der-selben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt einVermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein desVermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt esWillkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus derselben ein Wunsch."12

Kant nennt also (übrigens auch schon in den früheren Texten) die durch Motive oderGründe näher bestimmbare ,freie' Entscheidungsfähigkeit „Willkür", also die Fähigkeit,sich Zwecke zu setzen und zwischen verschiedenen vorab erwogenen und als (wenig-

11 Vgl. Anm.18 unten.12 Metaphysik der Sitten (im folgenden kurz: M.d.S.), Rechtslehre, AB 5 (Ak VI,213).

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stens gelegentlich oder in der Regel) ausführbar erkannten Handlungsmöglichkeiten zuwählen. „Willkürlich" nennen wir ja auch sonst die bloße, noch nicht näher qualifi-zierte, Entscheidung zwischen verschiedenen möglichen Handlungen. Dabei kannnatürlich einer auch eine Handlung X bewußt und intentional ausführen, ohne daß erselbst sie als ganze sich zum Zweck gesetzt hat, etwa wenn er Aufforderungen oderAnordnungen befolgt.

Es ist hier wichtig, sich die nicht sehr bekannte Tatsache zu vergegenwärtigen, daßauch Kant - wie übrigens schon Platon - (bewußtes) Denken und (reflektierendes)Überlegen als stille Rede mit sich selbst versteht, wie dies etwa folgende Stelle aus derAnthropologie zeigt: „Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt dievorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größtenMittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst... folglichsich auch innerlich Hören."1* - Obwohl man dann Sprechen selbst als ein speziellesHandeln verstehen kann, ist beides, Reden und Handeln, nur in einer Gemeinschaftvon Handelnden und Sprechenden möglich. Denn nur innerhalb dieser Gemeinschaftgibt es die Kriterien, nach denen wir bewerten, ob oder auch in welchem Sinne inverschiedenen Situationen - von einer Person oder von verschiedenen Personen - dasgleiche (erfolgreich) getan oder gesagt wurde.

III. Freiheit, Wille und Gründe

Nach Kant hat nun jede Einzelhandlung „ihren Zweck, und da niemand einen Zweckhaben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, soist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur,irgendeinen Zweck der Handlungen zu haben."14 - Frei ist die Willkür (eigentlich) nurdann, wenn sie nicht durch äußere Zwänge oder innere Triebe und Gewohnheiten^Dispositionen'), sondern durch den Willen, und das heißt in der Terminologie derMetaphysik der Sitten: durch eine eigenständige Beurteilung der Handlungsalternati-ven, bestimmt ist. Der Wille, als die Fähigkeit, Entscheidungen durch Gründe zubestimmen, ist, als solche, nicht sinnvoll als „frei" oder als „unfrei" zu bezeichnen. (In

13 BA 110 (Ak VII,192). Man beachte auch die Fortsetzung dieser Stelle: „Dem Taubgeborenen istsein Sprechen ein Gefühl des Spiels seiner Lippen, Zunge und Kinnbackens, und es ist kaummöglich, sich vorzustellen, daß er bei seinem Sprechen etwas mehr tue, als ein Spiel mitkörperlichen Gefühlen zu treiben, ohne eigentliche Begriffe zu haben und zu denken. Aberauch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder andere,und an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (daZeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen derVernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit voneinanderabstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach den seinen handelt, offenbar wird."

14 M. d.S.t Tugendlehre A 12 (Ak VI,384f.). Vgl. dazu auch A 5 (Ak VI,381): „Zweck ist einGegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einerHandlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird."

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den Kritiken gebraucht Kant das Wort „Wille" - ohne explizite Erläuterung - imwesentlichen im Sinne des Vollzugs der eben genannten Fähigkeit, also in der Bedeu-tung von ,durch Gründe bestimmte Willkür', daher kann dort noch sinnvoll von einem,freien Willen' gesprochen werden; in der Religionslehre vermeidet er das Wort „Wille"weitgehend; erst in der Metaphysik der Sitten spitzt er es - leicht - zu, so daß manzwischen der Fähigkeit der Bestimmung der Willkür durch Gründe und ihrem Vollzugin einer Handlung terminologisch unterscheiden kann. Daher meint hier »Wille*letztlich nichts anderes als praktische Vernunft'.)

Nun ist kaum sinnvoll zu bezweifeln, daß wir faktisch tatsächlich vielfach Entschei-dungen nach Vorüberlegungen fällen und das darauf folgene Tun dann keineswegs einebloße Verhaltung oder gar ein Widerfahrnis ist, sondern eine Handlung, daß es also soetwas wie freie Willkür ,gibt', was nichts anderes heißt, als daß der Ausdruck einesinnvolle Anwendung hat und eine wichtige Unterscheidung trifft.

Nun mag zuzugeben sein, daß Kant terminologisch etwas abrupt und vorschnell dieden Naturgesetzen gegenübergestellten ,Gesetze der Freiheit', der »praktischen Ver-nunft', als moralische auffaßt15, während doch auch technisch-praktische und damit,was die Zwecksetzungen angeht, »hypothetische' Imperative (Anweisungen) wesentli-cher Bestandteil einer umfassenden philosophischen Analyse freier Handlungen seinmüssen. Die folgenden Überlegungen versuchen zu verdeutlichen, daß dies wohl eherein Fehler der Betonung als ein grundsätzlicher Mangel der Begriffsanalyse Kants ist.

