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willy brandt Berliner Ausgabe

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willy brandt

Berliner Ausgabe

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willy brandt

Berliner AusgabeHerausgegeben vonhelga grebing, gregor schöllgen

und heinrich august winkler

Im Auftrag derBundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung

band 1:Hitler ist nicht Deutschland.Jugend in Lübeck – Exil in Norwegen 1928 – 1940band 2:Zwei Vaterländer.Deutsch-Norweger im schwedischen Exil –Rückkehr nach Deutschland 1940 – 1947band 3:Berlin bleibt frei.Politik in und für Berlin 1947 – 1966band 4:Auf dem Weg nach vorn.Willy Brandt und die SPD 1947 – 1972band 5:Die Partei der Freiheit.Willy Brandt und die SPD 1972 – 1992band 6:Ein Volk der guten Nachbarn.Außen- und Deutschlandpolitik 1966 – 1974band 7:Mehr Demokratie wagen.Innen- und Gesellschaftspolitik 1966 – 1974band 8:Über Europa hinaus.Dritte Welt und Sozialistische Internationaleband 9:Die Entspannung unzerstörbar machen.Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1974 – 1982band 10:Gemeinsame Sicherheit.Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1982 – 1992

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Berliner Ausgabeband 4

Auf dem Weg nach vornWilly Brandt und die SPD1947 – 1972

Bearbeitet vondaniela münkel

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

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Die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung bedankt sich für die groß-zügige finanzielle Unterstützung der gesamten Berliner Ausgabe bei:

Frau Ursula Katz, Northbrook, IllinoisAlfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, EssenOtto Wolff von Amerongen-Stiftung, KölnBankgesellschaft Berlin AGDeutsche Bank AG, Frankfurt/MainDeutsche Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, HamburgHerlitz AG, BerlinMetro AG, KölnSchering AG, Berlin

Die Deutsche Bibliothek – CIP-EinheitsaufnahmeWilly Brandt:Auf dem Weg nach vorn:Willy Brandt und die SPD; 1947–1972/Willy Brandt. Bearb. von Daniela Münkel. –Bonn: Dietz, 2000 (Willy Brandt; Bd. 4)ISBN 3–8012–0304–2

# Copyright der deutschsprachigen AusgabeVerlag J.H.W. Dietz Nachfolger GmbH, Bonn# Copyright für alle übrigen SprachenBundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, BerlinLektorat: Dr. Heiner LindnerUmschlag und Layout-Konzept:Groothuis & Consorten, HamburgSatz: Medienhaus Froitzheim AG, Bonn, BerlinDruck und Verarbeitung: Ebner UlmPrinted in Germany 2000

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Inhalt

Willy Brandt – Stationen seines Lebens 7

Geleitwort des Vorstandsvorsitzenden derBundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung 11

Vorwort der Herausgeber 15

daniela münkel

Einleitung„Sozialdemokratie auf dem Weg nach vorn“.Willy Brandt und die SPD 1947–1972 17

Verzeichnis der Dokumente 67

Dokumente 79

Anmerkungen 529

AnhangÜbersicht über Wahlergebnisse 594Quellen- und Literaturverzeichnis 599Abkürzungsverzeichnis 611Editionsgrundsätze 616Personenregister 621Sachregister 646Bildnachweis 657Angaben zur Bearbeiterin und zu den Herausgebern 659

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Willy Brandt – Stationen seines Lebens

1913 Am 18. Dezember in Lübeck als Herbert Ernst KarlFrahm geboren

1929 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) in Lü-beck

1930 Eintritt in die SPD1931 Wechsel zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands

(SAP);Vorsitzender ihres Jugendverbandes in der Hansestadt

1932 Abitur am Lübecker Reform-Gymnasium „Johanneum“1933–1945 Flucht ins Exil nach Norwegen und von dort 1940 nach

Schweden;unter dem Namen Willy Brandt Widerstand gegen dasNS-Regime;Mitglied der Exil-Leitung des SAP-Jugendverbandes unddes Internationalen Büros revolutionärer Jugendorgani-sationen;seit 1939 Koordinator für Inlandsarbeit der SAP;umfangreiche journalistische und publizistische Tätigkeit

1936 Illegaler Aufenthalt in Berlin1937 Als Berichterstatter für norwegische Zeitungen und Be-

auftragter der SAP im Spanischen Bürgerkrieg1938 Sekretär der norwegischen Volkshilfe;

Ausbürgerung durch die Nationalsozialisten1940 Norwegische Staatsbürgerschaft1942–1945 Sekretär der „Kleinen Internationale“ in Stockholm1944 Eintritt in die Landesgruppe deutscher Sozialdemokra-

ten in Schweden;Verbindungen zur Widerstandsgruppe des 20. Juli

1945 Nach Kriegsende Rückkehr nach Oslo1945–1946 Berichterstatter für skandinavische Zeitungen aus

Deutschland, u. a. über das Internationale Kriegsver-brechertribunal in Nürnberg

7 Willy Brandt – Stationen seines Lebens

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1947 Presseattaché an der norwegischen Militärmission inBerlin

1948 Vertreter des SPD-Parteivorstandes in Berlin;Wiedereinbürgerung

1949–1957,1961 Vertreter Berlins im Deutschen Bundestag1950–1969 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses1954–1958 Stellvertretender Landesvorsitzender der Berliner SPD1955–1957 Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses1957–1966 Regierender Bürgermeister von Berlin1957–1958 Vorsitzender des Bundesrats1958–1963 Präsident des Deutschen Städtetages1958–1964 Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der SPD1958–1992 Mitglied des Parteivorstandes der SPD1960, 1964,1969 Nominierung zum Kanzlerkandidaten der SPD1962–1964 Stellvertretender Vorsitzender der SPD1964–1987 Vorsitzender der SPD1966–1969 Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler in der

Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD1966–1976 Vizepräsident der Sozialistischen Internationale1969–1992 Mitglied des Deutschen Bundestages1969 Wahl zum Bundeskanzler und Beginn der sozial-libe-

ralen Ära1970 Erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen in Erfurt und Kassel;

Unterzeichnung des Moskauer und des WarschauerVertrages;Wahl zum „Mann des Jahres“ durch „Time“ (USA) und„L’Express“ (Frankreich)

1971 Verleihung des Friedensnobelpreises;Ehrenbürger von Berlin

1972 Erfolgloses Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen denBundeskanzler;Sieg der SPD bei den vorgezogenen Wahlen zum Deut-schen Bundestag;

8 Willy Brandt – Stationen seines Lebens

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Wiederwahl zum Bundeskanzler;Ehrenbürger von Lübeck

1973 Inkrafttreten des Grundlagenvertrages;Beitritt beider deutscher Staaten zu den Vereinten Na-tionen;Unterzeichnung des Prager Vertrages

1974 Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers1976–1992 Präsident der Sozialistischen Internationale1977–1983 Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission1979–1983 Mitglied des Europäischen Parlaments1983, 1987 Alterspräsident des Deutschen Bundestages1985 Auszeichnung mit dem Albert-Einstein-Friedenspreis1987–1992 Ehrenvorsitzender der SPD1990 Ehrenvorsitzender der SPD in der DDR;

Alterspräsident des ersten gesamtdeutschen Bundesta-ges

1991 Auf Antrag Brandts und anderer Entscheidung desDeutschen Bundestages für Berlin als Sitz von Regierungund Parlament

1992 Am 8. Oktober in Unkel bei Bonn verstorben

9 Willy Brandt – Stationen seines Lebens

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Geleitwort

Die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung (BWBS) wurde im Jahre1994 vom Deutschen Bundestag als rechtsfähige Stiftung des

öffentlichen Rechts ins Leben gerufen. Ihr Sitz ist im Rathaus Schö-neberg in Berlin. Die Stiftung hat nach ihrem Errichtungsgesetz dieAufgabe, das Andenken an das Wirken Willy Brandts für Freiheit,Frieden und Einheit des deutschen Volkes, die Sicherung der Demo-kratie in Europa und der Dritten Welt, die Vereinigung Europas so-wie die Verständigung und Versöhnung unter den Völkern zu wah-ren. Sie soll damit einen Beitrag zum Verständnis der Geschichte des20. Jahrhunderts und der Entwicklung der Bundesrepublik Deutsch-land leisten.

Am 26. September 1995 ernannte Bundespräsident RomanHerzog die Mitglieder des ersten Kuratoriums, die aus ihrer MitteBundespräsident a. D. Dr. h c. Walter Scheel zum Vorsitzendenwählten. Am gleichen Tag berief das Kuratorium die Mitglieder desVorstandes. Die Stiftung hat sich seither zu einer bedeutenden In-stitution der historisch-politischen Bildung und der wissen-schaftlichen Forschung entwickelt.

Der Nachlass Willy Brandts wird im Willy-Brandt-Archiv (WBA)im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung auf-bewahrt und der Forschung zur Verfügung gestellt. Er umfasst rund400 laufende Aktenmeter, deren Auswertung zu den wichtigstenAufgaben der BWBS gehört. Dies geschieht vornehmlich durch dieArbeit an der Edition „Willy Brandt – Berliner Ausgabe“. Kuratoriumund Vorstand schätzen sich glücklich, die Professoren Dr. HelgaGrebing, Dr. Gregor Schöllgen und Dr. Heinrich August Winkler alsHerausgeber der zehnbändigen Edition gewonnen zu haben.

Um den gesetzlichen Auftrag der politischen Bildung zu ver-wirklichen, richtet sich die Berliner Ausgabe nicht in erster Linie anWissenschaftler, sondern an eine breite historisch-politisch inter-essierte Öffentlichkeit, ohne dabei den Anspruch auf wissen-schaftliche Zuverlässigkeit aufzugeben. Angesichts der Fülle des im

11 Geleitwort des Vorstandsvorsitzenden der BWBS

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WBA und in anderen Archiven überlieferten Materials wurde daraufverzichtet, die Berliner Ausgabe als Gesamtausgabe oder historisch-kritische Edition des schriftlichen Vermächtnisses von Willy Brandtzu konzipieren. Das Werk ist nach zeitlichen und thematischen Ge-sichtspunkten gegliedert. Die Bände vereinen die unterschiedlichstenQuellengruppen wie Briefe, Notizen, Redemanuskripte und Memo-randen.

Als Bearbeiter der Edition wurden hochqualifizierte Wissen-schaftler verpflichtet. Die Herausgeber übernehmen die inhaltlicheVerantwortung für die Edition.

Die Berliner Ausgabe hätte in einem angemessenen Zeitraumohne die großzügigen Zuwendungen von Sponsoren nicht verwirk-licht werden können. Ihnen allen bin ich zu großem Dank ver-pflichtet, im Besonderen Frau Ursula Katz aus Northbrook, Illinois,der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Otto Wolffvon Amerongen-Stiftung sowie den Unternehmen Bank GesellschaftBerlin AG, Deutsche Bank AG, Deutsche Druck- und Verlagsgesell-schaft, Herlitz AG, Metro AG und Schering AG.

Die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit, die zwi-schen der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung besteht, hat sich auch bei der Bearbeitung der BerlinerAusgabe hervorragend bewährt. Besonderer Dank für ihre tatkräftigeUnterstützung gebührt meinem Kollegen im Vorstand, Herrn Pro-fessor Dr. Dieter Dowe, dem Leiter des Historischen Forschungszen-trums der Friedrich-Ebert-Stiftung, sowie Frau Gertrud Lenz M.A., derwissenschaftlichen Referentin im Willy-Brandt-Archiv, und ihrenMitarbeitern.

Nach dem Editionsplan soll die Gesamtbearbeitungszeit für dieBerliner Ausgabe lediglich sieben Jahre betragen. Die zeitgerechteRealisierung dieses ehrgeizigen Planes ist nur durch das großzügigeEntgegenkommen zahlreicher Archive möglich, die den Bearbeiternder Bände zum Teil noch vor Ablauf der üblichen Sperrfrist erlauben,Einblick in die einzelnen Bestände zu nehmen. Namentlich hervor-heben möchte ich in diesem Zusammenhang den früheren Präsiden-ten des Bundesarchivs, Herrn Professor Dr. Friedrich P. Kahlenberg,

12 Geleitwort des Vorstandsvorsitzenden der BWBS

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und den Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, HerrnVortragenden Legationsrat Dr. Hans Jochen Pretsch.

Für die hervorragende verlegerische Betreuung der BerlinerAusgabe danke ich Herrn Dr. Heiner Lindner, dem früheren Ge-schäftsführer des Verlags J.H.W. Dietz Nachfolger, der heute die Aus-gabe als Lektor betreut. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag zeich-net sich durch gegenseitiges Vertrauen und Offenheit für An-regungen und Vorschläge aus.

Sehr herzlich möchte ich auch den Herausgebern sowie den Be-arbeitern Dank sagen – unter ihnen Frau Dr. Daniela Münkel undHerrn Professor Dr. Einhart Lorenz, die mit der Bearbeitung der er-sten beiden nunmehr vorliegenden Bände gleichsam „Pionierarbeit“für die Gesamtedition geleistet haben. Mein Dank gilt in gleicherWeise den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Stiftung Dr.WolframHoppenstedt, Carsten Tessmer und Dr. Bernd Rother. Sie alle stellenihr hervorragendes Wissen und ihre ganze Kraft in den Dienst derEdition.

Mein großer Wunsch ist, dass die Berliner Ausgabe möglichstvielen Lesern den Zugang zum Leben und zur Politik Willy Brandtsund damit zu bedeutenden Abschnitten der Geschichte des 20. Jahr-hunderts erleichtert. Möge die Edition aber auch ein Anreiz zu einerkritischen Auseinandersetzung mit der Periode der Zeitgeschichtesein, die auf das Engste mit dem Namen Willy Brandt verbunden ist.

Berlin, im August 2000Präsident a. D. Dr. Gerhard GroßVorsitzender des Vorstandes der

Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung

13 Geleitwort des Vorstandsvorsitzenden der BWBS

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Vorwort der Herausgeber

Willy Brandt zählt zu den großen Persönlichkeiten und be-deutenden Staatsmännern des 20. Jahrhunderts. Sein Name

ist untrennbar verbunden mit der Sicherung des Friedens, der Ver-teidigung der Freiheit und dem unablässigen Bemühen um mehr so-ziale Gerechtigkeit. Seine Entwicklung vom jungen Linkssozialisten,den seine politische Überzeugung und der Kampf gegen die natio-nalsozialistische Diktatur in die Emigration führte, zum RegierendenBürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später derSozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist eine der bemerkens-wertesten Politikerkarrieren des 20. Jahrhunderts.

Die durch den Deutschen Bundestag 1994 ins Leben gerufeneBundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, in deren Auftrag die Heraus-geber die Berliner Ausgabe vorlegen, will mit dieser Edition die Be-deutung Willy Brandts für die Geschichte des 20. Jahrhunderts do-kumentieren und einer breiten historisch-politisch interessiertenÖffentlichkeit zugänglich machen. An diesem Zweck orientiert sichdie auf zehn Bände angelegte Auswahl wichtiger Reden, Artikel undBriefe Willy Brandts.

Die Berliner Ausgabe wird jene innenpolitischen Weichen-stellungen beleuchten, die wesentlich von Willy Brandt her-beigeführt wurden. Sie wird zugleich deutlich machen, dass seinvorrangiges politisches Interesse nicht erst seit seinen Berliner Tagenim Bereich der Deutschland- und Außenpolitik lag. Das Augenmerkder Dokumentation gilt weiter dem Parteiführer, der die SPD in ihrerBinnenstruktur modernisierte und einem neuen Denken öffnete, ihrneue Wählerschichten erschloss und später Ansehen und Gewichtder Sozialistischen Internationale, nicht zuletzt in den Ländern der„Dritten Welt“, beträchtlich erhöhte. Immer wieder wird offen-kundig, dass es bei Willy Brandt beides gibt: bemerkenswerte Kon-stanten seines Denkens und Handelns und zugleich ein hohes Maßan Flexibilität gegenüber konkreten zeitbedingten Anforderungen

15 Vorwort der Herausgeber

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sowie die Fähigkeit zur Korrektur der eigenen Politik angesichtsneuer Herausforderungen.

Willy Brandt beherrschte die unterschiedlichen Formen und In-strumente der politischen Meinungs- und Willensbildung gleicher-maßen souverän. Große Reden auf Parteitagen, auf Marktplätzen, inVersammlungslokalen und Festhallen stehen neben Ansprachen voreinem intellektuellen Publikum und Zeitschriftenaufsätzen; kurzeBriefe neben umfassenden grundsätzlichen Äußerungen, Radio- undFernsehkommentare neben großen Büchern; konzentrierte und ge-zielte Diskussionsbemerkungen neben knappen, seinerzeit manch-mal kaum wahrgenommenen Einmischungen in politische Ent-scheidungsprozesse. All das werden die Bände widerspiegeln.

Wie nur wenige deutsche Politiker im 20. Jahrhundert hat WillyBrandt nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herr-schaft das Weltgeschehen nicht nur beeinflusst, sondern entschei-dend mitgestaltet. Er fühlte sich verpflichtet, sich der Last der deut-schen Vergangenheit persönlich zu stellen, was ihm neben Anerken-nung auch viel Anfeindung eintrug. Bis in die siebziger Jahre mussteer sich politischer Diffamierung erwehren, die ihm als Emigrantenund Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus galt. Auchdies werden die Bände belegen.

Maßgebliche Fundstellen für die Berliner Ausgabe sind der um-fangreiche Nachlass im Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialenDemokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie Parallelüberlieferun-gen im Archiv der sozialen Demokratie – wie SPD-Parteivorstands-akten, Deposita und Nachlässe anderer Politiker. Hinzu kommenzahlreiche einschlägige Bestände von Archiven, Bibliotheken undStiftungen, wie diejenigen des Bundesarchivs, und natürlich Pu-blikationen Willy Brandts. Jedem der zehn Bände ist eine umfang-reiche Einleitung vorangestellt, in der die Texte in den historischenZusammenhang eingeordnet und kritisch gewürdigt werden. JederBand hat einen Umfang von etwa 500 Druckseiten einschließlicheines Personen- und Sachregisters.

Die Berliner Ausgabe will ein facettenreiches Bild vom Lebenund Werk Willy Brandts vermitteln. Die Herausgeber hoffen, dass es

16 Vorwort der Herausgeber

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auf diese Weise gelingt, die Erinnerung an den bedeutenden Politikerund Staatsmann lebendig zu halten. Sie sind davon überzeugt, dasssein Denken und Wirken tiefe Spuren hinterlassen haben und auchunter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts die politi-sche Entwicklung beeinflussen.

Für die unverzichtbare und kollegiale Zusammenarbeit wissensich die Herausgeber dem Leiter des Historischen Forschungszen-trums der Friedrich-Ebert-Stiftung, Herrn Prof. Dr. Dieter Dowe, zubesonderem Dank verpflichtet.

Prof. Dr. Helga GrebingProf. Dr. Gregor Schöllgen

Prof. Dr. Heinrich August Winkler

17 Vorwort der Herausgeber

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daniela münkel

Einleitung

„Sozialdemokratie auf dem Weg nach vorn“1

Willy Brandt und die SPD 1947 bis 1972

Als sich Willy Brandt nach der Bundestagswahl am 19. November1972 an die Wählerinnen und Wähler wandte, stand er auf dem

Höhepunkt seines politischen Erfolges: „Ich bin in dieser Stunde al-len Wählerinnen und Wählern Dank schuldig, die mit ihrer Stimmeihr Vertrauen in meine Partei und damit auch ihr Vertrauen zu mirbewiesen haben. Das ist für mich kein Augenblick des Triumphes,wohl aber ist es ein bewegender Augenblick der Genugtuung und desStolzes und zugleich der Bescheidung; denn wir fühlen uns durchdiesen Sieg unserer Sache in die Pflicht genommen.“2 Die SPD konnteden größten Wahlerfolg in ihrer Geschichte verbuchen. Nach einemstark auf die Person Willy Brandts ausgerichteten Wahlkampf errangsie 45,8 Prozent der Stimmen. Brandt und seine Politik hatten nichtnur breite Zustimmung in der Wählerschaft gefunden, auch in seinerPartei war er nun unumstritten.

Bis zu diesem Erfolg hatte er einen langen Weg zurücklegenmüssen, der keineswegs geradlinig verlaufen, vielmehr von An-feindungen und Rückschlägen begleitet war. Dieser Weg begannEnde des Jahres 1947, als sich Willy Brandt entschied, nach denJahren des erzwungenen Exils in Norwegen und Schweden wiedernach Deutschland zurückzukehren und die Leitung des BerlinerVerbindungsbüros des SPD-Parteivorstandes zu übernehmen.3 Esfolgten weitere Stationen bis zum November des Jahres 1972: Mit-streiter Ernst Reuters in Berlin, Vertreter der Stadt im Bundestag,Mitglied und später Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Re-gierender Bürgermeister von Berlin, Kanzlerkandidat der Sozial-demokraten, Parteivorsitzender der SPD, Außenminister und Vize-

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kanzler der Großen Koalition und schließlich erster sozialdemo-kratischer Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Im Mittelpunkt der Dokumentenauswahl des vorliegenden Ban-des steht, neben der politischen Karriere Brandts, vor allem die Fragenach seinem Beitrag zur Erneuerung bzw. Modernisierung der SPDals „Volkspartei“ und zur Regierungsbeteiligung. Um darauf eineAntwort zu geben, werden zentrale Bereiche der Tagespolitik, despolitischen Stils, der Programmatik und der Organisation erörtert.Brandt war zwar nicht der alleinige „Erneuerer der SPD“, doch kanner seit den sechziger Jahren als der herausragende Repräsentant einerGruppe von Reformern in der deutschen Sozialdemokratie gelten. Zudieser Gruppe gehörten – u. a. und in wechselnden Konstellationen –Carlo Schmid, Ernst Reuter, Fritz Erler, Waldemar von Knoeringen,Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Karl Schiller.

Rückkehr nach Deutschland – Arbeit für die SPD

Willy Brandt kam Ende 1946 als Presseattaché an der norwegischenMilitärmission in Berlin im Rang eines „zivil-militärischen“ Majorswieder nach Deutschland. Diese Position erlaubte es ihm weiterhin,wie in seinen Exiljahren, journalistisch tätig zu sein, das politischeGeschehen in Deutschland hautnah zu erleben, Kontakte zu knüpfenund sich über seine weitere Zukunft klar zu werden. Einige Monatevor der Rückkehr Brandts – im Mai 1946 – war die SPD offiziell fürdas Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen wieder bzw. neu ge-gründet worden.4 Gleichzeitig wurde auch der erste Parteivorstandgewählt. Bereits im Mai 1945 hatte Kurt Schumacher den Vorsitz desSPD-Ortsvereins in Hannover übernommen und das so genannte„Büro Dr. Schumacher“5 eingerichtet, das die Arbeit der Partei in dendrei Westzonen koordinierte.6 Zwar wollte man den Anspruch, einegesamtdeutsche SPD zu repräsentieren, nicht aufgeben; die Entwick-lung in der SBZ machte solche Hoffnungen jedoch schnell zunichte.Dort wurde im Juni 1945 ein Zentralausschuss der SPD unter OttoGrotewohl und Max Fechner gebildet. Bestrebungen von west- undostdeutschen Sozialdemokraten in den folgenden Monaten, die Bil-

20 Einleitung

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dung einer Einheitspartei zu verhindern, blieben erfolglos,7 und sowurde am 21. April 1946 unter massivem Druck der sowjetischenBesatzungsmacht die Vereinigung von KPD und SPD zur SED er-zwungen. Damit war die SPD in der SBZ – mit Ausnahme Berlins, indessen Westbezirken sich die SPD-Mitglieder in einer von den West-alliierten durchgesetzten Abstimmung mit großer Mehrheit gegeneine Einheitspartei mit den Kommunisten ausgesprochen hatten –als eigenständige politische Kraft ausgeschaltet.8

In den Westzonen bemühte sich die SPD, ihre Organisationweiter auf- bzw. auszubauen sowie die Richtlinien ihrer zukünftigenPolitik festzulegen.9 Am 5. und 6. Oktober 1945 fand in Wennigsenbei Hannover die erste überregionale Konferenz der SPD statt, undvom 9. bis 15. Mai 1946 hielt sie in Hannover ihren ersten Nach-kriegsparteitag mit Delegierten aus allen drei westlichen Besat-zungszonen ab. An diesem Parteitag nahm auch Willy Brandt als Be-richterstatter für skandinavische Zeitungen und Gastdelegierter derGruppe deutscher Sozialdemokraten in Schweden teil.10 Kurt Schu-macher und Viktor Agartz umrissen in Hannover die politischeRichtung sozialdemokratischer Nachkriegspolitik. In seinem Referat„Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie“ beharrteSchumacher auf dem Führungsanspruch der SPD beim NeuaufbauDeutschlands. Er lehnte gleichzeitig eine Vereinigung mit der KPDab, wandte sich aber nicht gegen jegliche politische Zusammenarbeitmit den Kommunisten. Als „geschichtliche Aufgabe“ der SPD be-nannte er nicht zuletzt „die Gewinnung des deutschen Mittel-standes“. Weiter betonte er, dass der politische und wirtschaftlicheNeuaufbau unter demokratisch-sozialistischen Vorzeichen erfolgenmüsse. Dieser sei vor allem durch Enteignung der Großindustrie, derGroßfinanz und des Großgrundbesitzes zu realisieren. Des weiterenhob Schumacher hervor, dass der Neubau Deutschlands nur mit demRecht auf nationale Selbstbehauptung in einem eigenen Staat, undzwar ohne Gebietsabtretungen, zu verwirklichen sei.11 Viktor Agartz,zu diesem Zeitpunkt neben Erik Nölting Berater Schumachers undwirtschaftspolitischer Sprecher der SPD, legte in seinem Grundsatz-referat über „Sozialistische Wirtschaftspolitik“ dar, dass die wirt-

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schaftliche Neuordnung Deutschlands im Rahmen einer sozialisti-schen Planwirtschaft erfolgen müsse. Dies sei allerdings nur in einemdemokratischen Rechtsstaat möglich.12 Neben der politischen Stand-ortbestimmung wurde auf dem Parteitag 1946 auch ein Organisa-tionsstatut beschlossen, das in wesentlichen Punkten an die Organi-sationsstruktur der Weimarer Sozialdemokratie anknüpfte.13

In den Jahren 1946/47 wurden die Organisation der Partei sowieder politische Apparat des Vorstandes durch Bildung von Aus-schüssen und Referaten weiter ausgebaut. In diesem Zusammenhangist auch die Einrichtung eines Verbindungsbüros des Parteivor-standes in Berlin (1946) unter Leitung von Erich Brost zu nennen. ImHerbst 1947 wurde Brandt, der inzwischen auch in der Berliner SPDKontakte geknüpft hatte, die Übernahme dieses Amtes angetragen.Das Angebot kam ihm sehr entgegen: „Hier eröffnete sich mir einWirkungskreis, in dem ich helfen konnte, Verständnis und Unter-stützung für eine vernünftige Deutschland-Politik zu gewinnen, aberauch die Möglichkeit zur eigenen Mitarbeit im Berliner Parteileben.Der Zeitpunkt schien mir gekommen, da ich für Demokratie undFrieden als Deutscher in Deutschland wichtigeres leisten konnte alsin meinem bisherigen Amt.“14 Bevor er jedoch zusagte, verfassteBrandt einen Rundbrief an seine Freunde aus den Exiljahren, in demer seine Entscheidung erklärte, nun endgültig in Deutschland zubleiben und sich dort aktiv am politischen Leben zu beteiligen.15

Als sich herumsprach, dass Brandt das Parteiamt in Berlin über-nehmen sollte, wurden Kurt Schumacher Gerüchte aus Kreisen dessozialdemokratischen Exils in Skandinavien zugetragen, durch dieBrandt wegen seiner linkssozialistischen Vergangenheit der politi-schen Unzuverlässigkeit bezichtigt wurde. Dies war die erste vonvielen Kampagnen gegen Brandt, die dessen Diffamierung zum Zielhatten und ihn sein ganzes weiteres Leben verfolgen sollten. Ineinem ausführlichen Brief an Schumacher vom 23. Dezember 1947trat Brandt den Anschuldigungen entgegen, indem er seinen politi-schen Standpunkt, verbunden mit dem Bekenntnis zum demokrati-schen Sozialismus und der Politik der SPD, darlegte.16 Das bedeutetefür ihn aber nicht, dass er sich durch die Übernahme des Amtes zum

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bloßen Vollstrecker der Anweisungen des Parteivorstandes degra-dieren lassen wollte. So hob er in dem gleichen Brief auch hervor,dass er großen Wert auf die Möglichkeit lege – zumindest intern –seine Ansichten offen vorzutragen.

Am 1. Januar 1948 wurde Willy Brandt Vertreter des SPD-Partei-vorstandes in Berlin.17 Damit war seine Rückkehr nach Deutschlandund in die deutsche Sozialdemokratie endgültig vollzogen.18 SeinenAufgabenbereich im neuen Amt beschrieb Brandt folgendermaßen:„Die Aufgabe sah in erster Linie einen quasidiplomatischen Kontaktzu den politischen Dienststellen der alliierten Mächte in Berlin vor.Auch um Auslandskorrespondenten und internationale Gäste hatteman sich zu kümmern. Aufgaben, die sich auf Mitglieder der Partei inBerlin bezogen, kamen hinzu.“19 Darüber hinaus berichtete er regel-mäßig über die Entwicklungen in der Stadt.20 Außerdem nahm er inseiner Funktion an den Parteivorstandssitzungen teil.21

Willy Brandt und die SPD in den späten vierziger und fünfziger Jahren:Konflikte und Standortbestimmungen

Nach der Übernahme des Parteiamtes war Brandt bestrebt, seine po-litischen Vorstellungen über eine europäische und deutsche Nach-kriegsordnung, die er zum Teil schon in der Emigrationszeit ent-wickelt hatte,22 nicht nur in die Berliner SPD, sondern auch in dieBundespartei einzubringen. In einem Brief an Erich Ollenhauer vonAnfang September 1948 äußerte er sein Interesse, sich an der Haupt-debatte auf dem SPD-Parteitag in Düsseldorf 1948 zu beteiligen: „Inerster Linie würde es mich reizen, zu einigen Fragen aussenpoliti-scher Art Stellung zu nehmen.“23

Brandt plädierte auf dem Parteitag für die Herstellung der euro-päischen Einheit und die Integration Deutschlands in die westlich-demokratische Staatengemeinschaft.24 Auch dies war eine Forderung,die er bereits in den Kriegsjahren aufgestellt hatte. Zwei Jahre nachdem Parteitag in Düsseldorf, auf dem Bundesparteitag der SPD im Mai1950, sprach Brandt sich dafür aus, dass die SPD einem Beitritt derBundesrepublik zum Europarat zustimmen sollte.25 Er reihte sich da-

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mit in eine kleine Gruppe ein, den so genannten „Bürgermeister-Flü-gel“, dem u. a. Ernst Reuter (Berlin),Wilhelm Kaisen (Bremen)26 sowieMax Brauer (Hamburg) angehörten und der nicht nur in dieser Frageandere Auffassungen als Kurt Schumacher und die Mehrheit derBundespartei vertrat.27 Schumacher lehnte den Beitritt der Bundes-republik zum Europarat kategorisch ab. Seine Argumentation stütztesich vor allem auf zwei Aspekte: Zum einen war er der Meinung, dassdurch einen Beitritt zum Europarat die geplante Aufnahme des Saar-gebietes28 angesichts der für dieses Gebiet von Frankreich forciertenpolitischen Autonomie begünstigt und ein eventuell späterer Beitrittzur Bundesrepublik erschwert, wenn nicht unmöglich würde. Zumanderen, und das war wohl der entscheidende Beweggrund, fürchteteSchumacher, dass durch eine Integration der Bundesrepublik inwesteuropäische Institutionen immer größere Hindernisse für diedeutsche Wiedervereinigung aufgebaut würden.29

In der Kontroverse um den Beitritt zum Europarat, aber auch inanderen grundsätzlichen Fragen, die die Vorstellungen von einer zu-künftigen Politik der SPD betrafen, trat der von Beginn an bestehendeGegensatz zwischen Brandt und Schumacher zusehends deutlicherzutage. In der Retrospektive betonte Brandt zwar, dass er von KurtSchumacher „sehr beeindruckt“ gewesen sei.30 So hob er noch in sei-nen „Erinnerungen“ die Leistungen Schumachers hervor und ver-suchte, Verständnis für dessen Art und Führungsstil aufzubringen;31

seine Bedenken gegenüber dem ersten Vorsitzenden der Nachkriegs-SPD hielt er jedoch nicht völlig zurück: „Ich respektierte Schu-machers Bedeutung, doch das Apodiktische seiner Aussagen oderAusbrüche widerstrebte mir, wie auch die Absolutheit seines An-spruchs auf Gefolgschaft.“32

Zeitgenössische Äußerungen und Überlieferungen unterstützendie These, dass das Verhältnis Brandt-Schumacher als gegensätzlichzu charakterisieren ist. Das gilt sowohl für die persönliche Beziehungals auch im Besonderen für die politischen Standpunkte. So stellteBrandt im Juni des Jahres 1950 fest: „Meine Mitarbeit in Bonn ist auchdarum etwas begrenzt, weil sich – das ist schon kein Geheimnismehr – mein Verhältnis zu Dr. Schumacher seit dem vergangenen

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Jahr wesentlich verschlechtert hat. Das ist öffentlich jetzt dadurchzum Ausdruck gekommen, dass ich der übersteigerten Argumenta-tion gegen den Europarat widersprochen habe. Aber die Meinungs-verschiedenheiten und Aversionen beschränken sich nicht auf diesenPunkt.“33 Die anderen „Punkte“ bezogen sich vor allem auf den Füh-rungsstil34 Schumachers und den von ihm verfolgten strikten Oppo-sitionskurs der SPD auf Bundesebene.

Die Erwartungen der Sozialdemokraten, die führende politischeKraft im Nachkriegsdeutschland zu werden, wurden bereits durchdie Ergebnisse der ersten Gemeinde-, Kreis-, und Landtagswahlen inden Jahren 1946/47 enttäuscht.35 Die SPD erzielte nur in wenigenGebieten bessere Resultate als die CDU. Ihr bestes Wahlergebnis er-reichte sie in Berlin mit über 48 Prozent. Der Ausgang der Wahlenhatte zur Folge, dass die SPD im so genannten Wirtschaftsrat – demim Juni 1947 einberufenen Parlament des Vereinigten Wirtschafts-gebietes der aus amerikanischer und britischer Zone errichteten „Bi-zone“ – nur 20, die CDU/CSU ebenfalls 20, die FDP 4, die KPD 3, dasZentrum 2 und die DP 2 Abgeordnete stellten. Da sich SPD und CDUnicht auf eine Koalition einigen konnten,36 erklärte die SPD-Führung,sie werde im Wirtschaftsrat die Rolle der „konstruktiven Opposition“übernehmen. Diese Entscheidung, die vor allem auf Schumacher zu-rückzuführen war und nicht von allen führenden Sozialdemokratenmitgetragen wurde, blieb für die Politik der Bundespartei bis in diefünfziger Jahre bestimmend, zumal sie nach der Bundestagswahl desJahres 1949 noch einmal bekräftigt worden war. Gegen den „strikten“Oppositionskurs wandten sich vor allem Carlo Schmid37 sowie dieSPD-Ministerpräsidenten und Bürgermeister in den Stadtstaaten, wieKaisen in Bremen und der Oberbürgermeister von Berlin, ErnstReuter. Einige von ihnen regierten ja ihrerseits in einer SPD/CDU-Koalition. Diesem Flügel ist auch Brandt, bedingt durch seine Berli-ner Erfahrungen, zuzurechnen.

Neben der Kritik an dem eingeschlagenen Oppositionskursregte sich schon Ende der vierziger Jahre Unmut über die Organisa-tionsform der Partei, über ihre Außendarstellung und über die vonihr vertretenen politischen Inhalte. Waldemar von Knoeringen38

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und vor allem Carlo Schmid traten zu diesem Zeitpunkt am nach-drücklichsten für eine Reform der SPD ein, um diese für breitereSchichten zu öffnen und damit neue Wähler zu rekrutieren. Nachdem Tod Schumachers im Jahr 1952 und der verlorenen Bundes-tagswahl des Jahres 1953 kam erneut eine Diskussion über eineReform der Partei in Gang. Ansatzpunkte der Kritik bildeten nebenSachproblemen vor allem das allgemeine Profil der Partei, ihrSelbstverständnis sowie ihr Präsentationsstil.39 Der Anstoß kamjetzt von Heinrich Albertz, damals niedersächsischer Sozialminister.Im Neuen Vorwärts vom September 1953 kritisierte er die inhaltlichund sprachlich einseitige Ausrichtung auf die Arbeiterschaft sowiedie Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Verschiebungenzwischen Arbeiter- und Arbeitnehmerschaft. Carlo Schmid undFritz Erler formulierten ähnliche Kritik. Letzterer wies auf die Ver-änderungen im Mittelstand hin, die es zu berücksichtigen gelte,und forderte, die traditionellen Symbole der Arbeiterbewegung undder SPD wie die rote Fahne sparsamer einzusetzen.40 Als Konse-quenz aus der langsam beginnenden Parteireformdiskussion, diesich in den nächsten Jahren verstärkte und zu der dann auch Her-bert Wehner und Willy Brandt beitrugen, wurden im Dezember1953 zwei Kommissionen, eine für politisch-theoretische und einefür organisatorische Fragen, vom Parteivorstand eingesetzt, welchedie Problempunkte prüfen und Schlussfolgerungen vorlegen soll-ten.

Die politischen Aktivitäten Willy Brandts konzentrierten sich indieser Zeit auf Berlin. Seit Anfang 1950 leitete er, inzwischen Kreis-vorsitzender der SPD in Wilmersdorf, die Redaktion des BerlinerParteiorgans Sozialdemokrat. Im gleichen Jahr wurde er ins BerlinerAbgeordnetenhaus gewählt. Dennoch versuchte er – nicht zuletzt alseiner der Berliner Abgeordneten im Deutschen Bundestag, dem er bis1957, 1961 und wieder ab 1969 angehörte – auch in der Bundesparteiseinen politischen Standort zu finden und an Einfluss zu gewinnen.Das war anfänglich jedoch nicht einfach: „Die Parteiführung hegteGroll mir – ,Reuters Mann‘ – gegenüber und deshalb hatte ich in derBundestagsfraktion keinen leichten Stand. Doch diese Reputation

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half mir auch gute Freundschaften zu gründen, zu der vor allem diemit Fritz Erler und Carlo Schmid gehörten.“41

Diese und andere politische Freundschaften, z. B. zu HerbertWehner, konnte Brandt im Laufe der fünfziger Jahre ausbauen unddadurch in der Bundes-SPD zunehmend an Einfluss gewinnen,wenngleich der von Brandt auch aufgrund seiner politischen Er-fahrungen in Berlin unterstützte Reformkurs in der Partei zunächstnoch nicht mehrheitsfähig wurde. Vorher wirkten sich die heftigenAuseinandersetzungen innerhalb der Berliner Partei seit Ende dervierziger Jahre zwischen dem Reuter/Brandt- und dem Neumann-Flügel42 – Franz Neumann war ein Vertreter der Positionen Schu-machers – negativ auf die Stellung Brandts in der Bundespartei aus.

Grundsätzlich muss betont werden, dass sowohl die PolitikSchumachers als auch die seiner engsten Mitarbeiter, wie Alfred Nau,Fritz Heine und seines Nachfolgers Ollenhauer, von der Mehrheit derSPD-Parteimitglieder mitgetragen und gutgeheißen wurde; die „Re-former“ stellten in jenen Jahren eine Minorität dar, wie z. B. die Er-gebnisse der Wahlen zum Parteivorstand bis 1958 unterstreichen.Brandt selbst bekam zu spüren, dass er als Vertreter dieser Minder-heit galt, als er 1954 und 1956 vergeblich versuchte, in den SPD-Par-teivorstand gewählt zu werden. Dies sollte ihm erst 1958 gelingen,aber da hatte sich die Situation – wie noch zu zeigen sein wird – so-wohl in der SPD als auch für Brandt bereits verändert.

Die Gründe für die unterschiedlichen Vorstellungen zwischenBrandt und Schumacher bzw. einem Großteil der Führungsgruppeder Nachkriegs-SPD sowie der Parteimehrheit bis zum Ende derfünfziger Jahre ergaben sich in erster Linie aus den unterschiedlichenpolitischen Vorprägungen der Akteure. Auf der einen Seite standenKurt Schumacher mit seiner sehr eigenen Auffassung von Politik undvon der Zukunft der SPD sowie die durch die Weimarer Sozial-demokratie geprägten „Traditionalisten“ wie Ollenhauer und Heine,auf der anderen Seite die meist jüngeren „Erneuerer“ wie Erler,Schmid, von Knoeringen, Wehner und Brandt. Bei Willy Brandtspielten mehrere Faktoren eine Rolle: Wichtig waren für ihn die Er-fahrungen im Exil mit und in der norwegischen und schwedischen

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Arbeiterbewegung; dies gilt sowohl für die Inhalte der Reformpolitikder norwegischen Arbeiterpartei als auch für deren toleranten politi-schen Stil.43 In der Nachkriegszeit gaben ihm die Persönlichkeit unddie Politik Ernst Reuters zusätzlich wichtige Orientierungspunkte:„Ernst Reuter hatte für meine Berliner Jahre – und darüber hinaus –eine prägende Bedeutung.“44 Als dritter Faktor haben die praktischenErfahrungen in und mit der Berliner Politik eine wichtige Rolle fürBrandts politische Positionen – nicht nur in diesem Zeitraum – ge-spielt.

Die Grundlage von Brandts politischem Handeln:Der demokratische Sozialismus

Im Laufe seiner Exiljahre entfernte sich Brandt zusehends von dem„revolutionären Sozialismus“ jener Sozialistischen Arbeiterpartei(SAPD)45, deren Mitglied er gewesen war, als er 1933 vor dem Zugriffdes NS-Regimes nach Norwegen floh. Er selbst meinte: „Mein Links-sozialismus schliff sich ab. Ich betrachtete mich als modernen De-mokraten (und demokratischen Sozialisten, was ich nicht für einenGegensatz halte).“46 Zu diesem Prozess hatte vieles beigetragen: nebender Prägung durch die norwegische Arbeiterbewegung vor allemseine Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg, den er im Jahr 1937für fünf Monate als Berichterstatter für norwegische Zeitungen undals Verbindungsmann der SAPD miterlebte, sodann die Nachrichtenüber die Moskauer Prozesse im Zuge der Stalinschen Säuberungenseit Mitte der dreißiger Jahre und schließlich der Hitler-Stalin-Paktvom 22. August 1939. In den Kriegsjahren gehörte Willy Brandt zuden Exponenten der „Internationalen Gruppe demokratischer Sozia-listen“, die seit 1942 in Stockholm arbeitete.47 Deren von Brandt fe-derführend geprägte Überlegungen zu einer europäischen und deut-schen Nachkriegsordnung fanden u. a. ihren Niederschlag in den„Friedensziele[n] der demokratischen Sozialisten“ im Jahr 1943. Auchdie Broschüre „Zur Nachkriegspolitik der deutschen Sozialisten“ ausdem Jahr 1944 wurde von ihm mitverfasst. Ziel war die Errichtungeiner „sozialistischen Demokratie“, für die es national und inter-

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national zu kämpfen gelte.48 Zentrales Anliegen war darüber hinausdie Wiederherstellung der politischen Einheit der Arbeiterbewegungin einer demokratisch-sozialistischen Partei. Dabei wurde eine Ein-beziehung der Kommunisten nicht ausgeschlossen. Allerdingsrückte Brandt, insbesondere unter dem Eindruck der Zwangs-vereinigung von SPD und KPD zur SED in der SBZ, spätestens imApril des Jahres 1946 endgültig von dieser Zielsetzung ab.

Auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD am 8. Mai 1949hielt Brandt ein Referat zum Thema „Programmatische Grundlagendes demokratischen Sozialismus“.49 In seinem politischen Denkenmarkiert diese Rede gleichzeitig mehrere Einschnitte: Sie ist End- undAnfangspunkt, sie steht für Kontinuität und Wandel. Endpunkt istsie insofern, als sie Brandts 1942 im Exil begonnene politische Re-flexion über die Nachkriegsentwicklung in Deutschland und Europazum Abschluss bringt.50 Sie nimmt die zentralen Gedanken über dendemokratischen Sozialismus in der europäischen Nachkriegsord-nung wieder auf und steht damit für die Kontinuität im politischenDenken Brandts auch über die Zäsur des Jahres 1945 hinaus. DieseRede ist zugleich aber auch eine erste große öffentliche Standort-bestimmung Willy Brandts im Nachkriegsdeutschland. Hier entfal-tete er vor dem Hintergrund der sozialdemokratischen Programm-tradition erstmals umfassend die Grundlagen für sein politischesWirken in der Bundesrepublik. Brandt betrachtete seinen Auftritt vordem Parteitag gezielt als Gelegenheit, sich von jeglicher Form einestotalitären Kommunismus abzugrenzen und deutlich zu machen,dass Demokratie nicht Mittel zum Zweck, sondern eine unum-stößliche Voraussetzung für die Verwirklichung des demokratischenSozialismus sei. In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: „,Die De-mokratie ist uns keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sitt-lichkeit‘, resümierte ich, damit jenen großen Irrtum zurechtrückend,dem viele in der deutschen Sozialdemokratie – und ich mit ihnen –erlegen waren.“51

Der entscheidende Unterschied zu seinen Überlegungen wäh-rend des Krieges lag in seiner Vorstellung von der „Partei des demo-kratischen Sozialismus“. Diese Partei war jetzt einzig die SPD, die

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zwar die Partei des „arbeitenden Volkes“ bleiben, sich allerdings auchfür andere soziale Schichten wie Angestellte, Beamte, Angehörigegeistiger Berufe, den Mittelstand und die Bauern öffnen sollte. Eine„Volkspartei“ im heutigen Sinne aber lag zu diesem Zeitpunkt nochnicht im Horizont seiner politischen Vorstellungen.

Die im Jahr 1949 von Brandt vor den Berliner Delegierten ent-wickelte Definition des demokratischen Sozialismus blieb für seinVerständnis von „Sozialismus“ konstitutiv. Demokratischer Sozialis-mus war für ihn ohne Freiheit und Demokratie undenkbar: „Der de-mokratische Sozialismus ist ein in sich nicht abgeschlossenes Systemvon Vorstellungen über eine Neugestaltung der gesellschaftlichenVerhältnisse. Sein formuliertes Programm wird immer nur dieSumme gemeinsamer grundsätzlicher Überzeugungen in einer be-stimmten Periode entsprechend dem jeweiligen Grad wissenschaft-licher Erkenntnis sein können. Aber diesen sich weiterentwickeln-den grundsätzlichen Überzeugungen liegt eine gemeinsame Lebens-anschauung zugrunde. Sie fußt auf dem Bekenntnis zur Freiheit undzum Humanismus, zum Rechtsstaat und zur sozialen Gerech-tigkeit.“52

Auf diesem Bekenntnis, das Grundlage und Antrieb für das poli-tische Handeln Brandts war, beruhte dann auch die Reformpolitikder SPD, die seit Übernahme der Regierungsverantwortung im Jahr1969 das Ziel hatte, eine „soziale Demokratie“ zu schaffen. „Die SPDbleibt eine Partei der Reformen. Für sie gibt es nicht einen einzigen,sondern viele Hebel, um den Rechtsstaat auszubauen, der Verfassungwidersprechende Zustände abzubauen, den Sozialstaat zu schaffen,mehr Demokratie in Staat und Gesellschaft zu verwirklichen, Demo-kratie als ,allgemeine Staats- und Lebensordnung‘ durchzusetzen.Demokratischer Sozialismus ist – ich wiederhole es – kein Dogma.“53

Auch in den kommenden Jahren bezog Brandt zwar immer wie-der Stellung zum demokratischen Sozialismus.54 Das Thema trat je-doch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre insgesamt etwas in denHintergrund, d. h., Brandt setzte sich in seinen Reden und Verlautba-rungen in dieser Zeit in der Regel nicht mit dem Konzept des demo-kratischen Sozialismus auseinander. Das bedeutete allerdings nicht,

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dass Brandt sich vom demokratischen Sozialismus als Grundlage sei-nes politischen Handelns verabschiedet hatte. Er und die SPD hattensich Anfang der sechziger Jahre für den Weg der „Gemeinsamkeits-politik“, auf die an anderer Stelle noch ausführlich eingegangen wird,als politisch-strategische Handlungsmaxime entschieden. Öffent-liche Ausführungen zum demokratischen Sozialismus passten zudiesem Zeitpunkt nicht in das Erscheinungsbild der SPD. Seit 1969änderte sich dies grundlegend. Durch die Regierungsbeteiligung seitDezember 1966 und die Übernahme der Regierungsverantwortung1969 hatte die Partei wieder zunehmend an eigenständigem Profilgewonnen. Dieser Umstand, vor allem aber auch die Diskussionen imZuge der Studentenbewegung und der Aufschwung der NPD im Jahr1968 sowie die Kampagnen der CDU/CSU, die die SPD als „sozia-listische“ und damit „undemokratische“ Partei verunglimpften, ver-anlassten Brandt in den folgenden Jahren dezidiert zu seinem Ver-ständnis von demokratischem Sozialismus Stellung zu nehmen. Erwollte dieses Konzept – von dem die SPD programmatisch ja nie ab-gewichen war – wieder fest als Fundament sozialdemokratischer Po-litik verankern. In diesen Zusammenhang ist auch Brandts viel be-achtete Rede mit dem Titel „Der Auftrag des demokratischen Sozia-lismus“55 zum zwanzigsten Todestag Kurt Schumachers am20. August 1972 einzuordnen. Wie schon 1949 betonte er auch jetzt,dass Demokratie und Freiheit untrennbar mit dem demokratischenSozialismus verbunden seien. Gleichzeitig unterstrich er die Unan-tastbarkeit des Grundgesetzes. Die SPD, deren Charakter als moderneVolkspartei von Brandt hervorgehoben wurde, bezeichnete er als eine„Willens- und Ideengemeinschaft“, die an den ethischen Grund-werten orientiert sei, die im Godesberger Programm der Partei von1959 formuliert seien.56

Mit seiner Rede, die er im unmittelbaren Vorfeld des Wahl-kampfes 1972 hielt, verfolgte Brandt noch zwei weitere Ziele: Erstenswandte er sich gegen die bereits erwähnten Kampagnen der CDU/CSU. Brandts Antwort darauf war, dass „demokratisch-sozialistischesHandeln“ untrennbar mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowiepersönlicher und geistiger Freiheit verbunden sei – ohne Freiheit

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gäbe es keinen Sozialismus. Zweitens verwahrte er sich auch gegenlinksextreme Strömungen innerhalb und außerhalb der SPD und er-teilte deren Sozialisierungsphantasien eine klare Absage: „Ich ließkeine Verwischung gegenüber kommunistischen Gruppen zu, abergleichzeitig wandte ich mich mit Leidenschaft gegen die – meinerMeinung nach – künstliche Differenzierung zwischen Sozial-demokratie und demokratischem Sozialismus; für mich war und istdies ein und dasselbe.“57 Mit dieser Aussage wurde erneut die in die-ser Frage bestehende Kontinuität im politischen Denken Brandts seitden vierziger Jahren deutlich.

Kanzlerkandidat der SPD: Neue Inhalte – Neue Formen

Nach der klaren Niederlage der SPD bei den Bundestagswahlen desJahres 1957 entzündete sich abermals innerparteiliche Kritik, vor al-lem an den „veralteten“ Formen der Wahlkampfführung sowie anden politischen Aussagen im Wahlkampf, begleitet von Personal-debatten.58 Der Ansatzpunkt für die Reformkräfte lag auf der pro-grammatischen Ebene, aber auch in dem Willen, die Erstarrung undBürokratisierung des Parteiapparates, durch die jegliche Neuerungenbehindert wurden, aufzulösen. Die Reformer in der SPD strebtendeshalb eine „Reform der Parteispitze“ einschließlich personellerVeränderungen an – eine Reform, die zumindest in der Spitze derBundestagsfraktion noch 1957 vollzogen wurde.59

Auf dem Stuttgarter Bundesparteitag wurden 1958 von einerKommission erarbeitete und von Alfred Nau vorgestellte Vorschlägefür organisatorische Veränderungen im Parteiapparat60 von den De-legierten gebilligt. Es wurde ein Präsidium als geschäftsführenderVorstand eingeführt. Es bestand aus neun Personen und wurde durchden Parteivorstand gewählt.61 Das in der Regel wöchentlich tagendePräsidium sollte zukünftig das maßgebliche Organ sowohl für tages-politische Entscheidungen als auch für grundlegende politische In-itiativen und Wegmarkierungen sein. Eine weitere Neuerung war,dass neben dem Parteivorsitzenden anstelle von einem nun zweigleichberechtigte stellvertretende Vorsitzende vom Parteitag gewählt

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wurden. Außerdem wurde ein so genannter „Parteirat“ eingerichtet,62

der bei innen- und außenpolitischen Entscheidungen, grundsätz-lichen organisatorischen Fragen und der Vorbereitung der Bundes-tagswahlkämpfe vor den Parteivorstandssitzungen tagen und ange-hört werden sollte. Auch Willy Brandt hatte sich auf dem Parteitagfür diese Organisationsreform der Partei ausgesprochen.63

Dass sich bei den Parteivorstandswahlen 1958 in Stuttgart ver-stärkt Reformer durchsetzen konnten, war eine weitere Bestätigungdes grundsätzlichen Reformwillens innerhalb der SPD. HerbertWehner und Waldemar von Knoeringen wurden zu StellvertreternErich Ollenhauers gewählt. Fritz Heine und einige andere, die als Re-präsentanten des „alten Funktionärstypus“ galten, gehörten demneuen Parteivorstand hingegen nicht mehr an. Erstmals wurde WillyBrandt in das Gremium gewählt.64 Er hatte seine politische Positioninzwischen ausbauen und festigen können. So war er 1957, alsNachfolger des verstorbenen Otto Suhr, zum Regierenden Bürger-meister von Berlin und 1958 zum Landesvorsitzenden der BerlinerSPD gewählt worden.

Der nächste wichtige Schritt nach den organisatorischen Refor-men war die endgültige programmatische Neuorientierung, die mitder Verabschiedung des Godesberger Programms auf dem außer-ordentlichen Parteitag im November 1959 vollzogen wurde. Die Dis-kussion um die Frage, ob die SPD ein neues Grundsatzprogrammoder nur ein Aktionsprogramm benötige, war schon unmittelbarnach ihrer Neu- bzw. Wiedergründung entbrannt. Willy Brandt hattesich zunächst mit Nachdruck gegen ein neues Grundsatzprogrammausgesprochen, da ihm Richtlinien für die praktische Tagespolitikund ein Aktionsprogramm als Wahlprogramm vordringlicher er-schienen.65 Einem Grundsatzprogramm, so seine damalige Auffas-sung, hätten langwierige Klärungsprozesse und Diskussionen vor-auszugehen. In dieser Frage war Brandt auf einer Linie mit den Vor-stellungen Kurt Schumachers. Dieser hatte sich zunächst sogar striktgegen jegliche programmatische Festlegung gewandt. Als Argumentfür seinen Standpunkt führte der Vorsitzende der SPD an, dass manzunächst die weitere politische, gesellschaftliche und ökonomische

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Entwicklung Deutschlands abwarten müsse. Schließlich stimmte erdann doch einem Aktionsprogramm zu. Es wurde auf dem Dort-munder Parteitag 1952 verabschiedet und auf dem Berliner Parteitag1954 ergänzt. Brandt hatte sich im Vorfeld des Berliner Parteitagesintensiv mit dem Aktionsprogramm auseinandergesetzt.66 Auf demSPD-Parteitag 1954 wurde dann auch eine Kommission zur Erarbei-tung eines Grundsatzprogramms eingesetzt.67 Denn nach den ver-lorenen Bundestagswahlen der Jahre 1953 – noch mehr nach demVerlust einer weiteren Bundestagswahl 1957 – hatte sich die Forde-rung nach einem neuen Grundsatzprogramm verstärkt, da ein sol-ches für die Öffnung der SPD für neue Wählerschichten unerlässlichschien. Auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 wurde der erste Entwurfvorgelegt, dessen überarbeitete Fassung in der Folge auf allen Partei-ebenen eingehend diskutiert wurde.

Trotz der anfänglich erwähnten Skepsis Brandts gegenüber pro-grammatischen Arbeiten befürwortete auch er schließlich das neueProgramm, da es seinen Vorstellungen von einem demokratischenSozialismus entsprach. Um neue Wählerpotenziale für die Partei zugewinnen, musste die SPD nach Meinung Brandts drei Vorbe-dingungen erfüllen: „Wir mußten ideologischen Ballast abwerfen,eine moderne Wirtschaftspolitik formen und zugleich deutlich ma-chen, daß die Sicherheit des Staates und das Verhältnis zu den Ver-bündeten bei uns in guten Händen sein würden.“68 Da die zur Dis-kussion gestellten Entwürfe eines neuen Grundsatzprogramms imJahr 1958 diesen Forderungen weitgehend gerecht wurden, beteiligtesich Brandt nunmehr an den inhaltlichen Diskussionen69 und be-wertete das Ergebnis dann auch sehr positiv: „Entscheidend schien esmir darauf anzukommen, ein möglichst praktisches Programm her-auszuarbeiten und eine Politik zu entwickeln, die den Weg zur Re-gierungsverantwortung erleichtern würde. Dabei mußten mancheliebgewordenen Vorstellungen an der gewandelten Wirklichkeit ge-messen werden. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands, wie es im November 1959 in Bad Godes-berg angenommen wurde, war ein bedeutender Schritt in dieserRichtung.“70

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Mit dem Godesberger Programm erteilte die SPD der auf KarlMarx zurückgehenden Vorstellung von einer „naturnotwendigen“Entwicklung hin zum Sozialismus eine klare Absage und bekanntesich zur „dauernden Aufgabe“, den „freiheitlich-demokratischen So-zialismus“ zu verwirklichen. Im wirtschaftspolitischen Teil wurdeeine umfassende Sozialisierung und Planwirtschaft abgelehnt sowieeine Wirtschaftspolitik entworfen, die dem auf Karl Schiller zurück-gehenden Grundsatz „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung so-weit wie nötig“ entsprach. Darüber hinaus wurde die Notwendigkeiteiner Landesverteidigung anerkannt. So markierte das GodesbergerProgramm nach langem Vorlauf die endgültige programmatischeÖffnung der SPD zur Volkspartei.

Als eine weitere Folge der Reform- und Personaldebatten inner-halb der SPD kann eine Erklärung Erich Ollenhauers auf einer Par-teivorstandssitzung am 5. Juli 1959 – also schon einige Monate vordem Godesberger Parteitag – gedeutet werden. Erich Ollenhauer er-klärte dort, dass er nicht ein weiteres Mal als Kanzlerkandidat derSozialdemokraten zur Verfügung stehen und sich ganz der Partei-arbeit widmen wolle. Daraufhin schlug Herbert Wehner die Ein-setzung eines Ausschusses, die so genannte „Siebener-Kommission“,vor,71 die personell und sachlich den Parteitag 1960 und den Wahl-kampf 1961 planen und vorbereiten sollte. Der Vorschlag schlossauch die Erörterung der Frage nach dem zukünftigen Kanzlerkandi-daten ein. Mitglieder der Kommission waren – neben dem Parteivor-sitzenden Erich Ollenhauer – Georg August Zinn, Max Brauer, WillyBrandt, Carlo Schmid, Fritz Erler und Heinrich Deist, also über-wiegend Repräsentanten des Reformflügels. Als aussichtsreichsterAnwärter für das Amt des SPD-Kanzlerkandidaten galt zu dieser Zeitnoch Carlo Schmid, der in der Beliebtheitsskala der Bevölkerung weitoben rangierte.72 Aber auch Willy Brandt, der durch seine Politik inBerlin und dank der Unterstützung der dortigen Massenmedien – vorallem der Springer-Presse – seine Popularität wesentlich hatte stei-gern können, war schon für diese Aufgabe im Gespräch. Dies war ihmdurchaus bewusst. Brandt hatte zwar auf der Parteivorstandssitzungam 5. Juli 1959 noch erklärt, dass „man Anfang des Jahres [1960] Carlo

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Schmid für die Kanzlerkandidatur bestimmen sollte“73, aber bereitszehn Tage später deutete er in einem Brief an, dass auch er zur Über-nahme dieses Amtes bereit sei.74 Dass Brandt Kanzlerkandidat wer-den könnte, zeichnete sich schon früher ab, als bisher angenommenwurde.75 Im März 1960 schrieb er, dass Ollenhauer auf einer Partei-ratssitzung ihn und Schmid als mögliche Kandidaten benannt habe:„Ich bin von dieser Aussicht [Kanzlerkandidat zu werden] nicht son-derlich begeistert, zumal ich nicht weiß, wie weit wir mit den drü-ckenden Berliner Sorgen fertig werden. Andererseits handelt es sichnatürlich nicht um persönliche Interessen, sondern um eine Ent-scheidung, die die Partei unter dem Gesichtspunkt des größtmögli-chen Effekts zu fällen haben wird.“76

Bei allen Vorbehalten war Brandt offenbar bereit, die Chance fürseinen politischen Aufstieg zu nutzen. Seine damalige Zurück-haltung – die er auch noch in seinen Erinnerungen erkennen lässt,ohne dabei freilich seine Erfolgsaussichten wirklich in Zweifel zuziehen77 – kann wohl als Vorsicht oder Selbstschutz interpretiertwerden. Am 9. Juli 1960 fand in Barsinghausen bei Hannover – ohneBeteiligung des Parteivorsitzenden – eine Zusammenkunft von ca. 80jüngeren SPD-Mitgliedern statt, die Willy Brandt zu ihrem Kandida-ten benannten. Zwei Tage später fiel schließlich auf einer Klausurta-gung des Parteipräsidiums und der „Siebener-Kommission“ die defi-nitive Entscheidung für Brandt, der im August Parteivorstand undParteirat zustimmten. Die offizielle Bekanntgabe erfolgte am 24. Au-gust 1960,78 und der Parteitag im November in Hannover nominiertedann Brandt endgültig als Kanzlerkandidaten.

Die Gründe, warum sich Brandt als Kandidat durchsetzenkonnte, waren vielfältig: Brandt schien am ehesten die Garantie füreinen Wahlsieg der SPD zu bieten. Er stand mit seinen politischenGrundsätzen, wegen seines Alters und dank seines politischen Stilsgenau für die Veränderung, die er und die übrigen Reformer in derSPD anstrebten: eine moderne Sozialdemokratie, verwurzelt in ihrenhistorischen Traditionen. Damit konnte er als der ideale Heraus-forderer des greisen Bundeskanzlers Adenauer gelten. Seine Popula-rität in der Bevölkerung, die seit seinem Amtsantritt als Regierender

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Bürgermeister von Berlin ständig gestiegen war, fiel ebenfalls ins Ge-wicht. Hinzu kamen sein Ansehen und seine guten Kontakte imAusland. Aus all diesen Gründen fand er auch die nachdrücklicheUnterstützung gerade der „jüngeren“ führenden Sozialdemokratenwie Fritz Erler oder Herbert Wehner, die ihre eigenen Aussichtenweniger günstig einschätzten. Wehner war nach der NominierungBrandts besonders an einem guten Verhältnis zu dem Kanzlerkandi-daten gelegen. In einem Brief von Ende Dezember des Jahres 1960forderte er Brandt auf, Probleme auszuräumen, die zwischen ihnenbestünden.Weiter hieß es: „Wenn es darauf ankommt, so wirst Du inmir immer einen Genossen und Freund haben, auf den Du bauenkannst.“79 – ein Versprechen, das Wehner seit Ende der sechzigerJahre allerdings immer seltener hielt.

Nach Abschluss der programmatischen Neuorientierung der SPDdurch das Godesberger Programm bildeten die Jahre 1960/61 und dieNominierung Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten weitere Statio-nen auf dem Weg der SPD zur modernen Volkspartei und in die Re-gierungsverantwortung. Brandt selbst spricht in seinen Erinnerungenvon einer nach 1957 einsetzenden „Runderneuerung“80 der Partei. Diesbetraf sowohl den Inhalt als auch die Form von Politik. Außen- undinnenpolitisch brach die Führung der SPD mit ihrem strikten „Oppo-sitionskurs“. Nicht mehr die Betonung der Unterschiede zum politi-schen Gegner sollte nun im Mittelpunkt sozialdemokratischer Politikstehen, sondern die so genannten „Gemeinschaftsaufgaben“,81 an de-nen sich die strategische Grundlinie für den Wahlkampf des Jahres1961 ausrichtete. Die „Gemeinsamkeitspolitik“, die darauf abzielte,dass zentrale innen- und außenpolitische Probleme der Bundes-republik nur über die Parteigrenzen hinweg, „gemeinsam“ gelöstwerden könnten und müssten, sollte sowohl die Regierungsbereit-schaft der SPD demonstrieren als auch die Partei für neue Wähler-schichten – vor allem in „der Mitte“ – attraktiver machen. Die Erar-beitung des neuen politischen Konzeptes übernahmen Willy Brandt,Herbert Wehner und Fritz Erler. Brandt schreibt dazu in der Rück-schau: „Wir hatten das Gelände für dieses Bemühen um mehr Ge-meinsamkeit in unserer Partei mit einiger Sorgfalt vorbereitet.“82

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Ansatzpunkt der „Gemeinsamkeitspolitik“ war zunächst dieAußenpolitik. Öffentlich vollzogen wurde das Bekenntnis zur „Ge-meinsamkeit“ erstmals in einer außenpolitischen Debatte des Bun-destages am 30. Juni 1960. Allerdings nahm Willy Brandt, wie vonvielen Parteimitgliedern erwartet und auch gewünscht, nicht an derAussprache teil. Er unterstützte jedoch die anvisierte politischeKursänderung im Vorfeld, indem er auf einer kommunalpolitischenBundestagung der SPD in Mülheim/Ruhr sechs Punkte formulierte,die zwischen Bundesregierung und Opposition unstrittig sein soll-ten:83 1. Berlin müsse beim Bund bleiben. 2. Das deutsche Volk habesich gegen jede Diktatur und für die westliche Gemeinschaft sowie3. gegen den Kommunismus und die sowjetische Deutschlandpolitikentschieden. 4. Das Los der in Mitteldeutschland lebenden Landsleutemüsse erleichtert werden, Anstrengungen zur Lösung der deutschenFrage dürften nicht nachlassen. 5. Da Europa in Ost und West ge-spalten sei, dürfe nicht auch noch das nichtkommunistische Europagespalten werden. 6. Trotz der Bedeutung der Sicherheit müsse jedeAnstrengung unternommen werden, um zur Sicherung des Friedensbeizutragen.

Diese von Brandt formulierten politischen Grundsätze fandenihren Niederschlag in der legendären Bundestagsrede HerbertWehners zur Außenpolitik am 30. Juni 1960, die ein besondersdemonstratives öffentliches Bekenntnis zur „Gemeinsamkeitspoli-tik“ war. Ganz im Sinne Brandts bot der Sprecher der Sozial-demokraten der Bundesregierung eine gemeinsame außenpolitischeBestandsaufnahme sowie eine Zusammenarbeit bei der Festlegungder Prämissen einer zukünftigen Außenpolitik an. Die zentrale Aus-sage der Rede Wehners waren das Bekenntnis zur Eingliederung derBundesrepublik in das westliche Bündnissystem und die Bejahungder Landesverteidigung.84 Damit korrigierte Wehner Positionen derSPD aus den fünfziger Jahren und vollzog eine Annäherung an diePolitik der Bundesregierung.

Während des Wahlkampfes verlagerte sich der Schwerpunktdann aber stark auf innenpolitische Fragen: „Es geht um den weite-ren Weg unseres Volkes und um die Lösung der vielen vernach-

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lässigten Gemeinschaftsaufgaben. Es geht also um eine weitgehendinnenpolitische Entscheidung“, so Willy Brandt in einer Rede vor derSPD-Bundestagsfraktion Anfang 1961.85 In den politischen Aussagendes Wahlkampfes von 1961 legte Brandt den Schwerpunkt eindeutigauf innenpolitische Probleme. Diese Tendenz setzte sich in den fol-genden Bundestagswahlkämpfen fort, was die gängige, gleichwohlfalsche These widerlegt, Brandts Interesse habe mehr oder minderausschließlich außenpolitischen Fragen gegolten.

Um diesen neuen Weg der außen- und innenpolitischen „Ge-meinsamkeit“ in der eigenen Partei mehrheitsfähig zu machen undKritik möglichst schon im Vorfeld zu entschärfen, warben WillyBrandt, Herbert Wehner und Fritz Erler auf zahlreichen lokalen Par-teiveranstaltungen und in Interviews für ihren politischen Kurs.86

Ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung war die Frage der vonden Unionsparteien gewünschten atomaren Ausrüstung der Bundes-wehr, die die Parteispitze durch ihr Bekenntnis zur Notwendigkeitder Landesverteidigung ja indirekt anerkannt hatte.87

Hier deutete sich schon an, was für die innerparteilichen Kon-flikte bis zum Ende der sechziger Jahre bestimmend sein sollte. DieKonfliktlinie verlief in der Regel zwischen Parteiführung und mehroder weniger großen Teilen der Parteibasis. Die Situation war alsoanders als in der Zeit bis zum Ende der fünfziger Jahre, als die Partei-mehrheit und die Führung in der Regel die gleiche politische Linievertraten.

Zwar wurde der eingeschlagene Kurs der „Gemeinsamkeits-politik“ auf dem Parteitag im November 1960 in Hannover von denDelegierten bestätigt, doch blieb die Mehrheit der Parteimitgliederweiterhin skeptisch. Auch einige führende Sozialdemokraten wieOllenhauer waren nicht gänzlich mit der Trendwende einverstanden.Darüber hinaus stellte sich heraus, dass Herbert Wehner den „Ge-meinsamkeitskurs“ primär auf die Außenpolitik beziehen wollte.Erler und im Besonderen Brandt gingen hier wesentlich weiter. Dasssich auch Brandt insoweit in der Gestaltung seiner Politik keiner Be-schränkung unterwerfen wollte, wurde erstmals in dessen Dankes-rede nach seiner Wahl zum Kanzlerkandidaten auf dem Hannover-

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schen Parteitag deutlich: „Es ist vielleicht nicht populär, wenn ichhier erkläre, daß ich nicht einfach nur Willensvollstrecker der Parteisein kann, sondern daß ich nach ernsthafter Überlegung in eigenerVerantwortung jene Entscheidungen werde treffen müssen, die imInteresse unseres Volkes erforderlich sind. Aber ich weiß, daß dieSozialdemokratische Partei, deren Vertrauen ich habe, mir die Frei-heit der Entscheidungen gewähren wird, die dieses Amt nach demGrundgesetz braucht.“88

Neben den außenpolitischen Fragen nannte er vier innen-politische Schwerpunkte der „Gemeinschaftsaufgaben“: „Das natio-nale Gut der Volksgesundheit muß geschützt und erhalten werden,unsere Städte müssen erneuert, das Verkehrswesen muß auf dieErfordernisse von morgen zugeschnitten werden, die Fähigkeitenund Begabungen, unser wertvollstes Volksvermögen, müssen ent-sprechend den Anlagen jedes Einzelnen entdeckt und gefördertwerden.“89 Diese Aspekte wurden in den Reden Brandts währenddes Wahlkampfes erweitert und konkretisiert und fanden ihrenNiederschlag im „Regierungsprogramm der SPD“, das der Öffent-lichkeit im April 1961 vorgestellt wurde.90 Darin fanden sich zehninnenpolitische „Gemeinschaftsaufgaben“, die es zu lösen galt. Ne-ben den vier bereits genannten waren dies die Förderung des Brei-tensports, die Absicherung der Rentner und die Regelung derKriegsopferfragen, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus so-wie Familienförderung und der Umweltschutz. In diesem Zusam-menhang prägte Brandt auch den berühmt gewordenen Slogan „DerHimmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden“91. DieForderung wurde von den meisten Zeitgenossen belächelt, dennökologische Fragen standen damals noch nicht auf der politischenTagesordnung. Einmal mehr zeigt sich hier das Gespür WillyBrandts für zukunftsträchtige politische Themen, mit deren For-mulierung er seiner Zeit voraus war und deshalb nicht selten aufUnverständnis stieß; das gilt im Übrigen auch für die Anfänge sei-ner Ost- und Deutschlandpolitik.92

Nicht nur im Hinblick auf die politischen Inhalte bildete derWahlkampf 1960/61 einen Einschnitt, sondern auch in der Präsenta-

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tion von Politik, Kandidat und „Mannschaft“. An dieser Umorien-tierung hatte Brandt ebenfalls entscheidenden Anteil. Hatte sich die„Propaganda- und Öffentlichkeitsarbeit“ der SPD in den fünfzigerJahren kaum an den Möglichkeiten orientiert, die der expandierendeMedienmarkt bot,93 war man nun bestrebt, sich besonders „modern“darzustellen, und dies wurde in weiten Strecken mit „amerikanisch“gleichgesetzt. Dazu Brandt: „Unser Konzept hieß: Öffnung. Wirmußten eine neue Breite gewinnen. Wir mußten auf alte Gewohn-heiten des Denkens und der Selbstdarstellung verzichten, um für dasNeue bereit zu sein. Wir mußten Zöpfe abschneiden, ideologischeund andere.“94

Es sollte möglichst nichts mehr dem Zufall überlassen werden,eine feste Konzeption wurde entworfen und verfolgt.95 Brandt sprachnach seiner Nominierung gern von einem neuen „politischen Stil“,den er in der SPD und der Bundesrepublik pflegen wollte.96 WillyBrandt, der nie verhehlte, von John F. Kennedy begeistert zu sein,schickte u. a. Klaus Schütz zur Beobachtung des Präsidentschafts-wahlkampfes 1960 nach Amerika.97 Schütz favorisierte für die deut-schen Verhältnisse und die Bedürfnisse der SPD eindeutig das Vorbilddes Kennedy-Wahlkampfes.98 Brandt teilte diese Einschätzung miteinigen Vorbehalten: „Manches war für uns nützlich, anderes nicht.Wir haben die amerikanischen Beispiele sozusagen ,verdeutscht‘“.99

So verwundert es kaum, dass der Wahlkampf der SPD im Jahr 1961immer wieder mit dem Kennedys verglichen und Brandt als „deut-scher Kennedy“ apostrophiert wurde.100 Dabei wird häufig über-sehen, dass auch Elemente aus CDU-Wahlkämpfen der fünfzigerJahre aufgenommen und dem eigenen Stil angepasst wurden. Be-sonders deutlich wird dies bei der „Deutschlandreise“ des Kanzler-kandidaten. Solche Wahlreisen hatte bereits Konrad Adenauer un-ternommen. Zu seiner Zeit war jedoch alles noch mit wesentlich we-niger „Show-Elementen“ verbunden, als es dann 1961 im Wahlkampfder SPD der Fall war.101 Brandt reiste vom 10. Mai bis zum 12. August1961 im cremefarbenen Mercedes-Cabriolet kreuz und quer durch dieBundesrepublik und legte dabei insgesamt 40 000 km zurück. Regio-nale Schwerpunkte bildeten Landgemeinden sowie Klein- und Mit-

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telstädte.102 Durch direkten Kontakt zu den Menschen vor Ort wollteBrandt neue Wählerschichten erobern und traditionelle noch stärkeran die Partei binden.103

Zentrales Element der SPD-Wahlkampagne war der Kandidat.Zwar wurde ihm eine „Mannschaft“ zur Seite gestellt, um Regie-rungsfähigkeit zu demonstrieren; dennoch stand im Mittelpunkt derjunge, aufstrebende Willy Brandt, der den Aufbruch in eine neue Ge-sellschaft und eine „moderne“ SPD als Gegenpol zur CDU/CSU undihrem greisen Bundeskanzler Adenauer verkörperte. „Held nachMaß“ titelte Der Spiegel.104

Die neuen Formen der Präsentation der SPD in der Öffentlichkeitund die Konzentration auf den Kandidaten fanden innerparteilichnicht ungeteilte Zustimmung. Ältere Parteimitglieder beschwertensich über die Preisgabe traditioneller sozialdemokratischer Attribute,wie der roten Fahnen oder der Anrede „Genosse“, und vollzogen dieseVeränderungen in ihren lokalen Organisationen – wenn überhaupt –nur mit Vorbehalten. Der Ausspruch eines langjährigen SPD-Partei-mitgliedes, dass er vor vielen Jahren „einer sozialdemokratischen undnicht einer Willy-Brandt-Partei beigetreten sei“,105 war keine Einzel-meinung zu diesem Thema.

Die Chancen für Brandt und die SPD, 1961 ein Ergebnis zu er-zielen, das eine Regierungsbildung unter sozialdemokratischer Füh-rung ermöglicht hätte, waren bis zum Bau der Berliner Mauer am13. August 1961 relativ gut. Zwar hatte Konrad Adenauer sein Ver-halten in dieser Krisensituation – er führte seinen Wahlkampf fortund kam erst anderthalb Wochen nach dem Mauerbau persönlichnach Berlin – viele Sympathien vor allem in der Berliner Bevölkerunggekostet, was wiederum Willy Brandt als Regierendem Bürgermeistervon Berlin zugute kam. Dennoch erschien der Mehrheit der Wählerin dieser bedrohlichen Situation ein Regierungswechsel ganz ent-sprechend dem CDU-Slogan „Keine Experimente“ offenbar nicht op-portun. Aber das war nicht der einzige Grund für das Wahler-gebnis,106 das der Sozialdemokratie zwar einen deutlichen Stimmen-zuwachs bescherte, aber den Vorsprung der Unionsparteien nichtentscheidend verkürzte. Der SPD war es trotz ihrer neuen Politik und

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ihrer neuen Wahlkampfstrategien nicht gelungen, sich als echte Al-ternative zur Regierung zu profilieren und neue Wählerschichten imausreichenden Maß zu rekrutieren. Deshalb wird auch zu fragen sein,ob die „Gemeinsamkeitspolitik“ der SPD zu diesem Zeitpunkt nichtzuviel eigenes Profil gekostet hat.

Nicht zuletzt erwiesen sich für die Wahlaussichten der Sozial-demokratie die Diffamierungskampagnen als nicht zu unterschät-zender negativer Faktor,107 die die CDU/CSU mit Unterstützung derrechtsgerichteten Presse gegen Willy Brandt lancierte. Sie verfehltenihre Wirkung nicht. Brandt selbst war sich dieser Gefahr bewusst,hatte er doch schon seit seiner Rückkehr nach Deutschland mit Ver-leumdungen zu kämpfen.108 Nach seiner Nominierung zum Kanzler-kandidaten hatte er wiederholt auf die Möglichkeit derartiger An-griffe des politischen Gegners hingewiesen, so auf dem SPD Parteitag1960 in Hannover: „Der Kanzlerkandidat der deutschen Sozial-demokraten wird sich auf mancherlei Anfeindungen gefaßt machenmüssen. Ich habe bereits einen kräftigen Vorgeschmack von derschmutzigen Brühe bekommen, die man zusammenbraut. Aber ichsage: Die persönlichen Angriffe sind kein Zeichen von Stärke, siezeugen von Nervosität!“109

Willy Brandts Appelle, einen „sachlichen“ Wahlkampf zu füh-ren,110 fanden kaum Widerhall. Schon im November 1960 sah er sichgezwungen, u. a. gegen Verleumdungen des CSU-Landtagsabge-ordneten Ludwig Huber vorzugehen. Dieser hatte in einer Bezirks-versammlung der „Jungen Union“ behauptet, Brandt sei im Spani-schen Bürgerkrieg „Rotfrontkämpfer“ sowie Angehöriger der „Inter-nationalen Brigade“ gewesen und habe in norwegischer Uniformwomöglich auch gegen Deutsche gekämpft.111 Hinzu kamen imLaufe des Wahlkampfes abwertende Anspielungen auf Brandts un-eheliche Geburt, seinen Namenswechsel und seinen angeblich „un-moralischen“ Lebenswandel.

Willy Brandt und die SPD versuchten, sich auf verschiedenenEbenen gegen die Angriffe zu wehren. Dabei wurden sie von großenTeilen der Berliner und der linksliberalen Presse unterstützt. In Un-terlassungsklagen, in Presseerklärungen, offenen Briefen sowie in

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Wahlkampfreden wurde versucht, die Anschuldigungen zurückzu-weisen und zu widerlegen.112

Führende Unionspolitiker wie Franz Josef Strauß rückten dieEmigrationszeit Brandts gern in den Dunstkreis nicht näher spezifi-zierter Verdächtigungen. In seiner Vilshofener Rede im Februar 1961stellte Strauß beispielsweise die Frage: „Eines wird man doch HerrnBrandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen ge-macht? Wir wissen, was wir gemacht haben.“113 Selbst BundeskanzlerAdenauer scheute sich nicht, Brandt mit Mitteln zu bekämpfen, dieaußerhalb eines fairen politischen Wahlkampfes lagen. Sein Aus-spruch „Herr Brandt alias Frahm“114 einen Tag nach dem Mauerbau ineiner Wahlkampfrede ist der bekannteste.115 Brandt fühlte sich durchdiese „Schmutzkampagnen“ persönlich sehr getroffen.

Das Wahlergebnis der Bundestagswahl des Jahres 1961 hättezwar, rein rechnerisch, für eine SPD/FDP-Koalition gereicht, „dochdie politischen Voraussetzungen waren – noch – nicht gegeben“116, soBrandt. Nach der Wahl versuchte er daher, in Absprache mit demPartei-Präsidium und ganz im Sinne der von ihm vertretenen „Ge-meinschaftsaufgaben“, eine Allparteienregierung anzuregen. Zu die-sem Zweck führte er mehrere Sondierungsgespräche mit Vertreternder anderen Parteien.117 Dass im Ergebnis weder eine Allparteienre-gierung noch eine Große Koalition gebildet wurde, war vor allem aufden Widerstand der führenden Unionspolitiker Adenauer, Erhardund Strauß sowie von Teilen der FDP zurückzuführen.118 Bereits einJahr später, im November 1962, stand – als Folge der durch die so ge-nannte „Spiegel-Affäre“119 ausgelösten Regierungskrise – die Frageeiner möglichen Regierungsbeteiligung der SPD, diesmal in Formeiner Großen Koalition, erneut auf der politischen Tagesordnung.Auf Seiten der SPD war Wehner ihr entschiedener Verfechter. Er wares auch, der die ersten geheimen Gespräche mit CDU/CSU-Vertreternführte. Brandt selbst war wegen einer Grippeerkrankung nur amRande an den Unterredungen beteiligt, wurde aber von ErichOllenhauer über den Fortgang der Verhandlungen unterrichtet.120 Erstand der von Wehner, Erler und Ollenhauer angestrebten GroßenKoalition zwar nicht ablehnend, jedoch äußerst zurückhaltend ge-

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genüber. Die Verhandlungen scheiterten schließlich an der Forde-rung der Union nach der Einführung eines Mehrheitswahlrechtesund an den Bedenken der Sozialdemokratie gegen eine nochmaligeKanzlerschaft Konrad Adenauers.121

In den Jahren nach der Bundestagswahl von 1961 bekräftigte dieSPD ihr Ziel, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen. Indieser Zeit wurde das Konzept der „Gemeinsamkeitspolitik“ weiterverfolgt und konkretisiert und eine Reform des Bildungswesens mitbesonderem Nachdruck gefordert. Nach dem Kanzlerwechsel vonAdenauer zu Erhard im Jahr 1963 erlebte die Bundesrepublik erst-mals einen Regierungschef, der an Außenpolitik nur geringes Inte-resse hatte. Zur gleichen Zeit profilierte sich Brandt als Befürwortereiner Neuen Ostpolitik und als Verfechter einer „Politik der kleinenSchritte“, die in den Berliner Passierscheinabkommen 1963 bis 1966Gestalt annahm. Dadurch gewann er auch auf außenpolitischemTerrain zusehends an Profil. Trotz massiver Angriffe der CDU/CSUvermochte er – von den Medien unterstützt – seine Popularität im In-und Ausland zu steigern.

Der Wahlkampf 1965 ist, wie schon der des Jahres 1961, detail-liert geplant worden. Allerdings war die Anlehnung an amerika-nische Wahlkampfformen diesmal nicht ganz so ausgeprägt wienoch vier Jahre zuvor. Dem Kanzlerkandidaten Brandt, seit 1964 auchVorsitzender der SPD, wurde erneut eine Mannschaft zur Seite ge-stellt und das ganze Repertoire moderner Werbemöglichkeiten, wiez. B. die Ausstrahlung von Fernsehspots, ausgeschöpft. Der zentraleWerbeslogan der Sozialdemokraten „Sicher ist sicher“ – der vermut-lich dem „Gemeinsamkeitskurs“ entsprechend auch die Offenheit derSPD für wichtige gemeinsame Positionen der beiden großen Parteiensignalisieren sollte – erwies sich jedoch als nicht besonders wirksam,zumal er an den Slogan „Keine Experimente“ der CDU erinnerte.Thematisch war der Wahlkampf stark innenpolitisch ausgerichtet.122

Das zeigen Brandts Wahlkampfreden. Die bereits 1961 formuliertenGemeinschaftsaufgaben wurden wiederum ins Zentrum der politi-schen Aussagen gerückt. Auch hierauf dürfte es zurückzuführen sein,dass sich die SPD mit ihren Themen im Wahlkampf 1965 nicht als

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wirkliche Alternative zur Regierungskoalition darstellen konnte.Hinzu kam die schädliche Wirkung der Diffamierungskampagnengegen Brandt, die an Bösartigkeit nicht hinter denen von 1961 zu-rückstanden und mit denen die politischen Gegner versuchten, diedeutschlandpolitischen Bemühungen Brandts als Regierender Bür-germeister von Berlin zu diskreditieren.

Die Bundestagswahl vom 19. September 1965 brachte der SPDzwar erneut einen beträchtlichen Stimmenzugewinn (von 36,2 auf39,3 %). Ihr Ziel, stärkste Fraktion zu werden, erreichten die Sozial-demokraten jedoch nicht. Neben den bereits erwähnten Gründen lagdies vor allem an dem nach wie vor hohen Ansehen Ludwig Erhards,am Kanzlerbonus der CDU/CSU, an der verhältnismäßig stabilenVerfassung von Staat und Gesellschaft sowie an der vergleichsweiseruhigen außen- und sicherheitspolitischen Lage.123 Am 22. September1965 trat der Parteivorstand der SPD zu einer Sitzung zusammen, aufderen Tagesordnung die Wahlanalyse und die Planung des weiterenVorgehens standen. Dort erklärte Willy Brandt laut Protokoll: „Indieser Sitzung solle die Regierungsmannschaft ihren Auftrag an denParteivorstand zurückgeben. Das gelte für alle, auch für ihn, da ernicht die Absicht habe, ein permanenter Kanzlerkandidat der SPD zusein. Man müsse rechtzeitig überlegen, in welcher Schlachtordnungman neu antrete. [. . .] Er wolle in dieser Partei seine Pflicht tun,möchte aber nicht die Partei beschweren durch den Eindruck, erhemme den weiteren Aufstieg der Partei.“124

In der anschließenden Pressekonferenz gab er der Öffentlichkeitseine Entscheidung bekannt, dass er zwar weiter Parteivorsitzenderder SPD und Regierender Bürgermeister von Berlin bleiben wolle,aber „kein Anwärter für 1969 auf das Amt des Bundeskanzlers derBundesrepublik Deutschland“125 sei. Über die wirklichen Gründe fürdiesen Schritt ist viel spekuliert worden. Eine Rolle spielte sicherlich,dass Brandt gesundheitliche Probleme hatte.126 Die Strapazen derWahlkämpfe waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Aus-schlaggebend für die Entscheidung aber waren wohl die Diffamie-rungskampagnen, unter denen auch seine Familie zu leiden hatte.Brandt betonte mehrfach, dass er die SPD und ihre Erfolgsaussichten

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nicht länger durch seine Biographie, die der politische Gegner alsAnlass für die „Schmutzkampagne“ benutze, belasten wolle. Hinzukam, dass er sich dieses „Gezerre“ selbst nicht mehr zumuten wolltebzw. konnte. Die zum Teil sehr persönlichen Diffamierungen habenbei Brandt tiefe und bleibende Verletzungen hinterlassen. Das zeigtdie Verarbeitung des Themas sowohl in Briefen127 jener Zeit als auchin seinen autobiographischen Werken.128

Dass Brandt im Jahr 1969 doch noch einmal als Kandidat fürseine Partei zur Verfügung stand, war auf die für ihn zu diesem Zeit-punkt völlig veränderte politische Situation zurückzuführen: DasAmt des Außenministers und Vizekanzlers in der Großen Koalitionhatte sein persönliches Ansehen und seine politische Position gefes-tigt.

Parteivorsitzender der SPD

Brandt verknüpfte seine Absage an eine weitere Kanzlerkandidaturnach der Bundestagswahl 1965 mit dem Hinweis: „Als Parteivor-sitzender wolle er in nächster Zeit nicht so sehr in der Öffentlichkeit,sondern mehr innerhalb der Partei wirken.“129 Dieser Vorsatz solltenicht von Dauer sein. Nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandi-daten 1960 war Brandt zunächst nicht organisatorisch in die Füh-rungsriege der SPD eingebunden; um dennoch zu gewährleisten, dasser über Entscheidungen informiert war und sich zu ihnen äußernkonnte, nahm er an den Sitzungen des Parteipräsidiums teil. Nachder Bundestagswahl 1961 hatte er mit dem Hinweis auf seine Ver-pflichtungen in der geteilten Stadt abgelehnt, seinen politischenSchwerpunkt von Berlin nach Bonn in die Fraktion zu verlegen.Diese Entscheidung trug einerseits dazu bei, innerparteiliche Kon-flikte mit Fritz Erler, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Führungs-position als stellvertretender Vorsitzender in der Fraktion über-nommen hatte, zu vermeiden; andererseits kam sie auch dem eige-nen Politikstil Brandts entgegen, der mehr auf die eher von Berlin ausmögliche öffentliche Wirkung ausgerichtet war.130 So rückte er no-minell erst auf dem Kölner SPD-Parteitag im Mai 1962 in die Organi-

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sationsspitze des Parteiapparates auf, als er mit 298 von 330 abge-gebenen Stimmen zum stellvertretenden Parteivorsitzenden – imÜbrigen neben Herbert Wehner – und vom Parteivorstand ins Präsi-dium gewählt wurde. Erich Ollenhauer wurde als Parteivorsitzendernoch einmal bestätigt.131

Nach dem Parteitag im Frühjahr 1962 wurde nach einer Mög-lichkeit gesucht, Brandt sowohl in die höchste organisatorische Füh-rung der SPD einzubinden als auch seine Aufgaben in Berlin nichtdurch „ressortpolitische Kleinarbeit“ in Bonn zu behindern.132 SolcheLösungsvorschläge sowie die damit zusammenhängenden Personal-fragen waren bereits vor dem Parteitag zwischen Wehner und Brandtdiskutiert worden.133 Dabei war schon von der Einrichtung einer sogenannten „Planungsgruppe“134 unter Leitung Willy Brandts dieRede, die schließlich im Juni 1962 in der Tat realisiert wurde. DiesesGremium, dem auch Herbert Wehner und Alfred Nau als ständigeMitglieder angehörten, sollte nicht nur die Aufgaben einer zentralenWahlkampfleitung übernehmen, sondern sich auch mit bedeut-samen „politischen, soziologischen und propagandistischen The-men“ befassen.135 Angesichts der Vielfalt der Aufgaben ließen skepti-sche Äußerungen nicht lange auf sich warten. Im Mittelpunkt derKritik stand vor allem die Frage, ob Brandt neben seiner Arbeit alsRegierender Bürgermeister von Berlin die zusätzliche Belastung be-wältigen könne.136

Nach dem Tod Erich Ollenhauers im Dezember 1963 nahmHerbert Wehner, der inzwischen seine Position als „Chef der Ba-racke“ gefestigt hatte, endgültig die Fäden in die Hand, um die vonihm angestrebte Neustrukturierung der Parteispitze möglichst um-gehend zu verwirklichen. Zu diesem Zeitpunkt war das Verhältniszwischen Brandt und Wehner durch eine enge Kooperation gekenn-zeichnet. Ohne die massive Unterstützung Wehners wäre die spätereWahl Brandts zum Parteivorsitzenden zumindest schwieriger ge-worden. Am 23. Dezember 1963 schrieb Wehner an Brandt, wie ersich die neue Arbeitsteilung im Einzelnen vorstellte: „Am wichtig-sten ist für mich, daß Du die Führung übernimmst. In dieser Bezie-hung möchte ich allerdings kleine Variationen. Gut erschiene mir,

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wenn Fritz Erler und ich als stellvertretende Vorsitzende gewähltwürden und fungierten. Dies ist ein Experiment, weil Fritz den Frak-tionsvorsitz übernehmen wird, aber ich würde raten, es dadurch zumildern, daß ich – wenn die Fraktion mir die Stimmen gibt – wiedereiner der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden werde. Das würdeeinerseits ,Rangfolgen‘ etwas relativieren, andererseits deutlich ma-chen, wie unter Deiner Führung alles ineinandergreift.“137

Inzwischen waren allerdings zahlreiche Stimmen laut ge-worden, die Fritz Erler als nächsten Kanzlerkandidaten der SPD se-hen wollten.138 Damit die Umsetzung der Pläne Wehners, mit denensowohl Brandt139 als auch Erler einverstanden waren, hierdurch nichtgefährdet wurde, wurde am 15./16. Februar 1964 ein außerordentli-cher Parteitag abgehalten, auf dem sich die personelle KonstellationBrandt-Wehner-Erler durchsetzte. Diese Troika mit ihrer spezifi-schen Arbeitsteilung bewährte sich in den nächsten Jahren trotz dereinen oder anderen Unstimmigkeit. Sie trug entscheidend dazu bei,die SPD auf ihrem Weg zur „Volkspartei“ voranzubringen und sie indie Regierungsverantwortung zu führen. Willy Brandt wurde miteinem „überwältigenden Ergebnis“140 (314 von 324 Stimmen) zumneuen Parteivorsitzenden der SPD gewählt. Gleichzeitig wurde erwieder zum Kanzlerkandidaten seiner Partei für die Bundestagswahl1965 nominiert. Die Wahl Brandts zum SPD-Parteivorsitzenden warwenig umstritten,141 erfreute er sich doch wegen des engagiertenWahlkampfes von 1961 und durch seine Politik in und für Berlineiner Popularität wie keiner der anderen möglichen Kandidaten.

Will man das Spezifische, das Willy Brandt als Parteivor-sitzenden der SPD in den sechziger Jahren auszeichnete, herausar-beiten, so müssen in erster Linie sein Führungsstil, sein Verhältnis zuden Parteimitgliedern sowie sein Umgang mit innerparteilichenKontroversen, von denen es nicht wenige gab, in das Blickfeld ge-rückt werden. Im Folgenden werden diese Punkte an solchen Bei-spielen erörtert, die sich in den Dokumenten dieses Bandes wider-spiegeln.

Brandts Führungsstil, den er selbst als „kollegial“ bezeichnete,142

war vor allem durch seine Bereitschaft gekennzeichnet, Entschei-

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dungen im Diskussionsprozess und in Absprache mit seinen Mit-arbeitern und Parteiführungskollegen zu treffen. Dies schloss nichtaus, dass er wichtige Entschlüsse gegebenenfalls auch umgehend undohne Beratung traf.143 Damit repräsentierte er im Vergleich zu demautoritären Schumacher und auch zu Herbert Wehner, der ebenfallseher zu einem autoritären Führungsstil neigte, einen völlig anderenTypus des Parteiführers. Dies führte nicht selten zu Konflikten zwi-schen Brandt und Wehner. Seit Übernahme der Regierungsverant-wortung im Oktober 1969 verstärkte sich das Problem. Brandts Artder Führung war Anlass für manche innerparteiliche Kritik am Vor-sitzenden. Sie wurde naturgemäß vor allem in Krisenzeiten geäußert.Brandts Führungsstil wurde dann in der Regel mit Führungs-schwäche gleichgesetzt.144 So schrieb Karl Schiller – um hier nur einBeispiel zu nennen – im Mai 1969: „Auch wenn es Deiner liberalenGrundeinstellung nicht ganz leicht fallen mag, mußt Du erstens inder augenblicklichen Lage [. . .] die Führung der Partei fester in dieHand nehmen und eindeutig und unmißverständlich klarstellen, daßDu Verstöße gegen übergeordnete Partei- und Wahlinteressen nichtdulden wirst [. . .].“145 Die Argumentationen auch anderer Kritikerfolgten in der Regel diesem Muster. Brandt musste sich währendseiner gesamten Amtszeit als Parteivorsitzender damit auseinander-setzen.146

Fragt man nach den Auswirkungen des Brandtschen Führungs-stils auf die innere Struktur der SPD, so ist festzustellen, dass dieKritik an seiner angeblichen Führungsschwäche die Autorität desParteivorsitzenden zeitweise schwächte und Machtproben zur Folgehatte. So gesehen, waren die Auswirkungen seiner spezifischen Art,an der Spitze der Partei zu stehen, für Brandt selbst höchst ambiva-lent: Sie zwangen ihn, sich häufiger als seine Vorgänger gegen An-griffe und abweichende Auffassungen in den Spitzengremien der SPDzur Wehr zu setzen; gleichzeitig trugen sie ihm aber große Sym-pathien bei seinen Mitarbeitern, der Mehrheit der Parteimitgliederund der Bevölkerung ein. Brandts Art zu führen wurde von vielenWeggefährten und Mitarbeitern auch in der Rückschau noch positivbewertet.147

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Brandt pflegte nicht nur einen besonderen Stil bei der Leitungder Partei, sondern auch ein anderes Verhältnis zu den Parteimit-gliedern. Hier kam es ihm sehr auf innerparteiliche Kommunikationan. Neben den üblichen Mitteln, wie der Veröffentlichung von Re-den, Aufrufen oder Beschlüssen in den parteieigenen Publikations-organen, ging Brandt dazu über, in zentralen Fragen der SPD-PolitikBriefe „An die Mitglieder der SPD“ zu richten. In diesen Schreiben, dieje nach politischem Bedarf in unregelmäßigen Abständen verschicktwurden, erläuterte und begründete der Parteivorsitzende das politi-sche Vorgehen der Parteiführung. Vor allem in kontroversen Fragenleistete Brandt so Überzeugungsarbeit und bemühte sich um dieEntschärfung von Konflikten. Beispielsweise verfasste er 1966Schreiben an die Parteimitglieder zu der Frage des geplanten SPD-SED-Redneraustauschs sowie zur Bildung der Großen Koalition oder1969 zur Verabschiedung eines neuen Regierungsprogramms vor derBundestagswahl.148 Diese Form der direkten Ansprache der Partei-mitglieder durch Briefe des Vorsitzenden auf Bundesebene war neu.Brandt selbst hatte die „Anschreiben“ erstmals in den fünfziger Jah-ren in der Berliner SPD eingesetzt.149 Tatsächlich zeugen zahlloseBriefe an den Parteivorsitzenden, kritisch oder zustimmend, vom Be-dürfnis vieler Mitglieder, unmittelbar mit dem Vorsitzenden zukommunizieren. Brandt nahm diesen Schriftwechsel sehr ernst.Wenn er auch nur wenige Briefe selbst beantworten konnte, achteteer doch darauf, dass seine Mitarbeiter keinen Brief, und hatte er einennoch so absurden Inhalt, unbeantwortet ließen.150

Trotz der Bemühungen Brandts um innerparteiliche Kom-munikation blieben Konflikte auch nach seiner Wahl zum Partei-vorsitzenden nicht aus. Sie verschärften sich sogar zum Teil nochund nahmen auch den Vorsitzenden nicht von Kritik aus. Bemer-kenswert ist, dass Willy Brandt dennoch mit allerbesten Ergebnissenin seinem Amt als Parteivorsitzender bestätigt wurde. Auf dem Dort-munder Parteitag im Juni 1966, auf dem Brandt nochmals den Regie-rungswillen seiner Partei bekräftigte, wurde er mit dem über-ragenden Ergebnis von 324 der 326 gültigen Stimmen wieder zumParteivorsitzenden gewählt.

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Einige Monate später – Ende 1966 – flammte aber eine innerpar-teiliche Kontroverse auf, die auch in den folgenden Jahren nicht bei-gelegt werden konnte. Die innerparteiliche und die öffentliche Kritikentzündete sich an der Frage der Bildung der Großen Koalition. EineRegierungskrise, die aufgrund von Differenzen in der CDU/CSU-FDP-Koalition in Zusammenhang mit der Verabschiedung des Bundes-haushaltes ausgelöst wurde, hatte zur Folge, dass die Liberalen dasKabinett verließen und Ludwig Erhard Anfang November 1966 alsBundeskanzler zurücktreten musste. In dieser Krisensituation botsich für die SPD die Möglichkeit, die lange angestrebte Regie-rungsbeteiligung zu realisieren.151 Der Partei standen mehrere Op-tionen offen: die Forderung nach Neuwahlen, die aber wegen derMehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht erfolgversprechend war,die Bildung einer Allparteienregierung, eine Große Koalition undeine sozialliberale Koalition.