Zunächst ist wichtig: Der Sinn der Rede von Willkür, Wille und Freiheit zeigt sichnur in unseren Handlungen und in unseren Beurteilungen der Handlungen, und zwarbesonders deutlich in unserem rechtlichen und ethischen Urteilen: Hier ,erzwingt' jaallein schon die Bekanntheit mit den normativen Gesetzen eine Wahl, und zwarwenigstens zwischen dem Versuch, sie zu befolgen, oder diesen Versuch zu lassen. Diesist der Grund, warum Kant derartige Gesetze, etwa auch schon den (formalen)kategorischen Imperativ, als die ratio cognoscendi der Freiheit betrachtet: Durch reineBeobachtung läßt sich die Wahlfreiheit nämlich nicht entdecken, etwa von demjenigenunterscheiden, was Kant „arbitrium brutum" nennt. Damit ist die etwa auch auf Tiereanwendbare bloß »deskriptive' Rede gemeint, daß das Verhalten oder Tun ,auch andershätte ausfallen können', ohne daß damit näher spezifiziert wäre, was etwa an derSituation und den Voraussetzungen ebenfalls hätte anders sein müssen. Um alsodarüber zu urteilen, ob ein Tun eine Handlung ist, müssen wir einiges mehr über diealternativen Handlungsmöglichkeiten des Akteurs wissen, insbesondere über seineMöglichkeiten zu überlegen, was er denn (aus moralischen oder auch anderen, etwapragmatisch-technischen Gründen) tun solle - wobei natürlich die zu bedenkendenAlternativen (wenigstens grundsätzlich) ausführbar sein sollten. Eine ,freie Entschei-dung' ist also nur möglich, wenn man zwischen mehreren durch mehrmalige ,Proben*als verfügbar erkannten Handlungsalternativen aus Gründen wählt. Ein reines ,Sinnen-wesen', ein Tier oder auch eine Art Wolfsmensch, kann sich nicht im relevanten Sinne

15 M. d.S., Rechtslehre, AB 6 (Ak VI,214).

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,frei' entscheiden, und zwar nicht nur deswegen nicht, weil es uns seine Ȇberlegungen4

von Alternativen nicht mitteilen kann, sondern weil außerhalb unserer Praxis derIdentifizierung und Begründung reproduzierbarer Handlungen gar nicht bestimmt ist,was die Rede von einer Überlegung oder einer Entscheidung bedeuten soll.

Schon vor diesem Hintergrund halte ich es für verfehlt, wenn Prauss und andereKant vorwerfen, er schließe fälschlicherweise aus dem bloßen Postulat des Sittengeset-zes auf die Realität einer freien Willkür. Manche Stelle bei Kant legt zwar diese Kritiknahe, etwa auch die folgende Anmerkung aus der Religionslehre16: „Daß der Begriff derFreiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in unsvorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses —geschlossen werde: davon kann man sich bald überzeugen, wenn man sich fragt: obman auch gewiß und unmittelbar sich eines Vermögens bewußt sei, jede noch so großeTriebfeder zur Übertretung ... durch festen Vorsatz überwältigen zu können. Jeder-mann wird gestehen müssen, er wisse [es17] nicht... Gleichwohl aber gebietet ihm diePflicht unbedingt, er solle ihm treu bleiben; und hieraus schließt er mit Recht: er müssees auch können, und seine Willkür sei also frei."18 Das principle of charity aberverbietet es m. E., Kant zu unterstellen, er mißachte hier das ethisch-rechtliche Grund-prinzip, daß niemand über sein Vermögen zu etwas verpflichtet werden kann, undschließe aus der Verpflichtung (dann natürlich: fälschlicherweise) auf das betreffendeVermögen. Vielmehr ist die (kulturelle) Tatsache ethischer Beurteilungen von (generi-schen!) Handlungen (als gute oder schlechte) weder durch einen theoretischen ,Auf-weis' der Existenz menschlicher Freiheit begründungsbedürftig, noch ist sie durcheinen theoretischen Beweis ,widerlegbar(. Kant fährt fort: „Die, welche dieseunerforschliche Eigenschaft [der Freiheit der Willkür, P.S.] als ganz begreiflich vor-spiegeln, machen durch das Wort Determinismus (dem Satze der Bestimmung derWillkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierig-keit darin bestünde, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand denkt;sondern: wie der Prädeterminismy nach welchem willkürliche Handlungen als Begeben-heiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die, mit dem, wassie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die

16 Religionslehre I, B 59 (Ak VI,49f.).17 Einschub von mir, P. S.18 Inhaltlich das gleiche wie die zitierte Stelle aus der Religionsphilosophie sagt Kr. d. r. V. B 576:

Das Sollen „drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anderes als ein bloßerBegriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinungsein muß. Nun muß die Handlung allerdings unter Naturbedingungen möglich sein; aber dieseNaturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wir-kung und den Erfolg derselben in der Erscheinung. Es mögen noch so viel Naturgründe sein,die mich zum Wollen antreiben,.., so können sie nicht das Sollen hervorbringen, sondern nurein noch lange nicht notwendiges, sondern jederzeit nur bedingtes Wollen, dem dagegen dasSollen, das die Vernunft ausspricht, Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegensetzt." [...Die Vernunft] „macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die siedie empirischen Bedingungen hineinpaßt."

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Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewaltdes Subjekts sein muß, zusammen bestehen könne: das ist's, was man einsehen will, undnie einsehen wird." Mit anderen Worten, wer die aktualen Handlungen als durchHandlungsgründe (Pläne, symbolisch gefaßte Handlungsschemata) ,determiniertc vor-stellt, hat entweder kein zu lösendes Problem mehr, weil die Rede von der Freiheitgerade dies meint: daß wir intentional und aus Gründen handeln können; oder aber, erverwechselt den Begriff der Determination (Bestimmtheit) einer (Einzel-)Handlungdurch das ihr vom Handelnden mehr oder weniger ,bewußt' zugeordnete Handlungs-schema mit dem der Prädetermination von Begebnissen, etwa wenn er glaubt, Intentio-nen (und ihre Gründe) rein als (innere) Ereignisse ,begreifen' und ,erklären* zu können- was unmöglich ist, und zwar weil sie als solche nur in der gemeinsamen PraxisExistieren*. Ebensowenig lassen sich andere ,abstrakte* Gegenstände, etwa die Zahlen,empirisch (etwa psychologisch) erforschen, und zwar weil sie konstituiert sind durchdie Form einer menschlichen Praxis.