Innerhalb der Parteiführung gab es vor allem Präferenzen für diebeiden letztgenannten Möglichkeiten. So waren Herbert Wehnerund Helmut Schmidt uneingeschränkte Verfechter einer GroßenKoalition, Willy Brandt hingegen befürwortete zunächst die SPD/FDP-Lösung.152 In mehreren Präsidiumssitzungen Anfang November1966 einigte man sich – nach langen Diskussionen – darauf, mit derUnion und den Freien Demokraten innen- und außenpolitischeSachfragen zu erörtern. In einer gemeinsamen Sitzung von Partei-und Fraktionsvorstand wurde dieser Absicht am 11. Novembergrundsätzlich zugestimmt und eine Verhandlungskommission be-nannt, die sich aus Brandt, Wehner, Schmidt, Möller und Schillerzusammensetzte.153 Nach mehreren Verhandlungsrunden standender SPD beide Koalitionsmöglichkeiten offen. Um die Partei vor einerZerreißprobe zu bewahren, musste möglichst schnell eine Entschei-dung getroffen werden, wofür Brandt sich auf einer gemeinsamenSitzung von Partei- und Fraktionsvorstand am 25. November aus-sprach. Zugleich plädierte er jetzt für eine Große Koalition. DieseEntscheidung bedeutete für ihn allerdings nur „das kleinere Übel“.Das Protokoll zitiert den Vorsitzenden weiter: „Eine neue Politik seinur bei einer absoluten Mehrheit der SPD zu erreichen. Aus einer

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Regierungsbeteiligung werde die Partei ihren Nutzen ziehen. Die FDPsei kein entwicklungsfähiger Partner. Dazu sei sie innenpolitischunzuverlässig. Die CDU sei in einer schwierigen Verfassung. Wenndie SPD mit ihr zusammengehe, bringe sie ihr Kapital für die Bun-desrepublik und ihre Bevölkerung ein. – Wenn Brandt in eine Regie-rung Kiesinger eintrete, werde Deutschland repräsentiert von Per-sönlichkeiten der verschiedenen Erlebnisbereiche der Vergangen-heit. Das könne wesentlich zur Aussöhnung des deutschen Volkesbeitragen.“154

Durch das Einschwenken Brandts auf das Modell der GroßenKoalition, in die er als Außenminister und Vizekanzler eintretensollte, wurde die Geschlossenheit der Parteiführung unter der neuenTroika Brandt-Wehner-Schmidt155 wiederhergestellt. Sie ermöglichtees noch auf der gemeinsamen Sitzung von Partei- und Fraktionsvor-stand, eine Koalition mit den Unionsparteien zu befürworten. DieMeinungsänderung Brandts war das Ergebnis der Verhandlungenmit der CDU/CSU einerseits und der FDP andererseits. Die CDU hattesich in Sachfragen sehr kompromissbereit gezeigt. Eine SPD/FDP-Lö-sung schien hingegen einige Unsicherheitsfaktoren zu enthalten: dieknappen Mehrheitsverhältnisse156 und die Gewissheit, dass nicht alleFDP-Abgeordneten einen Kanzler Brandt wählen würden. Letzteresdürfte die ausschlaggebende Rolle für Brandts Votum zugunsten derGroßen Koalition gespielt haben. Diesen Standpunkt vertrat er dannauch – trotz vieler Anfeindungen – mit Nachdruck. Sein Urteil überdie Politik der Regierung aus Sozial- und Christdemokraten fiel, auchnoch im Rückblick, insgesamt positiv aus.

Die innerparteiliche wie die öffentliche Kritik an der GroßenKoalition ließ nicht lange auf sich warten. Sie entzündete sich anPersonal- und an Sachfragen. Zentrale Kritikpunkte waren die vor-malige NSDAP-Mitgliedschaft des Bundeskanzlers Kurt GeorgKiesinger, die Einbeziehung von Franz Josef Strauß ins Kabinett, derdurch die „Spiegel-Affäre“ diskreditiert war, die Notstandsgesetz-gebung sowie die Wahlrechtsreform.157 Die Opposition gegen dasSPD/CDU/CSU-Bündnis fand sich auf allen Ebenen der Sozial-demokratie: Am verbreitetsten war die Kritik jedoch bei den jün-

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geren Parteimitgliedern, im Besonderen bei den Jungsozialisten undbeim Sozialdemokratischen Hochschulbund, aber auch bei vielenJungakademikern, die zur neuen Mitgliederklientel der SPD zählten.Darüber hinaus wurde dieser Schritt der Partei von vielen Intel-lektuellen, die mit den Sozialdemokraten sympathisierten, heftigkritisiert. Besonders enttäuscht war man dort darüber, dass aus-gerechnet Willy Brandt, von dem sich zahllose Anhänger der SPD denpolitischen Umschwung erhofften, die gemeinsame Regierung mitder CDU/CSU befürwortet hatte. So schrieb beispielsweise GünterGrass sofort nach Bekanntwerden der Entscheidung der SPD einenoffenen Brief an Willy Brandt, in dem er diesen aufforderte, denSchritt noch einmal zu überdenken.158

Brandt war sich bewusst, dass die Große Koalition auch in seinereigenen Partei mit „viel Skepsis oder auch mit offener Ablehnung“aufgenommen werden würde. Aus diesem Grund verfasste er nochim Dezember 1966 einen Brief an die SPD-Parteimitglieder, in dem erdie Bildung dieser Koalition rechtfertigte und die Vorteile für die SPDund die Bundesrepublik hervorhob.159 Um für die Entscheidung zuwerben, wurden zahlreiche regionale Parteiveranstaltungen abge-halten sowie Erfolgsmeldungen und Bilanzen veröffentlicht, so z. B.eine 20-seitige Sonderbeilage des Vorwärts „Die SPD in der Regierung“im November 1967, in der das erste Jahr Regierungsarbeit dargestelltund bewertet wurde.160

Die Bemühungen der Parteiführung um Aufklärung und nichtzuletzt die sichtbaren Erfolge der SPD-Minister in der Koalition tru-gen mittelfristig dazu bei, den innerparteilichen Konflikt wesentlichzu entschärfen. Vorerst waren die politischen Folgen für die SPD al-lerdings eher negativ: Es gab Parteiaustritte und Verluste bei denLandtagswahlen des Jahres 1968. Immer wieder erreichten den Par-teivorsitzenden Schreiben von beunruhigten lokalen Funktionärenüber die Stimmung in der Partei. So schrieb z. B. im März 1968 derBürgermeister einer schleswig-holsteinischen Gemeinde und Abge-ordnete im Kieler Landtag Dudda an den Parteivorsitzenden: „AlsBürgermeister einer Industriestadt mit einer mehr als 20-jährigensozialdemokratischen Mehrheit kann man sich durch ständige

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Tuchfühlung mit den Menschen der Stadt ein ziemlich genaues Bildmachen, wie diese den Eintritt und die Tätigkeit der SPD in derGroßen Koalition aufnehmen. In meiner 22-jährigen politischen Ar-beit habe ich noch nie, besonders bei dem sog[enannten] KleinenMann, ein derartiges Stimmungstief in seiner Einstellung zur SPDerlebt wie in dem Jahr seit der Großen Koalition. [. . .] Aus Sorge umunsere Partei schreibe ich diesen Brief. Wenn ich mir überhaupteinen Rat erlauben darf, dann sollte unsere Partei ernsthaft prüfen,ob ihre Beteiligung an der Regierung es rechtfertigt, die Glaubwür-digkeit unserer Partei gegenüber den Wählern solchen Zweifelnauszusetzen.“161 Wie ernst derartige Bedenken vom Parteivor-sitzenden genommen wurden, zeigt, dass er diesen Brief persönlichbeantwortete: „Auch für mich steht außer Frage, daß wir den Grün-den für unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten ernsthaft nachgehenmüssen. [. . .] Es ist uns nicht gelungen, mit Überzeugung darzu-stellen, daß die Regierungsbeteiligung der SPD eine Wirtschaftskrisemit Massenarbeitslosigkeit verhindert hat. [. . .] Unsere Aufgabe mußsein, solche Leistungen in offensiver Weise darzustellen. Alle, denendas Wohl unserer Partei am Herzen liegt, sollten mithelfen, denKleinmut auszuräumen und aus Rückschlägen die Kraft zu schöp-fen, sich wirksamer als bisher mit unseren Widersachern ausein-anderzusetzen.“162

Der Parteitag im März 1968 sollte die Entscheidung der Füh-rungsgremien über den Eintritt in die Große Koalition im Nachhin-ein legitimieren. Das Ergebnis war denkbar knapp und unterstrichnoch einmal die weiterhin verbreitete innerparteiliche Skepsis ge-genüber dem Regierungsbündnis mit der CDU/CSU.163 Bei der Wie-derwahl Willy Brandts zum Parteivorsitzenden machte sich dieseStimmung jedoch nicht bemerkbar. Er wurde mit nur acht Gegen-stimmen gewählt. Hier wurde bereits deutlich, was für die Jahre bis1972 Bestand haben sollte: Als Parteiführer stand Brandt in dieser Zeitfür die SPD nicht infrage, auch wenn einzelne seiner politischenSchritte kritisiert wurden. Er befand sich gewissermaßen als Integra-tions- und Identifikationsfigur jenseits der Konfliktlinien. Diese Po-sition Brandts wurde nach 1969 weiter gestärkt.

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Am Ziel

Am 21. Oktober 1969 wurde Willy Brandt erster sozialdemokratischerBundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.164 Damit hatten erund die SPD nach zwanzig Jahren eines ihrer wichtigsten Ziele er-reicht. Die SPD war Regierungspartei, und die von Brandt angestrebteErneuerung der SPD zur Volkspartei war, nun auch im Hinblick aufdie Wählerschaft und die Mitgliederstruktur, weitgehend umgesetzt.

Der Wahl des Jahres 1969 war ein Wahlkampf vorausgegangen,der sich von denen der Jahre 1961 und 1965 unterschied. Allerdingshatte sich die Situation auch insofern grundlegend geändert, als dieSozialdemokratie erstmals aus der Regierungsverantwortung herausum die Macht kämpfte. Inhaltlich betonte die SPD nun nicht mehrdie „Gemeinsamkeit“ mit den anderen Parteien, sondern wies auf dieLeistungen ihrer Kabinettsmitglieder und auf ihr Regierungspro-gramm hin, das eine umfassende Reform der Politik und eineModernisierung der Gesellschaft in Aussicht stellte. Dementspre-chend waren auch die Wahlslogans – auf Plakaten in orangerGrundfarbe – ausgerichtet: „Wir schaffen das moderne Deutschland“und „Wir haben die richtigen Männer“.165

Für Willy Brandt wurde ein spezielles Wahlkampfkonzept erar-beitet. Er wurde als Spitzenmann einer profilierten Regierungs-mannschaft präsentiert. Von Vorteil war, dass Brandt nicht mehr alsOppositionsführer wie in früheren Wahlkämpfen beliebig von derUnion angegriffen und diskreditiert werden konnte, sondern nun-mehr Außenminister und Vizekanzler einer gemeinsamen Regierungwar. Dies kam auch im Wahlkampfkonzept der SPD zum Ausdruck,das bereits im Dezember 1968 beschlossen wurde. „Willy Brandt istAußenminister. Deshalb anderer Wahlkampfstil als in den früherenJahren: keine Kapelle, keine Unterhalter etc.“166 Brandt hatte, um dieRegierungsfähigkeit der SPD weiterhin zu unterstreichen, verlangt,dass der Wahlkampf seine Arbeit als Außenminister nicht beein-trächtigen dürfe. Er unternahm deshalb auch keine mehrtägigenWahlkampfreisen, aber hielt trotzdem insgesamt noch 250 Veran-staltungen ab.

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Ein neues Instrument dieses Wahlkampfes, das von Brandtgefördert wurde und einen nicht zu unterschätzenden Einfluss aufdas Wahlergebnis der SPD hatte, war die „SozialdemokratischeWählerinitiative“ (SWI),167 ein breites Bündnis aus Intellektuellen,Künstlern und Bürgern, die sich für die Wahl der SPD, für Brandt alsBundeskanzler organisierten und damit für einen wirklichen Regie-rungswechsel in Bonn engagierten.

Ein Einsatz von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Journa-listen für die SPD war in ersten Ansätzen schon im Bundestagswahl-kampf 1961 erkennbar. Vor allem jüngere, linke Schriftsteller undJournalisten wollten sich – nach einer Zeit der relativen politischenEinflusslosigkeit von Intellektuellen während der fünfziger Jahre –wieder aktiv am politischen Geschehen beteiligen. Ihr Ziel war einRegierungswechsel, um die von ihnen für notwendig erachtete Re-form der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft zu erreichen. IhreAktivitäten beschränkten sich zu diesem Zeitpunkt jedoch vor allemauf publizistische Stellungnahmen.168

Brandt hatte dieses Engagement schon 1961 begrüßt und unter-stützt. Er initiierte damals ein Treffen mit Wissenschaftlern undSchriftstellern und plädierte dafür, die Zusammenarbeit auszubauen.Durch das Engagement von Intellektuellen für die SPD erhoffte sichBrandt insbesondere eine Unterstützung bei der Rekrutierung neuerWählerschichten. Diese Einschätzung erwies sich grundsätzlich alszutreffend.

Im Wahlkampf 1965 nahm der Einsatz von Künstlern und In-tellektuellen für die SPD zu, weil nun die Chancen für einen Wahl-sieg um einiges höher eingeschätzt wurden als noch vier Jahre zu-vor. Positiv wirkte sich in diesem Zusammenhang aus, dass Brandtseit Beginn der sechziger Jahre einen regen Austausch mit Ver-tretern von Kultur und Wissenschaft geführt und manche von ih-nen als politische Ratgeber und persönliche Freunde gewonnenhatte. Es wurden auch neue Wege der Wahlkampfunterstützungeingeschlagen. Auf Initiative von Günter Grass, Hans Werner Rich-ter und Klaus Wagenbach wurde das „Wahlkontor deutscherSchriftsteller“ ins Leben gerufen.169 Ihr Ziel war, die SPD durch Hilfe

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beim Abfassen von Politikerreden und dem Erfinden von Wahl-slogans für breitere Wählerschichten attraktiver zu machen. DieSPD stellte dafür ein Büro zur Verfügung. Neben Willy Brandt wa-ren es vor allem Karl Schiller, Helmut Schmidt und Fritz Erler, diemit dem Wahlkontor zusammenarbeiteten. Zugleich reiste GünterGrass, unterstützt von Paul Schallück, durch die Republik und hieltWahlkampfreden für die SPD.170 Der Autor der „Blechtrommel“stand zu diesem Zeitpunkt schon im regelmäßigen Kontakt mitWilly Brandt. Wenngleich der Eintritt der SPD in die Große Koali-tion gerade von den freiwilligen Wahlkämpfern besonders kritisiertwurde, wurden auf Initiative von Günter Grass in Absprache mitWilly Brandt schon 1967 erste Überlegungen ausgearbeitet, wie undin welcher Form die SPD im Wahlkampf 1969 unterstützt werdenkönnte, um einen „wirklichen Machtwechsel“ zu erreichen. Im De-zember 1967 traf sich erstmals ein kleinerer Kreis bei Günter Grass,darunter Kurt Sontheimer, Eberhard Jäckel, Günter Gaus und Erd-mann Linde, um eine „Sozialdemokratische Wählerinitiative“ insLeben zu rufen, die sich dann auch Anfang 1969 der Öffentlichkeitpräsentierte. Gegenüber 1965 wurde der Kreis der Personen, die dieSPD im Wahlkampf unterstützten, erweitert. Willy Brandt griff ak-tiv in die Werbung für die Initiative ein, indem er bekannte Per-sönlichkeiten zur Mitarbeit aufforderte. Diese Bemühungen warenerfolgreich; so konnten auch viele Prominente aus Film und Fern-sehen gewonnen werden. Es gelang überdies, eine breite Bürger-bewegung ins Leben zu rufen. Kurz vor Ende des Wahlkampfesexistierten in rund 100 von 248 Wahlkreisen lokale Wähler-initiativen, in denen sich örtliche Prominenz, wie Rechtsanwälte,Architekten und Lehrer, für die SPD engagierten – ein bis heutebeispielloser Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Es warnicht zuletzt der Aktivität der Wählerinitiative zuzuschreiben, dassdie SPD für Angehörige der Mittelschichten und viele Akademikerwählbar wurde, die bislang für die Sozialdemokraten kaum erreich-bar waren.

Nach der erfolgreichen Wahl des Jahres 1969 bezog Willy Brandteinen Teil der intellektuellen Helfer in die Politik ein. Er beschäftigte

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sie als Redenschreiber oder betraute sie in Ausnahmefällen auch miteinem Amt. Dies galt vor allem für die Wissenschaftler und Journa-listen unter ihnen. Günter Grass aber gehörte nicht dazu, obwohl erim Oktober 1969 sein Interesse an einem Amt signalisiert hatte.171

Der Gedankenaustausch mit Grass und anderen Mitgliedern der SWIwurde in nicht institutionalisierter Form fortgesetzt, zumal es Teildes Selbstverständnisses Brandts war, einen solchen Austausch mitKünstlern und Intellektuellen zu suchen. So war er auch der ersteBundeskanzler, der auf einem Schriftstellerkongress sprach.172 Wiegroß der Einfluss der in der SWI engagierten Intellektuellen auf dieInhalte der Politik der SPD und der sozialliberalen Koalition tatsäch-lich war, ist schwer abzuschätzen. Jedenfalls lässt er sich in wesent-lich stärkerem Maße als in anderen Phasen der Geschichte der Bun-desrepublik nachweisen. Im Rückblick haben manche Mitglieder derSWI, u. a. Sontheimer, Härtling und Jäckel, bedauert, dass es nichtgelungen ist, die Initiative als „braintrust“ fest in der SPD zu veran-kern.173

In den Jahren 1969 bis 1972 konzentrierte sich die politische Ar-beit Willy Brandts – zwangsläufig – auf sein Amt als Bundeskanzler.Gleichwohl kamen von ihm auch in dieser Zeit wichtige Impulse zurinnerparteilichen Orientierung der SPD, wie sie z. B. in seiner Redezum zwanzigsten Todestag von Kurt Schumacher im August 1972 zufinden sind. Bei seinen Aufgaben als Parteivorsitzender wurde WillyBrandt ab Ende Mai 1968 von einem Bundesgeschäftsführer unter-stützt – ein Amt, das zunächst Hans-Jürgen Wischnewski und ab1972 Holger Börner wahrnahm. Gleichzeitig wuchs die Macht derstellvertretenden Parteivorsitzenden und vor allem diejenige HerbertWehners, der seit dem Regierungswechsel auch das Amt des Frak-tionsvorsitzenden innehatte.

Auf der anderen Seite half die wachsende Popularität des Bun-deskanzlers Brandt dem Parteivorsitzenden Brandt bei seinem Stre-ben, die Partei zusammenzuhalten. Insbesondere die linksradikalenTendenzen bei einem Teil der Jusos bestimmten die innerpartei-lichen Konflikte während seiner ersten Kanzlerschaft. Er versuchte,seine Integrationsfähigkeit einzusetzen, um diese Konflikte zu ent-

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schärfen.174 Die Haltung des Parteichefs gegenüber den Jusos, der all-gemeinen Studentenbewegung bzw. den „68ern“ war ambivalent. Beiallem Verständnis und aller Dialogbereitschaft gegenüber der Jugend,der er eine kritische Einstellung zu den hergebrachten Ver-haltensformen und Werten durchaus zubilligte, war für ihn dieGrenze jedoch dort erreicht, wo Gewalt die politische Diskussion er-setzte und das demokratische System infrage gestellt wurde.

Dass Brandt während seiner ersten Kanzlerschaft im In- undAusland ein hohes Maß an Anerkennung und Popularität erworbenhatte, schlug sich dann auch im Wahlergebnis des Jahres 1972 nie-der.175 Der Wahlkampf war wiederum strategisch geplant worden.176

Er bezog sich nicht nur – wie vielfach angenommen – auf die neueOstpolitik, sondern sprach die ganze Bandbreite innenpolitischerThemen an. Die Wahlkampftour des Bundeskanzlers glich einer Art„Triumphzug“ durch die Republik. Unter dem Motto „Willy wählen“entstand eine regelrechte Massenbewegung, getragen von 350 lo-kalen „sozialdemokratischen Wählerinitiativen“.

Willy Brandt war im November 1972 auf dem Höhepunkt seinesErfolges, in seiner Partei und großen Teilen der Öffentlichkeit weit-gehend unangefochten.

Willy Brandt und die SPD: Eine Bilanz

„Ich versuchte mich vom Gruppendenken frei zu halten und die SPDals moderne Volkspartei zu formen, ohne ihre grundsätzliche Orien-tierung verblassen zu lassen,“177 so Willy Brandt 1976 in der Rück-schau.

Das Ziel, die SPD zur „modernen Volkspartei“ zu formen, war amEnde der sechziger Jahre weitgehend erreicht,178 nachdem bereitszehn Jahre zuvor durch die Verabschiedung des Godesberger Pro-gramms die programmatische Grundlage dafür gelegt worden war.Dass die Praxis sich erst langsam der Programmatik anpasste, hatteneben parteiinternen auch gesellschaftliche Ursachen. Vor allem diesozio-ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozesse in densechziger Jahren haben dabei eine zentrale Rolle gespielt.

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Der Anteil Willy Brandts an der „Modernisierung der SPD“ hinzur Volkspartei und an der Übernahme von Regierungsverant-wortung in den sechziger Jahren ist – wie gezeigt wurde – sehr hoch.Brandt prägte sowohl die außen- als auch die innenpolitische Um-orientierung der Partei seit Anfang der sechziger Jahre entscheidendmit. Ebenso sind die neuen Formen der Selbstdarstellung der SPDdurch Wahlkämpfe und Öffentlichkeitsarbeit auch auf seinen Ein-fluss zurückzuführen. Kaum ein anderer Politiker dieser Zeit ver-stand es, sich und seine Politik so zu präsentieren, wie es den Er-fordernissen der damals entstehenden modernen Mediengesellschaftentsprach. Er prägte einen neuen politischen Stil, der auch über dieSPD hinaus die politische Kultur der Bundesrepublik nachhaltig be-einflusst hat.

Der Aufstieg Willy Brandts und sein Einfluss auf die Entwick-lung der SPD waren jedoch keine lineare Erfolgsgeschichte. Das Ver-hältnis zu seiner Partei durchlief unterschiedliche Phasen: In denfünfziger Jahren ist Willy Brandt einer kleinen Gruppe von Refor-mern zuzuordnen, die schon früh eine Öffnung der SPD hin zu an-deren Wählerschichten, verbunden mit einer organisatorischen, po-litischen und programmatischen Reform der Partei, forderten. Hier-bei war für Brandt bedeutsam, dass seine politischen Vorstellungenund Ziele durch die norwegische Arbeiterbewegung während der Zeitseines Exils geprägt worden sind.

In Brandts Denken und politischem Handeln lässt sich deutlicheine Kontinuitätslinie erkennen. Was er in den fünfziger Jahren be-reits gefordert hatte, konnte er in den sechziger Jahren umsetzen undweiterentwickeln. Voraussetzung dafür waren sowohl das Vor-dringen der Reformkräfte in der SPD, durch die Brandt in der Parteiwichtige politische Positionen erreicht hatte, als auch der Wandelder sozio-ökonomischen Verhältnisse in der bundesdeutschen Ge-sellschaft der sechziger Jahre. Ein weiteres zentrales Moment derKontinuität im politischen Denken Brandts waren – schon in denvierziger Jahren – seine Überlegungen zum demokratischen Sozialis-mus als Grundlage seines politischen Handelns. Diese Reflexionentraten zwar in der ersten Hälfte der sechziger Jahre hinter den strate-

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gisch-politischen Erwägungen der „Gemeinsamkeitspolitik“ zurück,wurden jedoch als Handlungsmaxime von Brandt nie aufgegebenund seit Ende der sechziger Jahre wieder stärker in den Mittelpunktseiner politischen Aussagen und Erklärungen gerückt.

Von Beginn der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre lässtsich das Verhältnis Brandts zur SPD als „Gleichzeitigkeit in der Un-gleichzeitigkeit“ charakterisieren. Während er bereits die moderneVolkspartei forderte, war die Mehrheit der Parteiführung und akti-ven Parteimitgliedschaft noch weitgehend den Vorstellungen einertraditionellen Arbeiterpartei verhaftet. Dies bestimmte auch die in-nerparteilichen Konfliktlinien zwischen Parteimehrheit und derkleinen Gruppe von Reformern. Sie konnten sich zwar im letztenDrittel der fünfziger Jahre allmählich in der Parteiführung durch-setzen und die „Erneuerung der SPD“ voranbringen, doch fanden dieeingeleiteten Veränderungen nicht den ungeteilten Beifall der Mit-gliedschaft. Diese Situation änderte sich erst im Laufe der sechzigerJahre. Die sehr hohe Zustimmung, die Willy Brandt bei den Wahlenzum Parteivorsitzenden seit 1966 erhielt, verdeutlicht, dass spätes-tens zu diesem Zeitpunkt ungeachtet innerparteilicher Differenzenin einzelnen Sachfragen der eingeschlagene Weg von der ganzenPartei mitgetragen wurde. Seit Übernahme der Regierungsverant-wortung durch die SPD im Jahr 1969 war Willy Brandt einer derherausragendsten Repräsentanten seiner Partei. Sein Name war fürviele gleichbedeutend mit einer modernen SPD und einer „besseren“Bundesrepublik.

Zur Dokumentenauswahl

Die in diesem Band gestellte Frage, welche Rolle Brandt bei der Er-neuerung der SPD gespielt hat, bestimmt die folgende Dokumenten-auswahl. Angesichts der Spannweite des Themas, das den ver-hältnismäßig langen Zeitraum von 1947 bis 1972 umfasst, war eineBeschränkung notwendig. Die berücksichtigten Dokumente sind vorallem Überlieferungen aus dem Willy-Brandt-Archiv im Archiv dersozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Diese

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wurden durch Archivalien aus im AdsD lagernden Nachlässen bzw.Deposita anderer führender SPD-Politiker, wie Fritz Erler, FritzHeine, Erich Ollenhauer, Carlo Schmid und Helmut Schmidt, sowieaus den Beständen des SPD-Parteivorstandes und der Bundestags-fraktion ergänzt. Trotz des umfangreichen Aktenmaterials waren zueinigen zentralen Fragen keine Quellen aufzufinden. So fand z. B. dieTatsache, dass Brandt 1954 und 1956 vergeblich versucht hatte, in denSPD-Parteivorstand gewählt zu werden, weder in seinen Korres-pondenzen noch an anderer Stelle – mit Ausnahme einer verstecktenAndeutung179 – ihren Niederschlag.

Um ein möglichst vielfältiges Bild des Politikers Brandt zu ver-mitteln, wurde bei der Dokumentenauswahl darauf geachtet, ver-schiedene Quellentypen zu edieren, um damit auch einen Eindruckvon der Vielfalt des Nachlasses zu vermitteln. So reicht das Spektrumvon den gedruckten Quellen, Reden, Briefen, Interviews, kurzen No-tizen, kleineren Abhandlungen, Zeitungsartikeln, Presseerklärungen,bis hin zu Protokoll- und Tagebuchaufzeichnungen. In einigen Aus-nahmefällen kamen auch Dokumente Dritter, wie anderer Personenoder der SPD, zum Abdruck. Ediert wurde immer die letzte vorlie-gende Version eines Dokuments.

Bei der Auswahl war, neben dem zentralen Kriterium der in-haltlichen Aussagekraft eines Aktenstückes, auch dessen Zugäng-lichkeit von Bedeutung. Wenn möglich, wurden bisher nichtveröffentlichte Texte bevorzugt ausgewählt. Unter anderem auchdeshalb wurden kurze Stellungnahmen Brandts auf den SPD-Bun-desparteitagen in den fünfziger Jahren dokumentiert, nicht jedochseine großen Parteitagsreden in den sechziger und Anfang der siebzi-ger Jahre. Diese Prioritätensetzung hatte allerdings noch den weite-ren Grund, dass der quantitative Umfang der Reden selbst bei nurauszugsweisem Abdruck den Rahmen des vorliegenden Bandes ge-sprengt hätte. Zudem sind die Parteitagsreden Willy Brandts leichtzugänglich, denn sie liegen sowohl in den veröffentlichten Pro-tokollen der SPD-Parteitage als auch – in einer Auswahl – in einemQuellenband vor.180 Darüber hinaus plant die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, die Parteitagsreden Willy Brandts – mit einer aus-

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führlichen Kommentierung versehen – in einem eigenständigenBand zu publizieren.

Danksagung

Ich bin dem Vorstand der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, sei-nem Vorsitzenden, Herrn Dr. Gerhard Groß, und den ProfessorenDr. Dieter Dowe und Dr. Gregor Schöllgen für die Initiierung undvielfältige Förderung dieses Projektes außerordentlich verbunden.Prof. Dr. Helga Grebing, Prof. Dr. Gregor Schöllgen und Prof. Dr.Heinrich August Winkler danke ich für ihre engagierte Unter-stützung in allen Fragen, die die Berliner Ausgabe betreffen. Prof. Dr.Helga Grebing, die für diesen Band verantwortliche Herausgeberin,hat den Fortgang der Edition nicht nur mit zahlreichen Hinweisenund kritischen Anmerkungen begleitet, sondern sie hat mir auch inzahlreichen Diskussionen neben vielen fachlichen Anregungen einStück „Zeitgeist“ der fünfziger und sechziger Jahre vermittelt. Fürbeides sei ihr herzlich gedankt.

Der Geschäftsstelle der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftungunter der Leitung von Herrn Dr. Wolfram Hoppenstedt und meinenBearbeiter-Kollegen danke ich für die sehr gute Zusammenarbeit.Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Willy-Brandt-Archivsund der anderen Abteilungen im Archiv der sozialen Demokratie derFriedrich-Ebert-Stiftung bin ich für die angenehmen Arbeitsbedin-gungen und die freundliche Unterstützung zu großem Dank ver-pflichtet. Das Landesarchiv Berlin, das Politische Archiv des SPD-PV,das Archiv Helmut Schmidt und das Archiv der Stiftung Bundes-präsident-Theodor-Heuss-Haus haben durch ihre zuvorkommendeHilfe einen Teil der Quellenrecherche sehr erleichtert.

Für die wichtigen Informationen und vor allem dafür, dass siemeinen Kollegen und mir einen ganz besonderen Einblick hinter diepolitischen Kulissen des „Berliner Büros“ Brandts, der SPD-Partei-zentrale, des Bundesaußenministeriums und des Bundeskanzler-amtes gewährt haben, danke ich den Weggefährten und MitarbeiternWilly Brandts: Prof. Dr. Horst Ehmke, Dr. h. c. Klaus Schütz, Dr. Klaus

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von Dohnanyi, Prof. Dr. Harold Hurwitz, Horst Grabert, Dr. Karl-Heinz Klär, Klaus Henning Rosen, Jörg Richter, Dr. Winfried Staarund Dr. Reinhard Wilke.

Mein ganz besonderer Dank gilt Carsten Tessmer und HeikoBuschke für ihre unermüdliche Unterstützung; sie hatten immer einoffenes Ohr für meine Anliegen. Darüber hinaus möchte ich allen,die auf unterschiedlichste Weise die Entstehung dieses Buches un-terstützt haben, meinen Dank aussprechen: Mario Bungert, KerstinGardill, Andreas Hahn, PD Dr. Siegfried Heimann, Daniel Kilpert,Dr. Susanne Knoblich, Dr. Angela Kuhk, Gertrud Lenz, Prof. Dr. Ein-hart Lorenz, Dr. Heinrich Potthoff, Dr. Bernd Rother, Dr. Karsten Ru-dolph, Lu Seegers, Prof. Dr. Klaus Schönhoven, Prof. Dr. HartmutSoell, Dr. Christoph Stamm und Wolfgang Stärcke.

Göttingen, im August 2000 Daniela Münkel

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Verzeichnis der Dokumente

80 Nr. 1 11. November1947

Rundschreiben des Presseattachésan der Norwegischen Militärmis-sion in Berlin, Brandt

82 Nr. 2 23. Dezember1947

Schreiben des Presseattachés an derNorwegischen Militärmission inBerlin, Brandt, an den Vorsitzendender SPD, Schumacher

90 Nr. 3 3. September1948

Schreiben des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin, Brandt,an den stellvertretenden Vorsitzen-den der SPD, Ollenhauer

92 Nr. 4 30. September1948

Artikel des Vertreters des SPD-Par-teivorstands in Berlin, Brandt, fürDas sozialistische Jahrhundert

99 Nr. 5 8. Mai 1949 Rede des Vertreters des SPD-Partei-vorstands in Berlin, Brandt, auf demVI. Landesparteitag der BerlinerSPD

131 Nr. 6 16. Mai 1949 Schreiben des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin, Brandt,an den Oberbürgermeister Berlins,Reuter

133 Nr. 7 21. Dezember1949

Schreiben des Berliner Vertretersim Deutschen Bundestag Brandt anden Leiter des Referates für Presseund Propaganda beim SPD-Partei-vorstand, Heine

134 Nr. 8 22. Mai 1950 Redebeitrag des Berliner Delegier-ten Brandt auf dem Parteitag derSPD in Hamburg

138 Nr. 9 25. Mai 1950 Redebeitrag des Berliner Delegier-ten Brandt auf dem Parteitag derSPD in Hamburg

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142 Nr. 10 9. Juni 1950 Schreiben des Berliner Vertretersim Deutschen Bundestag Brandt anden ehemaligen Mitarbeiter der Ab-teilung Political Parties des CivilAdministration Office von OMGUSBolten

144 Nr. 11 26. März 1951 Schreiben des Mitglieds des Landes-vorstands der Berliner SPD Brandtan den Leiter des Betriebsgruppen-referates beim SPD-Parteivorstand,S. Neumann

145 Nr. 12 4. Juni 1952 Schreiben des Berliner Vertreters imDeutschen Bundestag Brandt an denbaden-württembergischen Landtags-abgeordneten Schulz

147 Nr. 13 26. September1952

Redebeitrag des Berliner Delegier-ten Brandt auf dem Parteitag derSPD in Dortmund

150 Nr. 14 12. Juni 1954 Referat des stellvertretenden Vor-sitzenden des Landesverbandes derSPD Berlin, Brandt, auf dem XI.Landesparteitag der SPD in Berlin

176 Nr. 15 17. August 1954 Aus dem hs. Schreiben des BerlinerVertreters im Deutschen BundestagBrandt an den Leiter des Presse- undInformationsamtes des Landes Ber-lin, Hirschfeld

177 Nr. 16 2. Februar 1955 Schreiben des Berliner Vertretersim Deutschen Bundestag Brandt anden Vorsitzenden der SPD, Ollen-hauer

179 Nr. 17 Mai-Juni 1956 Artikel des stellvertretenden Lan-desvorsitzenden der Berliner SPD,Brandt, für Die Neue Gesellschaft

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190 Nr. 18 11. Juli 1956 Redebeitrag des Berliner Delegier-ten Brandt auf dem Parteitag derSPD in München

193 Nr. 19 7. November1957

Schreiben des Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt, an denstellvertretenden Vorsitzenden derSPD-Bundestagsfraktion Wehner

194 Nr. 20 7. November1957

Schreiben des Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt, an denstellvertretenden Vorsitzenden derSPD-Bundestagsfraktion Erler

195 Nr. 21 20. Mai 1958 Redebeitrag des Vorsitzenden desLandesverbandes der SPD Berlin,Brandt, auf dem Parteitag der SPDin Stuttgart

199 Nr. 22 24. April 1959 Aus dem Protokoll der Sitzung desParteivorstands der SPD

200 Nr. 23 16. Juli 1959 Schreiben des Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt, an denehemaligen militärischen Beraterdes SPD-Parteivorstands und derBundestagsfraktion, Beermann

201 Nr. 24 17. Juli 1959 Aus dem Schreiben des Mitgliedsdes SPD-Parteivorstands Brandt anden Vorsitzenden der SPD, Ollen-hauer

203 Nr. 25 12. September1959

Artikel des Vorsitzenden des Lan-desverbandes der SPD Berlin, Brandt,für die Berliner Stimme

206 Nr. 26 13. November1959

Redebeitrag des Mitglieds des SPD-Parteivorstands Brandt auf dem Au-ßerordentlichen Parteitag der SPDin Bad Godesberg

211 Nr. 27 14. März 1960 Schreiben des Vorsitzenden desLandesverbandes der SPD Berlin,

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Brandt, an den ehemaligen militäri-schen Berater des SPD-Parteivor-stands und der Bundestagsfraktion,Beermann

212 Nr. 28 30. Mai 1960 Schreiben des Mitglieds des SPD-Parteivorstands Brandt an dasMitglied des SPD-ParteivorstandsSchmidt

214 Nr. 29 30. Juni 1960 Hs. Vorlage für das Telegramm desMitglieds des SPD-ParteivorstandsBrandt an den stellvertretendenVorsitzenden der SPD Wehner

215 Nr. 30 14. Juli 1960 Aus dem Schreiben des RegierendenBürgermeisters von Berlin, Brandt,an das geschäftsführende Präsidial-mitglied des Deutschen Städtetages,Ziebill

216 Nr. 31 24. August 1960 Rede des Mitglieds des SPD-Partei-vorstands Brandt vor dem Parteiratder SPD

222 Nr. 31A 21. August 1972 Aus dem Interview des Bundes-kanzlers und Vorsitzenden der SPD,Brandt, mit dem britischen Pub-lizisten Prittie

224 Nr. 32 29. August 1960 Schreiben des Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt, an dasMitglied des SPD-ParteipräsidiumsSchmid

225 Nr. 33 1. September1960

Aus dem Schreiben des Mitgliedsdes SPD-Parteivorstands Brandt anden Mitarbeiter der ZWL der SPDAnders

227 Nr. 34 2. Januar 1961 Schreiben des Kanzlerkandidatender SPD, Brandt, an das Mitglied desDeutschen Bundestags Blachstein

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228 Nr. 35 18. Januar 1961 Schreiben des Kanzlerkandidatender SPD, Brandt, an den Bundes-präsidenten a.D., Heuss

230 Nr. 36 28. April 1961 Rede des Kanzlerkandidaten derSPD, Brandt, auf dem Außerordent-lichen Kongress der SPD in Bonn

257 Nr. 37 Juli-August 1961 Artikel des Kanzlerkandidaten derSPD und Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt, für DieNeue Gesellschaft

264 Nr. 38 14. September1961

Artikel des Kanzlerkandidaten derSPD, Brandt, für die Süddeutsche Zei-tung

268 Nr. 39 20. September1961

Hs. Notiz des Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt

270 Nr. 40 3. Januar 1962 Schreiben des Regierenden Bürger-meisters von Berlin, Brandt, an denstellvertretenden Vorsitzenden derSPD Wehner

273 Nr. 41 4. Juni 1962 Schreiben des stellvertretenden Vor-sitzenden der SPD Brandt an denVorsitzenden der SPD, Ollenhauer,den stellvertretenden Vorsitzendender SPD Wehner und den Schatz-meister der SPD, Nau

277 Nr. 42 8. Juni 1962 Aus dem Schreiben des stellver-tretenden Vorsitzenden der SPDBrandt an den Vorsitzenden desLandesverbandes der SPD Bayern,von Knoeringen

278 Nr. 43 7. Juli 1962 Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anden Mitarbeiter des SPD-Parteivor-stands Bortfeldt

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281 Nr. 44 25. Juli 1962 Hs. Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anden Vorsitzenden der SPD, Ollen-hauer

283 Nr. 45 28. Juli 1962 Hs. Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anden stellvertretenden Vorsitzendender SPD-Bundestagfraktion Erler

284 Nr. 46 25. Oktober 1962 Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anden stellvertretenden Vorsitzendender SPD Wehner

287 Nr. 47 30. November1962

Hs. Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anden Vorsitzenden der SPD, Ollen-hauer

288 Nr. 48 3. Dezember1962

Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt an denSozialwissenschaftler Sternberg

289 Nr. 49 31. Mai 1963 Rede des stellvertretenden Vor-sitzenden der SPD Brandt zum hun-dertjährigen Bestehen der SPD

300 Nr. 50 24. Juli 1963 Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anFunktionsträger der SPD

304 Nr. 51 22. Oktober 1963 Aktenvermerk des Leiters desPresse- und Informationsamtes desLandes Berlin, Bahr, für den Regie-renden Bürgermeister von Berlin,Brandt

305 Nr. 52 30. Dezember1963

Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Brandt anden Vorsitzenden des Landesver-bandes der SPD Bayern, von Knoe-ringen

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306 Nr. 53 14./15. März 1964 Interview des Vorsitzenden derSPD, Brandt, für den General-Anzeiger (Bonn)

309 Nr. 54 25. September1964

Interview des Vorsitzenden der SPDund Regierenden Bürgermeistersvon Berlin, Brandt, mit dem Jour-nalisten Gaus für das ZDF

331 Nr. 55 1. Dezember1964

Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den Parlamentari-schen Geschäftsführer der SPD-Bundestagfraktion Schäfer

332 Nr. 56 11. August 1965 Interview des Vorsitzenden derSPD, Brandt, für Der Spiegel

336 Nr. 57 14. August 1965 Rede des Vorsitzenden der SPD,Brandt, auf dem Wahlkongressbeim Deutschlandtreffen der SPD inDortmund

344 Nr. 58 22. September1965

Aus dem Protokoll der Sitzung desParteivorstands der SPD

354 Nr. 59 22. September1965

Pressekonferenz des Vorsitzendender SPD, Brandt

360 Nr. 59A 21. August 1972 Aus dem Interview des Bundes-kanzlers und Vorsitzenden der SPD,Brandt, mit dem britischen Pub-lizisten Prittie

362 Nr. 60 15. Oktober 1965 Rede des Vorsitzenden der SPD,Brandt, vor Funktionären der Berli-ner SPD

372 Nr. 61 21. Oktober 1965 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den SchriftstellerGrass

373 Nr. 62 25. Oktober 1965 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an das Mitglied desSPD-Parteivorstands Schmidt

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374 Nr. 63 18. November1965

Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den Chefredakteurdes SFB, Walden

375 Nr. 64 25. März 1966 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den Vorsitzendender IG Metall, Brenner

380 Nr. 65 Mai 1966 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an die Mitglieder derSPD

382 Nr. 66 15. Juli 1966 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an die Mitglieder derSPD

386 Nr. 67 3. November1966

Interview des Vorsitzenden derSPD, Brandt, für den Parlamenta-risch-Politischen Pressedienst

389 Nr. 68 11. November1966

Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den Vorsitzendender CDU und Bundeskanzler,Erhard

390 Nr. 69 26. November1966

Schreiben des Schriftstellers Grassan den Vorsitzenden der SPD,Brandt

391 Nr. 70 28. November1966

Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den SchriftstellerGrass

392 Nr. 71 Dezember 1966 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an die Mitglieder derSPD

395 Nr. 72 September 1967 Broschüre über den Vorsitzendender SPD, Brandt

399 Nr. 73 15. November1967

Interview des Vorsitzenden derSPD, Brandt, für das Mittags-magazin des WDR

74 Verzeichnis der Dokumente

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402 Nr. 74 5. Januar 1968 Ausführungen des Vorsitzenden derSPD, Brandt, in der Tagesschau desErsten Deutschen Fernsehens

403 Nr. 75 25. März 1968 Interview des Vorsitzenden derSPD, Brandt, für Der Spiegel

408 Nr. 76 16. April 1968 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den RegierendenBürgermeister von Berlin, Schütz

409 Nr. 76A 16. April 1968 Anlage: Pressemitteilung des Präsi-diums der SPD

411 Nr. 77 9. Juni 1968 Aus der Rede des Vorsitzenden derSPD, Brandt, auf der Bundesfrauen-konferenz der SPD in Saarbrücken

420 Nr. 78 Oktober 1968 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an die Mitglieder derSPD

424 Nr. 79 6. Januar 1969 Vermerk des Vorsitzenden der SPD,Brandt, für den Bundesgeschäfts-führer der SPD, Wischnewski

426 Nr. 80 6. Januar 1969 Schreiben des Chefredakteurs vonDie Neue Gesellschaft, Bauer, an denVorsitzenden der SPD, Brandt

428 Nr. 81 14. Januar 1969 Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den Direktor desSigmund-Freud-Instituts, Mitscher-lich

429 Nr. 82 13. Februar 1969 Aus den Ausführungen des Vor-sitzenden der SPD, Brandt, auf derSitzung des Parteirates der SPD

439 Nr. 83 18. März 1969 Aus dem Interview des Vor-sitzenden der SPD, Brandt, für dieSüdwest Presse

441 Nr. 84 24. September1969

Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Wehner anden Vorsitzenden der SPD, Brandt

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444 Nr. 84A Anlage: Ausarbeitung des stellver-tretenden Vorsitzenden der SPDWehner über mögliche Regie-rungskombinationen

445 Nr. 85 22. Dezember1969

Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an die stellvertreten-den Vorsitzenden der SPD Wehnerund Schmidt, den Schatzmeister derSPD, Nau, und den Bundesge-schäftsführer der SPD,Wischnewski

448 Nr. 86 11. Dezember1970

Aus der Rede des Vorsitzenden derSPD, Brandt, auf dem Bundeskon-gress der Jungsozialisten in Bremen

461 Nr. 87 22. Dezember1970

Hs. Schreiben des Vorsitzenden derSPD, Brandt, an den stellver-tretenden Vorsitzenden der SPDSchmidt

463 Nr. 88 30. Dezember1970/4. Januar 1971

Hs. Schreiben des stellvertretendenVorsitzenden der SPD Schmidt anden Vorsitzenden der SPD, Brandt

467 Nr. 89 ohne Datum1971

Rundschreiben des Bundeskanzlersund Vorsitzenden der SPD, Brandt

468 Nr. 90 5. Oktober 1971 Notizen des Bundeskanzlers undVorsitzenden der SPD, Brandt, fürein Gespräch mit Testimonials

471 Nr. 91 8. November1971

Artikel des Vorsitzenden der SPD,Brandt, für Die Neue Gesellschaft

473 Nr. 92 23. November1971

Schreiben des Bundeskanzlers undVorsitzenden der SPD, Brandt, anden Vizepräsidenten des DeutschenBundestages Schmitt-Vockenhau-sen

474 Nr. 93 10. April 1972 Interview des Vorsitzenden derSPD, Brandt, für die Deutsche Presse-Agentur

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476 Nr. 94 18./19. August1972

Aus den hs. Tagebuchaufzeich-nungen des Bundeskanzlers undVorsitzenden der SPD, Brandt

480 Nr. 95 20. August 1972 Rede des Vorsitzenden der SPD,Brandt, anlässlich des 20. Todes-tages des ersten Nachkriegsvor-sitzenden der SPD, Schumacher

516 Nr. 96 21./22. August1972

Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzen-den der SPD, Brandt

517 Nr. 97 24./25. August1972

Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzen-den der SPD, Brandt

519 Nr. 98 4. September1972

Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzen-den der SPD, Brandt

520 Nr. 99 11. September1972

Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzen-den der SPD, Brandt

521 Nr. 100 5. November1972

Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzen-den der SPD, Brandt

522 Nr. 101 17. November1972

Artikel des Vorsitzenden der SPDund Bundeskanzlers, Brandt, fürden SPD-Pressedienst

524 Nr. 102 19. November1972

Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzen-den der SPD, Brandt

526 Nr. 103 19. November1972

Erklärung des Vorsitzenden derSPD, Brandt, zum Ausgang der Bun-destagswahl

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Nr. 1Rundschreiben des Presseattachés an der NorwegischenMilitärmission in Berlin, Brandt11. November 19471

AdsD,WBA, A 6, 2 (alt).

Und nun möchte ich Dich gern davon unterrichten, daß ich einensehr ernsten Entschluß gefaßt habe. Er schlägt bei Dir vielleicht nichtwie eine Bombe ein, weil Du weißt, wie ich in all den letzten Jahrenmich immer wieder gefragt habe, wo ich mich am besten betätigenkönnte. Nun ist es so geworden, daß ich an Halvard Lange ge-schrieben und ihn gebeten habe, zur Jahreswende meine jetzige Stel-lung aufgeben zu dürfen.2

Die unmittelbare Veranlassung war, daß die Führung der deut-schen Sozialdemokraten mit einem eindringlichen Ersuchen an michherangetreten ist, daß ich den Auftrag als Vertreter der Parteileitungin Berlin und gegenüber den leitenden alliierten Stellen übernehmensollte. Du kannst versichert sein, daß das keine leichte Entscheidunggewesen ist.

Es ist – wie ich an Halvard [Lange] schrieb – nicht so einfach, daßich Deutschland statt Norwegens wähle. Ich sehe es aber so, daß ichfür die Ideen, zu denen ich mich bekenne, etwas Aktiveres tun kannund sollte und daß ein derartiger Einsatz gerade in diesem Lande nö-tig ist.

Es war mehreren Ursachen zuzuschreiben, daß ich so lange da-mit gewartet habe, einen Entschluß zu fassen. Die wichtigste war,daß es mir schwerfiel, Norwegen „aufzugeben“. Du weißt selbst, daßes für mich weit mehr als Äußerliches bedeutet hat, als ich norwe-gischer Staatsangehöriger wurde.3 Norwegen und die norwegischeArbeiterbewegung haben mich als politischen Menschen und auchsonst geprägt. Das ist das, worüber ich froh und wofür ich dankbarbin, <und ich beabsichtige nicht, von etwas von dem, was gewesen ist,fortzulaufen.>4 Es ist ein schmerzlicher Gedanke, den unmittelbaren

80 Rundschreiben Brandts, 11. Nov. 1947

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Kontakt mit einem Gemeinwesen aufgeben zu müssen, von dem mansich als ein Teil fühlt, und einem Volk, das man im Guten und Bösengern hat. <Politische Arbeit in Deutschland bedeutet andererseitsGemeinschaft mit einer ganzen Reihe von Menschen, mit denen mannicht viel gemeinsam hat. Hierzu kommt die Unsicherheit, die mitder künftigen Entwicklung verknüpft ist.>5

Es hilft aber nichts. Ich weiß, daß die Lösung des deutschen Pro-blems von Entscheidungen abhängen wird, die auf der internatio-nalen Ebene getroffen werden. Es gibt jedoch viel, das in Deutschlandgetan werden muß – um Europas, der Demokratie und des Friedenswillen. Und es gibt, trotz allem, im deutschen Volk positive Kräfte,die der Entwicklung ihr Gepräge werden geben können. Davonbrauche ich Dich übrigens nicht zu überzeugen.

Irgendwelche größeren Illusionen hege ich nicht. Ich will aberversuchen mitzuhelfen, daß Deutschland zu Europa zurückgeführtwird und daß es, wenn möglich, ein Teil der dritten Kraft wird, dienotwendig ist, um der größten Katastrophe aller Zeiten zu entgehen.Es ist ziemlich sicher, daß ich Enttäuschungen erleben werde, viel-leicht auch mehr als das. Hoffentlich werde ich einer eventuellenNiederlage mit dem Gefühl begegnen können, meine Pflicht getan zuhaben.

Ich werde all das Gute mitnehmen, das ich in Norwegen und beimeinen norwegischen Freunden erlebt habe – Dir will ich besonde-ren Dank für die Stockholmer Zeit sagen. Es hat auch weniger guteDinge gegeben, aber es ist jetzt keine Andeutung von Bitterkeit inmeinem Herzen vorhanden. <Auch keine formellen Trennungslinienkönnen mich daran hindern, eine Zusammengehörigkeit mit Nor-wegen zu empfinden. Ihr könnt weiterhin auf mich als einen vonEuch zählen!>6

81 Rundschreiben Brandts, 11. Nov. 1947

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Nr. 2Schreiben des Presseattachés an der NorwegischenMilitärmission in Berlin, Brandt,an den Vorsitzenden der SPD, Schumacher23. Dezember 19471

AdsD,WBA, A 6, 2 (alt).

Lieber Genosse Schumacher,die Mitteilung, die mir Erich Brost nach seiner Rueckkehr aus

Hannover gestern abend machte, hat mich eigenartig beruehrt. Sielaesst mich befuerchten, dass sich bei Ihnen ein Misstrauen einge-stellt hat und somit eine gedeihliche Zusammenarbeit in Fragegestellt ist.

Mir wurde gesagt, dass Sie – auf Grund erneuter <Heinig’scher>2

Schreibereien – mit mir sprechen moechten, dass eine solche Be-sprechung aber nicht vor dem 10. Januar [1948] stattfinden koennte.Ich komme natuerlich gern nach Hannover und muss mich bei derBestimmung des Zeitpunktes nach Ihnen richten. Eine erneutemehrwoechige Vertagung erscheint mir aber unertraeglich. Siebringt mich auch gegenueber meinen norwegischen Freunden undKollegen und gegenueber den alliierten Stellen, die vom geplantenStandortwechsel erfahren haben, in eine unmoegliche Lage.

Ich habe mich darum entschlossen, Ihnen zu den Intrigen, die inden letzten Wochen von skandinavischen Emigrationskreisen gegenmich gesponnen wurden, in aller Offenheit zu schreiben. Erich Brosthat mir versprochen, Ihnen den Brief auf schnellstem Wege zuzu-leiten. Ich wuerde mich freuen, Ihre Antwort bald in Haenden zuhaben. Es waere besser, einen Schlusstrich zu ziehen, als einen un-klaren Zustand andauern zu lassen.

Zunaechst Folgendes: Ich war mir seit langem darueber klar, dasses meine Pflicht sei, ueber kurz oder lang aktiv in die deutsche Arbeiteinzusteigen. Ich habe jedoch nicht im entferntesten daran gedacht,dass mir der Parteivorstand seine Vertretung uebertragen wuerde.

82 Brandt an Schumacher, 23. Dez. 1947

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Erich Brost hat mich – nachdem die Frage in Hannover besprochenwar – im Oktober [1947] gefragt, ob ich gewillt sei, die Vertretung inBerlin zu uebernehmen. Ich habe mir das einige Tage ueberlegt unddann eine positive Antwort gegeben. An einem der ersten Novem-bertage war ich kurz in Hannover und teilte Ihnen und dem Ge-n[ossen] Heine meinen endgueltigen Entschluss mit. Bei dieser Gele-genheit erklaerte ich auch, dass ich als Berliner Vertreter natuerlichdie Auffassungen der Parteileitung zum Ausdruck zu bringen haette,dass mir das aber umso leichter sein wuerde, falls ich Gelegenheiterhielte, bei etwa auftretenden Meinungsverschiedenheiten zu dereinen oder anderen Frage meinen persoenlichen Standpunkt vor denleitenden Koerperschaften der Partei darzulegen. Das wurde damalsals Selbstverstaendlichkeit bezeichnet. Von sachlichen oder persoen-lichen Vorbehalten mir gegenueber war damals nicht die Rede. Andiesem Ausgangspunkt moechte ich festhalten. Ich habe mich nachreiflichen Ueberlegungen entschlossen, meine Stellung und noch ei-niges mehr aufzugeben. Aber ich habe mich nicht nach einer be-stimmten Funktion gedraengt. Ich moechte das auch heute nicht tun.Nur um eins moechte ich bitten, dass man mich nicht laenger hin-haelt, sondern mir klaren Bescheid gibt.

<Als mich Gen[osse] Brost in Euerm Auftrag fragte, ob ich diehiesige Vertretung uebernehmen koennte, war ich in Hannover keinunbeschriebenes Blatt. Die Genossen kannten meinen politischenWerdegang. Sie wussten, dass Heinig kaum eine Gelegenheit ver-passt, ueber mich „aufzuklaeren“. Das hindert also nicht, mich mitder fraglichen Position zu betrauen.Waehrend der Skandinavienreisehaben dann Heinig und andere mit der Giftspritze gearbeitet – unddas ist anscheinend nicht ganz ohne Wirkung geblieben.3

Vor ein paar Wochen war ich bei Erich Brost mit den fuehrendenBerliner Genossen beisammen. Franz Neumann liess mich wissen,dass in Emigrantenkreisen u. a. der Vorwurf gegen mich erhobenwuerde, ich sei ein „Geschaeftemacher“. Ich habe den Berlinern er-klaert, was hinter dieser Verleumdung steckt: der blasse Neid.>4

Nur in den ersten Wochen all meiner Auslandsjahre brauchteich von Unterstuetzungen zu leben. Nachher konnte ich mich mit

83 Brandt an Schumacher, 23. Dez. 1947

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meiner journalistischen Arbeit durchschlagen und waehrend derletzten Jahre sogar anstaendig leben. Es war mir verhaeltnismaessigleicht, in Skandinavien Fuss zu fassen. Ich war im Gegensatz zumanchen anderen kein Aussenseiter. Ich hatte Erfolg. Das haben mireinige – denen ich ausserdem noch viel zu jung war – bis auf denheutigen Tag nicht verzeihen koennen.

Da gibt es denn solche, die sich vergeblich um die norwegischeoder schwedische Staatsbuergerschaft bemuehten, um hinterher na-tionale Prinzipienfestigkeit zu predigen. Es gibt solche, die ihre Arti-kel bis auf den heutigen Tag nicht los werden, denen es aber offenbarbei den skandinavischen Fleischtoepfen immer noch ganz gut ge-faellt – und die dreist genug sind, jemand gewinnsuechtige Motive zuunterstellen, der freiwillig die deutschen Rationen waehlt. Was ihmuebrigens gar nicht besonders heroisch vorkommt.

<Ich weiss nicht, ob Ihnen, Gen[osse] Schumacher, meine Ent-wicklung im Einzelnen bekannt ist.Vielleicht koennen Ihnen die ausAnlage 15 beigefuegten Daten ergaenzenden Aufschluss geben. Miteinigen Bedenken fuege ich Ihnen auch – als Anlage 26 – die Ueber-setzung eines Artikels aus dem Zentralorgan der norwegischen [Ar-beiter-]Partei bei. Bedenken darum, weil es so aussehen koennte, alswolle ich Reklame machen. Aber die norwegischen Genossen, mitdenen ich jahrelang engstens zusammengearbeitet habe, muessenmich ja letzten Endes einigermassen kennen.

Der Artikel im Arbeiderbladet vom 2. Dezember [1947] war ueb-rigens eine Folge dessen, dass einige buergerliche Blaetter am Tagezuvor – offenbar aufgrund einer Indiskretion aus dem Aussen-ministerium – eine Meldung gebracht hatten, ich haette meine Stel-lung im norwegischen Aussendienst gekuendigt und werde eineFunktion fuer die deutsche Sozialdemokratie uebernehmen. Dabeiwar faelschlicherweise davon die Rede, dass ich so etwas wie inter-nationaler Sekretaer der SPD werden sollte. Ich weiss nicht, wer dasentdeckt hat, aber es wuerde mich wundern, wenn Heinig nicht auchdaraus eine Geschichte gemacht haette.

Die Reaktion der buergerlichen Presse – das galt auch fuerSchweden und Daenemark – war durchweg positiv. Das kom-

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munistische Organ in Oslo hat wieder einmal einen Dreckkuebelausgeschuettet.>7

Eine Reihe skandinavischer Freunde und Genossen haben mir imLaufe der letzten paar Wochen geschrieben und ihrer Sympathie Aus-druck gegeben.Wie sie vielleicht wissen, hatte mich Professor GunnarMyrdal gebeten, eine Stellung bei der UNO-Kommission in Genf zuuebernehmen. Nachdem ich ihm abgeschrieben hatte,8 antwortete ermir am 24. November [1947]: „Alva and I read your letter of November 8with the most cordial and respectful feelings of sympathy.We do notknow all the circumstances, but we feel that you are doing the rightthing by starting work again for the one of your two countries which isthe poorest and which is most in need of your assistance.“9

Wie mir Franz Neumann sagte und Erich Ollenhauer bestaetigte,bin ich in Stockholmer Emigrantenkreisen wohl auch von ein paarSchwaetzern in Oslo als „verkappter SED-Mann“ oder etwas aehn-liches verdaechtigt worden. In diesem Zusammenhang ist von mei-ner Verbindung mit Jacob Walcher die Rede gewesen.

Um mit dem letzteren anzufangen: ich habe nie einen Hehl da-raus gemacht, sondern Erich Brost Anfang des Jahres ausdruecklichdavon erzaehlt, dass mich Walcher gelegentlich besucht.Wir kenneneinander seit 1933 und waren in den Jahren vor Kriegsausbruch engmiteinander befreundet. Sachlich gingen unsere Wege seit 1939 im-mer mehr auseinander. Ich habe ihm im vorigen Sommer, als er nochin Amerika war, klipp und klar geschrieben, dass ich seinen Weg zurSED nicht mitmachen koennte, sondern Sozialdemokrat sei undbleiben werde.

<Von dem wichtigsten Brief schickte ich damals eine Kopie ent-weder an Sie oder an den Gen[ossen] Heine. Ich fuege trotzdem nocheinmal einen Durchschlag – als Anlage 310 – bei.>11

Dieser Brief ging damals an eine Reihe von Genossen, mit denenich aus der SAP-Zeit verbunden war. Ich wuerde meinen Standpunktheute in manchen Punkten erheblich schaerfer formulieren. Aber Siewerden selbst sehen, dass der entscheidende Gegensatz klar heraus-gearbeitet ist. Die Kluft zwischen mir und den mehr oder wenigerNaiven der anderen Fakultaet hat sich seitdem erheblich vertieft.

85 Brandt an Schumacher, 23. Dez. 1947

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Ich habe nie verschwiegen, dass ich seinerzeit Anhaenger einereinheitlichen sozialistischen Partei war, die unabhaengig sein undauf demokratischer Grundlage stehen sollte. Der Streit um dieseFrage ist durch die Entwicklung ueberholt. Ich habe in einer Reiheanderer Fragen meine Meinung geaendert und habe nicht den ge-ringsten Grund, das zu verheimlichen oder mich dessen zu schaemen– schon gar nicht aus Nachsicht auf eine kleine Stockholmer Clique,die sich darum nicht zu revidieren braucht, weil sie keine fundiertenMeinungen hat.

Lassen Sie mich in unmissverstaendlicher Weise erklaeren: Ichstehe zu den Grundsaetzen des demokratischen Sozialismus im all-gemeinen und zur Politik der deutschen Sozialdemokratie im beson-deren. Ich behalte mir vor, mir ueber neu auftauchende Fragen selbstden Kopf zu zerbrechen. Und ich werde nie im Voraus Ja sagen zujeder Einzelformulierung, auch wenn sie von dem ersten Mann derPartei gepraegt wird.

Mir will scheinen, dass es auch nicht der Politik der Partei wi-derspricht, wenn man – bei schaerfster Frontstellung gegen das Re-gime des Terrors und der Luege – niemals darauf verzichtet, um denvon ehrlichen Willen geleiteten Teil der kommunistischen Arbeiterzu ringen. Ich meine darueber hinaus, dass wir wohl weder inDeutschland noch Europa fertig sind mit der Entwicklung einerwirklichen Strategie der dritten Kraft. Wir stehen vor einer nochschaerferen Auseinandersetzung als bisher mit dem bolschewisti-schen Machtstreben einerseits und der grosskapitalistischen Reak-tion andererseits. In der Auseinandersetzung mit dem Bolschewis-mus wuerde ich vielleicht staerker als einige unserer Genossen be-strebt sein, die historischen Voraussetzungen der russischenEntwicklung herauszuarbeiten. Ich wuerde auch bei der Beurteilungder Entwicklung in den Laendern der russischen Sphaere geneigtsein, den historischen und sozialen Hintergruenden des heutigenGeschehens entscheidende Bedeutung beizumessen. Andererseits binich mir darueber im klaren, dass die Dinge in der Hitze des Gefechtsmanchmal auf einen reichlich vereinfachten Nenner gebracht wer-den muessen.

86 Brandt an Schumacher, 23. Dez. 1947

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Um noch einmal auf Stockholm zurueckzukommen. Sie habensicher schon manchmal ein Lied davon singen hoeren, zu welchenVerruecktheiten sich die Emigrantenmentalitaet bisweilen steigernkonnte. Mich regt das nicht mehr besonders auf. Ich habe allerdingsauch keine Lust mehr, ruhig mit anzusehen, wie man mir ins Gesichtspuckt.

In diesem Zusammenhang moechte ich immerhin daran erin-nern, dass mich die damalige Landesgruppe deutscher Sozial-demokraten, die die uebergrosse Mehrheit unserer Genossen inSchweden vertrat – und ebenfalls die kleine Osloer Gruppe – imVorjahr mit ihrer Gastvertretung auf dem Parteitag in Hannover be-traute. <Als bezeichnendes Beispiel dafuer, wie verschroben einige ansich gute Kerle draussen geworden sind, moechte ich auch er-waehnen, dass einer, der in Oslo ueber meine angeblichen SED-Ver-bindungen schwaetzte, hinterher in „alter Freundschaft“ und als obnichts passiert waere, an mich schreibt und mich bittet, ihn bei ver-schiedenen Stellen zu empfehlen.

Die Osloer Gruppe wird uebrigens, wenn ich richtig informiertbin, einen Quatscher zur Rechenschaft ziehen. In Schweden werdenmeine Freunde auch den Versuch unternehmen, die Atmosphaere zuentgiften. Ich wuensche ihnen dabei guten Erfolg. Nur an eines ver-mag ich nach mehrjaehrigen Erfahrungen nicht zu glauben: den gu-ten Willen von Heinig. Er lebt von Intrigen und dem, was er in voel-liger Verkennung der Tatsachen fuer Politik haelt. Ich habe Ihnenschon im vorigen Jahr in Hannover erklaert, dass ich Heinig als einUnglueck fuer die Partei betrachte. Derselben Auffassung sind zahl-reiche fuehrende Genossen aus Norwegen und Schweden.

Die neueste Entdeckung Heinigs bezieht sich, wie mir Erich Brostandeutungsweise mitteilte, auf einige E. Carlsson gezeichnete Artikelin Organen der schwedischen Parteipresse. Dazu moechte ich fest-stellen, dass es an sich nicht um meine Artikel, sondern um die meinernorwegischen Verlobten handelt.12 Sie hat ausserdem gelegentlichkurze Meldungen fuer das Osloer Arbeiderbladet geschrieben. Die Ge-nossen Rolf Gerhardsen in Oslo und Stråhle in Stockholm koennenIhnen jederzeit bestaetigen, dass sie eine diesbezuegliche Vereinba-

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rung mit meiner Verlobten getroffen haben. Beide Stellen haben mirallerdings, als sie vom bevorstehenden Wechsel meiner Taetigkeit er-fuhren, geschrieben und vorgeschlagen, dass ich ihnen in ZukunftArtikel schreiben soll. Das moechte ich ab Mitte Januar [1948] gernetun, falls Zeit dazu bleibt. Diese von mir geschriebenen und signiertenArtikel werden sich natuerlich in dem Rahmen bewegen, der durchmeine Auffassungen und meine Funktion gegeben ist.

Ich koennte es an sich mit dieser formellen Feststellung genugsein lassen. Das waere aber insofern nicht ganz aufrichtig, weil ichdie erwaehnten Artikel natuerlich gesehen und zum Teil wesentlichbeeinflusst und verbessert habe. Sie entsprechen nicht dem, was invon mir geschriebenen und signierten Artikeln stehen wuerde. Abersie koennen sich als Arbeit einer jungen skandinavischen Jour-nalistin sehr wohl sehen lassen.

Im Laufe der letzten Monate sind 8 solche Artikel an die Redak-tion der schwedischen A[rbeiterparteien]-Pressen abgegangen, derennorwegische Kopien hier in Berlin sind und ihnen gern zur Verfue-gung stehen. Sie behandeln folgende Themen: 1) Illegale nazistischeGruppen, 2) Uranbergbau im Erzgebirge, 3) Die Demontagekrise,4) Fragen der Besatzungskosten, 5) Verfolgung der Sozialdemokratenin der Ostzone, 6) Diskussion um die nationale Repraesentation,7) Sokolowskis Erklaerungen im Kontrollrat, 8) Geruechte um Ost-zonen-Regierung.

Der einzige dieser Artikel, der moeglicherweise zu einer Dis-kussion Anlass geben koennte, ist der sechste. Ich habe leider dieschwedische Fassung nicht da und weiss erst recht nicht, was Heinigdaraus „zitiert“ hat. Selbst habe ich an Hand des norwegischen Ma-nuskriptes eine deutsche Uebersetzung niedergeschrieben, die ich alsAnlage 413 beifuege. Sie werden daraus ersehen, dass von einer il-loyalen Behandlung der Frage nicht die Rede sein kann. Man kannnicht von einem skandinavischen Mitarbeiter einer skandinavischenZeitung verlangen, einfach einen Artikel einer Parteipresse zu ueber-setzen.

Was meine eigene Haltung zu Ihnen angeht, so werden Sie sichvielleicht noch an den Artikel erinnern, den ich im vorigen Frueh-

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sommer in Oslo und Stockholm veroeffentlicht habe. Ich fuege auchdarum noch einmal eine Kopie bei, und zwar als Anlage 514.>15

Gestatten Sie mir abschliessend, Ihnen zu versichern, dass ichniemals ein einfacher Jasager gewesen bin und es hoffentlich auchnie werde. Aber ich habe seit langem gelernt, mich einzuordnen undvon dem mir einmal zugewiesenen Platz aus mit voller Kraft fuerunsere Sache zu wirken.

Nach den vielen Jahren der Vorbereitung und des Kommentie-rens sehne ich mich nach aktivem Einsatz. Es waere mir umso leich-ter, eine verantwortliche Arbeit fuer die Partei zu uebernehmen, daich von Ihrer programmatischen Forderung weiss, eine erneuertedeutsche Sozialdemokratie zu formen. Tradition bedeutet viel. Aberdie Ehrfurcht vor dem Ueberlieferten darf nie soweit gehen, dass man<– wie etwa Heinig –>16 Fehler und Irrtuemer der Vergangenheitnicht eingestehen will.Wie sollte dann eine Partei innerlich wachsenkoennen? Und wie sollte sie den Kampf um die junge Generation mitErfolg bestehen koennen?

<Unfruchtbare Auseinandersetzungen ueber die theoretischenGrundlagen der Bewegung koennten uebrigens meines Erachtensdadurch vermindert werden, dass in der Schulungsarbeit noch mehrGewicht auf die Entwicklung sozialistischen Denkens gelegt wird.Niemand wird dann um die entscheidende Bedeutung der marxisti-schen Grundkenntnisse herumkommen. Die meisten werden aberauch einsehen, dass sie nicht der Weisheit letzter Schluss sein koen-nen.

Sie wollen wohl die formellen Maengel dieses Briefes ent-schuldigen. Ich musste ihn schnell herunterschreiben und hoffe, Ih-nen gesagt zu haben, woran Sie bei mir sind.

Ich darf Sie bitten, mich nach eventueller Ruecksprache mit denGenossen des geschaeftsfuehrenden Vorstandes wissen zu lassen, wasvielleicht noch ergaenzender Erlaeuterungen bedarf. Wenn Sie Fra-gen besprechen wollen, die fuer die Uebernahme der mir ange-botenen Funktion von Bedeutung sind, moechte ich dringend darumersuchen, dass dies umgehend und jedenfalls vor dem 10. Januar[1948] geschieht.

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Wenn tatsaechlich aus mir unbekannten Gruenden ent-scheidende Bedenken aufgetaucht sind, ist es besser, wir sprechennicht mehr von diesem Projekt. Ich zweifle nicht daran, dass ich michauch auf einem anderen Gebiet nuetzlich betaetigen koennte.

Ich weiss sehr wohl, dass die endgueltige Behandlung der Frageerst auf der kommenden Sitzung des Parteivorstandes erfolgen kann,nachdem sie in Bremen und Hannover nicht erfolgt ist. Aber mir gehtes jetzt um Ihre Entscheidung.>17

Seien Sie nicht boese, lieber Genosse Schumacher, wenn derBrief etwas gereizt klingen sollte. Im Grunde soll damit nichts an-deres gesagt werden als: Ich will mich nicht aufdraengen, ich sehekeine Veranlassung mich zu verteidigen, aber ich stehe zur Sacheund zu meinem Wort.Ihr

Nr. 3Schreiben des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin,Brandt, an den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD,Ollenhauer3. September 1948

AdsD , WBA, A 6, Korrespondenz mit PV 1947–1950 (alt).

Lieber Erich!Im Zusammenhang mit dem Parteitag1 habe ich mal wieder das

Gefühl, parteiorganisatorisch ein bisschen zwischen den Stühlen zusitzen. An sich stecke ich ja mitten in der Berliner Arbeit. Aber ichbin eben nicht Funktionär der Berliner Partei und musste natürlichauch abwinken, als mich ein paar Kreise fragten, ob ich zur Partei-tagsdelegation kandidieren wolle. Andererseits habe ich drüben2

vorläufig gar keine andere organisatorische Verankerung als die, die

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durch meine Teilnahme an den leitenden Parteikörperschaften gege-ben ist.

Wenn Du es nicht für aufdringlich hältst, möchte ich mich trotzmeines formellen Status eines Gastteilnehmers an der politischenHauptdebatte in Düsseldorf beteiligen. In erster Linie würde michreizen, zu einigen Fragen aussenpolitischer Art Stellung zu nehmen.3

Ob ich eventuell auch etwas zur Frage der Ostzone sagen soll, möchteich einer Absprache mit Dir vorbehalten. An sich stehe ich natürlichauch zur Verfügung, sofern es sich um die Begründung des PV-Standpunktes zu dem einen oder anderen der vorgelegten oder nochvorzulegenden Anträge handelt. Besonders hätte mich eine kurzeKommentierung der Anträge zur Frage Parteiprogramm-Aktions-programm gereizt.4 Aber dafür habt Ihr wahrscheinlich schon je-mand bestimmt.

Lass’ Dir die Sache mal durch den Kopf gehen. Wenn Du einenbestimmten Vorschlag hast, kannst Du mir ihn vielleicht telefonischdurchgeben, damit ich noch etwas vorbereiten kann. Im andern Fallkönnen wir uns ja noch in Düsseldorf verständigen.

Im Anschluss an den Parteitag bzw. bei der ersten Arbeitssitzungdes neuen Vorstandes müssen wir uns über die weitere Arbeit desBerliner Sekretariats5 unterhalten.Besten Gruss!Dein

91 Brandt an Ollenhauer, 3. Sept. 1948

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Nr. 4Artikel des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin, Brandt,für Das sozialistische Jahrhundert30. September 1948

Das Sozialistische Jahrhundert 2 (1948) 21, S. 323–324.

DIE SPD VOR DER VERANTWORTUNGZum Düsseldorfer Parteitag

Der diesjährige Parteitag der deutschen Sozialdemokratie sah sicheiner schwierigen Aufgabe gegenüber. Hannover 1946 war vomSchwung der neuen Sammlung der Kräfte getragen. Nürnberg 1947stand im Zeichen der Konsolidierung (innerhalb sehr eng gesteckterGrenzen für die politischen Entscheidungen der Deutschen). Düssel-dorf 1948 mußte einen Übergang bedeuten von der Neuformierungund Standorterklärung z u r p r a k t i s c h e n , g e s t a l t e n -d e n P o l i t i k .

Ein Teil der Tagespresse hat über die Beratungen und Beschlüssedes Düsseldorfer Parteitages (11. bis 14. September [1948]) eingehendberichtet. Ein Kurzprotokoll ist in Vorbereitung und wird binnenkurzem allen Interessierten erreichbar sein. Dieser Aufsatz will denLesern nicht das Studium der Dokumente ersparen, aber die Thesebelegen, daß es sich in Düsseldorf um einen p r o d u k t i v e nÜ b e r g a n g gehandelt hat.

Die nationalpolitische Aufgabe

Demokratische Parteitage haben nicht nur Kundgebungen zu sein.Andererseits können sie nicht eine intensive Klärung und Dis-kussion ersetzen (die sowieso weder an Aufmärsche noch Organisa-tionsstatuten gebunden ist). Sie können aber einen Klärungsprozeßfördern oder auch bremsen. Ob sie das eine oder das andere tun, zeugtvon der Lebendigkeit oder Erstarrung der betreffenden Partei. Undwie sehr ein solcher K l ä r u n g s p r o z e ß im Hinblick auf und

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für unser gesamtes politisches Leben wichtig, ja sowohl für das deut-sche Volk als auch die zukünftige Bedeutung seiner Parteien ent-scheidend ist, braucht kaum ausgesprochen zu werden.

Auch in Düsseldorf hat sich wieder gezeigt, daß die deutsche So-zialdemokratie nicht nur über ein solides organisatorisches Gefügeverfügt, sondern trotz aller Schwierigkeiten beachtliche L e i s -t u n g e n aufzuweisen hat. Andererseits hat sie infolge der un-günstigen außenpolitischen Bedingungen (zu denen nicht etwa nurdie Unterdrückung in der sowjetischen Zone gehört, sondern auchdie antisozialistische Intervention der Besatzungsmächte des Wes-tens!) nicht jenen Durchbruch erlangt, der manchem ihrer führendenVertreter nach Kriegsende vorschwebte.1 Dennoch ist sie dies t ä r k s t e p o l i t i s c h e P a r t e i Nachkriegsdeutschlands.

In dem bisher durch die Art der Besatzungsherrschaft so eng ge-steckten Rahmen hat sie sich als Verteidigerin der europäischenFreiheit auf deutschem Boden erwiesen. Von ihren sozial- und wirt-schaftspolitischen Vorstellungen hat sie sehr wenig durchsetzenkönnen. Nichtsdestoweniger fällt ihr die Aufgabe zu, jene n a t i o -n a l p o l i t i s c h e n Fragen zu beantworten, die sich aus demScheitern der Viermächtepolitik ergeben. Durch die Währungsre-form und „Bonn“2 sind Ansätze einer Entwicklung zum neuen deut-schen Staats- und Wirtschaftsleben geschaffen worden. Man mag vonden Ansätzen halten, was man will, wegzudiskutieren sind sie nichtmehr. Also hatte man auch in Düsseldorf von ihnen auszugehen.

Die Orientierung auf diese Probleme ist eben erst geschehen. Dieentscheidenden internationalen Beziehungen und das VerhältnisDeutschlands zu ihnen sind noch ungeklärt. Wollte man nicht imDeklamatorischen stecken bleiben, so war es nicht möglich, schonheute die ganze Autorität des Parlaments der größten deutschen Par-tei für ein detailliertes Programm der politischen und wirtschaft-lichen Neugestaltung einzusetzen.

Eindeutig aber war die Richtung angegeben auf eine d e u t -s c h e R e p u b l i k hin für alle deutschen Länder und mit einergenügenden Zentralgewalt. Und die wesentlichen Elemente jenerPolitik wurden erörtert, die über ein baldigst zu erlassendes Besat-

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zungsstatut und allgemeine Wahlen zu echter Verantwortlichkeitder Deutschen und zu ihrer Mitwirkung an den europäischen Din-gen führen muß.

Das Programm der Freiheit

Die Aufgabe der Sozialdemokratie besteht zweifellos darin, die Parteider Freiheit und des r e g e n e r i e r t e n E u r o p ä e r t u m sauf deutschem Boden zu bleiben. Sie hat den Zustand geistiger Un-ruhe erfreulicherweise nicht überwunden und dadurch der Gefahrder Selbstabriegelung gegenüber der jungen Generation vorbeugenkönnen. Trotz allen Ernstes, mit dem die Fragen der praktischen Po-litik der Wirtschaft und der Sozialpolitik anzupacken sind, wird sienicht um die grundsätzliche Klärung ihrer geistigen Grundlagenherumkommen.

In immer stärkerem Maße wird die SPD zur Partei des s o -z i a l e n A u f b a u s. Auch dazu sind durch die 1946 in Hannoverangenommene Prinzipienerklärung3 und durch spätere Aus-arbeitungen wesentliche Fundamente vorhanden. Im HauptreferatSchumachers für Düsseldorf, das außerdem eine Serie brennendernationaler und internationaler Probleme behandelte, wurden diegrundsätzlichen Probleme klargestellt.4 In der Debatte wurde derKreis der Fragen erweitert. Das ist kein schlechter Start der Pro-grammdiskussion, die im kommenden Jahr durchgeführt werdensoll.

Dem Parteivorstand ist aufgetragen worden, eine Programm-kommission einzusetzen.5 Diese sollte von Anfang an unterscheidenzwischen einem G r u n d s a t z p r o g r a m m des freiheitlichenSozialismus und dem Aktionsprogramm der SPD.6

Beide Teile werden in breitesten Kreisen diskutiert werden müs-sen und dürfen keinesfalls als Parteiangelegenheiten im sozusagen fa-miliären Sinne betrachtet werden. Die Erfahrungen der letzten Jahreberechtigen zu der Hoffnung, daß die Befreiung von konservativemTraditionalismus und steriler Dogmatik gelingen wird. Schumacherhat aber nicht ohne Grund vor billigen antimarxistischen Schlag-

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worten gewarnt. Die Grundlage einer programmatischen Neu-formulierung sollte eine klare Aufzeigung der h i s t o r i s c h e nEntwicklung sozialistischer Zielvorstellungen sein. Und das, was seit1933 von den sozialistischen Bewegungen anderer Länder erarbeitetwurde, darf man nicht vergessen auszuwerten. Für ein A k t i o n s -p r o g r a m m der Freiheit und des Aufbaus liegen wesentliche An-sätze vor. Man braucht nicht mit jedem Satz der Referate Rudolf Zorns7

und Hermann Veits8 über die wirtschaftspolitischen Aufgaben ein-verstanden zu sein und kann dennoch ihre wegweisende Bedeutunganerkennen. Sie wurden aus Zeitknappheit nicht genug diskutiert.Die Abgrenzung gegenüber hemmungsloser Konkurrenzwirtschafteinerseits und totaler Planökonomie andererseits ist trotzdem klargenug erfolgt. Die Probleme sozialer Neugestaltung sind als die s o -z i a l i s t i s c h e G e g e n w a r t s a u f g a b e erklärt und kon-kretisiert worden. Dazu gehören die Entschließungen des Parteitageszum Lastenausgleich, zum Wohnungsbau und zur Flüchtlingsfrage,der Entwurf eines Sozialprogramms und die Richtlinien für die wei-tere Tätigkeit im Wirtschaftsrat.9

Zusammenarbeit mit wem?

Aus einer Prüfung der bisherigen Frankfurter Politik10 ergibt sich dieFrage, auf welche Weise ein v e r a n t w o r t l i c h e s Zusam-menwirken der Sozialdemokratie mit anderen Kräften zu erreichensein wird.

Zu gleicher Zeit zeigt die Frankfurter Erfahrung aber auch, wieschwierig ein solches Zusammenwirken mit der CDU im Westen ist,solange in ihr die großen Besitzinteressen die dominierende Rollespielen.11

Einverständnis herrschte jedenfalls darüber, nichts unversuchtzu lassen, um dem in Bonn zu schaffenden Grundgesetz einemöglichst b r e i t e B a s i s im Volk zu sichern. Die sich späterergebenden Probleme können weder mit Redensarten von der „einenreaktionären Masse“ noch mit Koalitionsneigungen aus Bequem-lichkeit gelöst werden. So manche Faktoren werden gerade durch

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eine feste Umreißung und entschlossene Vertretung eines sozial-demokratischen Aktionsprogramms positiv beeinflußt werden.

Um falschen Hoffnungen in in- und ausländischen Kreisen vor-zubeugen, sei jedenfalls gesagt, daß die Sozialdemokratie nicht fürbillige Redensarten zu haben ist. Mit dem Ringen um wirklicheS t r u k t u r v e r ä n d e r u n g e n , dem Kampf gegen die Er-richtung einer neuen kapitalistischen Vorherrschaft im Westen, istes ihr bitter ernst. Denn sie ist davon überzeugt, daß die Demokratiein Deutschland und in Europa nur Bestand haben wird, wenn es ge-lingt, sie sozialistisch zu untermauern.

Realistik statt Bankettreden

Obgleich nicht offizielles Thema der Tagesordnung, übte das BerlinerProblem12 einen nahezu beherrschenden Einfluß auf den Düsseldor-fer Parteitag aus. Angefangen bei der Eröffnungskundgebung undden Reden der internationalen Gäste, über die Referate Schumachersund Ollenhauers sowie die politische Diskussion, zu der die BerlinerDelegation Wesentliches beizusteuern hatte, bis zum dramatischenHöhepunkt des feierlichen Protestes gegen die Terrorurteile,13 galtBerlin als die F r e i h e i t s i n s e l im s o w j e t i s c h e nM e e r , die die Beratungen in ihren Bann zog.

Nicht allen Beteiligten braucht dabei klar geworden zu sein, daßes hier um mehr als Solidarität geht, nämlich um einen Schwerpunktdeutscher (und übrigens in aller Bescheidenheit auch internationaler)Politik. Diese Erkenntnis wird sich mehr und mehr durchsetzen. Ber-lin ist die Klammer zu den freiheitlichen Kräften der Ostzone, derenSehnen und Wollen von der Sozialdemokratie nicht als sentimentaleAngelegenheit, sondern als Verpflichtung und als eines der wichtig-sten Elemente gesamtdeutscher Politik in Rechnung gestellt wird.

An der Haltung zu den B e s a t z u n g s m ä c h t e n hattesich im Vergleich mit den beiden vorhergehenden Parteitagen einenicht unbeträchtliche Modifizierung ergeben. Dem östlichen To-talitarismus gegenüber blieb von vornherein nichts anderes übrig alserbitterter Kampf. Den Westmächten aber war zu sagen, welche

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Elemente ihrer Politik die Behauptung der demokratischen Kräfteauf dem europäischen Kontinent erschweren.

Es ist nicht versäumt worden, den W i d e r s p r u c h auf-zuzeigen, größere Vollmachten in deutsche Hände übergehen zu las-sen, und den Einsprüchen, wie sie etwa beim nordrhein-west-fälischen Sozialisierungsgesetz und beim hessischen Betriebsräte-gesetz zutage getreten sind.14 Die Demontagefrage ist ein anderesBeispiel der Kluft zwischen Theorie und Praxis. In diesem Zusam-menhang waren einige deutliche Worte über die Lage in der franzö-sischen Zone zu sagen, gerade dann, wenn noch einmal die erst-rangige Bedeutung einer französisch-deutschen Verständigung be-tont wurde. Im Zusammenhang mit dem Parlamentarischen Ratstellte insbesondere Carlo Schmid fest, daß die Sozialdemokratie sichkeineswegs vor der Verantwortung drücke, daß sie aber genau wissenwolle, was in Zukunft deutscher Verantwortlichkeit untersteht.

Seit dem vorigen Parteitag war die SPD als vollberechtigtes Mit-glied in die i n t e r n a t i o n a l e A r b e i t s g e m e i n -s c h a f t der sozialistischen Parteien aufgenommen worden.15 Diezahlreichen ausländischen Delegationen in Düsseldorf zeugten vonlebendigem Interesse. Es fragt sich allerdings, ob es nicht an der Zeitwäre, Illusionen über die Bedeutung internationaler Begrüßungsan-sprachen vorzubeugen. Auch bei der Europafrage wird es darauf an-kommen, von frommen Wünschen und Bankettreden zu praktischenVorschlägen und zu ihrer Realisierung zu kommen.

Nicht nach links oder rechts: nach vorn!

Wird der weitere Weg der SPD nach „links“ oder nach „rechts“ füh-ren? Ich halte diese Fragestellung für unfruchtbar und wäre meiner-seits mit dem Weg n a c h v o r n zufrieden. Es sei offen aus-gesprochen, daß damit die Hoffnung verbunden ist, die für die Un-terstreichung der Kontinuität und für die Erfahrungsvermittlungwertvolle starke Gastvertretung führender Männer der WeimarerPeriode möge kein Zurück in der Parteienentwicklung bedeuten.Andererseits ist wenig Positives vom maximalistischen Linksertum

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zu erwarten, das in Düsseldorf durch den Schleswig-Holsteiner Arpund durch einige lokale Antragsteller repräsentiert wurde.16

Vor allem aber sollte ein für allemal mit jener Begriffsverwir-rung aufgeräumt werden, die K o n z e s s i o n e n an das, was sichheute Kommunismus nennt, für R a d i k a l i s m u s hält. Bei derKlärung der VVN-Frage ist mit der notwendigen Schärfe klargestelltworden, daß es keine Gemeinsamkeit mit den Trägern und Verteidi-gern des grausamsten Terrorregimes unserer Tage geben kann.17 Zudieser Erkenntnis sind nicht zuletzt auch jene Sozialdemokraten ge-kommen, die früher unter anderen Aspekten für mehr oder wenigerweitreichende Zusammenarbeit eingetreten sind. Es war auch keinschlechtes Zeichen, daß die Diskussion zu diesem Punkt stark durcheinen Hamburger Delegierten befruchtet wurde, der bis vor wenigenJahren zum Zentralkomitee der KPD gehörte.18

1945 und 1946 ist immer wieder betont worden, es handle sichnicht um eine einfache Weiterführung, sondern um eine N e u -b e g r ü n d u n g der deutschen Sozialdemokratie.19 Es kann nichtschaden, daran zu erinnern und damit den kämpferischen Charakterder Partei zu unterstreichen. Das Neue, was von Düsseldorf her zurThese vom produktiven Übergang berechtigt, ist die Überwindungsowohl der Tendenz zur opportunistischen Selbstgefälligkeit wie derNeigung zu scheinrevolutionärer Sturheit durch einen e c h t e nR a d i k a l i s m u s , nämlich den festen Willen zu gründlicherNeugestaltung.

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Nr. 5Rede des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin, Brandt,auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD8. Mai 1949

Brandt, Willy: Programmatische Grundlagen des demokratischenSozialismus, Berlin o. J.

Programmatische Grundlagen des demokratischen Sozialismus

Durch die Geschichte der Menschheit zieht sich ein roter Faden derFreiheitskämpfe. Das freiheitliche Ringen in unserer Zeit steht imZeichen der Behauptung des Menschen gegenüber politischen undwirtschaftlichen Machtzusammenballungen, die den Bestand un-serer Zivilisation in Frage stellen. D e r M e n s c h steht im Mit-telpunkt jenes Systems von Vorstellungen über eine Neugestaltungder gesellschaftlichen, nationalen und internationalen Verhältnisse,die wir demokratischen Sozialismus nennen. Um des Menschen wil-len bemühen wir uns um die Beantwortung der zentralen Fragendieser Epoche. Sie lauten: Wie können die gewaltigen wissen-schaftlichen und technischen Errungenschaften dem Fortschritt, derKultur, dem Wohlstand dienstbar gemacht werden? Auf welcheWeise können wir ein neues Verhältnis erreichen zwischen dem ge-sunden Eigenleben der Völker und den Erfordernissen kontinentalerund interkontinentaler Räume? Und vor allem: Wie finden wir dieSynthese von Freiheit und Ordnung, den Ausgleich zwischen denunveräußerlichen Persönlichkeitswerten und der abschwächbaren,aber kaum aufhebbaren Tendenz zum Kollektivismus?

Mehrere Katastrophen haben in der ersten Hälfte des zwanzig-sten Jahrhunderts zur unwiderruflichen Entscheidung gegen diealte Ordnung auf wirtschaftlichem und zwischenstaatlichem Gebietgeführt. Zwischen den beiden Weltkriegen lagen die große Wirt-schaftskrise und das Aufkommen der totalitären Regime. Der zweiteWeltkrieg hat der Technik und der Entfaltung neuer Wirtschafts-formen weitere Auftriebe gegeben, aber er hat die revolutionäre

99 Rede auf dem Landesparteitag der Berliner SPD, 8. Mai 1949

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Krise der letzten Jahrzehnte nicht zum Abschluß gebracht. DieseKrise zum Wohle der Menschheit zum positiven Abschluß zubringen, ist die geschichtliche Aufgabe des demokratischen Sozia-lismus.1

Grundsatzfragen können nur dann geklärt werden, wenn mansich über bestimmte Begriffsbestimmungen verständigt. Sonst redetman aneinander vorbei. Es scheint leider nichts daran zu ändern zusein, daß gewisse Leute ein Vergnügen daran finden, sich Vogel-scheuchen zurechtzumachen, denen sie das Plakat „Sozialismus“ umden Hals hängen.2 Sie treten damit in die Fußspuren derer, die denSozialdemokraten zu früheren Zeiten andichten wollten, sie beab-sichtigten, die Frauen zu sozialisieren und dem Bauern die letzte Kuhaus dem Stall zu holen. Mit offenbaren Böswilligkeiten und dem be-wußten Appell an die Dummheit wollen wir uns jedoch nicht aus-einandersetzen.

Willy Brandt bei seiner Rede „Die Grundlagen des demokratischen Sozia-lismus“ auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD am 8. Mai 1949

100 Rede auf dem Landesparteitag der Berliner SPD, 8. Mai 1949

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Wir sollten auch über das Stadium hinausgelangt sein, in demman meinte, gewisse Vorstellungen seien schon darum richtig, weilsie irgendwo g e s c h r i e b e n sind. Wer mit den Problemen un-serer Zeit fertig werden will, sollte die Zitatenbibel zu Hause lassenund statt dessen das Buch des lebendigen Geschehens studieren. Ersollte es im Geiste des echten Radikalismus tun, der darin besteht, dieWirklichkeit zu erkennen und aus ihr die Konsequenzen zu ziehen.Wer immer nur rückwärts schaut, ist alles mögliche, nur nicht ra-dikal.

Bei der Neubegründung unserer Partei wurde festgestellt, daß eskeinen Sozialismus ohne Demokratie und ohne Menschlichkeit gibt.Das war eine eindeutige Willensäußerung unsererseits. Wir wissen,daß es in der Vergangenheit sozialistische Gedankensysteme, autori-täre und antiautoritäre, gegeben hat, die nicht demokratisch waren.Zweitens wissen wir, daß es in unserer Zeit Regime gibt, die sich zwarsozialistisch nennen, mit denen wir aber nicht in einem Atemzuggenannt, geschweige denn identifiziert werden wollen. Darum spre-chen wir nicht vom Sozialismus schlechthin, sondern vom demo-kratischen Sozialismus. In ihm vereinigen sich die Ideen der Freiheit,der Gerechtigkeit und der Ebenbürtigkeit. Die SozialdemokratischePartei ist die Trägerin der Vereinigung dieser Ideen in unseremLande. Damit ist nicht gesagt, daß es nicht auch noch Reserven desd e m o k r a t i s c h e n Sozialismus außerhalb der Reihen unsererPartei geben könnte.

Ein Programm ist eine Zusammenfassung von Zielen. Dabeikann es sich um Nahziele handeln, die sich eine politische Partei füreine Periode von wenigen Jahren stellt. Dann sprechen wir voneinem A k t i o n s programm, das auch als Wahlprogramm präsen-tiert werden kann und möglichst mit dem übereinstimmen sollte,was die zum Zuge kommende Partei zum Regierungsprogramm er-hebt. Wo es sich um mehr als eine reine Interessenvertretung han-delt, werden die Nahziele mit Fernzielen verbunden sein. Eine Zu-sammenfassung solcher über die nächsten Jahre hinausreichendenZiele und ihrer ideenmäßigen Begründung nennen wir ein prinzi-pielles, ein grundsätzliches Programm.

101 Rede auf dem Landesparteitag der Berliner SPD, 8. Mai 1949

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Wohlgemerkt: Wir sprechen von Prinzipien und nicht vonDogmen, nicht von religiösen Glaubenssätzen. Grundsätze fußen zu-meist auf ethischen Vorstellungen und auf wissenschaftlichen Er-kenntnissen. Die letzteren ändern sich darum, weil die Summe dergewonnenen Erkenntnisse dauernd wächst. Aus diesem Grunde ist eswidersinnig, ein Programm mit dem Anspruch wissenschaftlicherVollkommenheit aufstellen zu wollen. Bereits im Stadium seinerFormulierung liefe ein solches Programm Gefahr, überholt zu wer-den. Damit will ich keineswegs gesagt haben, daß wir auf die präziseFormulierung unserer Ziele und Grundsätze verzichten sollten. Andem Aktionsprogramm für Freiheit und Aufbau, mit dem die deut-sche Sozialdemokratie zum ersten überzonalen Wahlkampf anzu-treten hat, wird gegenwärtig gearbeitet. Die Diskussionen über einprinzipielles Programm befinden sich noch im Stadium der vorbe-reitenden Klärung. Die auf dem Hannoverschen Parteitag im Mai1946 beschlossene Prinzipienerklärung reicht auf die Dauer kaumaus.3

Die Programmdebatte, in deren erster Phase wir uns befinden,wird zu keinem raschen Ergebnis und niemals zu einem e n d -g ü l t i g e n Abschluß führen können.4 Unsere Bewegung verfügtunabhängig davon jedenfalls über eine solide Basis gemeinsamerÜberzeugungen. Zugleich erinnern wir uns jenes Satzes, der gesternMotto unserer Tagung war und der da lautet, daß jeder Schritt wirk-licher Bewegung wichtiger sei als ein Dutzend Programme.Vielleichtdarf man sogar sagen: eine Partei kann mit einem ausgezeichnetenProgramm eine miserable Politik machen oder gar zugrundegehen.Umgekehrt soll es vorgekommen sein, daß Parteien ohne ein bis insLetzte ausgefeiltes und wissenschaftlich begründetes Programm Re-spektables geleistet haben. Wir brauchen formulierte Grundsätze, andenen wir unsere Tagespolitik orientieren und an die wir die hof-fentlich nie erlahmende geistige Auseinandersetzung in unserenReihen anlehnen können. Was wir demhingegen nicht brauchenkönnen, ist, um mit Wilhelm Liebknecht zu sprechen, „ein papiernerPapst in Gestalt eines unfehlbaren Programms“. Rückschauend soll-ten wir uns zunächst einen Augenblick mit den früheren program-

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matischen Grundlagen unserer gewiß neu begründeten, aber in sichalles wertvoll Überkommene aufnehmenden Bewegung befassen.Dazu ein freundschaftliches Wort an alle Jungen und Neuen in un-seren Reihen: Wie verändert die Verhältnisse auch sein mögen, wiefremd euch die Sprache manchmal anmuten mag, ihr solltet dennochnicht darauf verzichten, das Kommunistische Manifest und das Ar-beiterprogramm5 mit kritischem Verstand zu lesen und euch mit demErfurter Programm von 1891 und dem Heidelberger Programm von1925 vertraut zu machen. Diese und ähnliche Schriften werden euchnicht nur den Kontakt mit der Geschichte sozialistischen Denkensvermitteln, sondern auch wertvolle Anhaltspunkte für die Bestim-mung des neuen Standorts geben. Neu orientieren in der Landschaftkann sich nur, wer Boden unter den Füßen hat. Manchem unsererG e g n e r könnte es übrigens auch nichts schaden, mit den QuellenBekanntschaft zu machen, statt unausgesetzt dummes Zeug über den„totalitären Marxismus“ oder die „materialistische Sozialdemokratie“nachzureden. Bei einigen dieser Gegner handelt es sich allerdings we-niger um Unwissenheit als um gnadenlose Ausnutzung von Zwangs-vorstellungen, die von den Nazis großgezüchtet worden sind.

In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts standen, wie Siealle wissen, an der Wiege der sozialistischen Bewegung, die – übri-gens nicht immer zu recht geringschätzig – „utopistisch“ genanntenAnschauungen, die der sozialen Ungerechtigkeit durch Appelle andie Vernunft und die Moral zu Leibe rücken wollten. Zur gleichenZeit entfaltete sich die erste spontane Arbeiterbewegung gegen dieExzesse der industriellen Revolution. Für diese Arbeiterbewegungbedeuteten die Theorien von Marx und Engels in einer Reihe vonLändern, darunter dem unsrigen, einen bestimmten Halt. DieseTheorien waren nicht die erste Phase sozialistischen Denkens undkonnten nicht die letzte sein, wohl aber spielten sie eine ent-scheidende, nicht mehr wegzudenkende Rolle. Das gilt insbesonderefür die Analyse der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft undfür die Aufdeckung ihrer Entwicklungsgesetze. Damit erhielt auchdie Geschichtsforschung wesentliche Impulse, die längst wissen-schaftliches Allgemeingut geworden sind.

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Im Vordergrund stand damals die Tatsache der Ausbeutung desLohnarbeiters, die Tendenz zur Polarisierung der Gesellschaft, dersich verschärfende Gegensatz der Klassen. Es ist jedoch ein aus-gemachter Blödsinn, wenn man mit der Behauptung krebsen geht,Karl Marx habe den K l a s s e n k a m p f erfunden. Er hat sich imGegenteil bemüht, Wege zu seiner Überwindung aufzuzeigen. Un-sinn ist es auch, wenn man mit Hinweisen auf die Frühzeit der Ar-beiterbewegung einen Gegensatz zwischen Sozialismus und Freiheitkonstruieren will. Der Mensch stand auch damals im Mittelpunktder sozialistischen Theorie. Die Freiheit der Persönlichkeit und allesandere, was von den Totalitären heute mit Füßen getreten wird, ge-hört sozusagen zur sozialistischen Erbmasse.

Die Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts entfaltete sichauf der Ideengrundlage der französischen Revolution. Ihre Vor-kämpfer standen auf den Barrikaden des Jahres 1848. Die Sozial-demokratie August Bebels mußte der demokratischen Mitbestim-mung in unserem Lande in harten Wahlrechtskämpfen den Weg eb-nen. Es ging um den Freiheitsanspruch der Vielen gegenüber denVorrechten der Wenigen. Vor der Vergessenheit sollte auch die an-dere Tatsache bewahrt bleiben, daß in der aufsteigenden sozialisti-schen Arbeiterbewegung infolge der gesellschaftlichen Verhältnisseund des vorherrschenden naturwissenschaftlichen Denkens wohleine besonders starke Betonung der wirtschaftlichen Faktoren, nie-mals aber eine Verkennung der grundlegenden moralischen Wertezu verzeichnen war. In den Statuten der I. Internationale wurde allenihren Sektionen im Jahre 1864 auferlegt, sie sollten Wahrheit, Ge-rechtigkeit und Sittlichkeit als Regeln ihres Verhaltens anerkennen –zu allen Menschen, ohne Rücksicht auf Farbe, Glaube oder Natio-nalität.6 Gefordert wurde eine auswärtige Politik, in der die einfachenGesetze der Moral und des Rechts, die die Beziehungen von Privat-personen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs derNationen untereinander zu gelten hätten.7

Von den ersten Programmen Marxens, Lassalles und Bebels anfinden wir die Forderung nach Beseitigung der Klassenvorrechteund aller Vorrechte überhaupt. Anknüpfend daran stellte das Hei-

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delberger Programm fest, die Sozialdemokratie bekämpfe nicht bloßdie Unterdrückung der Lohnarbeiter, „sondern <die>8 Art der Aus-beutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen ein Volk, eineKlasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse“9. In der Hanno-verschen Prinzipienerklärung brauchen wir diese Forderung nuraufzugreifen.

Wir können uns darum stolz auf den Ausgangspunkt der sozia-listischen Bewegung berufen und werden uns davon am aller-wenigsten durch diejenigen abbringen lassen, deren Handeln imschreienden Widerspruch zu den Erkenntnissen und Geboten derersteht, auf die sie sich noch immer in unverfrorener Weise berufen.Aber da wir wissen, daß es eine letzte Phase der Erkenntnis nicht gibt,werden wir nicht bei der Konservierung überlieferter Theorien undbei der Anwendung ihrer erprobten Bestandteile auf die neue Wirk-lichkeit stehen bleiben können.

Wir werden uns auch mit der Theorie selbst kritisch ausein-anderzusetzen haben. In der Politik ist nämlich nicht nur die Land-karte, sondern bis zu einem gewissen Grade auch der Kompaß, demGesetz der Veränderung unterworfen. Es geht nicht um Ab-weichungen nach links oder rechts, es geht vielmehr um den W e gn a c h v o r n .