Wenn wir nun wissen, daß wir Gründe (die durchaus nicht immer nur rechtlich-moralisch zu sein brauchen, sondern auch technisch-pragmatischer Natur sein können)für eine Entscheidung zwischen möglichen Handlungen explizit erwägen sollten, umauf ihrer Basis zu handeln, spricht Kant von einer (freien und daher im Rahmen desVorhersehbaren zu verantwortenden) Tat.19 Bloß faktische (subjektive) Gründe oderMaximen einer Handlung sind dabei Zwecke, welche der Akteur aus allerlei Gründenals seine Zwecke in seinem Handeln verfolgt. Faktische Gründe und Handlungenkönnen bekanntlich auch bloß zufälligerweise gut* sein. ,Gute Gründe* dagegen habenexplizit (wenn auch faktisch immer nur fiktiv und idealiter) Bewertungen anderer (odergar ,aller anderen') zu berücksichtigen. Der gute Wille bzw. der Mensch, welcher einensolchen ,hat', unterstellt also sein Überlegen und Handeln (wenigstens im Grundsatz)dem Urteil der Gemeinschaft ,aller vernünftigen Wesen', der (qualifizierten*) intersub-jektiven Beurteilung der Maximen durch eine ,ideale* Sprechergemeinschaft.

Ein Mensch ist dann eine Person, soweit er Gründe verfügbar hat und sie ,vor sich' alsvor einem fingierten Gesprächspartner beurteilen kann. Dabei wissen wir im Einzelfallnatürlich keineswegs mit letzter Sicherheit, ob wir unser Handeln wirklich an ,gutenGründen* orientieren. Wir können daher in der Tat nicht nur bei anderen, sondern auchbei uns selbst nur in einem sehr begrenzten Rahmen darüber urteilen, ob der Wille, wirklich* (d.i.: idealiter) ,gut' oder ,böse' ist: Dies sieht Kant in der Religionsschriftganz richtig.20 Die Forderung, eine Person zu werden und andere als Personen, alsMitglieder einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen, zu betrachten und zu behandeln, istdann gerade der Inhalt des kategorischen Imperatives, den Kant nicht etwa postuliert,sondern als Faktum vernünftigen Urteilens in seiner Bedeutsamkeit analysiert. Hiergibt es dann in der Tat eine Art Grundsatzentscheidung zwischen ,gut' und ,böse',

19 „Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch,sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird." Metaphysikder Sitten, Einleitung, AB 33 (Ak VI,223).

20 Vgl. AB 5-8 (Ak VI,20ff.).

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nämlich die, ob man den kategorischen Imperativ grundsätzlich als Beurteilungskrite-rium seines Handelns anerkennt (und anzuwenden sucht) oder nicht. Und es läßt sichunser (empirischer) ,Hang zum Bösen* verstehen als eine Art Inkonsequenz: daß wirgelegentlich die bewußte Abweichung vom moralischen Gesetz in unsere faktischenMaximen aufnehmen.21

Kant erkennt dabei den Primat der praktischen Vernunft für das menschlicheHandeln überhaupt, im Ganzen gesehen also auch für die technisch-pragmatischeVernunft: Es gibt Handlungsfreiheit nur, weil uns eine Kulturgemeinschaft Handlungs-schemata zur Verfügung stellt, deren Beurteilung auch im zweckrationalen oder garegoistischen Anwendungsfall wenigstens partiell gemeinsamen Kriterien (etwa gemein-samen Erfahrungen) folgen muß, wenn wir den Zufälligkeiten* des bloßen ,Naturlau-fes', etwa auch unserer inneren Triebkräfte, entgehen wollen: Vernunft setzt Ausbil-dung, d. i. Kultur, voraus.22 Ja, nach Kant ist es sogar Pflicht jedes einzelnen Menschen,„sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit... immer mehr zur Menschheit,durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten: seine Unwissen-heit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern, und dies ist ihmnicht bloß die technisch-praktische Vernunft zu seinen anderweitigen Absichten (derKunst) anrätig, sondern die moralisch-praktische gebietet es ihm schlechthin undmacht ihn diesen Zweck zur Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zusein."23 Diese Pflicht begründet Kant so: „Das Vermögen, sich überhaupt irgend einenZweck zu setzen, ist das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede derTierheit). Mit dem Zwecke der Menschheit in unserer eigenen Person ist also auch derVernunftwille, mithin die Pflicht verbunden, sich um die Menschheit durch Kulturüberhaupt verdient zu machen,... d. i. eine Pflicht zur Kultur der rohen Anlagen seinerNatur, als wodurch das Tier sich allererst zum Menschen erhebt: mithin Pflicht an sichselbst."24

Da nun der Mensch qua Person per definitionem nach Gründen urteilt, erachtet ihnKant (gerade in der Religionsschrift) ,im Prinzip', aber keineswegs , Natur aus' fürgut. Nicht-moralisches Handeln erscheint letzten Endes als Mangel im vernünftigen

21 Vgl. dazu auch Religionslehre B 19 ff. (Ak VI,28f.) und 27 f. (Ak VI,32f.).22 Vgl. dazu: „Der logische Egoist hält es für unnötig, sein Urteil auch am Verstande anderer zu

prüfen; gleich als ob er dieses Probiersteins (criterium veritatis externum) gar nicht bedürfe . . .Man sage ja nicht, daß wenigstens die Mathematik privilegiert sei, aus eigener Machtvollkom-menheit abzusprechen; denn wäre nicht die wahrgenommene durchgängige Übereinstimmungder Urteile des Meßkünstlers mit dem Urteile aller anderen, die sich diesem Fache mit Talentund Fleiß widmeten, vorhergegangen, so würde sie selbst der Besorgnis, irgendwo in Irrtum zufallen, nicht entnommen sein." Anthropologie BA 7 (Ak VII,128 f.). Vgl. dazu auch BA 151 (Ak