Das Heidelberger Programm ging von der Tatsache des kapi-talistischen Großbetriebes aus. Auch heute haben wir uns mit ihm,dem kapitalistischen Großbetrieb, als einer der weiterhin entschei-denden Kategorien auseinanderzusetzen. Noch wichtiger scheint miraber nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte die politischeAuseinandersetzung mit den neueren Erscheinungsformen staat-licher Allgewalt. Selbst auf der wirtschaftlichen Ebene wird die Aus-einandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in immer stärkeremMaße durch neue Formen staatlicher Lenkung beeinflußt. Der Ge-gensatz zwischen verschiedenen Klassen wird dadurch nicht aufge-hoben. Seit Kriegsende haben wir ja gerade in Deutschland einenmassiven Klassenkampf v o n o b e n erlebt. Wir sollten uns aberdarüber im klaren sein, daß der Widerstand auf der rein klassen-mäßigen Ebene heutzutage nicht mehr ausreicht. Die Ziele der so-

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zialistischen Bewegung können nur erreicht werden, wenn wir ihnenauf der nationalen und übernationalen Ebene zum wirtschaftlichenund gesellschaftlichen Sieg verhelfen.

Es ist eine mehr als primitive Geschichtsschreibung, die denFaschismus einzig und allein als „Diktatur des Monopolkapitals“erklären wollte. Umgekehrt ist es allzu billig, das sowjetrussischeSystem lediglich als Ausgeburt „bolschewistischer Teufelei“ hinzu-stellen und den ökonomischen Zwang sowie die klassenmäßigenBedingungen zu ignorieren. In beiden Fällen haben wir aber, beimFaschismus wie beim Bolschewismus, das Heranwachsen einerneuen herrschenden Schicht beobachten können, wobei hier völligunerörtert bleiben soll, ob es sich um eine neue Klassenherrschaftim modernen Sinne handelt oder ob nicht wesentliche Berüh-rungspunkte mit gewissen antiken Herrschaftsformen festzustellensind.

Jedenfalls haben wir es in den totalitären Staaten mit einemstarken und wachsenden Einfluß der B ü r o k r a t i e im weitestenSinne des Wortes zu tun. Die Rolle der nicht nur verwaltungs-mäßigen, sondern vor allem auch der wirtschaftlichen Bürokraten,der „Manager“, tritt auch in den nichttotalitären Staaten immer stär-ker in Erscheinung. Wir haben es mit einem Resultat der sich immermehr erweiternden öffentlichen Verwaltungsfunktionen und dessich immer mehr komplizierenden Wirtschaftsablaufes zu tun. Pes-simisten haben daraus die Forderung abgeleitet, daß uns nur noch dieWahl zwischen Sklavenstaaten verschiedener Couleur bleibt. Wirlehnen diese Forderung ab. Aber wir wissen zugleich, daß sie eineTendenz ausdrückt, mit der wir uns ernsthaft zu beschäftigen haben.Mit dem einfachen Kampf gegen die Bürokratie ist ebensowenig ge-wonnen wie seinerzeit mit der Maschinenstürmerei. Verwaltungs-,Leitungs- und Überwachungsfunktionen sind gesellschaftlich not-wendige Aufgaben. Worüber wir zu wachen haben, ist, daß sie nichtzu gesellschaftsbeherrschenden Funktionen werden. Also nicht:Kampf den Verwaltern in Staat und Wirtschaft, aber: Wachsamkeitund, wo immer erforderlich, schärfster Kampf gegen Bürokraten, dievon ihren Mitbürgern nicht nur auf den Schultern getragen werden

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wollen, sondern ihnen zum Dank dafür auch noch auf den Kopfspucken möchten.10

Die Klassenentwicklung hat sich anders vollzogen, als vor hun-dert Jahren angenommen werden konnte. Noch in Heidelberg hieß es[1925], daß die Zahl der Proletarier immer größer werde. Und heutehaben wir uns gelegentlich mit der Behauptung auseinander-zusetzen, das Proletariat umfasse 90 Prozent unserer Bevölkerung.Diese Art von Klassenanalyse hat weder soziologisches noch poli-tisches, sondern im besten Fall statistisches Interesse. Tatsache ist seitlangem, daß die eigentliche Arbeiterklasse infolge der technischenEntwicklung zahlenmäßig stagniert oder prozentual sogar zurück-geht.

Ebenso wichtig ist die andere Erscheinung, daß innerhalb derArbeiterschaft verschiedene Kategorien erkennbar geworden sind.Jeder erfahrene Gewerkschafter weiß, daß er mit dem Mythos von derEinheit der proletarischen Interessen allein nicht auskommt, wennes sich darum handelt, Gruppeninteressen mit dem Gesamtinteresseder Arbeitenden in Einklang zu bringen. Das ändert nichts daran, daßder Industriearbeiterschaft infolge ihrer Stellung im Produktions-prozeß weiterhin eine zentrale Bedeutung im sozialen Prozeß zu-kommt. Das gilt in besonders hohen Maße für jene am besten ge-schulten und ausgebildeten Schichten, die keineswegs der Meinungsind, sie hätten nichts zu verlieren als ihre Ketten. Gewiß, wir habenalle noch frisch in Erinnerung, wie rasch Motorboot und Sparkas-senbuch verloren gehen können, aber wir wissen auch, daß sie imVerlauf einer nationalen Katastrophe verloren gingen, die ihre Opfernicht nach der Klassenzugehörigkeit ausgesucht hat.

Das Erfurter Programm sprach vom „naturnotwendigen“ Unter-gang des Kleinbetriebes.11 In Heidelberg 1925 nahm man zur Kennt-nis, daß sich diese Tendenz in bezug auf die Landwirtschaft jedenfallsnicht durchgesetzt hatte. Auch die städtischen Mittelschichten habensich trotz des sich immer wiederholenden Absinkens bestimmterGruppen in erstaunlichem Maße behauptet. Es hat sich nicht be-wahrheitet, daß der Kleinbetrieb unter allen Umständen und auf al-len Gebieten gegenüber dem Mammutbetrieb unterlegen sein muß.

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Wir haben in der Hannoverschen Prinzipienerklärung die Konse-quenz daraus gezogen und erklärt, daß der Klein- und Mittelbetriebin Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe und Handel in der von unsangestrebten Ordnung wichtige Aufgaben zu erfüllen habe und sichinnerhalb der Grenzen der sozialen Wirtschaftspolitik entfaltensolle.

Weder gegenüber den alten Mittelschichten noch gegenüber denneuen, zu denen in erster Linie die an Zahl und Bedeutung zu-nehmenden intellektuellen Berufsgruppen zu zählen sein werden,kann die sozialistische Bewegung eine gleichgültige Haltung ein-nehmen oder jenem Mißtrauen Ausdruck geben, das in der Formelvon der „Neutralisierung“ zum Ausdruck kommt. Der demokratischeSozialismus soll das Programm der Arbeiter, Angestellten und Be-amten sein, der geistigen Berufe, des Mittelstandes und der Bauern,aber auch derer, die sich durch Herkunft und Besitz nicht davon ab-halten lassen, der totalitären Gefahr eine positive Alternative gegen-überzustellen. Das können sie nur gemeinsam mit dem arbeitendenVolk in Stadt und Land.

Es ist übrigens keine neue Erkenntnis, daß es sich beim demo-kratischen Sozialismus nicht nur um ein Klassenziel, sondern um einM e n s c h h e i t s z i e l handelt. Wir können im Erfurter Pro-gramm nachlesen, daß die erstrebte gesellschaftliche Umwandlungnicht bloß die Befreiung der Arbeiterschaft, sondern des gesamtenMenschengeschlechts bedeute. In Heidelberg sprach man vom Ge-samtinteresse der Gesellschaft gegenüber dem kapitalistischen Mo-nopol. In Hannover wurde festgestellt, das Klasseninteresse derdeutschen Arbeitenden falle zusammen mit den Notwendigkeitendes gesamten deutschen Volkes und mit der Einsicht und dem Wil-len aller fortschrittlichen und freiheitlichen Menschen in der ganzenWelt. Da wir von einer Identität der Interessen der übergroßenMehrheit in den großen Dingen ausgehen, wäre es unsinnig, den de-mokratischen Sozialismus als enge Klassenbewegung abstempeln zuwollen. Er ist längst zu mehr als einer Klassenangelegenheit ge-worden und hat nur dann die Zukunft für sich, wenn er zurV o l k s b e w e g u n g wird.

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Die Partei des demokratischen Sozialismus wird die Partei desarbeitenden Volkes bleiben. Sie wird nicht eine „Volkspartei“ imSinne verschwommener Interessen und unklarer Zielsetzungen seinkönnen. Aber sie wird sein müssen die im Sinne des Volksinteresseswirkende, wahrhaft nationale Partei der gesellschaftlichen Rettungdurch Neugestaltung. Wir erkennen dabei ganz genau, daß wir unsernationales Programm nur mit dem Blick auf Europa und mit demfesten Willen zu internationaler Verständigung durchsetzen können.Wir wissen noch eins: daß wir keinen Führungsanspruch der Zahlallein, sondern immer nur einen Führungsanspruch stellen können,der zugleich auch durch die Qualität gerechtfertigt ist.

Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des 19. Jahrhundertssind nicht unerschüttert geblieben. Fortschrittsglaube und optimis-tischer Humanismus haben Rückschläge erlitten. Eine Geschichts-auffassung, die die ökonomischen Faktoren als ausschließlicheTriebkräfte des geschichtlichen Geschehens zu betrachten geneigtwar, hat sich als irrtümlich oder zumindest einseitig erwiesen. Sie hatweniger bei Marx selbst als bei den Epigonen zu der Annahme ge-führt, wir hätten es im wesentlichen mit naturnotwendigen Pro-zessen zu tun. Als sich die deutsche Mehrheitssozialdemokratie imJahre 1921 in Görlitz ihr erstes Programm nach dem vorigen Welt-krieg gab,12 wurde diese Anschauung von dem naturnotwendigenProzeß noch als das „Wesen des Marxismus“ bezeichnet. Darüber läßtsich endlos diskutieren, und die Diskussion wird nicht dadurch er-leichtert, daß immer wieder Ignoranten vom Materialismus im Sinnedes schnöden Mammon sprechen, wenn von der materialistischenGeschichtsauffassung die Rede ist. In dieser Geschichtsauffassungi s t Raum für das bewußte Eingreifen der Menschen, aber es dürfteheute klar sein, daß etwa die Rechtsbegriffe mehr sind als nur Funk-tionen der wirtschaftlichen Basis, und daß sich das Bewußtsein derMenschen nicht automatisch aus dem gesellschaftlichen Sein ergibt.Warum hätten wir es sonst 1946 in Hannover zur ausdrücklichenpolitischen Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie erklären brau-chen, die umstürzenden Veränderungen des gesellschaftlichen Seinsin das politische Bewußtsein der Massen zu übertragen? Daß das mit

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einigen Schwierigkeiten verbunden ist, sehen wir besonders deutlichan unseren Millionen von Flüchtlingen und Zwangsvertriebenen. IhrBewußtsein entspricht im wesentlichen nicht ihrer faktischen Lageeines fünften Standes.

Worauf es ankommt, ist dieses: Gewiß ist den Menschen durchdie wirtschaftlichen und sonstigen Verhältnisse der äußeren Wirk-lichkeit ein Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sie sich bewegen.Absolut notwendige geschichtliche Entwicklungen aber gibt esnicht. Darum kann auch nicht von der Naturnotwendigkeit einessozialistischen Sieges gesprochen werden. Für die sich formierendeArbeiterbewegung mag das Prophetische neben der realen Forschungein bedeutender Impuls gewesen sein. Unsere Generation muß sichauf den mit nüchternem Wissen verbundenen unbeugsamen Willenstützen. Zu unserem Wissen aber gehört, daß es in größeren Zusam-menhängen und Zeitspannen niemals nur e i n e Möglichkeit gibt.Hitler b r a u c h t e nicht an die Macht zu kommen. Daß er an dieMacht kam, zeigte neben anderem, daß es mit dem Appell an dieVernunft der Menschen trotz aller Fortschritte der Volksbildungnicht allein getan ist.

Leider ist der Mensch nicht so gut, wie es in einem unsererschönen Lieder heißt. Der sich langsam erweiternde Einblick in diepsychologischen Faktoren enthüllt den unangenehmen Tatbestand,daß die Grenze zwischen Mensch und Tier nicht außerhalb, sonderninnerhalb des menschlichen Bereichs verläuft. Ich wiederhole: Hitlerhätte nicht zu kommen brauchen, und mancher, der hinterher diejunge deutsche Generation schulmeistern wollte, hätte sich liebervorher überlegen sollen, wie das große Verhängnis abgewendet wer-den könnte. Aber auch der Krieg brauchte nicht zu kommen. Die di-plomatische und außenpolitische Literatur der jüngsten Vergangen-heit beweist, daß er 1936, ja wahrscheinlich noch 1938 hätte verhin-dert werden können. Wir müssen ein für alle mal erklären, daß wirnichts anfangen können mit einer Art von „Theorie“, die immer nurhinterher erklären kann, daß es so und nicht anders kommen mußte.

Als man einen nicht ganz unbekannten Vertreter dieser Schulefragte, was denn nun wäre, wenn sich die Wirklichkeit nicht nach

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seinen ausgezeichneten und vor allem ausführlichen Thesen richte,gab er die klassische Antwort: Um so schlimmer für die Wirklichkeit.

Wie sehr sich die Wirklichkeit, mit der wir uns auseinander-zusetzen haben, verändert hat, sehen wir aber gerade auf dem Gebietder Wirtschaft. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in einerReihe von Ländern zu etwas hin entwickelt, was niemand vor hun-dert oder fünfzig Jahren Kapitalismus genannt haben würde.

Gewiß haben sich einige Haupttendenzen durchgesetzt, die imErfurter Programm dargelegt wurden. Es kam zur fortschreitendenMonopolisierung der Produktionsmittel, zum riesenhaften Wachs-tum der Produktivität menschlicher Arbeit, und die Produktivkräftewuchsen der kapitalistischen Gesellschaft über den Kopf. Das Hei-delberger Programm arbeitet einige der neuen Tendenzen heraus: dieBildung von Kartellen und Trusts, die Vereinigung von Industrie-,Handels- und Bankkapital zum Finanzkapital, das Streben der Mo-nopolisten zur Herrschaft über die Gesellschaft. Es kann jedoch dieFrage aufgeworfen werden, ob sich die wirtschaftlichen Verhältnissedes Jahres 1925 nicht bereits stärker von denen des Jahres 1891 un-terschieden, als das im Programm von Heidelberg, verglichen mitdem von Erfurt, zum Ausdruck kam. Damals, also in Heidelberg,wurde noch das entscheidende Gewicht auf die Feststellung gelegt,das Privateigentum an den Produktionsmitteln sei unvereinbar ge-worden mit deren zweckentsprechender Anwendung und vollerEntwicklung. Faktisch zeichnete sich aber bereits damals eine Ent-wicklung ab, die das Problem der Verfügung wichtiger erscheinenließ als das des formalrechtlichen Besitzes. Gerade von dieser Seiteher haben ja die „Manager“, obgleich sie nicht Träger des formellenBesitzes sind, ihre gewaltige Machtstellung erringen können. Auspolitischen Gründen werden Besitzveränderungen weiterhin drin-gend notwendig sein.Wirtschaftlich aber ist die entscheidende Frage,wie das Eigentum eingesetzt wird, um größtmöglichen gesellschaft-lichen Nutzen zu erreichen.

Wir stehen strukturellen Änderungen gegenüber, die sich aufdem Wege vom freien Kapitalismus zur dirigierten Ökonomie, zuden geplanten Wirtschaftssystemen ergeben haben. Die uns bisher

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bekannten Formen staatlicher Wirtschaftssteuerung sind offenbarnur als Übergangsform zu betrachten. Soviel scheint aber sicher zusein, daß sie den ursprünglichen Krisenmechanismus zumindestteilweise außer Funktion zu setzen imstande ist. Es ist doch bezeich-nend, daß in Moskau sogar der Komintern- und StaatsprofessorEugen Varga mit der Möglichkeit rechnete, daß die Krise im Westennicht so rasch kommen und vielleicht auch nicht so tief greifenwürde, wie es das Politbüro [der KPdSU] erhoffte.13 Daß Varga in-zwischen Abbitte getan hat, ändert nichts an dieser seiner ur-sprünglichen Einsicht.

Durch die in den Vereinigten Staaten, in Skandinavien und an-deren Ländern seit Anfang der dreißiger Jahre geführte Politik derstaatlichen Krisenbekämpfung sind wertvolle Erfahrungen ge-wonnen worden. Schließlich zeigte ja aber auch der Krieg – und zwarin England ebenso wie in Amerika ohne Einengung der demokrati-schen Rechte –, was die Wirtschaft zu leisten imstande ist, wenn siein eine Gesamtplanung einbezogen wird. In Amerika schwört nochfast alles auf die alleinseligmachende private Initiative und auf diewundersamen kapitalistischen Marktgesetze. Aber es unterliegtnicht dem geringsten Zweifel, daß sich auch dort ein langsamerWandel vollzieht.Vor dreißig Jahren hätte man einen Mann mit demProgramm Trumans zu einem „Roten“ erklärt und nicht zum Präsi-denten gewählt.

Man braucht auch kein Hellseher zu sein, um mit der Wahr-scheinlichkeit beträchtlich gesteigerter, staatlicher Eingriffe im Falleeines stärkeren konjunkturellen Rückschlages in den USA zu rech-nen. Interessant ist doch aber auch vor allem die Tatsache, daß mitdem Marshall-Plan ein bedeutendes Element übernationaler Wirt-schaftsplanung entstanden ist. Man mag meinen, die Methoden desMarshall-Plans seien unzureichend und widerspruchsvoll. Aber esbleibt ein nicht nur interessanter, sondern auch geschichtlicher Vor-gang, daß dieser Planungsversuch aus jenem Teil der Welt kommt, derim Vergleich zu Europa über einen gewaltigen Reichtum und nochunerschlossene innere Expansionsmöglichkeiten verfügt und darumbislang einem viel geringeren inneren Planungszwang unterliegt.

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Auch von der wirtschaftlichen Seite her erhalten wir also eineBestätigung unserer Behauptung, daß die alte Ordnung nicht will-kürlich wiederaufgerichtet werden kann. Die Engländer haben dazuein nettes Wort: Man kann einen Eierkuchen nicht mehr in Eier zu-rückverwandeln. Es dreht sich nicht mehr um die Frage, o b derStaat eingreift und o b geplant wird, sondern darum, w e r plant,w i e und vor allem w o z u geplant wird.

Zu den strukturellen Änderungen kommen die verändertenAuffassungen vom Sinn und Wesen der Wirtschaft. Der Glaube andie automatischen Funktionen wurde durch Krise und Krieg er-schüttert. Weit über das sozialistische Lager hinaus wurde die Mas-senarbeitslosigkeit als schlimmste Art der Verschwendung be-trachtet. In der internationalen ökonomischen Diskussion setztensich neue Zielsetzungen durch. Man wollte einen Zustand der Voll-beschäftigung erreichen und allen einen nationalen Mindeststandardsichern. Man erkannte, daß wir uns leisten können, was wir zu pro-duzieren vermögen und daß es beim heutigen Stand der Technik eineOrganisationsfrage ist, ob der Lebensstandard gehoben wird.

Nun, wir wissen, daß wir von der Erreichung dieser Ziele nochweit entfernt sind. Wir müssen uns wohl auch vor einem blindenGlauben an die Technik hüten. Für sie gilt, was schon in bezug auf dieBürokratie gesagt wurde. In ihr sind gewaltige Fortschritts- undReichtumsmöglichkeiten vorhanden, aber auch Gefahren eines tech-nokratischen Nihilismus. Es sollte völlig klar sein, daß für uns derFaktor Mensch höher steht als der Faktor Maschine, daß die Men-schenwürde höher steht als die Rentabilität. Effektivität bedeutetviel, ist aber kein höchster Wert. Die technische Errungenschaft wirderst dann zum Segen, wenn sie dem sozialen Fortschritt dient.

In der älteren sozialistischen Programmliteratur wird häufig vordem Spintisieren über den Zukunftsstaat gewarnt. Kautsky schriebin seinem Kommentar zum Erfurter Programm, über die Formeneiner sozialistischen Wirtschaft sollten sich „die Kinder und die Kin-deskinder“ den Kopf zerbrechen.14 Nun, die Kinder, von Kautsky ausgesehen, haben leider weitgehend versagt. Es ist an uns, die sozia-listischen Wirtschaftsgedanken zu konkretisieren. Vor allem aber ist

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es an uns zu verhindern, daß aus dem Zukunftsstaat ein Zuchthaus-staat wird.

Nichts steht uns höher als die Freiheit.Ihre politischen Erscheinungsformen haben sich im Laufe der

Zeiten gewandelt, nicht aber ihre Idee. Wer noch nicht wissen sollte,was der erste Punkt unseres Aktionsprogramms und unseres grund-sätzlichen Programms ist, der begreift nichts von unserem Anteil amFreiheitskampf dieser Zeit.

Die primäre Bedeutung des Kampfes um die grundlegendenmenschlichen und politischen Rechte ist nicht erst von uns erkanntworden. Im Eisenacher Programm15 der Partei Bebels und Lieb-knechts steht es geschrieben, daß die politische Freiheit die unent-behrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung sei.

Ebenso gehört es zum alten sozialistischen Gedankengut, daß dienationale Freiheit Voraussetzung ersprießlicher internationaler Zu-sammenarbeit ist.

Die Gegnerschaft zum Obrigkeitsstaat war eine Selbstverständ-lichkeit, ebenso wie es gegenüber der terroristischen Diktatur eineselbstverständliche Pflicht zum Widerstand mit allen zur Verfügungstehenden zweckdienlichen Mitteln gibt. Auf dem Boden der Demo-kratie kann es sich aber nur um die Anwendung der zu Gebote ste-henden rechtmäßigen Mittel handeln. In der Wahl der Mittel liegt inder Tat mit der wichtigste Unterschied zwischen der Demokratie undder Diktatur.

Für uns heiligt der Zweck die Mittel nicht. Die Demokratie istuns keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.

Freiheit und Leben sind eins. Ohne Sicherheit der individuellenRechtssphäre, ohne geistige Freiheit, ohne die moralischen Normender Persönlichkeits-, Gemeinschafts- und Menschlichkeitswertedroht der Rückfall in die Barbarei. Nur durch Rettung der unersetz-lichen Güter der abendländischen Kultur können wir Hoffnung he-gen, zu höheren Formen menschlichen Zusammenlebens emporzu-steigen. Aus dem bedingungslosen Bekenntnis zur Demokratie ergibtsich die Forderung, die Schranken zu durchbrechen, die den einzel-nen an seinem Recht behindern, als Teil des ganzen die Formen des

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Zusammenlebens und der gemeinsamen Arbeit mit zu bestimmen.Das wird nur möglich sein, wenn ein immer größerer Teil derStaatsbürger nicht nur ermächtigt, sondern auch befähigt wird, ander Gestaltung der öffentlichen Dinge verantwortlich mitzuwirken.

Umgekehrt soll der einzelne im Rahmen der Gesamtheit über dievolle Freiheit verfügen, sein Leben nach eigenem Ermessen zu ge-stalten – vorausgesetzt, daß es nicht auf Kosten anderer geschieht.

In der Hannoverschen Prinzipienerklärung wird eine Unter-scheidung zwischen „bürgerlicher“ und „proletarischer“ Demokratieabgelehnt. Die proletarische Demokratie der Kommunisten, die sienach dem zweiten Weltkrieg in „Volksdemokratie“ – also in Demo-Demokratie – umbenannt haben, ist denn auch nichts anderes als dieschamhafte Camouflage einer schamlosen Gewaltherrschaft. Sie hatübrigens nicht das geringste mit der von Marx beiläufig ein paarmalerwähnten theoretischen Formel der „Diktatur des Proletariats“ zutun: eine unglückselige Formel, zu deren geschichtlicher Wertungallerdings gehört, daß damalige Selbstverständlichkeiten späterhinfragwürdig wurden und daß der Begriff der Diktatur im 20. Jahr-hundert einen ganz eindeutigen Inhalt erhalten hat. Damals handeltees sich um den Gedanken, einer Sabotage und Gewaltanwendung derkapitalbesitzenden Minderheit von seiten der großen, arbeitendenMehrheit mit nachdrücklichen Mitteln begegnen zu können. Bei denNeukommunisten handelt es sich um etwas ganz anderes. Bei ihnenführt der Weg von der angeblichen Diktatur des Proletariats zurDiktatur ü b e r die Arbeiterschaft ebenso wie über die anderenKlassen, er führt von der Parteidiktatur zur terroristischen, korruptenund verlogenen Cliquenherrschaft. Daraus ergibt sich die Folgerung,daß sich der demokratische Sozialismus vom diktatorischen Kom-munismus nicht nur durch die Verschiedenheit der Wege und Mittel,sondern auch durch die Gegensätzlichkeit der Ziele unterscheidet.

Es dreht sich nicht um verschiedene Wege zum gemeinsamenZiel, sondern um unterschiedliche Wege zu entgegengesetzten Zie-len.

Wir wissen aber auch aus bitterer Erfahrung, daß sich die De-mokratie von kapitalistischer und bürokratischer Seite in steter Ge-

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fahr befindet. Wir sind sozialistische Demokraten nicht darum, weiluns die Demokratie nur unter den von uns richtig gehaltenen Pro-gnosen verteidigungswert erscheint, sondern wir sind es in demSinne, daß wir die politische Freiheit wirtschaftlich und sozial un-termauern wollen. Wir wollen die Demokratie im eigentlichen undübertragenen Sinne des Wortes krisenfest machen.

In Hannover haben wir insofern eine Qualifizierung des Begriffsder Demokratie vorgenommen, als wir verlangten, sie müsse starkund kampfbereit sein. Mit administrativer Gemütlichkeit ist es ge-wiß nicht getan. Die Weimarer Republik ist nicht allein durch denAnsturm ihrer Feinde, sondern auch durch die Unentschlossenheitund Phantasielosigkeit ihrer Träger zugrundegerichtet worden.

Die neue deutsche Demokratie ist noch nicht fertig. Es gibt sieerst als zartes Pflänzchen, das harten Winden ausgesetzt ist und vonseinen in- und ausländischen Gärtnern nicht immer besonders zartund sachkundig angefaßt worden ist.

Wir wollen es pflegen und zur vollen Entfaltung bringen. Dannwerden wir es aber auch verteidigen, so wie wir in Berlin das Rechtauf Selbstverwaltung und Rechtssicherheit, auf Freiheit der Meinungund der produktiven Entfaltung verteidigt haben.

Innerhalb der Demokratie nehmen wir für uns das Recht zurpolitischen Aktion in Anspruch, ebenso wie wir es den anderen zu-gestehen. Wir haben erklärt und sollten es ernst meinen, daß die So-zialdemokratische Partei nichts sein will als e i n e Partei nebena n d e r e n Parteien. Dies ist die Testfrage, denn jede Einpartei-enherrschaft führt ins Verderb. Es hieße, die Rolle der Gewalt in derGeschichte zu unterschätzen, wenn man ohne Willen zur politischenMacht antreten wollte. Aber es muß sich um den Willen zur Entfal-tung in der und für die Demokratie handeln, nicht um den Versuchder Machteroberung außerhalb der Demokratie und gegen sie.

Nun kommen unsere Gegner, vor allem aus dem neu-liberalistischen Lager, und erklären: Wenn ihr für die Freiheit seid,könnt ihr nicht gleichzeitig für die Planwirtschaft sein. Denn, so be-haupten sie, jede Planwirtschaft bedeute wirtschaftlichen und in-folge dessen auch politischen Zwang. Bis zum letzten Hosenknopf

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könne alles geplant werden. Darum kein Plan. Mit ähnlicher Logikkönnte man sagen, keine Regierung, denn es könnte ja über die letzteKleinigkeit regiert werden.

Hitler-Deutschland und die Sowjetunion sollen die schlagendenBeweise dafür sein, daß man Sozialismus, Planwirtschaft und Diktaturin einen Topf werfen darf. In Deutschland begann das Dritte Reichaber bekanntlich mit der Niederschlagung der sozialistischen Kräfte.Und in Rußland gab es den Einparteienstaat bereits sechs Jahre vordem Beginn der Fünfjahrespläne. Wir sind bereit, den positiven Ge-genbeweis anzutreten. In England bemüht sich die Labour-Regierungseit Kriegsende mit Erfolg, eine überaus hart mitgenommene Volks-wirtschaft auf neue Grundlagen zu stellen. Sie betreibt eine Politikzentraler Wirtschaftslenkung, ohne die demokratischen Rechte ge-schmälert zu haben. Die skandinavischen Sozialdemokraten, die Ar-beiterregierungen in Neuseeland und Australien führen in Ländernentwickeltster Demokratie eine beispielgebende Wohlfahrtsplanungdurch. Wir werden dieses Erfahrungsmaterial viel eingehender stu-dieren müssen, als es bisher geschehen ist. In unseren Programmdis-kussionen dürfen wir auch nicht an dem vorbeigehen, was von dendemokratischen Sozialisten anderer Länder gedacht und erarbeitetworden ist,vor allem seit 1933 während der Periode, die für die meistenvon uns geistige Isolierung bedeutet hat.

Wir befinden uns in Übereinstimmung mit guten sozialisti-schen Traditionen und mit einer Haupttendenz der internationalenDiskussion, wenn wir unsere wirtschaftspolitischen Forderungenals P r o g r a m m d e r w e i t e r g e f ü h r t e n D e m o -k r a t i e entwickeln.16 Politisch ist die Macht der Wenigen gebro-chen dort, wo die Demokratie zur Regierungsform wurde. Aber aufdem Gebiet der Wirtschaft dauert die an feudale Sonderrechte erin-nernde Macht der Wenigen an. Eine weitgehend anonyme Minder-heit übt einen entscheidenden und allzu oft verhängnisvollen Ein-fluß auf die Geschicke eines ganzen Volkes oder gar vieler Völkeraus. Sonderinteressen hindern den Zustand der Freiheit von Furchtund von Not, der von dem verstorbenen Präsidenten Roosevelt fürdie Nachkriegszeit gefordert wurde.17

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Wir haben kein Vertrauen zur ordnenden Kraft des freienMarktes. Und wir empfinden es als Hohn, wenn einer der maßgebli-chen Vertreter der neuliberalistischen Schule vom freien Kapitalis-mus als der funktionierenden Planwirtschaft derer spricht, die es an-geht. In dieser freien Marktwirtschaft gehe eine fortgesetzte Volks-abstimmung der Verbraucher vor sich – mit dem Geldschein alsStimmzettel! Wir erinnern uns sehr gut daran, daß die große Wirt-schaftskrise nicht mit den Methoden der freien Wirtschaft über-wunden wurde. In solchen Zeiten erschallt der Ruf nach der Hilfe desStaates, auf daß er das Risiko trage und den subventionierten Be-trieben möglichst unbeschnittene Gewinne bleiben. Uns hat aberauch nicht verborgen bleiben können, daß die ursprüngliche Markt-wirtschaft unter dem Einfluß der Monopole von Planbestrebungenabgelöst wird, die weitgehend nicht den Interessen der großen, ver-brauchenden Allgemeinheit entsprechen. Die Parole von der Wirt-schaftsfreiheit wird darum immer mehr zu einer Illusion, oder sieentspringt intellektueller Unaufrichtigkeit.

Wir gehen vom Interesse der Verbraucher aus, und wir wollen esunmöglich machen, daß, wenn auch in ihren Auswirkungen viel-leicht etwas abgeschwächte, Krisen wie Naturkatastrophen über dieMenschheit hereinbrechen. Aus diesem Grunde sagen wir: dieGrundsätze der Demokratie dürfen nicht mehr rationiert, sie müssenauf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens angewendet werden,um uns zu wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit ge-langen zu lassen. Die politischen Freiheiten werden dort begrenzt, wosie zu Lasten anderer gehen. Machtmißbrauch aber ist ein Übel, woimmer es in Erscheinung tritt. Es geht uns um die breitestmöglicheVerteilung der Macht, wirtschaftlich wie politisch, um die Demo-kratisierung und Vermenschlichung der Wirtschaft. Darum lautetdie Fragestellung nicht: Freiheit oder Sozialismus? Sie muß lauten:Durch welche wirtschaftlichen Maßnahmen können wir den Bereichder Freiheit festigen und erweitern?

Es wird sich im wesentlichen nicht um restriktive, sondern umanspornende, die private ebenso wie die gemeinschaftliche Initiativefördernde Maßnahmen handeln müssen. Jawohl: private Initiative,

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wo immer sie wirtschaftlich und gesellschaftlich nutzbar gemachtwerden kann. Die freie Konkurrenz ist aber bekanntlich in überaushohem Maße durch die Monopole ausgeschaltet worden. Wir glau-ben außerdem, daß die bewußte Verfolgung eines sozialen Zieleseine ebenso gute Energiequelle sein kann wie der Stachel der Kon-kurrenz.

Wir sagen: bedarfsbestimmte Kooperation an Stelle der profit-bestimmten Konkurrenz. Aber wir sind keine weltfremden Gleich-macher. Wir erstreben gleiche Chancen, und wir erstreben eine Ni-vellierung der sozialen Scheidelinien. Die uns vorschwebende Ge-sellschaftsordnung wird nicht strukturlos sein. Sie wird aufmaterielle Antriebskräfte kaum verzichten können. Aber unsere Be-wegung ist der beste Ausdruck dafür, wie die Gesinnung einer neuenGesellschaft im Schoße der alten geboren wird. Was wäre diese un-sere Bewegung ohne den Opferwillen, die unermüdliche Kleinarbeit,den Bekennermut und die Gesinnungstreue unserer vielen tausendunbesoldeten, ehrenamtlichen Mitarbeiter!

Demokratischer Sozialismus heißt sinnvolle Kooperation. Ge-wiß besteht bei zunehmender öffentlicher Lenkung und Planung dieGefahr bürokratischer Hemmnisse und Entartungen. Vor ihnen wer-den wir auf der Hut sein müssen. Es darf nicht völlig abgestrittenwerden, daß Betriebe der öffentlichen Hand nicht immer auf derHöhe ihrer Aufgaben stehen und zu berechtigten Klagen Anlaß ge-ben. In den meisten Fällen dürfte es sich um typische Übergangs-phänomene handeln oder auch um Erscheinungen, die der kapi-talistische Großbetrieb in nicht geringerem Maße aufzuweisen hat,nur daß sie dort weniger leicht aufgedeckt werden.

Zugegeben sei ohne weiteres, daß es offenbar ein gedanklicherKurzschluß war, sich aus einer Überführung der Produktionsmittelin öffentlichen Besitz zwangsläufig größere Freiheit und gesteigertesGlück für die Menschen zu versprechen.

Die Durchsetzung kollektivistisch-planistischer Lösungen aufder wirtschaftlichen Ebene bietet keine automatische Gewähr fürden Sieg des freiheitlich-demokratischen Elementes auf der gesell-schaftlichen Ebene. Es handelt sich wirtschaftlich wie politisch um

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eine nicht nur fatale, sondern auch produktive Spannung zwischenindividueller Freiheit und gemeinsamer, sozialer Sicherheit. Nurdurch schärfste Wachsamkeit und äußerste Willensanstrengungkann ein Auseinanderklaffen verhindert werden.

Im Rahmen einer Grundsatzdebatte wird kaum dargelegt wer-den können, wie die Wirtschaftspolitik des demokratischen Sozialis-mus praktisch im einzelnen auszusehen hat, ebensowenig wie dar-gelegt werden konnte, welche Einzelforderungen wir etwa auf demGebiet der öffentlichen Verwaltung erheben. Kautsky hat in seinemKommentar zum Erfurter Programm die „Staatswirtschaft des sieg-reichen Proletariats“ als die „Vereinigung sämtlicher Betriebe ineinem einzigen ungeheuren Staatsbetrieb“ dargestellt. Dabei sollte essich um die „Verwandlung des Staates in eine einzige Wirtschafts-gemeinschaft“ handeln. Wir können damit heute sehr wenig an-fangen. Die Formulierungen des Heidelberger Programmes helfenuns auch nicht viel weiter. In ihnen ist davon die Rede, daß Grundund Boden, Bodenschätze und natürliche Kraftquellen in den Dienstder Gemeinschaft überführt werden sollen, während „das Reich“seine eigenen Betriebe ausbauen und die Kontrolle über die kapi-talistischen Interessengemeinschaften, die Kartelle und Trusts, über-nehmen sollte.

Bei der neuen Aufgabenstellung in Hannover 1946 wurde als Zieleine sozialistische Wirtschaft durch planmäßige Lenkung und ge-meinwirtschaftliche Gestaltung herausgestellt, um so die „ökonomi-sche Befreiung der menschlichen Persönlichkeit“ zu erreichen. Imübrigen lehnte man sich an die Ausführungen an, die als Kommentarzum Heidelberger Programm erschienen waren und übrigens eben-falls von Kautsky stammten.18 Über die Vergesellschaftung der Pro-duktionsmittel hieß es, sie habe auf verschiedene Weise und in ver-schiedenen Formen zu erfolgen. Wir bestreiten also gar nicht dieThese, in einer vielgestaltigen Gesellschaft sei das Leben der einzel-nen freier. Die Hannoversche Prinzipienerklärung spricht von einersozialistischen Gesellschaft mit den mannigfaltigsten Betriebsartenund Formen der Produktion. Sie fordert so viel wirtschaftlicheSelbstverwaltung wie möglich unter stärkster Beteiligung der Arbei-

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ter und Verbraucher. Aus dieser unserer Grundeinstellung werdenwir überall, wo es möglich ist, der i n d i r e k t e n Lenkung vorder direkten den Vorrang geben.

Diese Gedanken gilt es weiter zu entwickeln, und sie sind in derParteidiskussion bereits ein Stück weiter entwickelt worden. Dabeischeint sich immer mehr die Anschauung durchzusetzen, daß wirnicht von irgendeinem Wirtschaftsdogma oder Sozialisierungs-schema auszugehen haben, sondern von den zu erreichenden prakti-schen Aufgaben. Planung und Sozialisierung sind nicht Selbstzweck,sondern näher zu begründende Mittel zur Erreichung einer krisen-festen Wirtschaft der Vollbeschäftigung.

An die moderne Gesellschaft stellen wir die Forderung, daß allenArbeit, ausreichende Ernährung, Kleidung, eine menschenwürdigeWohnung, Freizeit, Schulbildung und Berufsausbildung, Sicherheitbei Krankheit, Armut, Alter und Arbeitsunfähigkeit gesichert wird.Zur Erreichung dieser Ziele und steigenden Wohlstands durch He-bung der unteren Grenze bedarf es des planvollen Einsatzes der Ar-beitskraft, der Wissenschaft und der natürlichen Hilfsquellen.

Sozialismus bedeutet mehr als Sozialisierung, aber es wird kaumeine erfolgreiche sozialistische Planung ohne einen bedeutenden so-zialisierten Sektor geben. Seine exakte Größe läßt sich nicht vorwegbestimmen. Sie wird auch nicht für allemal festliegen.

Wir sagen Sozialisierung und nicht Nationalisierung, denn wirmeinen Vergesellschaftung und nicht einfach Verstaatlichung. Wirhaben in Hannover gefordert und halten daran fest, daß die Betriebedes Bergbaus, der Eisen- und Stahlerzeugung, die Versorgungswirt-schaft, die Schwerchemie und andere Großbetriebe in das Eigentumder Allgemeinheit überführt werden sollen. Straffe soziale Planungder öffentlichen Hand fordern wir auch in bezug auf die Wohnungs-wirtschaft und auf dem Gebiet der Geld- und Kreditversorgung sowiedes Versicherungswesens.

Was die Betriebsformen angeht, so rechnen wir mit einer rei-chen Skala vom Bundes-, Landes- und Gemeindebesitz bis zu ge-mischtwirtschaftlichen Unternehmungen, aber bei ganz besondererFörderung des genossenschaftlichen und sozialgewerkschaftlichen

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Gedankens. Es mag offen ausgesprochen werden, daß bei uns Deut-schen immer ein bißchen die Gefahr besteht, über dem Philo-sophieren und Theoretisieren die handgreiflichen, praktischen Aus-arbeitungen zu vernachlässigen. Als die Labour Party in England1945 ihren Wahlsieg errungen hatte, verfügte sie über bis ins ein-zelne ausgearbeitete Gesetzesvorschläge, etwa für die Neugestaltungder Kohlenwirtschaft. Wir müssen uns sehr ranhalten, wenn wir mitähnlich detaillierten Ausarbeitungen bis zu dem Tage fertig seinwollen, an dem wir einen hoffentlich maßgeblichen Einfluß auf die[zukünftige] deutsche Bundesregierung erhalten. Sonst kann es unswie nach 1918 gehen. Und der Jammer der damaligen Sozialisie-rungskommission19 darf sich nicht noch einmal wiederholen.

Es darf in diesem Zusammenhang aber auch nicht unerwähntbleiben, daß ausländische Eingriffe zur weitgehenden Verhinderungder bisher möglichen Schritte sozialer Neuordnung geführt haben.Das hat dazu beigetragen, daß die 1945 ausgeschalteten Kräfte, die eingerüttelt Maß Verantwortung für das Aufkommen des Nazismus tra-gen und am Krieg gut verdient hatten, wieder Wind in die Segel be-kommen haben. Neben ihnen ist ein neues Besitzbürgertum skru-pelloser Nachkriegsgewinnler entstanden. Verhältnismäßig breiteSchichten haben sich mit der Parole vom „christlichen“ Sozialismusabspeisen lassen,20 von dem jetzt nicht mal mehr bei feierlichen An-lässen die Rede ist. Aber auch die Bastardisierung des Sozialisierungs-und Planungsgedankens in der Ostzone hat psychologische Aus-wirkungen gehabt, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen, daß wir uns inunserem Land den Luxus einer Profitwirtschaft, die amerikanischerals die Amerikaner sein möchte, einfach nicht mehr leisten können.

Wir können uns auch nicht den Widersinn einer neuen Millio-nenarbeitslosigkeit leisten. In unserem Land ist mehr als genug Ar-beit für alle, die arbeiten können. In unserem Land bedarf es einernoch rascheren Steigerung der Produktion und einer gerechterenVerteilung der erzielten Gütermenge.

Dazu brauchen wir keine Totalplanung, die von einem all-mächtigen Staat diktiert wird. Aber es bedarf zentraler Entschei-

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dungen, über Umfang und Richtung der Produktion, so daß dievolkswirtschaftlich vorhandenen Mittel in volkswirtschaftlich er-wünschte Bahnen gelenkt werden. Zentrale staatliche Entscheidun-gen sind in allen fortgeschrittenen Industriestaaten an der Tages-ordnung. Wir wollen sie so gefällt wissen, daß Wohnungen gebautwerden, daß unsere Zwangsvertriebenen das Notwendigste erhalten,daß uns noch ein bescheidener Wohlstand und unseren Kindern einebessere Zukunft gesichert wird.

Wir wollen die Planentscheidungen im demokratischen Staatund auf demokratische Art gefällt wissen. Die Bevölkerung kann– dieses Vertrauen haben wir zu ihr – und soll darüber entscheiden,in welcher Richtung nicht nur die Steuerpolitik verläuft, sondern wiedie großen Investitionen einzusetzen sind. Sie soll zwischen ver-schiedenen Plänen in den großen Zügen wählen können, und sie solldie Durchführung der beschlossenen Pläne überwachen. Auch vondieser Seite her wird die Notwendigkeit verschiedener Parteiennachdrücklich unterstrichen. Als besonders wichtige Problemezeichnen sich ab: die freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes, diesinnvoll gestaltete Mitbestimmung der Betriebsräte und der Ge-werkschaften, nicht zuletzt auch die dafür und für die gesamte so-ziale Planungspolitik erforderliche betriebs- und volkswirtschaft-liche Schulung.

Eine solche, nicht totale, sondern R a h m e n planung, wie siein unseren Diskussionen Gestalt anzunehmen beginnt, hat nichtsmehr mit der Vorstellung von dem einen großen Staatsbetrieb zutun. Sie bedeutet auch keine Aufhebung des Marktes. Man hat dasBild gebraucht, daß der Markt als Steuermann der Volkswirtschaftabgesetzt, den laufenden Verbrauch und Güteraustausch aber wei-terhin zu steuern haben würde. Eine solche „regulierende Markt-wirtschaft“, wie sie etwa dem Düsseldorfer Parteitag im vergangenenJahr vorgeschlagen wurde,21 könnte nach grundlegender Änderungder Marktfunktionen nun erst wirklich dem Interesse des Ver-brauchers Rechnung tragen.

Die hier nur knapp zitierten Überlegungen drehen sich, wie PaulSering [d. i. Richard Löwenthal] schrieb, um eine der von uns bereits

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angeschnittenen Grundfragen unserer Zivilisation, nämlich die Ver-einbarkeit von wirtschaftlicher Planung und persönlich-politischerFreiheit.22 Wir dürfen hoffen, daß wir diese Frage praktisch lösenkönnen, wenn wir uns hüten vor dem Opportunismus administra-tiver Selbstgefälligkeit einerseits und andererseits vor dem schein-revolutionären Maximalismus, der alles verspricht und nichts er-reicht.

Auch aus diesem Teil unserer Überlegungen dürfte sich, ebensowie aus dem politischen Teil, die grundsätzliche Unterscheidungzwischen demokratischem Sozialismus und sozialistisch drapiertemTotalitarismus ergeben. Hätten die Kommunisten übrigens nichtsanderes auf dem Gewissen, so wäre ihre Degenerierung,Verfälschungund Kompromittierung der sozialistischen Theorie, wie sie im Mon-strum des „Marxismus-Leninismus“ zum Ausdruck kommt, schonschlimm genug. Was sie eine wissenschaftliche Lehre nennen, sindtextlich-akrobatische Übungen zur Rechtfertigung der jeweiligen„Linie“. Die von ihnen viel betonte Einheit von Theorie und Praxisbesteht darin, daß die sogenannte „Theorie“ jeweils entsprechend denBedürfnissen der Machtpolitik zurechtgebogen wird.

Unsere heutige Auseinandersetzung hat nichts mit den histori-schen Revisionsdebatten zu tun.23 Die heutige Sozialdemokratie inDeutschland verwaltet das geistige Erbe auch der „Linken“ in derdeutschen und internationalen sozialistischen Bewegung. Der tradi-tionelle Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem reformis-tischen Flügel ist geschichtlich überholt.Wir überwinden ihn auf derhöheren Ebene des k o n s t r u k t i v e n Sozialismus. Er ist frei-heitlich, und er ist revolutionär, indem er den Weg nach vorn zeigtund zur Neugestaltung aufruft.

Wir können feststellen, daß mit dem Zusammenbruch der altenOrdnung auch die Entscheidung gegen das alte staatliche und zwi-schenstaatliche System gefallen ist. Der überkommene Nationalstaatist wirtschaftlich zu klein geworden. Durch den letzten Krieg hat dieTendenz zu übernationalen Zusammenschlüssen einen starken Auf-trieb erhalten. Durch die Freisetzung der Atomenergie rücken dieMöglichkeiten einer riesig gesteigerten Produktion im Weltmaßstab

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in greifbare Nähe. Zu gleicher Zeit bedrückt uns alle die bange Frage,ob es gelingen wird, diese Möglichkeiten friedlichen Zwecken vor-zubehalten. Im anderen Fall würden wir einen Grad der Zerstörungerleben, der alles in der bisherigen Geschichte der Menschheit Dage-wesene in den Schatten stellen würde.

Die demokratischen Sozialisten stehen bei der Stellungnahme zuden Fragen der internationalen Zusammenarbeit auf festem Boden.Frieden durch Völkerverständigung, Solidarität und Herrschaft desRechts haben von allem Anfang an auf ihrem Programm gestanden.Das Gesetz der Interdependenz, der gegenseitigen Abhängigkeit, trittan die Stelle der begrenzten, übersteigerten und geschichtlich über-holten Souveränität. Dieses Gesetz der neuen Beziehungen zwischenden Völkern und Staaten kann sich aber nur dann zum Nutzen derMenschen auswirken, wenn es mit dem Grundsatz der Demokratiefest verbunden wird.

Die Sozialdemokratie hat sich von alters her gegen jede Form desImperialismus gewandt und in ihren Programmen besonders auf dasStreben nach Beherrschung der Weltwirtschaft durch impe-rialistische Machterweiterung hingewiesen.

Eben in diesem Zusammenhang haben wir einige wichtige neueErfahrungen in den Kreis unserer Betrachtungen mit einzubeziehen.Die Politik der englischen Arbeiterregierung mag nicht der Weisheitletzter Schluß sein. Wenn aber vieles, was heute im Vordergrund derDiskussion steht, längst vergessen ist, wird noch immer die ge-schichtliche Tat leuchten, die darin bestand, Indien auf dem Wegefreundschaftlicher Verständigung zur Selbständigkeit zu verhelfenund ein Imperium in einen Staatenbund zu verwandeln.24

Andererseits stehen wir leider allzu handgreiflichen Ausdrucks-formen eines neuen Imperialismus gegenüber, der darum nicht we-niger ausbeuterisch ist, weil er sich nicht auf der Basis des Privat-eigentums an den Produktionsmitteln erhebt. Ich behaupte keines-wegs, daß Diktaturen immer und mit absoluter Notwendigkeit zumKriege treiben müssen. Sie können daran auch gehindert werden.Aber ich behaupte, indem ich an einen früheren Teil meiner Dar-legungen erinnere, daß uns die Erkenntnis der wahren Zusammen-

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hänge nicht durch das Schlagwort erleichtert wird, der Kapitalismusmüsse mit unabwendbarer Notwendigkeit zum Kriege treiben.

Im Mittelpunkt unserer Beschäftigung mit internationalen Pro-blemen steht das Bekenntnis zur europäischen Einheit. Schon 1866wurde im Programm des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereinsdie Forderung nach dem „solidarischen europäischen Staat“ er-hoben.25 Im Heidelberger Programm, auf das wir uns bei der Wie-derbegründung der Partei berufen konnten, heißt es: die Sozial-demokratie trete ein „für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwin-gend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, fürdie Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur <In-teressensolidarität aller Kontinente>26 zu gelangen“. Seitdem, seit1925, sind wir durch den Gang der Ereignisse in eindringlicherWeise daran erinnert worden, daß die Zerstückelung unseres Kon-tinents den Frieden bedroht und eine rationelle Ausnutzung derproduktiven Möglichkeiten behindert. Das Festhalten an einemlängst überholten nationalstaatlichen Souveränitätsbegriff ist zumHemmnis des Fortschritts geworden. Die sich seit Kriegsende nichtzuletzt auf deutschem Boden und vor allem in Berlin abspielendeAuseinandersetzung hat gezeigt, daß die rechtsstaatlichen und hu-manistischen Grundlagen der abendländischen Kultur nicht nurwährend des zweiten Weltkriegs bedroht waren, sondern erneuteiner tödlichen Gefahr ausgesetzt wurden. Auf beiden Seiten desOzeans gelangte nun die Erkenntnis zum Durchbruch, daß die De-mokratie in Europa nur bei wirtschaftlicher Gesundung gesichertund daß der Wirtschaftsaufbau nur mit den Mitteln zwischenstaat-licher Zusammenarbeit und überstaatlicher Zusammenfassung zumErfolg werden kann. Der durch den Krieg nochmals auf die Spitzegetriebene Nationalismus hinderte die europäischen Völker zu-nächst daran, die Folgerungen aus bitteren Erfahrungen zu ziehen.Inzwischen nimmt einiges von dem praktische Gestalt an, was diedemokratischen Sozialisten seit Jahrzehnten gepredigt haben. DerEuroparat ist ein erster Schritt, dem die nächsten Schritte nur folgenwerden, wenn sich der Wille zur gesamteuropäischen Souveränitätdurchsetzt. Das neue Europa wird aber eine Illusion bleiben, solange

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ihm die Basis ausreichender wirtschaftlicher Zusammenfassung undZusammenarbeit fehlt. Ausgehend von den ersten Ansätzen müssenfür alle wichtigen Gebiete planende und lenkende Organe ge-schaffen und so rasch wie möglich in einem europäischen Wirt-schaftsrat zusammengefaßt werden. Diese europäische Wirtschafts-politik wird unserer Überzeugung nach, wenn sie den Interessen derbreiten Massen dienen soll, von Planvorstellungen geleitet seinmüssen, wie sie von den Sozialisten vertreten werden. Der demo-kratische Sozialismus bedeutet für Europa die einzige haltbare, po-sitive Alternative gegenüber dem kommunistischen Totalitarismus.Die Vereinigten Staaten von Europa werden von sozialistischemGedankengut erfüllt sein, oder sie werden nicht sein. Damit ist nichtgesagt, daß die Mitarbeit der Sozialdemokraten an den europäischenEinigungsbestrebungen an irgendwelche anderen als demokratischeVoraussetzungen geknüpft ist. In der Bewegung selbst und bei deneinzelnen Maßnahmen praktischer Art werden wir nachzuweisenhaben, daß es sozialistischer Lösungen bedarf.

Eine politische Zusammenfassung auf der Grundlage der Men-schenrechte kann sich heute noch nicht auf a l l e europäischenLänder erstrecken. Europapolitik muß dennoch eine Politik für ganzEuropa bedeuten. Sie ist in ihrem Ursprung und Wesen nach nichtmilitärisch bedingt und enthält keine feindliche Tendenz gegen an-dere Kontinente, schon gar nicht gegen eine internationale Rechts-organisation oder Bestrebungen, die auf universelle, föderative Lö-sungen abzielen. Eine zeitweilige und erzwungene Beschränkung derZusammenarbeit auf die westlichen und mittleren Teile des Konti-nents darf kein Abschreiben der osteuropäischen Völker bedeuten –ebensowenig wie der wirtschaftliche und politische Zusammen-schluß der westlichen Zonen für uns jemals einen Verzicht auf diegesamtdeutsche Lösung bedeutet hat.

Der Aufbau Europas ist weitgehend von amerikanischer Unter-stützung abhängig. Die Europapolitik würde aber ihren Sinn ver-lieren, wenn sie nicht auch die politische und wirtschaftliche Unab-hängigkeit gegenüber den USA erstrebte. Es ist ja auch das erklärteZiel der Marshall-[Plan-]Hilfe, daß Europa in die Lage versetzt werden

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soll, sich selbst weiterhelfen zu können. Nur so kann sich Europa zueiner dritten Kraft der internationalen Politik entwickeln, den Frie-den sichern helfen und Bundesgenossen in allen Teilen der Welt ge-winnen. Dazu bedarf es einer über den Marshall-Plan und den Atlan-tikpakt27 hinausreichenden Konzeption der europäischen, sozialenDemokratie.

In unserem eigenen Lande ist Europa zur Hoffnung von Millio-nen geworden, nachdem wir einen wahnwitzigen Nationalismusteuer bezahlen mußten. Diese Hoffnung darf nicht enttäuscht wer-den. Ohne den Boden der Tatsachen unter den Füßen zu verlieren,müssen wir vor allem der jungen Generation durch den Übergangvom engstirnigen Nationalismus zum europäischen Patriotismuseinen Ausweg aus der Nachkriegskrise zeigen.

Wir deuteten bereits die geistige Krise an, die mit der Umwäl-zung der alten wirtschaftlichen und zwischenstaatlichen Verhält-nisse einhergeht und mit ihr verflochten ist. Wann hat eine Genera-tion in der Geschichte jemals solche Erschütterungen erlebt wie dieunsrige?

Die meisten Menschen leben nicht nur in wirtschaftlicher Ab-hängigkeit, sondern auch in einem geistigen Zwang. Sie leben ineinem Zustand dauernder Angst. Zwang und Furcht können mit denMethoden der Massenpsychologie und mit Hilfe der Mittel der Mas-senbeeinflussung in künstliche Begeisterung verwandelt werden.Wenn diese künstliche Aufpeitschung der Gefühle zurückschlägt,treten häufig Gleichgültigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Vor-gängen, krassester Egoismus und Negativismus an ihre Stelle. Das istvielleicht die ernsteste Seite der moralischen Zerrüttung, von der soviel die Rede ist. Von dieser Seite her kann neuen Demagogen derBoden bereitet werden.

Wir können und wollen uns weder des Mittels des Volksbetrugsnoch des Mittels der billigen Vertröstung bedienen. Wichtiger alsviele, die glauben, sind uns wenige, die wollen, was sie wissen, undwissen, was sie wollen.

Frei von Dogmen und ohne Moralpredigten treten wir derschwergeprüften jungen Generation gegenüber, die den Freiheits-

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faden weiterzuspinnen haben wird. Sie will kein Geschmuse, son-dern sie will die Auseinandersetzung mit Realitäten.

Mit Realitäten befaßt sich der demokratische Sozialismus, abernicht im Sinne reiner Magenfragen oder eng begrenzter Tagespolitik.Jener Schriftsteller hat Recht, der neulich schrieb, der Sozialismus seimehr als eine große Versicherungsanstalt. Er muß ein Ziel bleiben,für das es lohnt, das letzte einzusetzen, eine Vision, die wert ist, ge-träumt zu werden.

Die sozialistische Bewegung muß mit beiden Beinen auf demBoden der realen Wirklichkeit stehen. Aber sie würde rückschrittlichwerden, wenn sie aufhörte, eine Ideenbewegung zu sein.

Der demokratische Sozialismus ist ein in sich nicht abge-schlossenes System von Vorstellungen über eine Neugestaltung dergesellschaftlichen Verhältnisse. Sein formuliertes Programm wirdimmer nur die Summe gemeinsamer grundsätzlicher Überzeugun-gen in einer bestimmten Periode entsprechend dem jeweiligen Gradwissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Aber diesen sich weiter-entwickelnden grundsätzlichen Überzeugungen liegt eine gemein-same Lebensanschauung zugrunde. Sie fußt auf dem Bekenntnis zurFreiheit und zum Humanismus, zum Rechtsstaat und zur sozialenGerechtigkeit.

Für viele von uns ist aber der Sozialismus nicht nur Lebensauf-fassung, sondern auch Lebensinhalt.

Das bedeutet nicht, daß der demokratische Sozialismus denMenschen und jeden Menschen, der sich zu ihm bekennt, ganz fürsich in Anspruch nehmen will. Der demokratische Sozialismus istkein Kirchenersatz und keine Weltanschauung, er verpflichtet seineAnhänger zu keinem bestimmten religiösen oder philosophischenBekenntnis.

Was die Stellung zur Religion und zur Kirche angeht, so haltenwir es mit dem Görlitzer und Heidelberger Programm: „Religion istPrivatsache, Sache innerer Überzeugung, nicht Parteisache, nichtStaatssache.“28 Eben daraus folgern wir, daß Staat und Kirche von-einander getrennt sein sollten.

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Wir fordern Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle. Wir brau-chen Toleranz, wenn wir demokratisch miteinander leben wollen.Wir brauchen sie ganz besonders in unserem konfessionell zer-klüfteten Volk. Toleranz ist das Gegenteil von Vorrechten. Sie kannaber keinen Freibrief für politische Geschäftemacher bedeuten, undzwar auch dann nicht, wenn es die Religion ist, mit der man Ge-schäfte machen will.

Grundsatzfragen verdienen ernstgenommen zu werden. Sie sindfür uns keine Angelegenheit der Taktik. Sie erfüllen uns auch nichtmit irgendeinem Bangen vor dem, was als Endergebnis heraus-kommen mag, wenn wir mit entschlossenem Realismus ans Werkgehen.Wer von unseren grundsätzlichen Debatten eine Schwächungder deutschen Sozialdemokratie erhofft, wird enttäuscht werden. Siewird durch diese Debatten an innerer Lebendigkeit und äußererSchlagkraft gewinnen. Und sie wird stark genug sein, innerhalb desgroßen Rahmens gemeinsamer Überzeugungen eine Vielfalt vonSchattierungen und Nuancierungen beherbergen zu können. Wirwerden uns nicht voneinander trennen, weil der eine seine Zugehö-rigkeit zur Bewegung des demokratischen Sozialismus nicht ganz sobegründet wie der andere. Wir werden zusammenstehen und in nieerlahmender geistiger Auseinandersetzung miteinander arbeiten.

Die beste Theorie aber bleibt ein toter Buchstabe, wenn ihr nichtdurch persönlichen Einsatz zur Wirksamkeit verholfen wird. Auf dasWollen, auf den mit Wissen gepaarten Willen kommt es letzten Endesan. Auf den kompromißlosen Willen zur Verteidigung der Freiheit,auf die harte Entschlossenheit, die Demokratie aufzubauen und zu si-chern, der sozialen Gerechtigkeit und dem sozialistischen AufbauzumDurchbruch zu verhelfen. Die Idee des demokratischen Sozialismuswird nur dann zur sieghaften Idee, wenn sie in immer stärkeren Maßezur Sache des ganzen Volkes wird und wenn sie von den Besten, denEinsichtigsten und den Mutigsten umgesetzt wird in d i e T a t .

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Nr. 6Schreiben des Vertreters des SPD-Parteivorstands in Berlin,Brandt, an den Oberbürgermeister Berlins, Reuter16. Mai 1949

AdsD,WBA, A 6, Korrespondenz mit PV 1947–1950 (alt).

Lieber Genosse Reuter!Donnerstagabend packte mich das Fieber. Der Arzt will mich auchheute nicht rauslassen. Ich werde also nicht an der Vorstandssitzungteilnehmen können und möchte Ihnen und den Mitgliedern desLandesvorstandes auf diese Weise mitteilen, wie ich zu dem am vo-rigen Montag gemachten Vorschlag stehe.1

So sehr ich das Vertrauen zu schätzen weiss, das Sie und die Ge-nossen des Berliner Vorstandes mir entgegenbringen, bitte ich dochzu beachten, dass mich der Vorstand der Gesamtpartei mit meinergegenwärtigen Funktion betraut hat. Daraus ergeben sich für michLoyalitätsverpflichtungen besonderer Art gegenüber dem Parteivor-stand und gegenüber den Genossen in Hannover. Die Übernahmeeines Amtes oder einer verantwortlichen politischen Funktion inBerlin wäre darum nur möglich, nachdem darüber eine Verständi-gung zwischen dem Landesvorstand und den Genossen in Hannoverherbeigeführt sein würde.

Zum anderen möchte ich meinen persönlichen Standpunkt da-hingehend zum Ausdruck bringen, dass ich der Bewegung in einerunabhängigen Position wahrscheinlich wertvollere Dienste leistenkann als bei Übernahme einer ausgesprochen administrativen Auf-gabe. Das bedeutet keine Geringschätzung der organisatorischen undverwaltungsmässigen Ebene, auf der ich übrigens während meinerskandinavischen Jahre bereits einige Erfahrungen sammeln konnte.2

Wenn die Partei meint, mich mit einer administrativen Aufgabebetrauen zu sollen, werde ich mich dem nicht widersetzen, sondernbemüht sein, die Aufgabe so gut wie möglich zu lösen. Ich glaube je-doch, dass es keine gute Menschenökonomie wäre, wenn ich dann

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nicht auch die Möglichkeit erhielte, mich parlamentarisch zu be-tätigen.

Neben der noch ausstehenden Verständigung mit Hannoverbitte ich also zu prüfen, ob die Übernahme eines Amts im Magistratnotwendigerweise eine Entsendung in den Bundestag ausschliessenwürde.

Die Genossen in Schleswig-Holstein fragten mich im vorigenMonat, ob ich bereit wäre, auf der dortigen Landesliste zum Bundes-tag zu kandidieren. In Berlin ist gesprächsweise ebenfalls die Rededavon gewesen, dass ich der hiesigen Delegation zum Bundestag3 an-gehören könnte. Ein solches Mandat wäre wahrscheinlich mit derweiteren Wahrnehmung meiner jetzigen Aufgaben für den Partei-vorstand zu vereinbaren. Aus der Bildung der Bundesbehörden undder Neuregelung des Verhältnisses zu den Alliierten werden sichausserdem Veränderungen in Bezug auf Art und Umfang der Ar-beiten des „Berliner Vertreters“ ergeben. Ob man dann noch voneinem befriedigenden Arbeitsgebiet sprechen könnte, vermag ichheute nicht zu beurteilen. Das sollte jedoch bei der Beurteilung IhresVorschlages unerörtert bleiben, denn an sinnvollen Aufgaben würdees mir auch dann nicht fehlen, wenn die Berliner Vertretung desParteivorstandes hinfällig oder nicht mehr durch mich wahr-genommen würde.

Aus einem Gespräch mit Erich Ollenhauer Ende des vorigenJahres werden Sie sich daran erinnern, dass die Genossen in Hanno-ver damals nicht geneigt waren, auf meine Mitarbeit zu verzichten.Kurt Schumacher sagte mir kürzlich, er nehme zur Frage meinerKandidatur zum Bundestag einen positiven Standpunkt ein, möchteaber zuvor noch die Vereinbarkeit mit meiner gegenwärtigen Funk-tion geklärt wissen. Am vergangenen Mittwoch sprach ich – nach-dem Franz Neumann und ich nicht rechtzeitig zur PV-Sitzung weg-gekommen waren – telefonisch kurz mit Fritz Heine, der mir keinepositive Beantwortung Ihres Vorschlags in Aussicht stellen konnte.

Ich kündigte bei dieser Gelegenheit an, dass sich Franz Neumannwahrscheinlich noch mit Kurt Schumacher über die Sache unter-halten werde. Franz [Neumann] teilte mir dann mit, Sie hätten alle

132 Brandt an Reuter, 16. Mai 1949

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sich aus Ihrem Vorschlag ergebenden Besprechungen selbst über-nommen.

Ich kann also nur abwarten, ob sich durch noch ausstehendeBesprechungen mit Hannover eine Klärung der Lage ergeben wird.Dafür, dass ich mich selbst einiger Zurückhaltung befleissige, werdenSie und die Genossen des Landesvorstandes hoffentlich Verständnishaben.Mit freundlichen Grüssen!Ihr

Nr. 7Schreiben des Berliner Vertreters im Deutschen BundestagBrandt an den Leiter des Referates für Presse und Propagandabeim SPD-Parteivorstand, Heine21. Dezember 1949

AdsD,WBA, A 6, 4 (alt).

Lieber Fritz!Zunächst möchte ich Dir und allen Genossen des PV-Büros und derOdeonstrasse1 die besten Wünsche zum bevorstehenden Fest und fürein erfolgreiches 1950 übermitteln.

Kurt Mattick sagte mir, er habe Dich bereits bei Deinem HierseinAnfang des Monats davon verständigt, dass wahrscheinlich eine Än-derung in der Redaktionsleitung des „Sozialdemokrat“2 erfolgenwürde. Als ich zurückkam, traten die Genossen an mich heran undbaten mich, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich habe unter der Vor-aussetzung zugesagt, dass eine freundschaftliche Verständigung mitFranz Tausch erreicht würde. Die Aussprache mit ihm hat heutestattgefunden, und er hat sofort erklärt, dass er den Wunsch desVorstandes und der Pressekommission respektieren werde. Esschmerzt mich trotzdem, dass Franz Tausch etwas den Eindruck hat,

133 Brandt an Heine, 21. Dez. 1949

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als sei er unter Ausnützung seiner Krankheit herausmanövriert wor-den.

Der formelle Beschluss des Berliner Landesvorstandes steht nochaus. Es ist aber kaum zu bezweifeln, wie er ausfallen wird, nachdemdie eingesetzte Kommission einstimmig entschieden hat. Ich bin mirdarüber im Klaren, dass die Übernahme der neuen Funktion keinereine Freude sein wird. Aber es reizt mich, eine schwierige Aufgabeanzupacken.

Schon zu diesem Zeitpunkt möchte ich betonen, dass ich – fallsich den Versuch unternehmen soll, das Berliner Parteiblatt durch-zubringen – auf engen Kontakt mit Dir angewiesen sein werde. Meinbesonderes Streben wird dahin gehen, ein repräsentatives Organ derBerliner Politik zu machen, aber auch den Fragen der Ostzone ganzbesondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es würde mich sehr freuen,wenn ich gerade in Bezug auf letztere Frage auf Deine aktive Unter-stützung rechnen könnte. Vielleicht überlegst Du Dir die Dinge einbisschen, so dass wir Anfang Januar hier in Berlin darüber sprechenkönnen.3

Mit besten Grüssen!Dein

Nr. 8Redebeitrag des Berliner Delegierten Brandtauf dem Parteitag der SPD in Hamburg22. Mai 19501

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 21. bis 25. Mai1950 in Hamburg, Hamburg 1950, S. 103–105.

Genossinnen und Genossen! Ich habe zunächst den Auftrag, einigeszur Begründung des Antrages Nr. 33 vom Landesverband Berlin zusagen.2 Der Antrag befindet sich auf Seite 7 der Vorlage Nr. 5, aber

134 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 22. Mai 1950

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obgleich er insgesamt nur aus acht Zeilen besteht, sind in den achtZeilen zwei Druckfehler enthalten. Ich darf den Antrag so verlesen,wie er lauten soll:

„Der Parteivorstand wird beauftragt, in Zusammenarbeit mit derBundestagsfraktion unverzüglich ein Arbeitsbeschaffungsprogrammfür die dringlichsten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kul-turellen Fragen auszuarbeiten. Es muß die Grundlage des nächstenWahlkampfes sein, den Klärungsprozeß im deutschen Parteilebenfördern und richtungsweisendes sozialdemokratisches Regierungs-programm werden.“

Wir möchten Euch bitten, Genossinnen und Genossen, diesemAntrag zuzustimmen, aber nicht als einer Angelegenheit der Pro-paganda oder der Taktik, sondern als einer Angelegenheit der politi-schen Strategie.

Das politische Problem, so, wie es sich vielen von uns darstellt,besteht doch wohl darin, daß wir alle die Widerstandskräfte gegeneine demokratisch-sozialistische Lösung in diesem Lande gegen unszusammenschweißen. Unsere Aufgabe muß doch wohl in ersterLinie darin bestehen, das gegnerische Lager so stark wie möglich zudifferenzieren, uns zu stärken und das Zusammenwirken mit an-deren Kräften zu ermöglichen. Ich glaube, wir kommen zu dem Ziel,das wir uns gesteckt haben und von dem heute morgen in über-zeugender Weise zu verschiedenen Fragen die Rede war, nur dann,wenn unsere Politik von dem unerschütterlichen Willen und festenVorsatz getragen ist, daß das, was wir wollen, noch realistischer,noch sachlicher, noch positiver, noch konkreter entwickelt werdenmuß. Wir brauchen das Aktionsprogramm, das im einzelnen erstvon uns noch zu schaffen ist, wenn wir nicht in einer sehr unange-nehmen Lage uns befinden wollen an dem Tage, wo die RegierungAdenauer durch eine sozialdemokratisch geführte Regierung abge-löst wird. Im kommenden Wahlkampf und in den Auseinander-setzungen müssen wir der Bevölkerung wirklich an Hand von bisins einzelne gehenden Ausarbeitungen darlegen, wie wir es andersmachen wollen, wenn wir die Regierungsgeschäfte in der Handhaben.

135 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 22. Mai 1950

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Ich will nicht der Mittwoch-Debatte3 vorgreifen, aber es gehtvielleicht manchem Genossen ähnlich wie einem Teil von uns in derBerliner Delegation. So sehr wir die grundsätzlichen Richtlinien deswirtschaftspolitischen Ausschusses zur Frage der Vollbeschäftigungunterstreichen, so entscheidend wichtig erscheint uns doch auf deranderen Seite die Konkretisierung zu sein, wie sie etwa von denHamburgern angedeutet worden ist in der zusätzlichen Vorlage, dieuns gestern unterbreitet wurde.4 So wichtig es sein mag, wie zwei derAntragsteller fordern, die Diskussion über ein grundsätzliches Pro-gramm zu führen, so sehr sind wir doch der Auffassung, daß ein Ar-beits-, ein Aktionsprogramm der Partei, das den Weg vom Propagan-distischen und überwiegend Polemischen zum Konstruktiven zeigt,zu dem allervordringlichsten gehört, was die Partei zustande bringenmuß.5

Nun gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zur Europafrage.Ich muß erklären, daß ich den Ausführungen und Auffassungen desGenossen Schumacher zu dieser wichtigen Frage nur zu zwei Drit-teln folgen kann, aber ihnen nicht im letzten Drittel zu folgen ver-mag.6 Ich bin damit einverstanden, daß wir schärfsten Protest imBundestag und, wo auch immer über die Frage des Eintritts ge-sprochen wird, zum Ausdruck bringen gegen die willkürliche Rege-lung an der Saar und gegen die Verkoppelung von Saar und Europa-rat. Ich bin weiter einverstanden, daß wir deutlich zum Ausdruckbringen, daß Straßburg kein guter und kein gesunder Start dereuropäischen Zusammenarbeit ist, daß die eigentlichen Problemeerst n a c h Straßburg kommen. Einige könnten schon heute deut-lich umrissen werden. Eines dieser Probleme ist der Marshall-Plan,der auch keine ideale Angelegenheit ist. Dennoch haben wir zu ihm„ja“ gesagt und werden „ja“ sagen zu seiner möglichen Weiter-führung im Jahre 1952.

Wir begrüßen es, daß die Frage der deutschen Remilitarisie-rung von der Tagesordnung der Londoner Konferenz7 abgesetztworden ist. Aber wir können auf der anderen Seite nicht darumherumkommen, daß die Frage der Sicherheit des Westens uns alsBetroffene im höchsten Maße interessiert und uns zu ernsten

136 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 22. Mai 1950

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Überlegungen veranlassen muß. Schließlich sollten wir betonen– das gehört auch zu den nicht strittigen Punkten –, daß, wenn estrotz des Protestes der Sozialdemokratie gegen die Saarregelungzur Einbeziehung der Bundesrepublik in die Straßburger Ver-sammlung kommt, daß damit keine Akzeptierung des deutschenProvisoriums im Westen als endgültige Lösung verbunden seinkann. Es muß unterstrichen werden, daß Berlin nicht, wie es indem Brief Adenauers vorgesehen ist,8 außerhalb der Bundes-republik belassen werden kann, sondern daß Berlin, wenn über-haupt eine Regelung zustande kommt, mit zur Bundesrepublikgehören muß, wie es der Beschluß des Bundestages vom vorigenHerbst forderte.9

Das letzte Drittel, bei dem sich die Sache mir etwas anders dar-stellt, besteht in folgendem: Ich glaube, es ist schwierig zu sagen, daßwir den Weg nach Straßburg nicht gehen sollten, weil es nur ein Er-satzeuropa repräsentiert. Ein Ersatzeuropa wäre der Westen auch,wenn er eine bessere Konstruktion hätte. Die Aufgabe, das eigent-liche Europa zu schaffen über den Küstenstreifen am AtlantischenMeer hinaus, bestünde auch dann. Auch diese Aufgabe könnte wohlnur mit demokratischen Kräften außerhalb Europas gelöst werden.Ich glaube, wir können nicht so weit gehen, daß wir sagen, wir kön-nen eigentlich erst mitmachen, wenn es die Möglichkeit einer sozia-listisch-demokratischen Solidarität in Europa gibt. Natürlich wäreuns eine solche Entwicklung die liebste, wie sie uns auch inDeutschland die liebste gewesen wäre. Aber wir haben in Deutsch-land auch Lösungen akzeptiert als Basis unserer Arbeit, die uns vor1945 nicht vorgeschwebt haben. Ich weiß nicht, ob wir ohne weiteressagen sollen, daß die deutschen Sozialisten die besten Internatio-nalisten von allen sind. Für meinen Teil wäre es schon richtiger zusagen: Wir bemühen uns, ebensogut wie die anderen zu sein. DerAnspruch, die Besten zu sein, könnte auch etwas herabsetzend aufandere und gerade auf unsere ausländischen Gäste wirken.

Ich glaube, daß das Ja zu Europa auch zu seinen Ansätzen, diesich auf wirtschaftlichem Gebiet in der OEEC darstellen und poli-tisch vielleicht in Straßburg ergeben können, gesagt werden müßte

137 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 22. Mai 1950

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und daß dieses Ja neben unseren Bedenken und Protesten zu der un-möglichen Konstruktion, von der die Rede gewesen ist, doch auchdeutlich genug bei dem Beschluß des Parteitages zum Ausdruckkommen sollte.

Eine scharfe Auseinandersetzung mit den rückschrittlichenKräften Europas und über Europa hinaus ist erforderlich. Aber Ge-nossen, die Grundfrage der Auseinandersetzung im Europa von heuteund in der Welt von heute ist ja – man kann vielleicht leider sagen –nicht oder nicht allein die Auseinandersetzung zwischen den Kräftendes Sozialismus und denen des Kapitalismus, sondern eine Ausein-andersetzung, in der es darum geht, überhaupt die Möglichkeiteneiner demokratischen, sozialistischen Entwicklung zu erhalten. Unddazu sollten auch, wo immer erkennbare Ansätze zur Gemeinsam-keit auf wirtschaftlichem und politischen Gebiete in Westeuropasind, sie von uns als Ansatzpunkte erfaßt und womöglich positivweiterentwickelt werden.10

Nr. 9Redebeitrag des Berliner Delegierten Brandtauf dem Parteitag der SPD in Hamburg25. Mai 1950

Protokoll 1950, S. 255 f.

Genossinnen und Genossen! Erlauben Sie mir, trotz der vorgerücktenStunde, noch ein paar Bemerkungen zu diesem wesentlichen Beitragder Standortbestimmung unserer Programmdiskussion zu machen,den wir heute von Carlo Schmid entgegengenommen haben.1 Fürmich ergibt sich daraus unter anderem, daß wir an diese Pro-grammdebatte in der Partei nicht in der Absicht herangehen können,ein endgültiges oder wissenschaftlich vollkommenes Programmschaffen zu wollen.2 Das heißt nicht, auf die präzise Formulierung

138 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 25. Mai 1950

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unter Zuhilfenahme aller nur möglichen wissenschaftlichen Me-thoden zu verzichten, aber es heißt, glaube ich, sich einzugestehen,daß im politischen Bereich nicht nur die Landkarten, sondern auchdie Orientierungsgeräte weitgehend dem Gesetz der Veränderungunterworfen sind.

Wenn wir nach alledem, was wir erlebt und erfahren haben, vonder Relativität unserer politischen und auch grundsätzlichen Weis-heiten ausgehen, dann schwächt das meiner Überzeugung nach kei-neswegs unsere Position, gerade auch nicht gegenüber der durch dasSchicksal so schwer mitgenommenen jüngeren Generation. Ichglaube vielmehr, daß eine mißverstandene – ich unterstreiche dasWort mißverstandene – Prinzipientreue häufig die Rolle eines Troja-nischen Pferdes des Konservativismus innerhalb der Reihen der Ar-beiterbewegung spielt.

Für meinen eigenen Teil glaube ich, daß wir mit einer primitivenGeschichtsauffassung, die von der Naturnotwendigkeit des ge-schichtlichen Ablaufs ausgeht, einfach nichts anfangen können. Esist auch auf diesem Parteitag noch einmal jene sehr einfache Erklä-rung des Faschismus als einer mehr oder weniger einseitigen Agenturdes Monopolkapitalismus erwähnt worden. Das ist doch, wenn mandie Dinge ernsthaft überprüft, eine unerlaubte Vereinfachung, weiles eine der Komponenten enthält, aber eben doch nur eine.

Ich habe manchmal den Eindruck, als ob, nicht auf diesem Par-teitag, aber in unseren Reihen sonst manches noch anmutet, als wennwir in der Zeit der Postkutschen und der Windmühlen lebten undnicht in der Zeit der Stratosphärenkreuzer und Atomenergie. Wennman sich umstellt, auf die Gegebenheiten in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts, dann glaube ich nicht, daß sich daraus eine Schwä-chung oder Unterbewertung der Rolle der Partei und des dauernd inihr notwendigen geistigen Ringens ergeben würde. Wir haben nacheinem neuen Ordnungsprinzip zu suchen. Und wenn ich etwas ver-mißt habe an Carlo Schmids Referat – ich will das nicht als eigentlicheKritik vorbringen, denn ein so umfassendes Thema zwang zu einerKonzentration, und es war sicher schwer, zu entscheiden, welchePunkte ausgelassen werden sollten –, aber wenn ich etwas vermißt

139 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 25. Mai 1950

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habe, dann war es die noch klarere Herausarbeitung, daß wir es indiesem 20. Jahrhundert doch ganz anders als in der zweiten Hälfte desvorigen oder auch in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahr-hunderts nicht mehr nur mit dem Ringen auf der Klassenebene zu tunhaben, sondern mit dem Ringen, das sich aus den neuen politischenund wirtschaftlichen Machtzusammenballungen ergibt, aus den Aus-einandersetzungen mit den totalitären Kräften verschiedenster Art,mit den neuen Formen staatlicher Allgewalt, die den Bestand unsererZivilisation in Frage stellt. Und daraus ergibt sich doch weiter, daß dieBewegung – ob es einem nun lieb ist oder nicht – manchmal zurück-geworfen wird, und geradezu gezwungen wird, sich mit Fragen zu be-fassen, die man bei der Begründung der Arbeiterbewegung schon fürgelöst hielt. Das gilt für die ganzen Grundlagen des staatlichen Lebens,wo wir Angriffe auf Werte und auf Dinge erleben, von denen man so-gar in der Zeit der industriellen Revolution vielfach als Selbst-verständlichkeiten ausging.

Und wir erleben es in der internationalen Politik, wo wir ge-radezu gezwungen werden, zu der einfachen, uns früher allzu einfacherscheinenden Fragestellung von Karl Marx und Friedrich Engelszurückzukehren, nämlich der Untersuchung: welche Kraft repräsen-tiert auf der internationalen Ebene jeweils geschichtlichen Fort-schritt, und welche repräsentiert den geschichtlichen Rückschritt?Wobei die Kraft, die den geschichtlichen Fortschritt vertritt, dort undauf anderen Ebenen keineswegs immer schon das ist, wofür wir alssozialistische Bewegung weiter zu arbeiten entschlossen sind. Ichwürde auch wünschen, daß in unserer Programmdebatte das ganzeProblem des Heranwachsens neuer herrschender Schichten, dieTechnik der Machtbehauptung und der Massenbeeinflussung, desWachsens des bürokratischen Elements auf allen Ebenen, nicht nurin der Wirtschaft und im Staat, stärker herausgearbeitet wird.

Ich möchte noch eins wünschen, Genossinnen und Genossen –mit zu berücksichtigen, daß der Mensch leider nicht s o gut ist, wiewir ihn in einem unserer schönen Lieder darstellen. Vieles, was wirdurchgemacht haben, und gerade auch die faschistische Aera hat unsgezeigt, daß die Grenze zwischen Mensch und Tier nicht außerhalb

140 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 25. Mai 1950

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des menschlichen Bereichs verläuft, sondern innerhalb des mensch-lichen Bereichs. (Beifall.)

Genossen, wir haben, glaube ich, auch zu sehen, daß zu derökonomischen Abhängigkeit und Ausbeutung und daß zu der poli-tischen Unterdrückung die Tatsache hinzukommt, daß die Men-schen, um die wir zu ringen haben, einem geistigen Zwang unter-liegen, der zum Teil durch viele Generationen hindurch verwurzeltist, daß die Menschen auf Grund eines sich steigernden Angst-gefühls in dauernder Unsicherheit leben, die nicht nur ihrer wirt-schaftlichen Lage entspringt – und daß aus Zwang und Furcht mitdem Mittel der modernen Massenbeeinflussung, mit den modernenPropaganda- und anderen Mitteln künstliche Begeisterung erzeugt,eine Aufpeitschung der Gefühle erreicht werden kann, eine Mobi-lisierung der triebhaften Unterwelt gegen die Bastionen sowohl derMoral wie der Vernunft. Der Rückschlag kommt dann nach derAufpeitschung zur künstlichen Begeisterung in der Form vonGleichgültigkeit, die wir heute bei großen Teilen der Bevölkerungerleben, in der Form krassesten Egoismus, in der Form des Negati-vismus und der moralischen Zerrüttung, Zuständen, denen wir un-sererseits nicht mit dem Mittel des Volksbetrugs und der billigenVertröstung begegnen können. Wir müssen uns um ein dogma-tisches Ordnungsprinzip bemühen. Wir können es teilweise durchunser in sich abgeschlossenes System einer Neugestaltung der so-zialen Verhältnisse. Davon wird ja unsere Programmdebatte be-herrscht sein müssen, zu versuchen, die Summe gemeinsamerÜberzeugungen zu entwickeln, gemeinsamer Überzeugungen ineiner bestimmten Periode, entsprechend dem Grad der Erkenntnissedieser Periode und entsprechend dem Gesamtstrom der in ihr le-bendigen geistigen Kräfte. Dieser sich entwickelnden grundsätz-lichen Überzeugung unserer Bewegung liegt eine – und soll einegemeinsame Lebensanschauung zugrunde liegen, die ich nicht mitWeltanschauung verwechselt sehen möchte. Für viele von uns aberist der Sozialismus nicht nur Lebensanschauung, sondern auch Le-bensinhalt, was keineswegs bedeutet, daß wir auf den ganzen Men-schen Anspruch erheben.

141 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 25. Mai 1950

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Aber, Genossen, die beste Theorie – und darauf kommt es mir an,und da pflichte ich Fritz Erler ganz entschieden bei – die beste Theo-rie bleibt ein toter Buchstabe ohne den persönlichen Einsatz. Es gibtim geschichtlichen Ablauf niemals nur eine Möglichkeit. Hitlerbrauchte nicht zu kommen (Zuruf: Richtig!) – der Krieg brauchtenicht zu kommen (Zuruf: Sehr richtig!) – Adenauer brauchte nichtBundeskanzler zu werden.3 (Zuruf aus dem Saal: Ich glaube doch!)

Es kommt an auf den mit Wissen gepaarten Willen, und es gibtentscheidende Situationen, in denen wir uns daran erinnern müssen,Genossinnen und Genossen, daß dann manchmal wichtiger als dievielen, die glauben, die wenn auch manchmal wenigeren sind, diewissen was sie wollen, und wollen, was sie wissen. (Beifall.)

Nr. 10Schreiben des Berliner Vertreters im Deutschen BundestagBrandt an den ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung PoliticalParties des Civil Administration Office von OMGUS Bolten9. Juni 1950

AdsD,WBA, A 6, 5/6 (alt).

Lieber Seymour!Es ist eine Schande, dass ich bisher auf Ihren Weihnachtsbrief nichtgeantwortet habe. Gemeinsame Freunde haben mir aber gelegentlichvon Ihnen erzählt. Sie werden wissen, dass ich im vergangenenHerbst aus der Tätigkeit, die uns so häufig zusammenführte, aus-geschieden bin, da das Berliner Sekretariat des Parteivorstandes imZusammenhang mit der Verlegung der wichtigsten alliierten Stellennach dem Westen aufgelöst wurde. Seitdem bringe ich nun meistens2–3 Tage in der Woche in Bonn zu. Das reicht zu einer ernsthaftenMitarbeit nicht aus. Ich muss mich damit begnügen, die Entwicklungin grossen Zügen zu verfolgen und in ein paar Ausschüssen an ein-

142 Brandt an Bolten, 9. Juni 1950

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zelnen Beratungen mitzuwirken. Meine Mitarbeit in Bonn ist auchdarum etwas begrenzt, weil sich – das ist schon kein Geheimnis mehr– mein Verhältnis zu Dr. Schumacher seit dem vergangenen Jahrwesentlich verschlechtert hat. Das ist öffentlich jetzt dadurch zumAusdruck gekommen, dass ich der übersteigerten Argumentationgegen den Europarat widersprochen habe.1 Aber die Meinungsver-schiedenheiten und Aversionen beschränken sich nicht auf diesenPunkt.2

Umso mehr interessiert mich weiterhin die politische Entwick-lung in Berlin. Wie Sie wissen, mache ich seit dem 1. Januar [1950]den früheren „Sozialdemokrat“, den wir jetzt „BS“ nennen.3 Ob es ge-lingen wird, das Blättchen zu halten, erscheint allerdings gerade jetztwieder überaus fraglich. Die Berliner Schwierigkeiten sind Ihnensicher bekannt.4 Dennoch bestätigen mir alle Freunde, die als Be-sucher Vergleiche anstellen können, dass sich seit dem vergangenenJahr ein grosser Fortschritt vollzogen habe. Im deutschen Westenscheint sich auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass man Berlinnicht hängen lassen kann. Ich bin nach wie vor davon überzeugt,dass eine aktive Politik und ein, wenn auch opfervoller wirtschaft-licher Aufbau in Berlin die weitere deutsche und vielleicht aucheuropäische Entwicklung massgebend beeinflussen kann.

Wir sind Ende vergangenen Jahres vom Halensee weg und in dieNähe des Schlachtensees gezogen. Wir haben dort ein Reihenhaus inder sogenannten Marinesiedlung, die Sie kennen werden, weil dortbis vor einem Jahr amerikanische Einquartierung war. Unser Junge,der zum Herbst zwei Jahre alt wird, scheint sich zu einem lebhaftenIndividuum zu entwickeln und bedient sich eines zwar lückenhaftenaber nicht uninteressanten Wortschatzes, der aus deutschen undnorwegischen Bestandteilen zusammengesetzt ist.

Wenn Sie nicht in Verbindung mit Ihrer Tätigkeit doch malwieder nach Deutschland kommen, werden wir uns wohl erst wiedertreffen können, wenn ich mal in die Vereinigten Staaten fahrenkann. Man hatte mir hier zwei Projekte vorgeschlagen, von denensich das eine über vier, das anders über sechs Monate erstreckensollte. Ich musste zu beiden Vorschlägen nein sagen, weil ich einfach

143 Brandt an Bolten, 9. Juni 1950

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nicht für so lange Zeit wegbleiben kann. In Bonn hat man mich an-dererseits nicht gefragt, ob ich an einer der parlamentarischen De-legationen teilnehmen wollte, die sich ja über eine sehr viel kürzereZeit erstreckt. Aber vielleicht ergibt sich im nächsten Jahr einmaleine andere Möglichkeit.

Es wäre nett, von Ihnen mal wieder zu hören. Seien Sie herzlichgegrüsst von meiner Frau und vonIhrem

Nr. 11Schreiben des Mitglieds des Landesvorstands der Berliner SPDBrandt an den Leiter des Betriebsgruppenreferates beimSPD-Parteivorstand, S. Neumann26. März 1951

AdsD,WBA, A 6, Korrespondenz mit PV 1951–1954 (alt).

Lieber Freund !Wir haben uns neulich vor Deiner Abreise nicht mehr getroffen, undich möchte darum auf diesem Wege noch ein paar Bemerkungen zuunserem sonntäglichen Gespräch nachtragen.

Du wirst hoffentlich den Eindruck gewonnen haben, dass mirsehr viel nicht nur an einer Überwindung der Führungskrise in Ber-lin liegt, sondern auch an einer Normalisierung des Verhältnisseszum PV. Es hat wenig Sinn, im einzelnen zu untersuchen, wie es zurEntfremdung gekommen ist.1 Für meinen Teil darf ich wohl ohneÜberheblichkeit sagen, dass es während der Zeit meiner PV-Vertre-tung im Jahre 1948 keine nennenswerten Schwierigkeiten im Ver-hältnis Berlin-Hannover gegeben hat. Vorher hatte es solche Schwie-rigkeiten gegeben,2 und seitdem sind sie zuweilen über das Mass desErträglichen hinausgewachsen. Manches hätte sich vielleicht ändernund verhindern lassen, wenn andere und ich den Stier jeweils gleich

144 Brandt an S. Neumann, 26. März 1951

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bei den Hörnern gepackt hätten, statt uns durch Ränke und Animo-sitäten über Gebühr beeindrucken zu lassen.

Ich hoffe, es deutlich gemacht zu haben, dass ich Kurt Schumacherjederzeit zu einer Aussprache zur Verfügung stehe und dass ich ein of-fenes, klärendes Gespräch für nützlich halten würde.3 Es wird ja aberwohl nurzustande kommen,wenn derWunschzueinervorurteilslosenErörterung auf Gegenseitigkeit beruht. Ich muss Dir überlassen, vondiesem Brief jenen Gebrauch zu machen, den Du für angebracht hältst.Mit den besten GrüssenDein

Nr. 12Schreiben des Berliner Vertreters im Deutschen BundestagBrandt an den baden-württembergischen LandtagsabgeordnetenSchulz4. Juni 1952

AdsD,WBA, A 6, 9 (alt).

Lieber Freund!Es ist mir viel lieber, daß mal jemand aufbegehrt, als daß die Ten-denz zur Resignation immer mehr um sich greift. Im konkreten Fallkann ich Dir versichern, daß viele Genossen sachlich Deinen Stand-punkt teilen.1 Erwin Schöttle hat daraus zum Beispiel keinen Hehlgemacht.

Andererseits solltest Du Deinen Ausspruch nicht isoliert be-trachten. Du solltest vor allem in den Kreis Deiner Betrachtungeneinbeziehen, daß es sich nicht lohnt, transitorische Erscheinungenzur Grundlage prinzipieller Entscheidungen zu machen. Was unsauch immer nicht gefallen mag, diese Partei bleibt in der deutschenMisere die einzig ernsthafte Chance einer vernünftigen Politik.

145 Brandt an Schulz, 4. Juni 1952

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Diesen Gesichtspunkt solltest Du nicht übersehen. Und wennDu ihn nicht übersiehst, wirst Du sicherlich zu dem Ergebnis kom-men, daß eine Trennung von der Partei zu nichts Gutem führenkann. Jedenfalls würde ich es begrüßen, wenn wir über den ganzenKomplex einmal in Ruhe sprechen könnten. Dazu werden wir jahoffentlich Gelegenheit haben, wenn Du Ende Juni nach Berlinkommst.

Mein Einwand gegen unsere Außenpolitik ist nicht, daß sie diePosition Adenauer2 ablehnt, sondern daß sie einen festen Standpunktvermissen läßt. Wir neigen dazu, von den verschiedensten Ausgangs-punkten her zu argumentieren und dabei manchmal zu recht wider-sprüchlichen Forderungen zu kommen. Für mich sind die national-politischen Einwände gegen die Adenauersche Politik ausschlag-gebend. Übrigens: selbst wenn die Konzeption Adenauers an sichrichtig sein sollte, hätte sie immer noch den Fehler, von Adenauerpraktiziert zu werden.

Also, lieber K[laus]-P[eter] S[chulz], laß das Temperament nichtmit Dir durchgehen, sondern sei Dir darüber im klaren, daß wir – soschwer es im Einzelfall auch sein mag – in dieser Partei und mit ihrzu besseren Lösungen zu kommen trachten müssen.Empfehle mich bitte Deiner Frau und sei bestens gegrüßtvon Deinem

146 Brandt an Schulz, 4. Juni 1952

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Nr. 13Redebeitrag des Berliner Delegierten Brandtauf dem Parteitag der SPD in Dortmund26. September 1952

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SozialdemokratischenPartei Deutschlands vom 24. bis 28. September 1952 in Dortmund, Bonno. J., S. 160–162.

Genossinnen und Genossen! Verzeihen Sie, wenn ich Sie zunächstmit der Unterstreichung eines Punktes im Entwurf des Aktions-programms im Hinblick auf Berlin behellige. Die Partei und diedeutsche Öffentlichkeit müssen sich mehr, als es heute der Fall ist,der Tatsache bewußt sein, daß die Position des freiheitlichen Berlinseiner schleichenden, aber tödlichen Bedrohung ausgesetzt ist, wennsich die Tendenz durchsetzen sollte, einen kalten Frieden auf derGrundlage der Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands zuschließen. In einer angesehenen englischen Zeitung tauchte geradein diesen Tagen wieder die Idee auf, man werde die dazu ent-schlossenen Berliner gegebenenfalls evakuieren müssen. Aus diesemGrunde muß ein Punkt des Aktionsprogramms noch unterstrichenund konkreter und eindeutiger formuliert werden, nämlich die Not-wendigkeit, daß wegen dieser Bedrohung eine zusätzliche wirt-schaftliche und politische Verankerung Berlins mit dem Bund er-folgen muß. Das heißt, wir fordern von den Alliierten und von denwiderstrebenden Kräften im bürgerlichen Lager, daß Berlin nicht ir-gendwann, sondern an den kommenden Wahlen zum Bundestagunbeschadet der rechtlichen Sonderstellung Berlins, die aus Gründender Außenpolitik auf manchen Gebieten andauern mag, teilnehmenkann. (Beifall.)

Ich will nicht der Versuchung unterliegen, auf die Debatte vongestern zurückzugreifen, aber mit gütiger Erlaubnis des Vorsitzendendarf ich eine Bemerkung zu den Ausführungen des Lübecker Freun-des1 machen. Das Argument der Nähe der Zonengrenze sollte bei uns

147 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 26. Sept. 1952

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ausscheiden. Das könnten diejenigen, die in Berlin hinter der Zonen-grenze leben, mit ebenso viel Recht in Anspruch nehmen. Ebensoleidenschaftlich, wie wir für die Vierer-Regelung sind,2 so leiden-schaftlich sind wir dagegen, daß unsere deutsche Politik auf ein totesGleis geschoben wird und man uns gleichzeitig von der freien demo-kratischen Welt isoliert.

Die Auseinandersetzung um die Außenpolitik, wie sie im Ak-tionsprogramm dargelegt wird,3 und die Auseinandersetzung umdie Wiedervereinigungspolitik bleiben einer der Hauptgegenständeunseres Kampfes. Für ein Wahlprogramm genügt es, das Für undWider zu aktuellen politischen Themen abzuwägen und klar he-rauszustellen. Im Aktionsprogramm dürfen wir aber nicht ver-säumen, unsere grundsätzliche Haltung zum Verteidigungsproblemzu umreißen. Und darin bin ich mit dem Bremer Genossen,4 derheute vormittag sprach, einer Meinung. Wir sind uns darüber einig,daß heute für uns die politischen und sozialen Aspekte des KaltenKrieges im Vordergrund stehen. Aber wir werden – und wirkönnen uns dabei übrigens auf die auf Marx und Engels zurück-gehende Tradition des sozialistischen Denkens in der Wehrfragestützen – nicht übersehen dürfen, daß es auch eine militärischeSeite des Sicherheitsproblems gibt. Divisionen allein schaffen esnicht. Aber – das hat der Berliner Änderungsvorschlag anzudeutenversucht, wenngleich wir nicht an den Buchstaben kleben – wirleben in einer Welt, in der es noch schlechter aussähe, als es heuteaussieht, wenn es nur Moskauer Divisionen gäbe. (Sehr gut! – Bei-fall.)

Unsere berechtigten Forderungen nach Gleichberechtigung ver-lören ihren Sinn, wenn wir nicht unter den bekannten und klarenVoraussetzungen, die unsere Partei formuliert hat, auch unseren Teilzu einem System der möglichst kollektiven Sicherheit beizutragenbereit wären, wenn die Zeit dazu gekommen sein wird. (Beifall.)

Kaum bedarf es der Hinzufügung, daß es immer unser Be-streben bleiben wird, für den Abbau der Rüstungen und für einenechten Frieden zu werben. Die Aufgabe, ein relativ umfassendesAktionsprogramm zu schaffen, das hoffentlich in der Redaktions-

148 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 26. Sept. 1952

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kommission, der ich selbst angehöre, noch straffer formuliert wer-den kann, ist darum so schwierig, weil wir umfassend Stellungnehmen und im Gegensatz zu einem der Genossen, der hier gespro-chen hat, leider nicht sagen können, die und jene Dinge könnenausgenommen werden, da sich alle demokratischen Kräfte in die-sem Lande darin einig sind. Wir können uns eben in diesem Landezunächst nur auf uns selbst verlassen. Wir sollten aber dabei nichtdie Gefahr übersehen, die aus einer zunehmenden Polarisierungunserer deutschen Gesellschaft und aus einer Verkrampfung dergesellschaftlichen Formationen entstehen kann. Im Interesse derDemokratie werden wir bei der Anwendung und Erarbeitung un-seres Aktionsprogrammes neben der Erweiterung unserer eigenenBasis und durch die Art der Vertretung unseres Anliegens auch da-rauf hinwirken müssen, daß uns aus der Gesellschaft demokratischeBündnispartner zuwachsen. Aus diesem Grunde scheint mir sowichtig, was heute morgen vorgebracht wurde und im Aktions-programm noch zum Ausdruck kommen muß hinsichtlich des vor-behaltslosen Bekenntnisses der deutschen Sozialdemokraten zurEinordnung der jungen Generation so, wie sie geworden und in diedemokratische Ordnung gewachsen ist, um zur vollverantwort-lichen Mitgestaltung durch diese junge Generation in unserem Staatzu kommen.

Wegen dieser jüngeren Generation und mit dem Blick auf jeneSchichten, deren Sachwalter zu sein wir uns berufen fühlen undderen politischer Kristallisationspunkt wir werden möchten, scheintes mir in dieser Debatte noch auf folgendes anzukommen:

Dieses Aktionsprogramm wird in seiner überarbeiteten Formeine Arbeitsanleitung für die Partei sein können, und es wird nichtnur darauf ankommen, wie der Genosse Hennig meint,5 es für dieeinzelnen Schichten aufzugliedern; es wird ebenso darauf an-kommen, daß wir die einzelnen Teile und das Ganze nicht aufParteichinesisch verbreiten, sondern daß wir bemüht sind – und da-mit knüpfe ich an meine gestrige Diskussionsrede an6 –, unser An-liegen in einer frischen und zeitgemäßen Sprache, mit lebendigenund, wo notwendig, mit überprüften Formen der Organisation und

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Werbung in das Volk hineinzutragen.7 Den eigentlichen politischenSinn der vor uns liegenden Aktion, wie sie durch das Programm an-gedeutet werden soll, möchte ich eben gerade darin sehen, daß wireine große und starke und ehrenhafte Tradition der sozialistischenArbeiterbewegung zusammenfließen lassen mit einem zeitnahenSystem praktischer Vereinigung von Freiheit und Planung, vonWohlstand und Sicherheit. (Beifall.)

Nr. 14Referat des stellvertretenden Vorsitzenden des Landesverbandesder SPD Berlin, Brandt, auf dem XI. Landesparteitag der SPD inBerlin12. Juni 19541

Berliner Stimme vom 19. Juni 1954, S. 4, 7 f.

Aufgaben der Sozialdemokratie in der Gegenwart

In den letzten Monaten hat in der sozialdemokratischen Partei eineAussprache stattgefunden, die ermutigend genannt werden darf. Siezeugte von geistiger Regsamkeit: sie bewies, daß wir nicht selbst-gefällig geworden sind.

Das Wahlergebnis vom 6. September [1953]2 war enttäuschend,obwohl wir eine Million neuer Stimmen zu verzeichnen hatten.Nach diesem Wahlergebnis ging es darum, unsere Arbeit, die Richt-linien unserer politischen Praxis, zu überprüfen. Es ging aber auch– wie in all den Jahren seit 1945 – um die Überprüfung unseres geis-tigen Rüstzeugs, um die Bestimmung unseres Standorts unter denBedingungen, wie sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben sind.