23 M. d.S.f Tugendlehre A 15 (Ak VI,387).24 M. d. S., Tugendlehre, A 24 (Ak VI,392). Diese »absolute4 Pflicht ist so zu verstehen: Soweit

wir Anspruch erheben, Menschen zu sein und als solche geachtet zu werden, sind wir ver-pflichtet, uns kulturell zu bilden. Der Mensch als bloßes Lebewesen hat natürlich keinesolche Pflicht. „Allein", so betont Kant weiter, „diese Pflicht ist bloß ethisch, d. i. von weiterVerbindlichkeit. "

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Willkür und Wille bei Kant 313

Urteilen: Man verfehlt Sinn und Bedeutung der allgemeinen und eben nicht bloßsubjektivistischen Praxis der vernünftigen Bewertung von möglichen Gründen (Zwek-ken), wenn man nur einen Teil der relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt, etwa diesich an der individuellen Glückseligkeit orientierende Zweckrationalität. Ein Urteil ausbloß subjektivistischer (Zweck-)Rationalität bleibt in einem mehr oder minder weitenMaße der (unfreien) Natur des durch innere (An-)Triebe (Gewohnheiten) oder durchäußeren Zwang geleiteten Tieres verhaftet, das über die Folgen und Ziele seines Tunsnicht oder nur partiell verfügt. Humanität und Freiheit sind daher tatsächlich, ihremBegriff nach, nur im Rahmen gemeinsamer, also schon normativ verfaßter, Vernunftmöglich: Insofern wird der kategorische Imperativ sogar zu einer An ratio essendi fürmenschliche Freiheit.

IV. Regeln und Gesetzmäßigkeiten

Wie steht es nun aber mit der Eingangsfrage, wie man sich die Möglichkeit der Redevon einer freien Wahl angesichts des scheinbar ,totalen' Kausalzusammenhanges derErscheinungswelt vorzustellen hat, da doch alle ,Wirkungen' unserer Handlungen, jadiese selbst, immer auch als ,Ereignisse' in der Erscheinungswelt beschreibbar sind unddies ja auch sein müssen?

Die neuere Diskussion um die Überlegungen Wittgensteins zum Regelbegriff wirdm. E. gerade in diesem Zusammenhang bedeutsam. Sinnvollerweise können wir näm-lich zunächst nur dann von der Befolgung einer Regel sprechen, wenn es eineallgemeine Praxis der Einübung in das Handeln und der Beurteilung des Handelnsgemäß diesen Regeln gibt - und damit öffentliche Kriterien, nach denen wir dieAusführungsversuche als ^egelgemäß' oder ,regelwidrig' bewerten. Man denke z. B. anRegeln der Etikette, Regeln der korrekten Aussprache oder des korrekten Gebrauchselementarer sprachlicher Unterscheidungen, Regeln der Rechtschreibung, des Rech-nens usf. - Schematische Regeln wie die des rechnenden Umgangs mit Symbolen (seiendiese Wörter, Abakuskugeln oder Schreibzeichen) sind bekanntlich leicht gemeinsamlehr- und lernbar, die Richtigkeit der Regelbefolgung sicher beurteilbar. Dies macht dieBedeutsamkeit der Mathematik aus. Wir können dann sogar Maschinen entwerfen undherstellen, welche nach derartigen schematischen Regeln operieren.

Wenn wir nun in der Naturwissenschaft sagen, ein Geschehen verlaufe nach gewissenschematischen Regeln, ,mathematischen Gesetzen', so heißt dies natürlich nicht, daß,die Natur* in die Praxis der Befolgung dieser Regeln eingeführt oder von einemArchitekten so eingerichtet sei, daß sie den Regeln folgt. Und doch läßt sich daserfahrbare Naturgeschehen äußerst erfolgreich in der Form eines geregelten Ablaufsdarstellen, so also, als ob es entsprechenden Regeln folge: Viele dieser Darstellungensind so bewähn, daß es absurd wäre, wenn wir unser Handeln nicht an diesen Gesetz-oder Regelmäßigkeiten orientieren würden. - Gesetze und Regeln werden von uns derNatur vorgeschrieben'y wie Kant sagt, dies allerdings nur im technischen Fall in demSinne, daß wir planend bestimmen, was ein (funktionstüchtiges) Gerät tun soll. In den

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meisten anderen Fällen sagen wir mit Hilfe von Regelsystemen (Erklärungsmodellen),welche Zustandsbeschreibungen immer oder in einer gewissen Wahrscheinlichkeit'(gleichzeitig oder nach Ablauf einiger Zeit) auf ein in gewisser Weise beschriebenesGeschehen passen werden. Die Regeln leiten uns dabei an, wie eine Zustandsbeschrei-bung in andere umzuformen ist, wobei wir im stochastischen Fall (etwa im Bereich derQuantenphysik) den ,Folgeereignissen' bloß einen Erwartungs- oder Wahrscheinlich-keitswert zuordnen und diesen den erfahrenen Häufigkeiten anpassen. Schlußfolgernd*bewegen wir uns in der Sprache (bzw. im Modell), operieren mit Begriffen (Symbolen,oder Sätzen), etwa um im Rahmen eines so verfaßten ,objektiven', also insbesondereintersubjektiven Erfahrungswissens »Vorhersagen4 machen zu können und unser Han-deln daran zu orientieren. Für jeden objektiven Wissensanspruch sind öffentlichverständliche Regeln seiner Artikulation formale Vorbedingung.

Die Erfahrung im Umgang mit den Erfahrungstheorien zeigt uns dabei die Möglich-keiten und die Begrenzungen erfolgreicher Darstellungen des Naturgeschehens in derForm geregelter Abläufe. Gegen Humes These von der bloß gewohnheitsmäßigenVerknüpfung von Vorstellungen betont Kant dabei, daß es in der öffentlich geregeltenDarstellungsform der Erfahrungswelt Notwendigkeiten gibt, die nicht analytisch imtraditionellen Sinn der Logiker, also Deduktionen aus bloßen Namendefinitionen sind,sondern zur (synthetisch-apriorischen, z. B. mathematischen) Form der Darstellung derErfahrung gehören. Diese Darstellungsformen sind ihrerseits Produkte der Menschen,quasi Erfindungen, stehen aber, soweit sie kulturell vorgegeben sind, nicht im (völligen)Belieben des einzelnen, sind aber auch nicht völlig erfahrungsunabhängig.

Wenn wir nun aber sagen, menschliches Handeln sei selbst durch Naturgesetzebestimmt, und damit nicht bloß meinen, es sei vernünftig, in unserem Handeln jedwedebewährte Erfahrung zu berücksichtigen, dann benutzen wir eine zweifache, unddadurch irreführende, Fiktion: Wir tun dann nämlich so, als stünde hinter unserenEntscheidungen zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten noch ein Gesetz, dasdie Wahl als ein bloßes Geschehen erklären könnte.25 Nach Kant aber kann esNaturgesetze auch dann bloß als öffentlich schon formulierte geben, wenn wir zukünf-tige Möglichkeiten weiterer ,Entdeckungen* von Gesetzen vorab ausmalen (fingieren):Die Rede von der möglichen Existenz eines Gesetzes, das als solches nie vollständigangegeben werden könne, entzieht den Worten „Gesetz" und „Erklärung" ihren aufunsere öffentliche Erfahrungspraxis beschränkten Sinn und gibt ihnen einen ,transzen-denten'y überschwenglichen, Gebrauch, den Kant zu Recht als bloßes Gerede kritisiert.Diese Kritik richtet sich gegen die Annahme, es sei der ,ontologischec Gebrauch etwader Worte „Gesetz" oder „Wirklichkeit" unabhängig von unserer ,Kenntnisc der

25 Indem man ein Tun bloß als eine Verhaltung beschreibt, ohne das begleitende Denken desHandelnden zu berücksichtigen, hat man sich von vornherein für die bloß deskriptive Perspek-tive entschieden: Es lassen sich dann bestenfalls Verlaufsgesetze des Verhaltens als möglichejErklärungen* denken. Diese unberechtigte Beschränkung des Gesichtspunktes verwirrt allzuhäufig Forschung und Theorie der modernen Sozialwissenschaften.

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Gesetze bzw. der Wirklichkeit überhaupt verständlich. Schon Kant, nicht etwa erstCh. S. Peirce, erkennt daher, daß die Rede von einer , wissensunabhängigen* Wirklich-keit bestenfalls über (im einzelnen möglicherweise zu unterscheidende) idealisierendeExtrapolationen unserer faktischen Kenntnisse zu verstehen ist.

Kein objektives, also öffentlich formuliertes, empirisches Gesetz kann nun unserHandeln vorhersagen: Wir könnten ja immer versuchen, dem Vorhergesagten zuwiderzu handeln, und sei es nur, um das angebliche Gesetz zu widerlegen — oder aber umzu prüfen, ob, was wir vordem für eine Handlung hielten, sich im Lichte des Gesetzesnun doch als eine bloße Verhaltung herausstellt: Würden wir nämlich einem (nichttautologischen!) Gesetz grundsätzlich nicht zuwider handeln können, so müßten wirin diesem besonderen Fall einsehen, daß wir uns in der Bewertung des betreffendenTuns als freie Handlung getäuscht haben. - Es ist aber vernünftigerweise nicht damitzu rechnen, daß sich auf diese Weise nach und nach der Begriff der Handlung als leerund damit unsere Handlungsbeurteilungen als grundsätzlich falsch herausstellenkönnten.26 Ein Fatalist, der mit dieser Möglichkeit wirklich rechnen würde, begingeden logischen Fehler der ,sweeping generalization4: Damit würde er die faktischeMöglichkeit, daß wir uns häufig nicht haben anders verhalten können, als wir unsverhalten haben, ins Grenzenlose verallgemeinern. - Wer meint, wir hätten hierNachzuweisen', daß diese (skeptische) ,Annahme* des Fatalisten ein Fehler ist, würdehier die Beweispflichten falsch verteilen. Es ist ja nicht zu zeigen, daß der Fatalist oderder Skeptiker von seiner Weltsicht abrücken muß, sondern nur, daß ihre Sicht will-kürlich ist, nicht anders als etwa der Glaube an Engel und Dämonen: Damit werdenderartige Ansichten zu Idiosynkrasien, zu mehr oder weniger harmlosen Steckenpfer-den, die als solche keinerlei allgemeinen Anspruch auf (mögliche) , Wahrheit* mehrerheben können.

Der Fatalismus oder (Prä)determinismus läßt sich übrigens keineswegs mit demHinweis auf die moderne Quantenphysik »widerlegen*, also durch die These, Ereignis-folgen seien in einem gewissen Ausmaß nicht vorhersehbar, ja sogar nicht vorherbe-stimmt, und daher ,zufällig*. Denn die hier relevante begriffliche Unterscheidungzwischen natürlichen*, und das heißt: von unserem Wollen nicht beeinflußbaren,Ereignissen, und ^ultürlichen* Handlungen und Handlungsfolgen ist dadurch gar nichtberührt. Vielmehr ist die These von einer ,Vorherbestimmtheit* menschlicher Handlun-gen (wobei man auch ,Zufälligkeiten* berücksichtigen könnte) gar keine Feststellung*,die sich irgend begründen oder auch nur als möglicherweise wahr* annehmen ließe:

26 Als Gegenargument gegen diese Ansicht in Sachen Handlungsfreiheit sagt Kant in der Rezen-sion zu Johann Heinrich Schulz: „Selbst der hartnäckigste Skeptiker gesteht, daß, wenn es zumHandeln kömmt, alle sophistischen Bedenklichkeiten wegen eines allgemeinen täuschendenScheins wegfallen müssen. Ebenso muß der entschlossenste Fatalist, der es ist, solange er sichder bloßen Spekulation ergibt, dennoch, sobald es ihm um Weisheit und Pflicht zu tun ist,jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damiteinstimmige Tat hervor und kann sie auch allein hervorbringen." In feiner Ironie überderartige skeptische Spekulationen fügt Kant hinzu: „Es ist schwer, den Menschen ganzabzulegen."