Zu den Bundestagswahlen des vergangenen Jahres wäre man-ches zu sagen. Sie sind zu einem erheblichen Teil mit Methoden be-stritten worden, die wir nicht ohne weiteres auf das Konto des „Ver-geben und Vergessen“ setzen können. Erinnern wir uns einen Au-genblick, was damals vor sich ging:

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Die Bonner Regierungsparteien appellierten ziemlich bedenken-los an die Existenzangst eines eben wieder auf die Beine ge-kommenen Volkes. Für sich allein nahmen sie in Anspruch, was dasErgebnis harter gemeinsamer Arbeit des deutschen Volkes in derBundesrepublik gewesen war. Durch unerlaubt vereinfachte Parolenversuchte man den Eindruck zu erwecken, es hänge lediglich von derZustimmung zu gewissen außenpolitischen Verträgen ab, um mitden Sowjets fertig zu werden. Der Bundeskanzler selbst stellte dieverleumderische, später vor deutschen Richtern widerrufene Be-hauptung auf, sozialdemokratische Vertrauensleute hätten Gelderaus dem Osten angenommen.3 Aus den gleichen Kreisen, denen dieReise nach Moskau nicht rasch genug gehen kann, wurde den So-zialdemokraten wider besseren Wissens unterstellt, sie seien Weg-bereiter des Bolschewismus.4

Lassen wir es mit diesen Hinweisen genug sein. Es handelt sichum ein wirklich unerfreuliches Kapitel. Wir haben uns jedoch nichtmit der Anprangerung gegnerischer Entgleisungen begnügen kön-nen, und es ist gut, daß wir uns auch nicht mit Beschönigungen un-serer eigenen Position zufrieden gegeben haben. Gewiß gab es auchobjektive Ursachen für das, was am 6. September [1953] geschah. Unsist allerdings wenig mit einer Theorie gedient, die immer nur hinter-her zu beweisen vermag, warum die Dinge so laufen mußten, wie siegelaufen sind.

Eine Bewegung, die die Gesellschaft erneuern und die Zukunftgestalten will, muß mit dem Werk der Erneuerung immer wieder beisich selbst beginnen. Diejenigen, die mit ehrlichem Bemühen zurDebatte um die Überprüfung und – wo erforderlich – Erneuerungunserer Politik beigetragen haben, verdienen nicht getadelt zu wer-den: sie verdienen Anerkennung. Eine Partei wie die Sozialdemo-kratie gewinnt an Anziehungskraft, wenn sie nicht künstlicheGleichförmigkeit zur Schau stellt, sondern ein ernstes, offenes undunablässiges Ringen um die Probleme unserer Zeit.

Die Aussprache um die grundlegenden Fragen geht weiter. DasVerhältnis zwischen Diskussion und Aktion läßt sich nicht willkür-lich regeln, schon gar nicht nach dem Schema: Stillgestanden – rührt

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euch. Für die praktische Politik müssen allerdings nach einer jeweilsangemessenen Zeitspanne gewisse Folgerungen gezogen werden, undsolche Folgerungen müssen für das Handeln der Partei verbindlichsein.

Empfehlungen des Parteivorstandes

Nach einer Vielzahl von Einzelbeiträgen aus der Mitgliedschaft undauf der Grundlage von Vorschlägen besonderer Kommissionen – inbeiden Fällen waren Berliner beteiligt – hat der Parteivorstand imMärz [1954] einige Empfehlungen zur Politik und nicht zuletztauch zu organisatorischen Fragen beschlossen. Im Mai folgtenEmpfehlungen zur Außenpolitik und zu den Fragen der Sicher-heit.5

Gerade in diesen Tagen werden nun noch – nach Ausschußbera-tungen, an denen wiederum Berliner teilnahmen – Vorschläge aus-gearbeitet, die Erneuerungen und Änderungen zum Aktions-programm beinhalten.6 In Anlehnung an die erwähnten Empfeh-lungen zur Außenpolitik sollen beispielsweise zwei neue Abschnittein das Programm eingefügt werden. Für den wirtschaftspolitischenTeil werden ebenfalls neue Formulierungen erwogen.

Der Inhalt der neuen Vorschläge ist uns im wesentlichen be-kannt; aber sie liegen uns im einzelnen noch nicht vor. Daraus er-geben sich nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Die Delegiertenzum Bundesparteitag werden sich mit dem noch zu erwartendenMaterial zweifellos gründlich befassen. Sie werden dabei die Dis-kussionen berücksichtigen, die in unserem Landesverband geführtworden sind und die heute auf unserem Landesparteitag geführtwerden. Aber es ist trotzdem bedauerlich, daß die Vorlagen zumAktionsprogramm – wie vor zwei Jahren – zu spät kommen, um inden Einheiten der Partei noch gründlich genug behandelt werden zukönnen.

Wir sind sicher alle der Meinung, daß wir unsere Freunde inBonn bitten sollten, in Zukunft jene Termine einzuhalten, die einge-halten werden müssen, damit Änderungsanträge in Kenntnis der

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Vorlagen eingebracht werden können. Für Programmfragen müssenwir uns die notwendige Zeit nehmen, um sie von oben nach untenund von unten nach oben miteinander durchsprechen zu können,um einmal diesen populären Ausdruck für die Beziehungen zwi-schen Vorständen und Mitgliedschaft zu verwenden.

Der Wunsch nach rechtzeitiger Information gilt ganz besondersfür die Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm. Eine For-schungsgemeinschaft7 ist an der Arbeit, und der Parteivorstand willdiesen Bemühungen verstärkte Unterstützung zuteil werden lassen.Bei der theoretischen Vorbereitung soll auch die Entwicklung desdemokratischen Sozialismus in anderen Ländern untersucht werden.Auf dem Parteitag jetzt im Juli soll vorgeschlagen werden, die grund-sätzliche Haltung der Sozialdemokratie in einer Präambel zum Ak-tionsprogramm von Dortmund zu verdeutlichen.

Willy Brandt auf einer Wahlkampfveranstaltung der SPD Anfang derfünfziger Jahre

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Das Wesen der Sozialdemokratie

In der Berliner Präambel wird unsere – wie ich hoffe – gemeinsameÜberzeugung zum Ausdruck kommen müssen, daß wir eine Bewe-gung sind und bleiben wollen, die eine grundlegende Umgestaltungder gesellschaftlichen Verhältnisse erstrebt. Unser tägliches, prakti-sches und vielfach mühseliges Wirken muß durchdrungen sein vonder sozialistischen Freiheitsidee.8

Denn was anderes ist der Sozialismus – der freiheitliche Sozia-lismus – als ein System von Vorstellungen über die Verwirklichungder demokratischen und der sozialen Menschenrechte!

In dem Entwurf einer solchen Präambel, den ich gestern zu Ge-sicht bekommen habe, wird u. a. festgestellt, daß sich die Sozial-demokratische Partei unbeirrt zu den großen Ideen der Demokratieund des Sozialismus bekenne, zur Befreiung der Menschen aus un-würdiger sozialer Abhängigkeit und geistiger Hörigkeit.9 Die SPD seisich bewußt, daß sie ihre Ziele nur unter den Bedingungen der Ge-genwart verwirklichen könne, obwohl sie ihr Wesen und ihre Tradi-tion niemals verleugnen werde. Das Menschheitsziel des demokrati-schen Sozialismus, heißt es weiter, macht ihn zu einer internationalenBewegung. Er anerkennt das Lebensrecht und die Freiheit jedes Volkesund jeder Gemeinschaft. Um der Freiheit und des Weltfriedens willenwerde die SPD niemals bereit sein, das Selbstbestimmungsrecht derVölker den Interessen irgendwelcher Machtblöcke zu opfern. Deshalbkämpfe sie für die Wiederherstellung der deutschen Einheit in Frie-den und Freiheit. Unsere Partei vereinige alle Kräfte, „die ohne Rück-sicht auf engherzig gehütete Vorrechte für nationale Einheit, fürGerechtigkeit, für wirtschaftliche und politische Demokratie, fürgeistige Freiheit und Toleranz einzutreten bereit sind“.10

Die Sozialdemokratie ist eine Partei – heißt es in den Empfeh-lungen des Vorstandes –, die eine gesellschaftliche Ordnung erstrebt, inder soziale Gerechtigkeit herrscht, in der der Mensch von Ausbeutungund Unterdrückung befreit sein wird, in der geistige und politischeFreiheit gewährleistet sein wird. Diesem Ziel nähern wir uns im Ver-lauf eines außerordentlich widerspruchsvollen Prozesses.Wir müssen

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uns immer bewußt sein, daß die Freiheit, wo sie auf Einzelgebieten er-rungen ist, täglich neuer Gefahr ausgesetzt ist und daß sie jeden Tagaufs neue verteidigt werden muß. Die Macht, nicht nur die politische,sondern gerade auch die wirtschaftliche Macht muß in zunehmendemMaße unter echte demokratische Kontrolle gebracht werden.

Zum anderen: Die SPD steht uneingeschränkt auf dem Boden desdemokratischen Staates. Die Empfehlungen des Parteivorstandesenthalten das Bekenntnis zur rechtsstaatlichen parlamentarischenDemokratie als jener Staatsform, in der das ganze Volk mitbe-stimmend und mitverantwortlich für seine Regierung sein kann.Dieses Bekenntnis, heißt es weiter, gilt auch der Bundesrepublik, ob-gleich sie im Verhältnis zu Gesamtdeutschland ein Provisorium dar-stellt. Wir mögen an den Verhältnissen im deutschen Westen nochsoviel auszusetzen haben, nicht zuletzt auch, daß das Gefühl für dasProvisorische vielfach verloren gegangen ist – die Bundesrepublik istnichtsdestoweniger das zur Zeit einzige demokratische StaatsgebildeDeutschlands.

Dieses Bekenntnis bedeutet den bewußten Verzicht auf dasStreben nach alleiniger Machtausübung. Es läßt uns unterscheidenzwischen Gegnern und Feinden. Es bedeutet eine Verneinung des re-volutionären Weges zur Macht, aber die Bejahung der Gewalt zurVerteidigung der Demokratie und ihrer Feinde.

Arbeiterbewegung – Volksbewegung

In den Vorstandsempfehlungen heißt es an anderer Stelle: Der Kampfund die Arbeit der Sozialdemokratie liegen im Interesse aller, die keinVorrecht der Herrschaft und der Bildung für sich und ihre Gesell-schaftsschicht aufrechterhalten wollen oder anstreben. Nach ihrenGrundsätzen und ihren Zielen ist die Sozialdemokratie nicht auf dieVertretung einer einzigen Gruppe des Volkes beschränkt.

In diesem Zusammenhang wird festgestellt, daß die Arbeiter-schaft den Kern der Mitglieder und Wähler unserer Partei bildet.

Das ist eine wichtige tatsächliche Feststellung, nicht aber eineMinderbewertung irgendeiner sozialen Schicht oder Berufsgruppe.

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Wir sind uns sicher alle darüber im klaren, daß das heutige Klassen-bild nicht mehr dem von vor fünfzig Jahren entspricht. Unsere Ana-lyse der heutigen Verhältnisse, die Durchdringung der heutigen Ge-sellschaft wird den tatsächlichen Wandlungen noch kaum gerecht.Mit unserer Analyse hat es auch auf anderen Gebieten gehapert.Sonst hätten wir etwa stärker mit der Möglichkeit rechnen müssen,daß ein wirtschaftlicher Wiederaufbau Deutschlands auch mit un-serer Meinung nach anfechtbaren Methoden möglich sein würde.Anstatt eine Ismen-Haarspalterei zu betreiben, sollten wir an dieDurchdringung der uns umgebenden Wirklichkeit mit dem gleichenErnst gehen, wie es seinerzeit die Lehrmeister der sozialistischen Be-wegung getan haben.

Worauf es ankommt, ist doch wohl dies: Die Sozialdemokratieist und bleibt die Partei der kleinen Leute. Sie vertritt die Belange derArbeitnehmer, der Arbeiter, Angestellten, Beamten – aller, die vomErtrag ihrer Arbeit leben, und jener, die vom Ertrag eigener Arbeitausgeschlossen sind. Viele selbständig Schaffende haben in unserenReihen bereits ihren Platz gefunden. Für ein Bündnis zwischen denBauern und den städtischen Arbeitnehmern haben wir gute Gründeins Feld zu führen. Wir wissen auch um die gesellschaftliche Bedeu-tung jener freien Berufe, die sich zu Recht über die Unterbewertunggeistiger Arbeit beklagen. Und wir vergessen nicht, was am Anfangder sozialdemokratischen Bewegung stand: Das Bündnis der Den-kenden mit den Leidenden.

Mit anderen Worten: Die Sozialdemokratie wird das Werk derArbeiterbewegung weiterführen und vollenden helfen. Im Entwurfzur Präambel heißt es – über die Formulierung kann man meinesErachtens streiten –, aus der Partei der Arbeiterklasse, als die sieerstand, sei die Sozialdemokratie zur Partei der Nation geworden.Sie wird jedenfalls nicht eine sogenannte „Volkspartei“ im Sinneverschwommener Zielsetzungen sein können. Aber sie will werden,sie soll werden zur umfassenden sozialen Volksbewegung – imDienste einer grundlegenden Erneuerung in Wirtschaft und Gesell-schaft.

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Altes Gedankengut – neue Erkenntnisse

Einer der westdeutschen Bezirke empfiehlt uns nun, auf dem Partei-tag zu beschließen, die von Karl Marx entwickelten Forschungsme-thoden seien heute noch ebenso wertvoll wie die modernen Er-kenntnisse der Gesellschaftswissenschaft. Es darf bezweifelt werden,ob ein Parteitag der SPD, der ja weder ein Kardinalskollegium istnoch ein Soziologenkongreß, ein solches Urteil überhaupt fällenkann. Vielleicht sollten wir das sozialistische Denken stärker, als esmanchmal geschieht, in seiner Entwicklung werten und erfassen.Letzte, endgültige Aussagen gibt es meiner Überzeugung nach nicht,auch nicht über Fragen der Methoden.

Es mag nützlich sein, daran zu erinnern – der Vorstand beruftsich darauf in seinen Vorlagen –, was Kurt Schumacher bei der Neu-begründung der Partei 1945 erklärte. Es sei gleichgültig, sagte er, objemand durch die Methoden marxistischer Wirtschaftsanalyse, ob eraus philosophischen oder ethischen Gründen oder ob er aus demGeist der Bergpredigt Sozialdemokrat geworden sei. Für die Behaup-tung seiner geistigen Persönlichkeit und für die Verkündung seinerMotive habe jeder das gleiche Recht in unserer Partei.11

Wir wären schlecht beraten, wollten wir teuer erkaufte Lehrender Vergangenheit leichtfertig über Bord werfen. Wo uns die Er-fahrung dogmatische Kalkbestände erkennen läßt, tun wir jedochgut daran, sie ohne falsche Sentimentalität abzustoßen.

In der Begegnung mit den freiheitserstickenden Mächten desTotalitarismus, aber auch in der Auseinandersetzung mit den schlei-chenden Gefahren der freiheitsfeindlichen Kräfte im Lager der De-mokratie ist uns stärker denn je bewußt geworden, daß es humanis-tische Grundimpulse sind, die den Wesenskern des freiheitlichenSozialismus darstellen und die jedes zeitbedingte Programm über-dauern. Diese Grundwahrheit und das Wissen um die Macht mora-lischer Werte im machtpolitischen Ringen unserer Zeit dürfen wirals ein politisches Vermächtnis Ernst Reuters betrachten.

Gewaltige Wissensgebiete sind in dieser Generation neu er-schlossen worden. Aber auch die Grenzen des Beweisbaren wurden

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uns bewußt. Sie haben manche der klügsten Köpfe demütig dieWaffen strecken lassen, wo ihre Vorgänger im vergangenen Jahr-hundert einen totalen Sieg des Verstandes vorausgesagt hatten. Viel-fach sind es auch nicht mehr die gleichen Fragestellungen, mit denenwir uns heute auseinanderzusetzen haben. Um nur ein paar Beispielezu nennen:

Einerseits haben die Naturwissenschaften so viel Neuland ge-wonnen, daß die politische Macht innerhalb gewisser Grenzen be-stimmen kann, was nun noch erfunden werden soll. Andererseitshinkt das Wissen um den Menschen selbst, um das menschlicheWesen mit seinen kühnen Höhen und seinen abgründigen Tiefenbedenklich nach, wenngleich auf diesem Gebiet in den letzten beidenGenerationen die Grundlagen umwälzender Einsichten bereitetwurden.

Einerseits haben sich die Möglichkeiten einer vernünftigenSteuerung des wirtschaftlichen und politischen Geschehens verviel-facht: Krisen und Kriege brauchen nicht mehr wie Naturkata-strophen über die Menschheit hereinbrechen. Andererseits fragenwir uns an der Schwelle des Atomzeitalters – auch der Entwurf derPräambel geht von dieser Zeitenwende aus12 –: Werden die neuenEnergien große Teile der Menschheit vernichten und unsere Zivili-sation auslöschen, oder wird es gelingen, diese Energien – die von derBasis staatlichen Besitzes aus entwickelt werden – für die Schaffungeines noch kaum vorzustellenden Wohlstandes auszuwerten, für dieFreiheit von Not und Furcht überall in der Welt?

Einerseits wissen wir, daß sich die eigentliche Verfügungsge-walt über die Produktionsmittel vom Kapitalbesitz weitgehend ge-löst hat und vielfach auf die Schicht der Bürokraten und Managerübergegangen ist – auf jene Schicht, die in den totalitären Regimengar die Rolle einer neuen herrschenden Klasse spielt. Andererseitsmüssen wir erkennen, daß die Überwachung der wirtschaftlichenund politischen Macht, die Kontrolle anonymer Ballungen vonMacht immer schwieriger wird, so daß die Menschen befürchtenmüssen, sie würden trotz politischer Demokratie zu größerer Ohn-macht verurteilt.

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Im industriellen Zeitalter wurde es zur zentralen, nicht immerklar genug erkannten Aufgabe der Sozialisten, die Freiheitsidee gegentotalitäre Bedrohung und bürokratische Gefahren lebendig zu er-halten und ihren schließlichen Sieg vorzubereiten. Im Zeitalter derAtomkraft und des elektrischen Gehirns wird sich diese Aufgabe alsnoch dringlicher, vielleicht aber auch als noch komplizierter er-weisen. Jedenfalls hängt es von ihrer Beantwortung ab, ob die Zu-kunft den Stempel der Menschlichkeit tragen wird oder den Stempelder Barbarei.

SPD und Christentum

Wir sind gefragt worden: Wie haltet ihr es mit den Werten desGlaubens, wie steht ihr zum Christentum? – Der Parteivorstand sagtdazu in seinen Empfehlungen: Die Zielsetzung der Sozialdemokrati-schen Partei und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen – mankann sie politisch-ethische Verpflichtungen nennen – stehen nichtim Gegensatz zu metaphysischen Überzeugungen – Überzeugungenin bezug auf das Außerweltliche, das Überirdische – und zu religiösenBindungen. In der neuen Präambel zum Aktionsprogramm soll derWert und das Recht der christlichen Kirchen und anderer weltan-schaulicher Gemeinschaften besonders betont werden. Es heißt indem vorliegenden Rohentwurf: Im Kampf gegen die sittliche Verfla-chung und den materialistischen Ungeist unserer machthungrigenund profitgierigen Zeit falle auch den christlichen Kirchen eine un-abweisbare Verpflichtung zu. Die sozialistischen Ideen seien keineErsatzreligion. In Europa sei das Christentum neben dem Humanis-mus und der klassischen Philosophie eine der geistigen und sittli-chen Wurzeln des sozialistischen Gedankengutes.

Die Sozialisten begrüßen, heißt es weiter, die wachsende Er-kenntnis vieler Christen, daß das Evangelium eine Verpflichtungzum sozialen Handeln einschließt.

Eine Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens lehnen wirab. Wir wenden uns entschieden gegen den Mißbrauch religiöserBindungen zu Zwecken weltlicher Macht. Wir halten es auch nicht

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mit denjenigen, die den 30jährigen Krieg für noch immer nicht ab-geschlossen halten wollen. Aber wir erklären ebenso eindeutig:

Unser Verhältnis zu den Glaubensgemeinschaften besteht nichtin einem hochmütigen „von oben herab“. Es erschöpft sich nicht ineiner Haltung der bloßen Toleranz. Es geht um die echte Anerken-nung echter Werte. Wir sagen vorbehaltlos ja zur Freiheit des Glau-bens, die zuengst verbunden ist mit der Freiheit des Geistes.

Die praktische Politik

Und nun zu Fragen unserer praktischen Politik. Wenn wir unsereZiele erreichen wollen, müssen wir das Volk für sie gewinnen. Hiersteht die praktische Aufgabe der nächsten Zukunft: Wie gelingt unsder Ausbruch aus dem vielzitierten Turm. Wie erreichen wir jeneUnterstützung der Wählerschaft, die uns zu gestaltendem Einfluß imStaat verhilft?

Die Manöverkritik nach dem 6. September [1953] hat ergeben,daß manche unserer Parolen nicht gezündet hatten. Unsere Lo-sungen waren vielfach nicht so abgeklärt und abgerundet, daß sieAnziehungskraft auf neue Wählerschichten auszuüben vermochten.Bei weitem nicht überall erreichten wir die gebotene Klarheit, dieerforderliche Systematik und Konzentration auf das Wesentliche.

Der Gegner hatte gewiß nicht recht, wenn er uns eine Partei derNeinsager schalt. Dagegen zeugt unsere positive Leistung beim Auf-bau aus materiellen und moralischen Trümmern – in den Städtenund in den Ländern, beim Pochen auf lebensfähige Grundlagen fürden Bund und nicht zuletzt im Ringen um Berlin. Aber wir habenwohl doch hinzugelernt, daß es in der Regel besser ist, die kritischeHaltung mit einem „Ja, wenn“ zu begründen statt mit einem „Nein,aber“.Wir sollten bemüht bleiben, unsere Forderungen so positiv wiemöglich zu erheben.

Das politische Leben in Deutschland scheint mir sehr unter demMangel an konkreten Fragestellungen zu leiden. Die Auseinander-setzungen drehen sich zuwenig um klare, überschaubare Themen.Gerade vor Wahlen kommt es aber darauf an, daß sich die Staats-

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bürger zwischen klar umrissenen Plattformen entscheiden können,und solche Plattformen haben davon zu handeln, was diese und wasjene Partei in einer bevorstehenden, überschaubaren Periode wenigerJahre zu tun gedenkt und wie sie es zu tun gedenkt. Auch eine Op-positionspartei kann bis zu einem gewissen Grade das Gesetz der po-litischen Diskussion bestimmen.

Mit dem Dortmunder Aktionsprogramm vom September 1952hat unsere Partei einen großen Schritt nach vorn getan. Wie solltedieses Programm jedoch draußen „ankommen“, wenn es noch nichteinmal zum gemeinsamen Rüstzeug der eigenen Mitgliedschaft ge-worden war!

Tradition und Symbole

Wir sollten uns fragen, ob unsere Aussage klar genug ist, um einermeist gewissenlosen Agitation den Boden zu entziehen, die uns in dieNähe derer bringen möchte, die sich Kommunisten nennen. Die Ab-grenzung gegenüber den totalitären Totengräbern des freiheitlichenSozialismus kann nicht scharf genug erfolgen. Darauf müssen wirsorgsam achten – bei der Art unseres Auftretens, bei der Wahl un-serer Worte –, und daran haben wir uns in Berlin seit langem ge-wöhnt.

Natürlich kommt es in erster Linie an auf den Inhalt der Politik.Es kommt aber auch an auf das Durchbrechen parteipolitischer Enge,auf eine zeitgemäße Aussage, auf eine moderne Sprache, auf eine le-bendige Vertretung dessen, was wir wollen.

Den nationalen Symbolen erweisen wir den schuldigen Respekt.Mit ganzer Hingabe bekennen wir uns zu den Farben Schwarz-Rot-Gold, die wir aus Kümmernis und Dunkelheit herübergerettet haben– im Bewußtsein dessen, daß es nach dem Versagen einer großenMehrheit des deutschen Bürgertums im wesentlichen den Sozial-demokraten vorbehalten blieb, das Erbe von 1848 mitzuverwalten.Mit Stolz bekennen wir uns aber auch zu den alten Bannern der Ar-beiterbewegung, unter denen so leidensvoll gestritten wurde und dieuns immer wieder mahnen, uns der Opfer vergangener Jahre würdig

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zu erweisen. Längst haben wir uns übrigens dazu verstanden, wie esdem Aufstieg der Arbeiterbewegung entsprach, unsere traditionellenSymbole einzubetten in die Farben der Republik, in die Wahrzeichendes Bundes und der Länder.

Und so sollten wir es halten: Tradition darf nicht zur Fessel wer-den; sie muß Kraftquell bleiben.

Wiedervereinigung vordringlich

Als vordringlichste politische Forderung unseres Volkes betrachtenwir die Wiedervereinigung seiner staatlichen Einheit – mit fried-lichen Mitteln und auf dem Boden der Demokratie. Unechte Volks-befragungen können nie und nimmer eine freie Wahl ersetzen. Wirwerden diejenigen, die im Osten die Macht innehaben, im Zusam-menhang mit den von ihnen angekündigten „Wahlen“ in der zwei-ten Hälfte dieses Jahres13 wiederum auf einige unerläßliche Voraus-setzungen hinweisen, ohne die es Wahlen, die diese Bezeichnungverdienen, nicht geben kann: 1. Freilassung der politischen Ge-fangenen, 2. Gleiche Chancen für alle Parteien, 3. Strikte Wahrungdes Wahlgeheimnisses, 4. Regierungsbildung aufgrund des so er-mittelten Wählerwillens.

Allein aus freien Wahlen kann auch eine gesamtdeutsche Re-gierung erwachsen – jene Regierung, die dann mit den Besatzungs-mächten über den Friedensvertrag zu verhandeln haben wird. Ge-bietsabtrennungen erkennen wir nicht an – weder im Osten noch imWesten. Über unsere Grenzen kann allein durch den Friedensvertragentschieden werden.

Die internationale Entwicklung beschwört die ernste Gefahrherauf, daß es auf längere Zeit bei der Spaltung Deutschlands bleibt,daß der Status quo als bis auf weiteres unabänderlich hingenommenwird.

Die Regierenden in Bonn machen unserem Volk diese Gefahrnicht klar, und in der Welt zweifelt man vielfach daran, ob es dieBundesrepublik ernst meint mit dem Verlangen nach der Wieder-vereinigung. Eine Repräsentativbefragung im deutschen Westen hat

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kürzlich das erschütternde Ergebnis gezeitigt, daß nur 12 Prozent derBefragten die Wiedervereinigung als die dringlichste Aufgabe derBundesregierung bezeichneten.

Was immer in unseren Kräften steht, wollen wir tun, müssenwir tun, um einen festen Willen der Deutschen zu entwickeln – aufdaß die Welt es wisse: niemals werden wir uns abfinden mit demZustand der willkürlichen Spaltung. Wir sind auch – und nicht erstseit heute – bereit, was an uns liegt, dazu beizutragen, daß im Ringenum die deutsche Einheit und in grundlegenden außenpolitischenFragen eine größtmögliche Gemeinsamkeit der tragenden Kräfteerreicht wird. Aber dazu bedarf es der Bereitschaft nicht nur dereinen Seite.

Unsere Berlin-Forderungen

Der Parteivorstand bezeichnet es im übrigen als Aufgabe der Bun-desrepublik, sich ständig für die Normalisierung der Beziehungenzwischen der Bevölkerung der sowjetischen Zone und der Bundes-republik einzusetzen. Wir müssen uns um die Aufrechterhaltung desmenschlichen Kontakts bemühen, um praktische Hilfe, um eine Po-litik der nationalen Solidarität. Mit einer politischen AnerkennungPankows hat das allerdings nichts zu tun. Denn wir wissen genau:durch Ulbricht fühlt sich die Bevölkerung in der Zone nicht ver-treten, sie fühlt sich durch ihn getreten.

Wir erinnern auch immer wieder daran, daß die SpaltungDeutschlands eine Folge der weltpolitischen Spannungen ist. Die inBetracht kommenden Mächte dürfen aus der von ihnen über-nommenen Verantwortung nicht entlassen werden. Wir haben sieimmer aufs neue darauf hinzuweisen, daß die Spaltung Deutschlandsohne Krieg, und das heißt eben trotz aller Enttäuschungen schließ-lich doch auf dem Verhandlungswege überwunden werden muß.

Am Berlin-Abschnitt unseres Aktionsprogramms brauchen wirnichts zu ändern. Einige der dort erhobenen Forderungen haben ganzbesondere Aktualität in diesen Tagen, in denen mit Duldung des ge-genwärtigen Senats alle möglichen und dabei recht zweifelhafte Mit-

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tel angewendet werden, um die Wahl des zweiten Bundespräsidentennicht in Berlin stattfinden zu lassen.14 Unter Reuter wiederum wurdendie Sozialdemokraten im Westen nicht in die Lage versetzt, berli-nischer sein zu müssen als die offizielle Vertretung Berlins.

Wir werden nicht versäumen, die Bevölkerung über das ganzeKapitel der Unzulänglichkeiten aufzuklären. Die deutsche Sozial-demokratie wiederholt ihre Forderungen:

1. Berlin gilt uns heute wie gestern als Hauptstadt Deutschlandsund muß in jeder Hinsicht als Bundesland behandelt werden. DieBerliner Abgeordneten zum Bundestag müssen direkt gewählt wer-den und volles Stimmrecht erhalten.

2. Verstärkte Hilfe des Westens, um den Berlinern durch wirt-schaftlichen Aufbau zu Arbeit und sozialer Sicherung zu verhelfen.Maßgebende Berücksichtigung beim Außenhandel und bei der Auf-tragserteilung der öffentlichen Hand. Stärkere Verlegung von Bun-desbehörden nach Berlin.

3. Bei den Maßnahmen des Bundes darf die Bevölkerung desOstsektors nicht vergessen werden. Verständnisvolle Behandlung desFlüchtlingsproblems. Förderung aller Maßnahmen, die geeignet sind,den Zusammenhalt mit der Bevölkerung der Zone zu erhalten.

Aktive Friedens- und Europapolitik

Es bleibt dabei: Oberstes Ziel unserer Außenpolitik ist die Sicherungdes Friedens. Eine friedensbewahrende Politik – lebenswichtig geradefür unser Volk – ist durch die Entwicklung der modernen Waffen zueiner gebieterischen Notwendigkeit geworden. Die internationaleAtomkontrolle wird zu einer Lebensfrage der Menschheit.

Wir bejahen die Solidarität aller Nationen, insbesondere auch imVerhältnis zu den unterdrückten Völkern. Das deutsche Volk mußsich um freundschaftliche Beziehungen zu allen Kräften bemühen,die die demokratische Freiheit zu verteidigen bereit sind. Daraus er-gibt sich logisch die Ablehnung von Versuchen, faschistische Kräftehoffähig zu machen und so das Lager der Freiheit zu kompromit-tieren.15

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Die Bundesrepublik sollte – nach den neuen Empfehlungen –mit den Organisationen der Vereinten Nationen so eng zusammenarbeiten, wie es deren Satzungen erlauben. Wir sollten uns an-strengen, den Beistand der UN zur Förderung deutscher Anliegen zuerwirken. Zugleich sollte die Bundesrepublik durch ihre Politik dieVoraussetzungen schaffen für die Aufnahme Gesamtdeutschlands indie Vereinten Nationen.

Wir erstreben möglichst normale Beziehungen zu allen Staa-ten, ohne uns etwa über den Charakter der sowjetischen Politikirgendwelchen Illusionen hinzugeben. Wir werden an das Problemunserer Handelsbeziehungen und unseres Verhältnisses zum Ost-block realistisch herangehen und nicht so kopflos, wie es neu-erdings in der bundesdeutschen Atmosphäre Mode geworden zusein scheint.

Wir halten fest an jenem Punkt unseres Programms, der besagt,daß alle Maßnahmen zu unterstützen sind, die geeignet erscheinen,um unterentwickelten Ländern zur Selbstbestimmung und zu so-zialem Aufstieg zu verhelfen. Wäre das geschehen, wäre dem in In-dien gegebenen Beispiel der Labour-Regierung nachgeeifert worden –der Welt hätten manche Explosionen erspart bleiben können, derenUrsprung eine verhängnisvolle Kolonialpolitik gewesen ist. Im Ent-wurf zur Präambel wird zu Recht darauf hingewiesen, daß im größ-ten Teil der Welt Hunger herrscht, Armut und soziales Elend. DerAufstand der Völker, der heute vielfach zu neuimperialistischenZwecken ausgenutzt wird, entspringt der Ausbeutung und kolonia-len Unterdrückung. Er erhält seinen geschichtlichen Sinn erst imRingen um Unabhängigkeit und Gleichberechtigung.

Unser positives Verhältnis zum europäischen Gedanken darfeine Binsenwahrheit genannt werden. Und dennoch: diese Binsen-wahrheit ist in der Öffentlichkeit nicht immer erkennbar geblieben.Darum ist es meiner Meinung nach gut, wenn im außenpolitischenTeil unseres Programms ausdrücklich festgehalten werden soll: Wirsind für eine aktive Europapolitik – eine Politik, die ein gemeinsamesHandeln der europäischen Völker sicherstellt – mit dem Ziel einerengeren Gemeinschaft, der Vollbeschäftigung und des Abbaus der

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Zölle und damit einer stetigen Besserung der wirtschaftlichen undsozialen Verhältnisse.

Internationale Gemeinschaften dürfen unserer Meinung nachnicht zur Abkapselung und zu unnötiger Aufsplitterung führen. Da-her setzen wir uns konkret dafür ein, bestehende internationale Ge-meinschaften in vielfältige Beziehungen untereinander und zuNichtmitgliedstaaten zu bringen – der Entwurf nennt hier die Euro-päische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, den Europäischen Wirt-schaftsrat, den Europarat. Soweit Souveränitätsrechte auf über-nationale Einrichtungen übertragen werden, müssen diese einerechten parlamentarisch-demokratischen Kontrolle unterstellt wer-den.

Internationale und europäische Sicherheit

Auf dem Gebiet der Sicherheit, der Verteidigungsbereitschaft, ist dieHaltung unserer Partei häufig mißverstanden worden. Die Empfeh-lungen des Vorstandes enthalten den Versuch einer Klärung. AlsAusgangspunkt dient jener Passus des Dortmunder Programms, demdamals eine Berliner Initiative zugrunde lag und in dem es heißt: DieSPD strebt ein wirksames System kollektiver Sicherheit an, an demDeutschland gleichberechtigt und ohne Gefährdung seiner Wieder-vereinigung beteiligt ist.16

Die Freunde aus dem Bezirk Mittelrhein ziehen daraus nun ineinem Antrag an den Parteitag die Folgerung, erst das wieder-vereinigte Deutschland werde über die Form des deutschen Sicher-heitsbeitrages zu entscheiden haben. Eine Wiederaufrüstung deszweigeteilten Deutschlands müssen wir ablehnen, da sich daraus nureine Verschärfung der außen- und innenpolitischen Spannungen er-geben könne. Können wir uns diese Auslegung zu eigen machen? Ichmöchte das bezweifeln.

Tatsache ist doch, daß die Aufrüstung in dem einen TeilDeutschlands, der uns hier in Berlin umgibt, seit Jahren im Gange ist.Daran wird durch mißbilligende Resolutionen unseres Parteitagesleider wenig geändert werden.

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Die Haltung des hypnotisierten Kaninchens kann uns auchnicht als Vorbild dienen. Die eigentliche Frage ist doch wohl, ob essich die deutsche Demokratie im Rahmen der Bundesrepublik– und in uneingeschränktem Vertrauen auf die Westmächte –leisten kann, bei Andauern der Spaltung außerhalb eines Systemsgemeinsamer Sicherheit zu bleiben. Das scheint mir nicht möglichzu sein.

In den Vorschlägen des Parteivorstandes werden zwei Fälle, zweiSituationen auseinander gehalten, die wir auch in der öffentlichenDarlegung unseres Standpunktes besser auseinanderhalten sollten,als es leider in den letzten Jahren geschehen ist:

Einmal sollte die Bundesrepublik dafür eintreten, daß sich dieBesatzungsmächte in künftigen Verhandlungen ernsthaft bemühen,die europäische Sicherheit und die Herstellung der Einheit Deutsch-lands als ein Ganzes zu behandeln. Die vorhin erwähnte Mitglied-schaft in den Vereinten Nationen würde einem wiedervereinigtenDeutschland den Weg zur Teilnahme an einem Sicherheitssystem– weder NATO noch Ostallianz – öffnen, das sich im Rahmen derSatzung der UN hält.

Zum anderen sollte erklärt werden: Die Bundesrepublik kannnach sozialdemokratischer Auffassung an gemeinsamen Anstren-gungen des Westens zur Sicherung des Friedens und zur Verteidi-gung der Freiheit teilnehmen, auch mit militärischen Maßnahmen– und es mag naheliegen, dabei die Möglichkeiten einer gewissenVerbindung mit den Staaten der NATO, des Nordatlantikpakts, in[einer] unserer besonderen Lage gemäßen Form zu erörtern. Aller-dings muß gewährleistet sein, daß die Wiedervereinigung Deutsch-lands nicht zusätzlich erschwert wird und daß – wie es auch diewestlichen Außenminister in Berlin erklärt haben17 – die Entschei-dungsfreiheit der gesamtdeutschen Regierung offen bleibt. Zweitensmüßten die Beteiligten darin einig sein, daß sie – was an ihnen liegt –die Bildung eines europäischen Sicherheitssystems im Rahmen derSatzung der UN anstreben. Drittens müßten gegeben sein dieGleichberechtigung und die Gleichwertigkeit der Sicherheitsvor-kehrungen für alle Teilnehmer.

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Über diese Voraussetzungen werden wir mit unseren Freundenin der freien Welt sprechen können und sprechen müssen. Sie wer-den von unserem eigenen Volk verstanden werden, wenn wir sie nurrichtig zur Kenntnis zu bringen verstehen. Im übrigen ist bekannt,daß die Außenpolitik des Bundeskanzlers in eine schwere Krise ge-raten ist.18 Wir frohlocken nicht, dazu sind die Dinge zu ernst. Abermanche unserer Warnungen aus der Auseinandersetzung um die be-kannten Verträge, die wir auch heute noch für schlecht halten, habensich rasch bestätigt.19

Innenpolitische Gefahren

Wir wollen hier nicht die Einzelheiten dessen wiederholen, was un-ser Aktionsprogramm auf dem Gebiet der eigentlichen Innenpolitikbesagt und was in unseren Reihen durchweg nicht umstritten ist.Eine wichtige Ergänzung wird sich allerdings mit der parlamenta-risch-demokratischen Kontrolle bewaffneter Macht zu befassen ha-ben. Künftige Streitkräfte dürfen nicht zu einem Staat im Staatewerden. Und der junge Staatsbürger muß, wenn es ihm schon nichterspart bleibt, Uniform anzuziehen, jedenfalls vor Entwürdigung be-wahrt bleiben.

Die Erfahrungen der letzten Jahre, gerade auch seit dem 6. Sep-tember [1953] können uns nur veranlassen, im Kampf gegen reak-tionäre Tendenzen, gegen die Gestrigen und die ewig Vorgestrigennicht zu ermüden. Allzu viel schwankende Gestalten beherrschenheute den Bilderbogen von Bonn – und nicht nur von Bonn. Wirwollen nicht über Gebühr in den Akten der Vergangenheit wühlen.Aber wir können beispielsweise nicht die Forderung an den Nagelhängen, daß Repräsentant des demokratischen Staates nur sein kann,wer selbst auf dem Boden der Demokratie zu Hause ist.

Die Verteidigung des Rechtes auf freie Meinung der persönlichenund politischen Freiheit ist brennend aktuell geworden in einer Zeit,in der sich einflußreiche Kreise anschicken, das Rad der Geschichteum einige Generationen zurückzudrehen und obrigkeitsstaatlichvorzudenken, wo zu staatsbürgerlichem Nachdenken angeregt wer-

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den müßte. Es gibt gefährliche Strömungen auch in der demokrati-schen Welt. Ein gewisses Mitglied des amerikanischen Senats und dieihn stützenden Kreise spielen objektiv, ob sie das wahr haben wollenoder nicht, die Rolle von Verbündeten jener Kräfte, die zu bekämpfenangeblich der Sinn ihrer Hysterie und ihrer unheimlichen Schnüffeleisein soll. Das zu sagen, haben wir hier vielleicht mehr Recht als an an-derer Stelle. In Berlin nehmen wir uns jedenfalls dieses Recht: Wirwollen keinen deutschen McCarthyismus.20

Wirtschaftspolitik

Auf wirtschaftspolitischem Gebiet brachte uns Dortmund vor zweiJahren modernere Formulierungen, die allerdings nicht genügendVerbreitung fanden und wohl auch in unseren Reihen nicht genü-gend verarbeitet worden sind. Sagen wir es ohne Umschweife: aufdiesem gewissermaßen klassischen Kampfboden haben wir Tempo-verlust zu verzeichnen. Wir haben einiges aufzuholen und solltengerade hier unterscheiden zwischen dem, was für die nächsten Jahreansteht, und dem, was später auf uns zukommen mag.

Nun gilt es aber gerade auch hier, daß wir uns unmißverständlichabzugrenzen haben von den Vorstellungen und Begriffen einer Kom-mandowirtschaft und von allen Erscheinungsformen eines unter fal-scher Flagge segelnden ausbeuterischen und terroristischen Staats-kapitalismus. An dieser Stelle sei auch ein Wort gestattet zur Dis-kussion über die zukünftige Gestaltung der wirtschaftlichen Dinge injenem Gebiet, das wir heute die Sowjetzone nennen: Ich erinnere andas, was Kurt Schumacher in seinem Vorwort zum Aktionsprogrammsagte. Die deutschen Arbeiter lehnen es ab, sagte er, die Wirtschafts-gestaltung in der sowjetischen Besatzungszone als Sozialisierung zubetrachten. Sie lehnen aber mit der gleichen Entschiedenheit eine Po-litik ab, die auf die Reprivatisierung der Großbetriebe und eine ein-fache Restauration früherer Verhältnisse hinausläuft.21

Was nun unsere Position im allgemeinen betrifft: Wir sind keineZwangswirtschaftler, sondern wir wollen eine sinnvolle Verbindungzwischen volkswirtschaftlichen Gesamtinteressen und einzelwirt-

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schaftlichem Wettbewerb. Den echten Leistungswettbewerb erken-nen wir an in allen dafür geeigneten Wirtschaftszweigen. In derletzten Ausarbeitung des wirtschaftspolitischen Ausschusses beimParteivorstand heißt es, daß es einer aktiven Wettbewerbs- und Ver-teilungspolitik aus einem Guß bedürfe: Gewerbefreiheit, gleicherSchutz für alle wettbewerbsfördernden Unternehmenstypen, Mono-polgesetzgebung und aktive Kartellpolitik, Reform des Gesellschafts-rechts, insbesondere zum Zwecke einer ausreichenden Publizität undDurchsichtigkeit. Ordnung des Werbewesens, Schutz der Ver-braucher sowie ihre Aufklärung und Beratung, Sicherung der freienKonsumwahl, Mitbestimmung der Arbeitnehmer.

Die Legende von der Eigentumsfeindlichkeit der SPD ist spätes-tens im Dortmunder Programm zerstört worden. Dort ist festgelegt,daß wir das kleine und mittlere Arbeitseigentum nicht zerstören,sondern daß wir es fördern wollen. Insbesondere wollen wir auch dervolkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung des Hand-werks gerecht werden. Dem sollte vielleicht hinzugefügt werden, daßwir Vermögen und Kapitaleigentum anerkennen, soweit es gesetz-lich erworben ist und mit der einleuchtenden Ergänzung, daß bei derVerfügung über Kapitaleigentum volkswirtschaftliche Gesamtinter-essen zu berücksichtigen sind.

Wählen wir einen anderen Ausgangspunkt: Das deutsche Volkin der Bundesrepublik kann stolz sein auf seinen Aufbau seit derWährungsreform und auf die Voraussetzungen dazu, die unmittelbarnach Kriegsende durch die um ihre Betriebe besorgten Arbeiter ge-schaffen wurden. Selbst in Berlin wurde ja – obgleich Berlin immernoch ein Paria ist, verglichen mit dem deutschen Westen – unterunserer Führung einiges geleistet, wozu wir uns ohne Scham be-kennen können: hunderttausend Arbeitslose weniger ist kein Pap-penstiel.

Entscheidend ist doch aber nun angesichts der Anhäufungneuen Reichtums, angesichts der neuen Betriebskonzentrationen dieFrage des Anteils der arbeitenden Menschen am Sozialprodukt, dieFrage nach einer gerechteren Verteilung des volkswirtschaftlichenErtrages. Entscheidend ist auch gerade in Deutschland nach unseren

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Erfahrungen mit dem politischen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtdie demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Kommandostellen.

Allgemeine Betrachtungen sind jedoch, so richtig sie sein mögen,kein Ersatz für konkrete Forderungen und Vorschläge. Dem Wirt-schaftspolitischen Ausschuß ist beizupflichten, wenn er sagt, es seiAufgabe der Wirtschaftspolitik, alle diejenigen in den Arbeits- undWirtschaftsprozeß einzugliedern, die arbeitswillig und arbeitsfähigsind. Um die Vollbeschäftigung zu erreichen, müßten Marktwirtschaftund Planung, wirtschaftliche Freiheit und soziale Sicherheit mitein-ander verbunden werden. Größtmöglicher Ertrag, heißt es weiter, be-deutet nicht ohne weiteres größtmögliche Wohlfahrt des gesamtenVolkes: Diese hängt wesentlich ab von der Verteilung des volkswirt-schaftlichen Ertrages. Die in Deutschland bestehende Verteilung vonVermögen und Einkommen ist unbefriedigend. Benachteiligt sind vorallem: breite Massen der Verbraucher, der wirtschaftlich Unselbstän-digen, bestimmte Gruppen der selbständig Schaffenden, ferner die So-zialrentner und Fürsorgeempfänger sowie die Masse der Vertriebenenund Kriegsbeschädigten. Sie alle sind – oder müßten sein – die natürli-chen Verbündeten einer sozial orientierten Wirtschaftspolitik.

Das ist alles richtig, so richtig, wie es ist, daß man eine Erhöhungdes Sozialprodukts anstreben muß, um eine Wohlstandspolitik auflängere Zeit führen zu können. Aber wir müssen konkreter werdenund beispielsweise die Forderung nach Vollbeschäftigung durch einpraktisches Arbeitsbeschaffungsprogramm ergänzen, zumal wir vorkonjunkturellen Rückschlägen nicht gefeit sind. Darüber hinaussollten wir sagen:

1. Der Lohn und Gehaltsanteil liegt zu niedrig, und wir habennicht übersehen, was die sogenannte Selbstfinanzierung der neuenMilliardenwerte ökonomisch bedeutete: die Finanzierung über nied-rige Löhne einerseits und hohe Preise andererseits.

2. Unsere wirtschaftspolitischen Experten weisen darauf hin, diemoderne Technik, die der notwendigen Steigerung des Ertrages derArbeitskraft dient, stelle auch so große Anforderungen an den Men-schen, daß die Kürzung der Arbeitszeit schon aus diesem Grunde er-folgen müsse. Die Frage der Fünftagewoche kann in der Bundes-

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republik vielleicht nicht von heute auf morgen gelöst werden, abersie steht auf der Tagesordnung, und wir werden dafür zu sorgen ha-ben, daß sie nicht allzu weit unten stehen bleibt.

3. Es bedarf unablässiger Wachsamkeit auf dem Gebiet derPreispolitik, d. h. der Sicherung gegen unangemessene Belastungüber den Gesamtverbrauch. Unsere Forderungen einer sozial ge-rechteren Lohn- und Einkommenssteuer und einer sozial gestaffeltenUmsatzsteuer müssen popularisiert werden. In diesen Zusammen-hang gehören auch solche sozialpolitische Maßnahmen, die eineechte Erhöhung des Anteils der breiten Schichten am volkswirt-schaftlichen Ertrag bedeuten.

Uns kann es jedoch nicht im Sinne traditioneller gewerkschaft-licher Vorstellungen allein um die Frage des Lohn- und Gehaltsan-teils gehen, sondern es muß um den Einfluß auf die wirtschaftlicheMacht selbst gehen. Darum gilt es:

1. sich mit den Anfangsformen des Mitbestimmungsrechts nichtzufrieden zu geben. Die wirtschaftliche Mitbestimmung muß ausge-baut, sie muß auch auf außerbetrieblicher Ebene entwickelt werdenmit der Spitze eines Bundeswirtschaftsrats.

2. Die gemeinwirtschaftliche Neuerung in den Roh- und Grund-stoffindustrien – Kohle, Eisen und Stahl, Energiewirtschaft – ist nichtvorangekommen, da die CDU ihr Ahlener Programm begraben hat.Es bleibt wahr, daß ein Wettbewerb in diesen Industriezweigensinnvoll nicht möglich ist. Eine Neuregelung der Besitzverhältnisse– verbunden mit einer grundlegenden Umgestaltung der innerenOrganisation dieser Wirtschaftszweige – muß darum zum Schutz derFreiheit und Gerechtigkeit weiterhin angestrebt werden.

3. Nach dem bewährten Vorbild u. a. des sozialen Wohnungs-baus sollte der genossenschaftliche und gemischtwirtschaftlicheSektor der Wirtschaft erweitert werden. Gerade auf diesem Gebietkönnten wir von unseren Freunden in den skandinavischen Länderneine Menge lernen.

4. Anstatt uns mit einer sogenannten Gewinnbeteiligung – wiesie von manchen Großbetrieben eingeführt wurde – zufrieden zu ge-ben, sollten wir mit unseren Kollegen in den Gewerkschaften daran

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gehen, die Frage gemeinschaftlichen Miteigentums der Arbeit-nehmer ernsthaft zu prüfen. Es ist sehr wohl möglich, daß die drin-gend gebotene Demokratisierung der Wirtschaft von dieser Seite herwirksam gefördert werden könnte.

5. gehörte in den Rahmen dieser Erörterungen wohl auch dieForderung nach einer wirksamen Kontrolle der Geldpolitik und dasvon uns seit Jahren vorgeschlagene Nationalbudget zur Koordinie-rung aller wirtschaftspolitischen Bereiche, das die Regierung demParlament periodisch vorzulegen hätte.

Sozialplan

Nachdem ich mich verhältnismäßig ausführlich mit Fragen derWirtschaftspolitik befaßt habe, bleibt noch zu fragen, warum derSozialplan22 unserer Partei, dessen Grundzüge im Aktionsprogrammfestgehalten sind, im Wahlkampf des vergangenen Jahres eine ver-hältnismäßig bescheidene Rolle gespielt hat.

Es ist gewiß notwendig, immer wieder darauf hinzuweisen, daßwir das Durcheinander, die Zersplitterung im sozialpolitischen Be-reich überwinden wollen, daß wir zu einer organischen Zusammen-fügung gelangen wollen von Versicherung,Versorgung und Fürsorge.Wichtiger aber als alle organisatorischen Einzelheiten, die die Fach-leute der Sozialversicherung natürlich in besonderem Maße angehenund interessieren müssen, ist für die Millionen der Betroffenen dieFrage: Was kommt für uns dabei heraus?