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Soll es sich dabei nämlich nicht bloß um leeres Gerede handeln, so beinhaltet sieoffenbar einen nicht ,rein theoretisch* verstehbaren Aufruf zu einer Änderung (Aufhe-bung) unserer Unterscheidung zwischen Verhaltungen und (geplanten und begründe-ten) Handlungen und gewisser mit dieser Unterscheidung verbundener Beurteilungen.Hier erkennt Kant, daß die Annahme einer Prädetermination begrifflich inkompatibelist mit der Rede von einer (freien) Handlung27 - was offenbar etwas ganz anderes ist alseine Zwei-Welten- oder Zwei-Perspektiven-Lehre.

V. Ideale und Noumena

Nun gesteht aber Kant zu, daß „alle Handlungen des Menschen in der Erscheinungaus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach derOrdnung der Natur bestimmt [sind], und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkürbis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Hand-lung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehendenBedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Cha-rakters gibt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein denMenschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten und, wie es in der Anthropologiegeschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschenwollen. [...] Wenn wir aber eben diese Handlungen in Beziehung auf die Vernunfterwägen ... finden wir eine ganz andere Regel und Ordnung, als die Naturordnungist."28 - Wie sollte dieses Urteil noch zusammen bestehen können mit der Behauptungder Handlungsfreiheit? - Nun, es gilt dazu erstens den von Kant gebrauchten irrealenKonditionalsatz zu beachten, zweitens den Begriff des empirischen Charakters unddrittens die Bedingung „wenn wir lediglich beobachten":

Die Prämisse des irrealen Konditionalsatzes ist faktisch nie erfüllbar, da wir dazunicht nur ein unerreichbar umfangreiches Wissen im Bereich der empirischen Physiolo-gie und Psychologie besitzen müßten, sondern auch wissen müßten, welche Entschei-dungsmöglichkeiten dem Handelnden bewußt verfügbar sind und nach welchen Maxi-men er urteilt. Dazu aber müßten wir nicht nur seine Vorgeschichte, sondern beinahedie gesamte Kulturgeschichte der Menschheit kennen. Dies ist nicht nur faktischunmöglich, es ist auch eine Erklärung auf der Basis der Kulturgeschichte von kategorial

27 Dies, und nicht etwa die Begrenzung unseres Verstandes, ist der Grund, warum wir dasZusammenbestehen von (verantwortlicher) Freiheit und Prädetermination nicht einsehenkönnen.

28 Kr. d. r. V. B 578. Vgl. dazu auch den Beginn von Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte inweltbürgerlicher Absicht: „Was man sich auch in metaphysischer Absicht für einen Begriff vonder Freiheit des Willens machen mag: so sind doch die Erscheinungen desselben, die menschli-chen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturge-setzen bestimmt. Die Geschichte ... läßt... von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheitdes menschlichen Willens im großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang desselben entdek-ken könne..." (Ak VIII,17).

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anderer Art als eine Erklärung bloß auf der Basis der (physikalischen) Naturwissen-schaften.29

Bedeutsamer ist, daß unsere Rede von einem (empirischen) Charakter nur als eineideale Modellkonstruktion zum Zwecke der Darstellung unseres anthropologischenErfahrungswissens, also nur als izqon de parier und nicht als eine Art jRealität* (wie beiSchopenhauer oder Hume) zu verstehen ist.30 Obendrein ist, wie Kant betont31, derempirische Charakter nicht unabhängig vom ^ntelligiblen' Charakter der Person, d. h.davon, was sie denkt. Die zitierte Stelle sagt daher nicht viel mehr, als daß dasidealisierte empirische Erklärungsmodell des Tuns der Person in einer Art formalemWiderspruch steht zur ideellen Rede davon, die Person sei in ihrem Handeln frei. Diesliegt daran, daß wir, wenn wir bloß beobachten, und nicht etwa miteinander sprechenund handeln, kein Kriterium zur Verfügung haben, um zwischen einem arbitriumbrutum und einer freien Entscheidung bzw. Handlung zu unterscheiden. Daher erlaubtes die Form einer (rein) empirischen Forschung und die theoretische* Darstellung ihrerErgebnisse nicht, Handlungen als solche zu erfassen. Aber offenbar wäre es einFehlschluß, auf die Nichtexistenz einer Tatsache zu schließen, nur weil sie grundsätz-lich nicht direkt wahrgenommen und auch nicht in einer auf eine gewisse Weisebeschränkten Ausdrucksform angemessen zur Sprache gebracht werden kann.

Wie den idealen empirischen Charakter betrachtet Kant auch das allgemeinereKausalgesetz nur als regulatives Darstellungsprinzip*2 oder eben als Ideal der Naturfor-schung. Die Rede über derartige Ideale ist zwar nicht geradezu sinnlos. Aber es gilt, sie

29 Allerdings ist die Ansicht einflußreich, man solle die Kultur- und Sozialwissenschaften metho-disch den Naturwissenschaften angleichen. Warum aber sollten wir dies tun? Was gewinnenwir, wenn wir verlernen, den Unterschied zwischen einer kausal-prognostischen und einerhistorisch-verstehenden Erklärung zu verstehen?

30 Der empirische Charakter eines Menschen ist „eine gewisse Kausalität seiner Vernunft, so ferndiese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt" (Kr. d. r. V. B 578). Man beachtedazu auch: „Ich sage aber: das Naturgesetz bleibt, es mag nun das vernünftige Wesen ausVernunft, mithin durch Freiheit, Ursache der Wirkungen der Sinnenwelt sein, oder es mag dieseauch nicht aus Vernunftgründen bestimmen. Denn ist das erste, so geschieht die Handlung nachMaximen, deren Wirkung in der Erscheinung jederzeit beständigen Gesetzen gemäß sein muß;ist das zweite, ... so ist sie den empirischen Gesetzen der Sinnlichkeit unterworfen, und inbeiden Fällen hängen die Wirkungen nach beständigen Gesetzen zusammen; mehr verlangenwir aber nicht zur Naturnotwendigkeit, ja mehr kennen wir an ihr auch nicht [Hervorhebungvon mir, P. S.]. Aber im ersten Fall ist Vernunft die Ursache dieser Naturgesetze und ist alsofrei, im zweiten Falle laufen die Wirkungen nach bloßen Naturgesetzen der Sinnlichkeit, darum,weil die Vernunft keinen Einfluß auf sie ausübt" (Kr. d. r. V. A 155 f.).

31 Kr. d. r. V. B 556.32 Soweit wir zur Identifizierung von Gegenständen im Zeitlauf auf kausale Gesetzmäßigkeiten

angewiesen sind, sind diese konstitutiv für den Gegenstandsbegriff der Erfahrung. Insgesamtaber sind die Analogien der Erfahrung und damit auch das Kausalgesetz bloß regulativeOrdnungsprinzipien: „Eine Analogie der Erfahrung wird also nur eine Regel sein, nach welcheraus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung (nicht wie Wahrnehmungen selbst, als empirischeAnschauung überhaupt) entspringen soll, und als Grundsatz von den Gegenständen (derErscheinungen) nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ gelten. Eben dasselbe aber wird auch

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richtig zu verstehen. Dazu gehört die Einsicht, daß ihre Hypostasierung, die Unterstel-lung ihrer Realität, die Grenzen unserer semantischen Möglichkeiten, die Grenzen derVernunft, überschreitet: Es ist bekanntlich die Reihe der möglichen und nötigenVerbesserungen unserer gesetzesartigen Naturerklärung nie abgeschlossen.33 Sprechenwir von dem idealen Ziel einer vollständigen Kausalerklärung, so reden wir so, als seidie Reihe abschließbar. Der Fall ist analog zu anderen Reden von einem fiktivenAbschluß eines nicht begrenzten Prozesses, etwa wenn wir in der Geometrie überunendliche Flächen und in der Arithmetik über unendliche Mengen sprechen: Manspricht dabei, was Kant ebenfalls schon gesehen hat, über die Form der Fortsetzunggewisser (Denk-)Operationen und nicht über ein aktual existierendes Unendliches.

Eine als vollständig fingierte Weltbeschreibung oder -Erklärung ,gibtc es demnachnach Kant nur in der rein intellektualen (intelligiblen) Welt bloßer Noumena, sie ist nur,denkbar'. Die ,Existenzc von Noumena bedeutet dabei nicht mehr, als daß man innominalisierter Form von ihnen redet, und zwar möglichst auf nicht gänzlich sinnloseWeise. So denkt man sich Dinge an sich oder eine Wirklichkeit an sich ,hinter4 denErfahrungen - und doch gibt es diese Dinge bloß in diesem Gedanken, dieser fa9on deparier. Analog denkt man sich die Persönlichkeit eines Menschen, etwa des Sokrates,den ,homo noumenon', als nicht sterblich, weil wir ja auch dann noch über ihn redenkönnen, wenn er längst tot ist und insofern nicht mehr existiert.34 Und es gibt auch,reine Verstandesgegenstände' wie etwa einen ,reinen Willen', einen ,idealen Staat*(,respublica noumenon') oder auch ,Gott' nur in unserer Art, über derartige ideelle oder

von den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt ... gelten, nämlich daß sie nurregulative Grundsätze sind, und sich von den mathematischen, die konsumtiv sind, zwar nichtin der Gewißheit, welche in beiden a priori feststehet, aber doch in der Art der Evidenz, d. i.dem Intuitiven derselben (mithin auch der Demonstration), unterscheiden" (Kr. d. r. V. B223 f.).

33 Vgl. dazu auch: Kritik der Urteilskraft §80: „Die Befugnis, auf eine bloß mechanischeErklärungsart aller Naturprodukte auszugehen, ist an sich ganz unbeschränkt; aber dasVermögen, damit allein auszulangen, ist ... deutlich begrenzt" (Ak V,417).

34 Vgl. dazu auch M. d. 5., Tugendlehre, §3 (Ak VI,418): Als homo noumenon, als Persönlichkeit,ist der Mensch mit innerer Freiheit begabt und der Verpflichtung fähig „und zwar gegen sichselbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet: so daß der Mensch ... eine Pflicht gegen sichselbst anerkennen kann." Ferner A 85 (Ak VI,430): „Der Mensch als moralisches Wesen (homonoumenon), kann sich selbst, als physisches Wesen (homo phainomenon) nicht als ein bloßesMittel (Sprachmaschine) brauchen das an den inneren Zweck (der Gedankenmitteilung) nichtgebunden wäre, sondern ist ... gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet." Und A 94(Ak VI,434f.): „Allein der Mensch als Person betrachtet ist über allen Preis erhaben, ... d. i. erbesitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert)..." Ferner: „Nun ist aber der gute Name einangeborenes äußeres obzwar bloß ideales Mein oder Dein, was dem Subjekt als einer Personanhängt, von deren Natur, ob sie mit dem Tode gänzlich aufhöre zu sein, ... ich gänzlichabstrahieren muß, weil ich, im rechtlichen Verhältnis auf andere, jede Person bloß nach ihrerMenschheit, mithin als homo noumenon wirklich betrachte, und so ist jeder Versuch, ihn nachdem Tode in übele falsche Nachrede zu bringen, immer bedenklich, obgleich eine gegründeteAnklage desselben gar wohl stattfindet." M.d.S., Rechtslehre, A 137 (Ak VI,295).

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ideale Dinge zu reden, wobei diese Reden offenbar rein formal als »gegenständlich* zuverstehen sind. Recht verstanden sind sie aber durchaus bedeutsam, dienen sie derArtikulation und Analyse unseres Selbstverständnisses.

Nun ist gerade auch die Freiheit eine noumenale Idee, d. h. sie ist bloß ein Gegen-stand rein vernunftbezogener (Meta-)Rede. Und doch gilt, wie Kant in der Kritik derUrteilskraft?5 sagt, daß „die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besonderen Artder Kausalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich seinwürde) sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft, und diesen gemäß, inwirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung, dartun läßt. - Die einzige unter allenIdeen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist, und unter die Scibilia mitgerechnet werden muß." Es macht nämlich einen wesentlichen Unterschied in der Welt,ob wir unter der Idee der Freiheit und Verantwortlichkeit handeln und urteilen, odernicht; - so daß hier - merkwürdig genug - die Reflexion auf unser Tun auf der Basisethischer Ideen das Handeln selbst im weiteren Verlauf beeinflussen kann.

Wenn sich nun Ideale widersprechen, wie das Ideal des Kausalgesetzes und die Ideeder Freiheit, so bedeutet das nur, daß sie verschiedene, miteinander unverträgliche,Bereiche pragmatischer Rede idealisieren: Die Anwendbarkeit der Freiheitsidee istdurch Kausalerklärungen und die kausale Erklärbarkeit durch die Anwendbarkeit derFreiheitsidee begrenzt. Es hat also nicht dasselbe Tun eine Kausalerklärung undzugleich eine Erklärung in den Zwecksetzungen des Handelnden, sondern, wenn dasTun verstanden werden muß als begründetes (ideologisches) Handeln nach Vorüberle-gungen, so können kausalgesetzliche Bedingungen nur als notwendige Vorbedingungenfür die Ausführbarkeit der Handlung und nicht als seine hinreichende Erklärungangesehen werden.36

Jetzt klärt sich auch auf, warum Kant den wesentlichen Unterschied zwischenUrsachen in der Welt der Erscheinungen und der ,Kausalität aus Freiheit* darin sehenkann, daß letztere nicht unter den Bedingungen der Zeitbestimmung steht: KausaleUrsachen sind typische Ereignisse in der rein deskriptiv erfaßten phänomenalen Welt,welche im Einzelfall den Wirkungen zeitlich vorangehen müssen. Natürliche Motiveoder Dispositionen sind natürliche Ursachen in diesem Sinne, nicht aber der Wille, alsodie bedachten und bewerteten Maximen und Gründe, welche die Willkür bestimmen:Hier geht nur das Fassen des Gedankens, nicht der Gedanke selbst der Handlung voran.Gedanken und damit auch Gründe und Maximen existieren' eben nur im Bereichder allgemeinen Urteilspraxis, sie sind Noumena, und es gibt sie als solche nicht

35 B 457 (Ak V,468).36 Auf analoge Weise können zwei Darstellungsweisen raumzeitlicher Verhältnisse wie etwa die

traditionelle ,euklidische' und die »relativitätstheoretische* mathematisch betrachtet inkompati-bel sein, und doch ist die These sinnlos, daß nur eine von beiden wahr sein könne. Es liegen denmathematischen Idealisierungen hier nur verschiedene praktische Verfahren und Erfahrungender Raum- und Zeitmessung zugrunde, was dann auch bei der Anwendung der modellinternenmathematischen Rechnungen zu berücksichtigen ist.

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in Raum und Zeit37, ebensowenig wie die idealen Gegenstände der reinen Mathematikoder irgendwelche andere abstrakten Gegenstände.

Wenn Kant dann noch (in der Fortsetzung der im 3. Abschnitt besprochenenAnmerkung aus der Religionsschrift) erklärt, die Idee Gottes sei (formal) konsistent mitdem Begriff der Freiheit, weil sie jeder Zeitbestimmung entbehrt, unterstellt er keines-wegs, wie mancher glauben mag, die reale Existenz eines derartigen Gottes. Vielmehrrekonstruiert er die Rede von Gott als bloße fagon de parier über unsere (ideale)transsubjektive und überzeitliche Bewertung von generischen Handlungen als mora-lisch gute oder schlechte. In der Anwendung dieser Rede auf eine Einzelhandlungmögen wir dann auch fingieren, daß ein solcher ,Gott* die stillen Überlegungen derhandelnden Personen kenne, also die (generischen!) Intentionen, welche die Handlungals solche wesentlich (begrifflich) bestimmen. Eine ,göttliche Vorsehung4 ,gibt£ esallerdings so wenig wie den Prädeterminismus: Ihre ,Annahme* führt zu begrifflichen(sprachlichen) Verwirrungen.

Weder in der Religionsschrift noch sonst in seiner praktischen Philosophie hat Kantirgendeine der wesentlichen Prinzipien oder Einsichten der Kritik der reinen Vernunftaufgegeben oder geändert. Er ,beweistc z. B. keineswegs die Existenz Gottes durch ,dieHintertüre', unter Verwendung von dessen angeblicher Notwendigkeit zur Begrün-dung' der Moral. Derartige Lesarten rühren vielfach daher, daß man sich nicht klarmacht, was es gerade auch nach Kant heißt, über Ideen, etwa die eines Gottes, derFreiheit und Verantwortlichkeit, der Unsterblichkeit der Person als solcher, oder,andererseits, über Ideale wie dem einer vollständigen Naturbeschreibung zu sprechen,und daß es diese nur ,gibt£, wenn diese Art zu sprechen einen pragmatischen und alssolchen von uns beurteilbaren Sinn, einen ,Sitz im Leben', hat.

37 Vgl.: „Das Verhältnis der Handlung zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis: hiergeht das, was die Kausalität bestimmt, nicht der Zeit nach vor der Handlung vorher, weil solchebestimmende Gründe nicht Beziehung der Gegenstände auf Sinne, mithin nicht Ursachen in derErscheinung, sondern bestimmende Ursachen, als Dinge an sich selbst, die nicht unter Zeitbe-dingungen stehen, vorstellen" (Kr.d.r. V. A 157).

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