Für alle Lohn- und Gehaltsempfänger und Hausfrauen, für dieschutzbedürftigen Handwerker, Gewerbetreibenden, Bauern undAngehörigen der freien Berufe beinhaltet unser Sozialplan – ich sagedamit nichts Neues, sondern halte mich an den Wortlaut unseresProgramms:

Eine Gesundheitssicherung, die vorbeugende Gesundheitsfür-sorge, ärztliche Hilfe, Krankenhaushilfe, Versorgung mit Medi-kamenten und Kuraufenthalt vorsieht – ausreichende Renten auseiner Hand bei Erwerbsminderung und Erwerbsunfähigkeit, im Alteroder beim Tode des Ernährers – Mutterschutz und staatliche Kinder-

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beihilfen – wirtschaftliche Sicherung während der Gesamtdauer derKrankheit und während unverschuldeter Erwerbslosigkeit oderKurzarbeit.

Leider haben wir verzeichnen müssen, daß die Rentner in ihrerMehrheit nicht jene Mühe honoriert haben, der sich die Sozial-demokraten im Bundestag immer wieder gerade für diesen Perso-nenkreis unterzogen haben. Das kann uns nicht entmutigen. Wirfordern, was erforderlich ist: Vordringlich ist die Erhöhung der Ren-ten für die Alten und der Grundrenten für die Opfer des Krieges!

Fragen der Organisation

Eine Reihe von Einzelfragen unseres Aktionsprogramms und unsererpraktischen Politik mußte im Rahmen einer solchen Übersicht un-erörtert bleiben. Das bedeutet keine Unterschätzung der nicht be-sonders erwähnten Bereiche. Es wird auch nicht möglich sein, indiesem Zusammenhang noch zu den einzelnen Empfehlungen Stel-lung zu nehmen, die vom Vorstand zu Fragen organisatorischer Artvorgelegt worden sind. Nur einige wenige Feststellungen:

Die Bundestagswahl hat gezeigt, daß die Sozialdemokratie in derWählerschaft eine Partei der Jungen ist. Ihr Anteil an den jüngerenJahrgängen war höher als der anderer Parteien. Das ist ein er-freuliches Zeichen. Schenken wir ihm in unserer weiteren Arbeit diegebührende Beachtung.

Eine Mehrheit der Wählerschaft aber stellen die Frauen. Ausdieser Tatsache Folgerungen zu ziehen, kann nicht ernst genug ge-nommen werden – in der Art unserer Aussage, unserer Werbung undAufklärung.

Die Vertriebenenpolitik – und ich darf wohl die Zonenflüchtlingegleich mit einbeziehen – betrifft mehr als eine bloße Interessen-vertretung. Die Partei sollte auf diesem Gebiet noch aktiver werden.

Vor allem aber, darauf weist auch der Vorstand hin, muß die Be-triebsarbeit verstärkt werden. Mit den Gewerkschaften, deren partei-politische Unabhängigkeit wir anerkennen, wollen wir nicht kon-kurrieren, wir wollen sie kameradschaftlich unterstützen.

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Noch eins: Unsere Organisation ist kein Selbstzweck. Aber wirmüssen auch die organisatorischen Fragen sehr ernst nehmen. Wirmüssen unseren innerparteilichen Betrieb immer mal wieder über-holen. Etwaigen Tendenzen in der Richtung einer Selbstisolierunggilt es entgegenzuwirken. Ein aktiver Sozialdemokrat wirkt so starkwie möglich innerhalb jener gesellschaftlichen Gliederungen, dieihm zugänglich sind.

Vielleicht läßt sich unsere Parteiarbeit doch auch noch moder-ner und lebendiger gestalten.23 Ich möchte nicht vom Ballastab-werfen sprechen, aber als Sohn der Wasserkante weiß ich, daß sichder Kapitän toten Gewichtes entledigt, sobald er es durch echte La-dung ersetzen kann. In der Propaganda machen wir es uns doch wohlnicht immer klar genug, daß die Zeit der Postkutsche längst ver-gangen ist.

Hüten wir uns vor zu viel bloßer Betriebsamkeit. Seien wir in deneigenen Reihen vor solchen Tendenzen auf der Hut, die von dem gutenoder bösen Willen der einzelnen ziemlich unabhängig sein könnenund die wir in der allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Büro-kratismus überwinden wollen. Bemühen wir uns gemeinsam darum,daß das Gesicht der Partei vor dem Gericht der Epoche bestehen kann.

Wir werden gut tun, vom Bundesparteitag hier in Berlin keineWunder zu erwarten. Wir werden aber mithelfen müssen, daß nichtgute Ansätze unbeachtet bleiben und deswegen verschüttet werden.Die Beschlüsse, die nach Monaten der Diskussion zu fällen sind, soll-ten nicht unverbindlich bleiben, sie sollten vorwärts führen. Aufge-schlossen müssen wir an die neuen Aufgaben heran, auf daß wirneues Terrain gewinnen.

So sollten unsere heutigen Beratungen, so sollte der kommendeBundesparteitag dazu beitragen, die Kräfte der deutschen Sozial-demokratie zu aktivieren, ihre Reihen fester zu schließen, ohne demWettstreit der Meinungen Gewalt anzutun. Es gilt, das freiheitlicheund soziale Programm der deutschen Linken weiterzuentwickeln:

Weiter voran in der SPD, mit der SPD – als Hort geistiger Frei-heit, als motorische Kraft des sozialen Fortschritts – als Wächter desAnspruchs auf Wiedervereinigung – als tatkräftige Helferin auf dem

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Weg zur europäischen und internationalen Zusammenarbeit, unddamit zu Frieden und Wohlstand – bei uns, und nicht bei uns allein.

Nr. 15Aus dem hs. Schreiben des Berliner Vertreters im DeutschenBundestag Brandt an den Leiter des Presse- undInformationsamtes des Landes Berlin, Hirschfeld17. August 1954

Landesarchiv Berlin, E Rep. 2000–18, Nr. 27/1.

Lieber Hans <Hirschfeld>1!Rut [Brandt] und ich sind nun schon seit 3 Wochen in Norwegen.Wirhaben uns bei prächtigem Wetter + beim Fischen gut erholt. Merk-würdig + erfreulich, wie rasch man sich doch vom innenpolitischen +innerparteilichen Kleinkrieg entfernen kann.2 Ich hatte es diesmalnötig. Meine Neigung geht jedoch nicht dahin, zu resignieren. Ganzim Gegenteil es gilt, den Helm fester zu schnallen.[. . .]3

Mit herzlichen Grüssen, zugleich von Haus zu HausDeinWilly Brandt

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Nr. 16Schreiben des Berliner Vertreters im Deutschen BundestagBrandt an den Vorsitzenden der SPD, Ollenhauer2. Februar 1955

AdsD,WBA, A 6, 12 (alt).

Lieber Erich,Wilhelm Mellies hat mir in der vorigen Woche die Unterlagen für dieUnterzeichnung des Manifests geschickt, das im Zusammenhang mitder Frankfurter Kundgebung bekanntgegeben worden ist.1 Ich hattezunächst den Wunsch, ein paar Änderungen anzuregen, erfuhr dannjedoch, dass dazu keine Möglichkeit mehr bestehe. Durch das Rund-schreiben Walter Menzels vom 26. Januar [1955] nahm ich ausserdemzur Kenntnis, dass es einer gesonderten Äusserung zur Unterzeich-nung nicht mehr bedürfe, da beschlossen worden war, die Namen derMitglieder des Fraktionsvorstandes kollektiv unter den Aufruf zusetzen.

Ich will nicht verhehlen, dass ich diesen Beschluss insofern fürnicht unbedenklich halte, als den Vorstandsmitgliedern meiner Mei-nung nach die Möglichkeit gegeben gewesen sein müsste, sich nochzu der Formulierung des Manifestes zu äussern. Jetzt möchte ich we-nigstens nachträglich sagen, worauf sich meine inhaltlichen Be-denken beziehen:

Der Text ist m. E. zu einseitig an die Adresse des Westens ge-richtet. Diesem Einwand hätte Rechnung getragen werden können,wenn man etwa im zweiten Absatz gesagt hätte,2 die Antwort auf diedeutsche Schicksalsfrage der Gegenwart hänge „nicht nur von derPolitik der sowjetischen Besatzungsmacht ab, sondern auch von denEntscheidungen im Zusammenhang mit den Pariser Verträgen.“

Zum anderen würde ich es vorgeschlagen haben, wenn im vier-ten Absatz die Worte „durch die Ratifizierung der Pariser Verträge“ausgelassen worden wären. Ich bezweifle die Richtigkeit der These,dass durch die Ratifizierung die Tür zu Verhandlungen zugeschlagen

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wird. Jedenfalls sind wir uns wohl darüber einig, dass unser Ringenum die Wiedervereinigung durch eine etwaige Ratifizierung nichtabgeschlossen sein kann. Manches scheint mir dafür zu sprechen,dass die wirklichen Entscheidungen erst zwischen der Ratifizierungund einem etwaigen Inkrafttreten des militärischen Teils der Ver-träge fallen werden.

Unabhängig von dem, was wir vor der Abstimmung im Bundes-tag warnend zu sagen haben,3 sollten wir uns nicht der Chancen be-geben, die sich auch danach noch und vielleicht gerade dann ergebenkönnen. Ich habe ausserdem den Eindruck, dass wir stark in das La-ger der Regierungskoalition hineinwirken können, wenn wir uns umeine Resolution oder eine Ergänzung des Ratifizierungsgesetzes be-mühten, um die Verkündigung der Gesetze von neuen und echtenVerhandlungen abhängig zu machen.

Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, dass wir in der nächstenWoche in Bonn miteinander sprechen können. Der für Donnerstagvoriger Woche in Aussicht genommene Treff konnte ja leider nichtstattfinden, da ich schon frühmorgens nach Berlin zurück musste.Mit besten GrüssenDein

178 Brandt an Ollenhauer, 2. Febr. 1955

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Nr. 17Artikel des stellvertretenden Landesvorsitzenden der BerlinerSPD, Brandt, für Die Neue GesellschaftMai-Juni 19561

Die Neue Gesellschaft 3 (1956) 3, S. 194–200.

VORDRINGLICHE AUFGABEN SOZIALDEMOKRATISCHERPOLITIK

Jede zusammenhängende und konstruktive Politik setzt eine sich im-mer wiederholende Verständigung über Prioritäten voraus. Sie er-fordert Klarheit über die Rangordnung und die Reihenfolge der zu lö-senden Aufgaben. Aus der Fülle der gestellten Fragen gilt es, die für daspraktische Handeln jeweils vordringlichen herauszuschälen. Für diePolitikdesdemokratischen Sozialismus kommt es in besonderem Maßedarauf an, den Sinn für das Wesentliche zu bewahren und zu schärfen.

Klarheit über den nächsten Schritt

Die Sozialdemokraten haben nicht aufgehört, die gesellschaftlicheWirklichkeit umfassend und grundlegend neu gestalten zu wollen.Sie wissen sich dabei frei von der unhaltbaren Vorstellung, als ob dieneue Gesellschaft gewissermaßen über Nacht anbrechen würde. Stattdessen ist immer mehr die Erkenntnis durchgedrungen, daß wir unsinmitten eines weltumspannenden, widerspruchsvollen Prozessesder Umschichtung befinden, dessen Verlauf freilich von der Einsichtund Tatkraft der Sozialisten wesentlich mitbestimmt wird. Sozial-demokratische Politik ist fest in den Realitäten des Hier und Jetztverankert. Sie bleibt jedoch am Morgen und Übermorgen orientiertund durchbricht insoweit den Rahmen einer x-beliebigen Reform-partei. Der demokratische Sozialismus bleibt ein gemeinsamer Nen-ner jener Bestrebungen, die den Frieden bewahren, die Freiheit er-

179 Artikel für Die Neue Gesellschaft, Mai-Juni 1956

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weitern und den Menschen zum Maß aller Dinge in Staat und Wirt-schaft machen wollen.

Vor allem dort, wo demokratische Sozialisten an der Regierungsind, bedarf es einer permanenten Prüfung der Fragen: Welches istder nächste Schritt zur praktischen Politik? Auf welchen Punkt hatsich die Tätigkeit der Regierung in erster Linie zu konzentrieren?Wofür hat sie sich während einer kommenden Arbeitsperiode dasMandat der Wähler zu sichern? Mit welchem verständlichen, über-schaubaren Teilprogramm tritt die Regierung oder die sie tragendePartei vor das Volk? Je mehr eine sozialistische Partei in die Regie-rungsverantwortung hineinwächst, desto stärker wird ihr Denkendurch die Frage nach der Rangordnung der zu lösenden Problemegeprägt sein müssen. Diese Fragestellung wird an Bedeutung nochzunehmen, wenn eines Tages verschiedene Parteien mit gemein-samer Grundanschauung und auf der Grundlage sozialistischer Tat-sachen in Staat und Wirtschaft nebeneinander wirken werden.

Die sich immer wiederholende Verständigung über Prioritäteneiner über den Tag hinausreichenden praktischen Politik hat aberauch für eine solche sozialistische Partei entscheidendes Gewicht, dienoch in der Opposition wirkt und aus ihr heraus zur Regie-rungsgewalt strebt. Für die Wirksamkeit einer solchen Partei und fürihre Anziehungskraft kann es von ausschlaggebender Bedeutungsein, ob und wie sie in der Lage ist, ihre Alternative überzeugend undvertrauenerweckend zu entwickeln. Sie wird stets wissen müssen,daß sie nicht allen alles geben kann und daß sich die Frage nach derRangordnung auch und gerade dann stellt, wenn es um die Ge-winnung neuer Anhänger und zusätzlicher Wähler geht.

Sachlichkeit, Klarheit und Wahrhaftigkeit bieten – leider – nochkeinerlei Garantie für die Verbreiterung der Basis und für einenWahlerfolg sozialdemokratischer Politik. Das kann nicht bedeuten,daß sozialdemokratische Politik jemals auf die Kriterien der Sach-lichkeit, Klarheit und Wahrhaftigkeit verzichten könnte. Allerdingskann in unserer Zeit auch keine Partei auf eine starke Vereinfachungihrer Forderungen und auf die Anwendung der Mittel modernerMassenbeeinflussung verzichten. Und dennoch wäre es falsch, die

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politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit zu einer Sache der blo-ßen propagandistischen Technik machen zu wollen. Für die Sozial-demokraten wird es immer zuerst auf den Inhalt der Politik an-kommen, erst dann auf die Verpackung. Sie werden mit der Pri-mitivität, wie sie etwa den Bundestagswahlkampf des Jahres 1953beherrschte,2 nur bedingt konkurrieren können. In der Wahl ihrerMittel sind sie schon darum nicht frei, weil die Lüge niemals einMittel ihrer Politik sein kann. Sie können auch nicht auf eine gewissegeistige Inanspruchnahme derer verzichten, an die sie sich wenden.

Das alles spricht zusätzlich für eine möglichst klare und ver-ständliche Darlegung dessen, was die Sozialdemokraten für den je-weils bevorstehenden Zeitabschnitt vorhaben, wofür sie die Unter-stützung der Wähler erbitten. Es spricht auch für den gewissenhaftenNachweis der eigenen Leistung und für die Beachtung des persönli-chen Faktors in bezug auf jede in die Breite wirkende Politik: Das Volkwill wissen, wer diejenigen sind, die die ihnen anempfohlene Al-ternative durchführen sollen. Es will wissen, ob es eine mit Willen undLeistungsvermögen ausgestattete Mannschaft gibt, die die Ablösungvornehmen kann. Dieser Faktor erhält zusätzliche Bedeutung da-durch, daß im konkreten Fall weit über die Reihen bisheriger sozial-demokratischer Wähler hinaus empfunden wird, wie sehr über derbisherigen Bonner Ära bereits ein Schatten der Vergangenheit liegt.

Neue Tatsachen ins Auge fassen

Außerhalb der deutschen Sozialdemokratie, gelegentlich aber auch inden eigenen Reihen, hat es Ratschläge gegeben, die auf ein mehr oderweniger willkürliches Umschalten von der Außenpolitik zur Innen-politik (oder umgekehrt) hinausliefen. Ein solches Umschalten wärejedoch wenig realistisch, denn für jede Politik dieser Zeit und für einesozialistische Politik im besonderen gilt das Gesetz der Interdepen-denz, der gegenseitigen Abhängigkeit. Im gespaltenen Deutschlandwird die Innenpolitik in außerordentlich hohem Maße durch welt-politische Faktoren bestimmt. In d i e s e m Sinne wäre es wirklichwenig sinnvoll, um die Rangordnung zu streiten.

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Die Wiedervereinigung als die nach sozialdemokratischer Auf-fassung erstrangige Aufgabe deutscher Politik ist an sowohl inter-nationale wie innerdeutsche Voraussetzungen gebunden. Es gilt also,mit gebührendem Nachdruck für die innerdeutschen Voraus-setzungen einzutreten und nach außen den Nachweis zu führen, daßunser Recht als Volk mit dem wohlverstandenen Interesse der an-deren auf einen Nenner zu bringen ist. Es gilt, das latente Unbehagenin unserem Volk gegen solche Kräfte aufzubringen, die sich mit demBonner Provisorium abzufinden bereit sind. Und es gilt vor allemauch, den Anschluß zu finden an die sehr real bedingten Ent-wicklungen, die den kalten Krieg alter Prägung abgelöst haben.

In der weltpolitischen Landschaft des Jahres 1956 und 1957 kannsich nicht zurechtfinden, wer allein auf die Landkarten des Jahres1950 und 1951 angewiesen ist. Die deutsche Außenpolitik erfordertKarten, die die uns umgebende Wirklichkeit einigermaßen richtigwiedergeben. Hier handelt es sich um einen Kernpunkt der Ausein-andersetzung. Wichtiger noch als Erörterungen darüber, ob die So-zialdemokraten in den vergangenen Jahren in jeder Einzelheit rechtgehabt haben, ist der Nachweis, daß unmöglich recht haben kann,wer die Tatsachen nicht oder nicht genügend zur Kenntnis nimmt.Die Sozialdemokraten werden nachzuweisen haben: wie hart zu Be-ginn des Atomzeitalters die Wahl gestellt ist zwischen kollektivemSelbstmord der Menschheit und ihrem materiellen Aufstieg zu bisherungeahnten Höhen; wie sehr das Ringen an den nichtmilitärischen,den sozialen und geistigen Fronten zunehmen wird, wenn die Gefahrdes Weltkonfliktes in den Hintergrund tritt; was das Auftreten derneuen Nationen auf der Bühne der Weltpolitik bedeutet und welcheAufgaben uneigennütziger Unterstützung auch uns als einem Teilder westlichen Welt gestellt sind; welche Möglichkeiten sich aus denWandlungen der sowjetischen Weltmacht ergeben und sich aus dertiefsten ideologischen Krise ergeben können, die der Bolschewismusseit seinem Bestehen durchgemacht hat.3

Für die Sozialdemokratie wird es sich also gerade in einer Zeit, inder sich die weltpolitische Erstarrung lockert und in der neben un-vermindert weiterbestehenden Gefahren neue Chancen sichtbar

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werden, darum handeln müssen, daß sie ihre Grundforderungeneinfach, realistisch und zukunftsweisend zugleich entwickelt:

1. im Kampf um die deutsche Einheit als einem Grundrecht imZusammenleben der Völker, zugleich aber auch als Beitrag zu einerPolitik der Entspannung, der Abrüstung und der gemeinsamenSicherheit,

2. im Ringen um die Bewahrung und Festigung des Friedens alsVoraussetzung für das Überleben der Menschheit,

3. im schöpferischen Mitwirken bei der Förderung von Wohl-stand und Freiheit – überall in der Welt.

Prioritäten sozialdemokratischer Politik

Wir meinen – mit anderen Worten – nicht, daß es für die deutscheSozialdemokratie sinnvoll oder auch nur möglich wäre, die Erörte-rung der außenpolitischen oder gar der gesamtdeutschen Problemehintanzustellen. Aber wir wissen, daß sich daraus keine Vernach-lässigung der bundesrepublikanischen Innenpolitik ergeben muß.Und wir sind uns dessen bewußt, daß hier, wo es im engeren Sinneum die Lebensbedingungen der uns anvertrauten Menschen geht,hart und geduldig um das Vertrauen der Wähler gerungen werdenmuß. Hier wird es darum auch besonders auf die Konkretisierung dereigenen Forderungen ankommen.

Bei der Vorbereitung von Wahlen, die nationalpolitisch von sol-cher Bedeutung sind wie die des Jahres 1957,4 muß es für die Sozial-demokratie darauf ankommen, sich auf verhältnismäßig wenige,entscheidende Punkte zu konzentrieren und durch ihre Aussage biszur Wahlentscheidung klar werden zu lassen, daß die Tätigkeit einersozialdemokratisch geführten Bundesregierung der Verwirklichungder in diesen Punkten zusammengefaßten Forderungen gewidmetsein wird. Ein Wahlprogramm ist bekanntlich nicht dasselbe wie einfür einen längeren Zeitabschnitt gedachtes Aktionsprogramm; es istjedenfalls nicht zu verwechseln mit einem Grundsatzprogramm.

Bei uns in Deutschland mag es auch mehr als zehn Jahre nachKriegsende noch einigermaßen schwierig sein, sich auf ein Denken

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in einfachen Alternativen zu verständigen und die Frage nach derRangordnung der zu lösenden Aufgaben daraus abzuleiten. Wir sindimmerhin zwölf Jahre isoliert gewesen5 und hatten manche Er-fahrungen nachzuholen, die in anderen Ländern – etwa in der Rich-tung demokratischer Planung – gemacht werden konnten. Auf dieLähmung der ersten Nachkriegszeit folgte eine Konzentration derwiedergeweckten Energien auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau,wobei die Erfordernisse im geistig-moralischen Bereich zweifellos zukurz kamen. Die restaurativen Entwicklungen im deutschen Westenforderten zu einer Gesamtauseinandersetzung heraus und ließen diepauschal ablehnenden, hier und da vielleicht auch als übertrieben„negativ“ empfundenen Gesichtspunkte stark hervortreten. An-dererseits provozierte die Kommunisierung6 im Osten eine Gegen-bewegung, die zwar aus guten Gründen zu einem wesentlichen Teildurch die Sozialdemokratie mitgetragen wurde, die jedoch objektivzu einem nicht geringen Teil auch auf Kosten des sozialen Fort-schritts ging. Solange die Herausforderung bestehen bleibt, wird esauf beiden Ebenen gründlicher Auseinandersetzungen und „globaler“Gegenüberstellungen bedürfen. Niemand nimmt der deutschen So-zialdemokratie beispielsweise die Aufgabe ab, über das Verlangennach freien Wahlen hinaus ihre eigenen Vorstellungen über diekünftige Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur derheutigen Sowjetzone und des künftigen Gesamtdeutschland so kon-kret wie möglich zu Papier zu bringen.

Jetzt geht es jedoch um unsere Meinung darüber, welche innen-politischen Gesichtspunkte die entscheidenden sein sollten, wenndie Sozialdemokratie im kommenden Jahr um die Stimmen der bun-desrepublikanischen Wähler wirbt. Uns will scheinen, daß es sichdabei im wesentlichen um vier Punkte handeln sollte:

1. Die deutsche Politik muß entschlossen und fähig sein, allenationalen Energien auf die Wiederherstellung der staatlichen Ein-heit zu konzentrieren, jede sich bietende reale Chance zur Erreichungdieses Zieles auf demokratischer Grundlage zu nutzen und alles zutun, um den Bestand des Volkes durch ein Höchstmaß an Bezie-hungen zwischen den willkürlich getrennten Volksteilen zu wahren.

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2. Der erstrebte Kurswechsel der deutschen Politik muß sichinsbesondere darin äußern, daß die innere Selbstbestimmung und diegeistige Freiheit wirksam gegen die sie bedrohenden totalitären undautoritären Kräfte, gegen bürokratische Überheblichkeit und reak-tionäres Muckertum verteidigt und erweitert werden.

3. Eine wirkliche Neuordnung auf dem Gebiet der Sozial-politik soll die Grundsätze der Freiheit von Not und der Sicherheitfür alle verwirklichen.

4. Eine moderne Wirtschaftspolitik soll die Erfolge des Wie-deraufbaus sichern, eine gerechtere Verteilung des Sozialproduktesgewährleisten, den regulierenden Einfluß der Öffentlichen Hand ge-gen Monopolinteressen durchsetzen und für den Anschluß an dieErfordernisse der zweiten industriellen Revolution sorgen.

Durch die Reihenfolge dieser Punkte soll keine Wertung zumAusdruck gebracht werden. Wohl aber möchten wir zum Ausdruckbringen, daß die Sozialdemokratie in dieser Phase der Entwicklungaußerordentlich große Aufgaben an der geistig-kulturellen Front er-warten. Die moderne Arbeiterbewegung hat als ein Bündnis zwi-schen den Leidenden und den Denkenden begonnen. Der Platz de-mokratischer Sozialisten ist heute wie immer an der Seite derer, dieeinerseits die Freiheitsrechte bedroht sehen und die andererseitsspüren, daß auf den Schulen und Universitäten, in den Laboratorienund Forschungszentren weitgehend über die Welt von Morgen ent-schieden wird. Die Gewinnung der geistigen Schichten mag quanti-tativ als nicht so entscheidend betrachtet werden; qualitativ ist siesowohl unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Notwendigkeitenwie unter anderen Aspekten der gesellschaftlichen Umgestaltungvon ausschlaggebender Bedeutung.

Daneben aber gilt es, sich stets daran zu erinnern, daß dieschwächsten Schichten, nämlich die Rentner, bisher in ihrer Mehrheitnicht sozialdemokratisch gewählt haben und daß die traditionellenWählerschichten der Sozialdemokratie, die Arbeiter und Ange-stellten, noch beträchtliche „Rekrutierungsmöglichkeiten“ bieten. Inbeiden Richtungen wird es der Sozialdemokratie möglich sein, durchdie Vertretung einer zeitgemäßen Sozialpolitik Erfolge zu erzielen.

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Der „Sozialplan“7 wird in seinen entscheidenden Punkten zusam-menzufassen sein, und es wird nachgewiesen werden müssen, daß dasGeforderte durch die vorhandene Wirtschaftskraft getragen werdenkann. Die Sozialdemokraten werden nicht, zumal wenn sie auf einZusammenwirken mit anderen Gruppen angewiesen sind, alle be-rechtigten Forderungen im Laufe einer Vierjahresperiode durchsetzenkönnen. Aber sie werden sich dafür verbürgen müssen, daß vor allemauf dem Gebiet der Altersversorgung und der Kriegsopferversorgungeine angemessene Neuregelung erfolgt. Es wird auch klargemachtwerden müssen, daß Sozial- und Wirtschaftspolitik in sozial-demokratischer Sicht zwei Seiten ein und derselben Sache sind.

Die neuen Wählerschichten, an die sich die Sozialdemokratiewendet, müssen davon überzeugt werden, daß wir den wirtschaft-lichen Aufbau nicht gefährden, sondern daß wir ihn sinnvoll fortfüh-ren und gegen Rückschläge sichern werden. Weit über den Kreis dertraditionellen Anhänger hinaus spüren die Menschen, daß sie sich aufschwankendem Boden bewegen. Von dieser Seite her sind sie auchaufgeschlossen für den Gesichtspunkt, daß die ökonomische Machtdemokratisch kontrolliert werden muß. Sofern die Sozialdemokratiein einer kommenden ersten Regierungsperiode die Neuregelung derEigentumsverhältnisse in der Grundstoffwirtschaft einleiten kann,wird sie durch eine möglichst genaue und begrenzende Beschreibungdes Erstrebten dafür zu sorgen haben, daß dem Sozialisierungs-Schreck vorgebeugt wird. Besonderer Nachdruck wird auf solcheMaßnahmen zu legen sein, die darauf abzielen, im Interesse der Ar-beitnehmer, der Verbraucher und der volkswirtschaftlichen Gesamt-heit einen maßgeblichen öffentlichen Einfluß auf die Verfügungsge-walt über die großen Produktions- und Kapitalquellen durchzusetzen.

Eine moderne Wirtschaftspolitik, wie sie von der Sozial-demokratie vertreten wird, muß sich gerade dadurch auszeichnen,daß sie den Kontakt zu den neuen Fragestellungen gewährleistet.Unsere Menschen müssen erfahren, daß diejenigen, die nach der Re-gierungsgewalt streben, auch um die Veränderungen wissen, die diezweite industrielle Revolution bewirken wird: das sich noch in dieserGeneration von Grund auf ändernde Bild der produktiven Grund-

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lagen, die damit verbundenen Konsequenzen für die soziale Gliede-rung und für die Stellung des Menschen im Arbeitsprozeß, das künf-tige Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Freizeit usw.

Wenn wir diese Fragestellungen andeuten, so nicht, um der So-zialdemokratie die Rolle einer Partei zuzuweisen, die die Welträtselzu lösen haben würde. Wohl aber muß sie eine Partei sein und blei-ben, die sich in lebendigem Kontakt mit den neuen Problemen undmit den geistigen Strömungen dieser Zeit befindet. Sie muß – auchvor einer großen Wahlentscheidung – als eine Partei in Erscheinungtreten, der gegenüber die Menschen empfinden, daß ihr Realismusüber den Tag hinausreicht und daß sie sich unablässig bemüht, dengeistigen Bogen zur Welt von morgen zu schlagen. Insofern bleibt esdabei, daß konkrete Forderungen und Teilprogramme keineswegseine absolute Grenze sozialdemokratischer Politik darstellen.

Möglichkeiten politischer Entwicklung

Ohne Opposition gibt es keine Demokratie, ohne Kritik keine demo-kratische Opposition. Aber auch bei der Kritik kommt es, wenn sierichtig verstandenwerden will, sehrdaraufan, daß sie auf eine begrenzteZahl entscheidender Fragen unter Beachtung einer regelmäßig zu über-prüfenden Rangordnung zugeschnitten wird. Sie muß in solchen Punk-ten zusammengefaßt werden, die haften bleiben, im Gespräch bleibenund der eigenen wie der allgemeinen Orientierung dienen.

Bei den Auseinandersetzungen um die außenpolitischen, mitdem Wehrbeitrag verknüpften Verträge der Bundesrepublik8 hat dieSozialdemokratie beispielsweise eine bis ins einzelne gehende Kritikgeleistet, wie es den Regeln gewissenhafter parlamentarischer Arbeitentsprach. Es fragt sich jedoch, ob nicht die ins einzelne gehendeKritik in der öffentlichen Diskussion zuweilen mit der Gefahr ver-bunden war, daß die wirklich springenden Punkte nicht klar genugerkennbar blieben:a) das Verhältnis zur Wiedervereinigung,b) das Bemühen um die Sicherung der Demokratie,c) die Sorge um die wirtschafts- und sozialpolitischen Erfordernisse.

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Ähnlich mag es sich darstellen, wenn es um die Auseinander-setzung mit den Gefahren der bundesrepublikanischen Restaurationgeht. Gerade hier wird es darauf ankommen müssen, gezielte Argu-mente an die Stelle eines den meisten unverständlichen Schlagwor-tes treten zu lassen:

a) gegen den neuen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtposi-tionen,

b) gegen die Unverbesserlichen aus der Zeit des TausendjährigenReichs, ohne der Versuchung gefährlicher Verallgemeinerung zu un-terliegen,

c) gegen die mit (oder ohne) neuer Sauce übergossenen Kräfteder alten Reaktion.

Es lohnt sich im übrigen, Mühe auf den Nachweis zu verwenden,daß und in welchem Umfang sich die Kritik vergangener Jahre be-stätigt hat. Politik ist für die Sozialdemokratie immer zugleich auchein Stück Massenerziehung.

Gerade in unserer Zeit und in unserem Land wollen die Men-schen freilich nicht allein kritische Auslassungen hören, sondern siewollen wissen, wie die Kritiker es anders machen wollen und was siedort, wo sie die Möglichkeit dazu hatten, selbst geleistet haben. Diedeutsche Sozialdemokratie ist vielleicht gelegentlich geneigt ge-wesen, die Bilanz ihrer eigenen Arbeit unterzubetonen. Sie sollte sichnicht scheuen, in viel stärkerem Maße auf ihren Beitrag zum Wie-deraufbau zu verweisen: den Anteil der Sozialdemokraten und Ge-werkschafter – in den Gemeinden und in den Betrieben – währendder verzweifelten Zeit unmittelbar nach Kriegsende, den Aufbau inden sozialdemokratisch geführten Städten und Ländern, die großeZahl der Initiativen im ersten und zweiten Bundestag, die Leistungenin Berlin, für die Saar und für den Zusammenhalt mit den Menschenim anderen Teil Deutschlands.

Die Sozialdemokratie wird die kommende Bundesregierungnicht allein bilden können. Sie wird also Koalitionspartner brauchenund sich mit ihnen auf ein gemeinsames Arbeitsprogramm ver-ständigen müssen. Man mag meinen, Fragen dieser Art könnten erstam Tage nach der Wahl beantwortet werden, und es sei müßig, sich

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darüber vorher den Kopf zu zerbrechen. Die Lebenserfahrung sprichtin der Tat für die Auffassung, daß man das Fell des Bären nicht ver-teilen soll, bevor man ihn erlegt hat. Dennoch wird die Frage nachden möglichen Bündnissen in der Zeit bis zur Wahlentscheidungeine beträchtliche Rolle spielen, und man wird ihr nicht ausweichenkönnen. Die Beantwortung ist auch darum gar nicht so schwer, weilein Mitregieren unter Konrad Adenauer für die Sozialdemokratie au-ßer Diskussion steht und weil noch niemand sagen kann, wie sich dieCDU entwickeln wird, wenn sie eines Tages nicht mehr unter derFuchtel des „Alten“ steht. Für die nächste Zukunft ist der Sozial-demokratie ein weitgehendes Zusammenwirken mit solchen Kräftenvorgezeichnet, die gleich ihr einen Kurswechsel in Bonn erstreben,falls mit ihnen darüber hinaus eine Verständigung über den Inhalteiner gemeinsamen Politik erzielt werden kann. Bonn, die Bundes-republik und die gesamtdeutsche Politik haben einen neuen Kursund frischen Wind nötig. Dies scheint uns für die nächste Zeit derübergeordnete Gesichtspunkt zu sein, aus dem sich das praktischeVerhalten dann weitgehend von selbst ergibt.

Es bedarf kaum einer besonderen Unterstreichung, daß der Hin-weis auf die Schwerpunkte politischen Wirkens und auf die Rang-ordnung der zu lösenden Aufgaben auch für die Parteiarbeit der So-zialdemokratie im engeren Sinne von Bedeutung ist. Aus einer Ver-ständigung über das eigentliche politische Wirken ergeben sichzwingende Folgerungen für die Rationalisierung der organisatori-schen Arbeit, für den geistigen Gehalt des innerparteilichen Lebens,die Form der Aussage und den sinnvollen Einsatz der verfügbarenKräfte. Das große Gefüge der deutschen Sozialdemokratie muß ganzin den Dienst der als vordringlich erkannten Aufgaben gestellt wer-den. Die Sozialdemokraten müssen sich immer wieder selbst von dergeistigen Unruhe erfassen lassen, ihre Aktivität auf die jeweils näch-sten Ziele richten und in dem Bewußtsein wirken, daß ihnen nie-mand ihre Aufgabe abnehmen wird.

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Nr. 18Redebeitrag des Berliner Delegierten Brandtauf dem Parteitag der SPD in München11. Juli 1956

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SozialdemokratischenPartei Deutschlands vom 10. bis 14. Juli 1956 in München, Bonn o. J.,S. 108–110.

Genossinnen und Genossen! Für die deutsche Politik ist es von wich-tiger Bedeutung, die niemand unterschätzen sollte, daß auf diesemParteitag unsere Alternative zur Regierung Adenauer-Globke ent-wickelt wurde. Das ist, wie mir scheint, das Entscheidende, damit dieBevölkerung, um deren Vertrauen wir ringen, in positiver, ver-trauenerweckender Form mit den wenigen zentralen Gesichts-punkten eines neuen Kurses in Deutschland vertraut gemacht wird,nämlich einer Außenpolitik, die in die heutige weltpolitische Land-schaft paßt, einer aktiven und nicht formelhaften Wiedervereini-gungspolitik, dem Ausbau der inneren Freiheit und einer modernenPolitik der sozialen Sicherheit, der wirtschaftlichen Stabilität und deslebendigen Anschlusses an die revolutionierenden Erkenntnisse desmenschlichen Geistes.

Was die Wehrfrage betrifft, Genossinnen und Genossen, so wärees gut, wenn wir uns im Sinne der Ausführungen von ErichOllenhauer überflüssige, mißverständliche Streitigkeiten in den ei-genen Reihen ersparen könnten und wenn wir unterstellten, daß derzugrunde liegende Tatbestand von uns durchwegs einheitlich beur-teilt wird.1 Unumstritten ist für uns doch, daß der Krieg, zusätzlich zuallen früheren Argumenten, als Mittel der Politik auszuscheiden hat,weil er – mit den modernen Zerstörungsmitteln geführt – die Ver-nichtung der Menschheit heraufbeschwört. Unumstritten ist auch, somöchte ich meinen, daß die gegenwärtige bundesdeutsche Politikmit der schrecklichen Gefahr verbunden ist, die Spaltung vertiefenzu helfen. Unumstritten dürfte aber auch sein, daß es uns, weil es uns

190 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 11. Juli 1956

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andere aufzwingen, nicht erspart bleibt, uns mit den Fragen der tat-sächlichen oder vermeintlichen Sicherheit leider noch zu befassen,und daß wir diese Auseinandersetzung mit dem gesunden Willen zurMacht zu führen haben. Eine große Partei, die regieren will, kann denFragen der staatlichen Gewalt nicht ausweichen. So möchte ich inder uns vorgelegten Entschließung das Wort von der Revision derWehrpolitik auffassen, und das andere absolut richtige Wort, daß dieVerteidigung der Freiheit viel mehr ist als ein militärisches Problem.2

Anders als einige der bisherigen Diskussionsredner, aber inÜbereinstimmung mit anderen, insoweit auch mit Lipschitz, unter-schreibe ich voll und ganz, was der Parteivorsitzende über Ver-handlungen mit Pankow3 gesagt hat. Pankow hat keine demokrati-sche Legitimation, und – von allem anderen abgesehen – kann eskeine gegenseitige völkerrechtliche Anerkennung der beiden deut-schen Teilstaaten geben; denn gerade dadurch würde die Teilungverewigt werden können. Man hat uns heute vormittag gesagt, dieSowjets hätten andere Forderungen erhoben. Dem haben wir meinesErachtens sachlich, aber beharrlich, unsere Auffassung entgegen-zusetzen und um sie zu ringen. Unser Nein an die Adresse desUlbricht-Regimes läßt sich aber sehr wohl vereinbaren erstens miteinem aktiven und unermüdlichen Einwirken auf Diskussionen undEntwicklungen in der Sowjetzone, auch in der SED, und zweitens miteinem Höchstmaß an Bemühungen darum, daß der vielfältige Kon-takt zwischen der Bevölkerung in den beiden Teilen Deutschlandsverstärkt wird und daß praktische innerdeutsche Fragen so vernünf-tig wie nur irgend möglich geregelt werden, um wo immer möglichjedenfalls die unsinnigsten Auswüchse des kalten Krieges alter Prä-gung beseitigen zu helfen.

Man fragt uns nach unseren Vorstellungen vom Weg zur deut-schen Einheit. Heute ist es, glaube ich, nicht mehr möglich, unsereVorschläge über ein System gemeinsamer Sicherheit, das Deutsch-land einen Status besonderer Art gewähren würde, lächerlich zu ma-chen oder uns wegen solcher Vorschläge zu verdächtigen und zu dif-famieren. Heute beginnt es zur Binsenwahrheit zu werden, daß wirmit unseren Freunden im Westen – ich sage trotz vieler Meinungs-

191 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 11. Juli 1956

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verschiedenheiten absichtlich „Freunde im Westen“; denn ich habenicht vergessen, wer uns, ich komme ja aus Berlin, aber das gilt nichtnur für die Stadt Berlin, in schwerster Zeit es ermöglicht hat, zuüberleben – heute beginnt es also zu einer Binsenwahrheit zu wer-den, daß wir mit unseren Freunden im Westen offen reden und unsum die Zustimmung der sowjetischen Seite ernsthaft bemühen müs-sen, wenn wir zu einer Lösung der deutschen Frage kommen wollen.Nachdem die Bundesregierung mit der Entdeckung Indiens durchHerrn Blücher begonnen hat,4 beginnt es sich auch herumzuspre-chen, daß wir in den Völkern der asiatischen Revolution Bundes-genossen in unserem Ringen um das nationale Selbstbestimmungs-recht zu finden haben und finden können, Freunde zu gewinnenhaben, deren Verständnis und Hilfe wir vielleicht bei künftigenErörterungen unserer Probleme, z. B. vor den Vereinten Nationen,sehr nötig haben können.

Von den innerdeutschen Voraussetzungen der Wiedervereini-gungspolitik ist schon die Rede gewesen. Zu diesen inneren Voraus-setzungen gehört weiterhin die Stadt Berlin, die durch ihr einfachesDasein eine starke objektive Kraft gegen ein Sich-Abfinden mit zweideutschen Staaten darstellt. (Beifall.) In der „Verbonnung“ hat mansich bis in die letzte Zeit ernster Versäumnisse Berlin gegenüberschuldig gemacht, und wir haben immer wieder auf die Hilfe unsererFraktion zurückgreifen müssen. Ich denke, was die Versäumnisse deranderen Seite angeht, beispielsweise an den Langwellensender,5 denman uns abspenstig machen möchte, und ich denke daran, daß Berlinerneut ausgeklammert wurde beim Gesetz über die direkten Wahlenzum Bundestag.6 Ich möchte aber auch, Genossinnen und Genossen,in diesem Kreis und vor den Delegierten des Parteitages ein schlichtesWort des Dankes sagen für die vielen Beweise ursprünglicher Hilfs-bereitschaft von seiten derer, die längst begriffen haben, worum esgeht, und ich danke insbesondere als einer der Sprecher Berlins derArbeiterwohlfahrt und vielen anderen Freunden für die großherzigeAufnahme unserer Berliner Ferienkinder. Das ist eine bessere ge-samtdeutsche ursprüngliche Haltung als das formelhafte Hersagenbestimmter Parolen von anderer Seite. (Lebhafter Beifall.)

192 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 11. Juli 1956

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Schließlich aber – und auch das gehört zum Thema des Wegeszur Wiedervereinigung – muß, davon sind wir fest überzeugt, nochviel geschehen, um einen festen Willen in unserem eigenen Volk zuentwickeln. Die Dinge sind nicht stehengeblieben. Die Aufge-schlossenheit hat zugenommen, aber es fehlt noch viel daran, denunbeugsamen Willen zur Wiedervereinigung so zu entwickeln, daßman ihn nirgends in der Welt ignorieren kann.

Lassen Sie mich damit schließen, Genossinnen und Genossen,daß ich sage: Wir haben zwar ein „Kuratorium unteilbares Deutsch-land“,7 wir haben aber noch nicht eine „Volksbewegung unteilbaresDeutschland“, und die wird nur entstehen können, wenn sie maßge-bend mit getragen werden wird von den selbstlosen politischenKämpfern der deutschen Sozialdemokratie. (Lebhafter Beifall.)

Nr. 19Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt,an den stellvertretenden Vorsitzendender SPD-Bundestagsfraktion Wehner7. November 19571

AdsD,WBA, A 6, 17 (alt).

Lieber Herbert,ich habe Dir bzw. Euch noch nicht – jedenfalls nicht in gehörigerForm – für die guten Wünsche zu meiner Wahl gedankt.2 Jetzt ist esaber an mir, Dir zur Wahl als stellvertretendem Fraktionsvor-sitzenden zu gratulieren. Um Wilhelm Mellies tut es mir leid, aber eshilft alles nichts:3 Die Fraktion mußte – der Partei und der Sache we-gen – sichtbar werden lassen, daß wir uns neu rüsten.4 Viel, sehr vielhängt davon ab, daß die Zusammenarbeit zwischen Dir, Carlo[Schmid] und Fritz [Erler] klappt und ob Ihr zu einem vernünftigenArbeitsverhältnis mit Erich [Ollenhauer] gelangt.

193 Brandt an Wehner, 7. Nov. 1957

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Ich habe mancherlei Sorgen, über die ich gern mit Dir gespro-chen hätte. Für die Verkehrsverbindungen Berlin-Bund sehe ich imAugenblick keine Gefahr – im Gegenteil, durch den neuen Inter-zonenhandelsvertrag sind sogar wesentliche Verbesserungen zu er-warten.5 Im innerberliner Verkehr sind jedoch für die nächsten Wo-chen noch weitere Erschwernisse zu erwarten.

Hoffentlich bietet sich bald die Möglichkeit eines Gesprächs inBonn – falls Du nicht inzwischen mal nach Berlin kommst. Ich werdeGünter Klein um eine Terminabsprache bitten.Herzliche GrüßeDein

Nr. 20Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt,an den stellvertretenden Vorsitzendender SPD-Bundestagsfraktion Erler7. November 19571

AdsD,WBA, A 6, 17 (alt).

Lieber Fritz,ich habe Dir noch nicht in aller Form für die Glückwünsche gedankt,die Du mir – gemeinsam mit Carlo [Schmid] und Shep[ard] Stone –übermittelt hattest. Daß ich mich darüber gefreut habe, brauche ichkaum besonders zu betonen. Heute ist es jedoch an mir, sehr herzlichzu gratulieren.

Deine Wahl zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden istvon noch größerer Bedeutung als es manchem heute klar ist. UmWilhelm Mellies tut es mir leid. Aber es hilft alles nichts: In derFraktion mußte deutlich gemacht werden, a) daß bei uns etwas inBewegung ist, und b) daß wir auch personell einiges zu bieten haben.

194 Brandt an Erler, 7. Nov. 1957

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Es wäre gut, wenn ich Dich bald mal in Bonn sehen könnte. Ichwerde Günter [Klein] um die Vermittlung bitten, vielleicht sogar zueinem Gespräch gemeinsam mit Deinen „neuen“ Kollegen Carlo[Schmid] und Herbert [Wehner].HerzlichstDein

Nr. 21Redebeitrag des Vorsitzenden des Landesverbandes der SPDBerlin, Brandt, auf dem Parteitag der SPD in Stuttgart20. Mai 1958

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SozialdemokratischenPartei Deutschlands vom 18. bis 23. Mai 1958 in Stuttgart, Bonn o. J.,S. 323–326.

Genossinnen und Genossen! Mir will scheinen, daß bei aller Bedeu-tung der diesem Parteitag unterbreiteten Referate und bei aller Be-deutung der hier erörterten Fragen und vielleicht gerade wegen derÜberschattung anderer Dinge durch die Auseinandersetzungen umdie Atomgefahren1 die Erörterung über die Ursachen unseres Miß-erfolges des Jahres 1957,2 gemessen an den ursprünglichen Debatten,zu kurz gekommen ist. Ich meine damit die Ursachen, die nicht beianderen liegen, sondern ich meine den Teil der Ursachen, der unbe-schadet der großen Anstrengungen der gesamten Partei ein-schließlich der besoldeten Vorstandsmitglieder – ich wiederhole:einschließlich der besoldeten Vorstandsmitglieder – bei uns selbstliegt oder liegen könnte, als mitbestimmende Gründe dafür, daß wirzum drittenmal seit der Gründung dieser Bundesrepublik unser po-litisches Ziel nicht erreicht haben. Wir werden auch auf den Grenz-gebieten zwischen Organisation und Politik, um die es sich jetzthandelt, zu prüfen haben – nicht im Sinne der Selbstreinigung oder

195 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 20. Mai 1958

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Selbstzerfleischung –, wie wir dieses Ziel erreichen können, und wirwerden es nicht zulassen, wir dürfen es nicht zulassen, daß jemandüber die Sozialdemokratische Partei sagen könnte, was eigentlichpassieren müßte, bevor in der Sozialdemokratischen Partei in der denDelegierten angemessen erscheinenden Form über die Grundfragen– sowohl der Organisation als auch der Politik – gesprochen wird.(Lang anhaltender lebhafter Beifall.)

Ich will meine Redezeit nicht dadurch belasten, daß ich aus derSchrift mit dem Entwurf des Grundsatzprogramms einen sehr be-achtlichen Abschnitt auf Seite 7 verlese. Ich will nur den Satz ver-lesen, den wir sicher alle unterschreiben:

„. . . eine Organisation wird nicht nur getragen von dem ihr zu-grunde liegenden Ordnungsgedanken, sondern vor allem von Men-schen, die sie führen.“3

Das ist ein Satz, den wir sicher alle unterstreichen. Das Übrigeüberlasse ich den Delegierten zum Selbststudium. Wir werden aufdiesen Punkt ja erst morgen im einzelnen zu sprechen kommen.4

(Zuruf: Warum nicht heute?)Nun möchte ich sagen, Genossinnen und Genossen, ich glaube,

wir sind es dem Genossen Ollenhauer schuldig, daß wir das, was ervorgetragen hat, und das, was vorher vorgetragen wurde,5 mit all demgebührenden Ernst und schuldigen Respekt zur Kenntnis nehmen.Darum hat er gebeten, und das kann ihm niemand verweigern.

Ich glaube, wir stimmen ihm auch alle darin zu, daß wir jedem,der jetzt eine bestimmte Funktion in der Partei hat und sie vielleichtauch in Zukunft haben wird, daß wir jedem von ihnen, die – wie eshier hieß – volle persönliche Achtung entgegenzubringen haben.

Aber was meiner Ansicht nach nicht geht, Genossen, lassen Siemich das eben offen sagen, das ist, denjenigen, die Bedenken zueinem bestimmten Verfahren bei der Auswahl der führenden Funk-tionäre anmelden, zu unterstellen, daß sie sich von weniger Loyalität(Sehr richtig!-Rufe) und von weniger Willen zur innerparteilichenSauberkeit leiten ließen als diejenigen, die diese Vorschläge unter-breiten.6 (Lang anhaltender, lebhafter Beifall.)

196 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 20. Mai 1958

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Ich bedaure dabei noch etwas anderes, nämlich daß es nach demDiskussionsbeitrag des Parteivorsitzendeneinem so unendlich schwergemacht wird, das aus der Sache heraus erneut zu vertreten, was manaus der Sache heraus und nicht unter Bezug auf Personen empfehlenmöchte, weil nämlich nach dem, was gesagt ist, nun daraus so etwaswie eine personelle Entscheidung herausgelesen werden könnte.

Nebenbei gesagt: Ich wäre dankbar, wenn uns mitgeteilt würde,ob auch dieser Teil der Empfehlungen eine einstimmige Empfehlungder Gremien war oder ob es nicht auch bei den Vorberatungen dieserDinge darüber unterschiedliche Meinungen gegeben hat, nämlichauch die Meinung, die ein Teil des Parteitages für richtig zu haltenscheint.

Darf ich in Kürze noch einmal folgendes sagen: Es ist schon da-rauf hingewiesen worden, der Gleichheitsgrundsatz müßte für diebesoldeten Mitglieder gelten wie für das Präsidium. Wenn man aufder einen Seite nicht die direkte Wahl durch den Parteitag mag, findeich, sollte man hier gleichziehen. Wenn man aber sagt, wir brauchenfür bestimmte Arbeitsgebiete vom Parteitag dafür ausgewählte Ge-nossen, dann hätte man den Weg konsequent gehen sollen, den manbeim Kassierer gegangen ist, und sagen sollen, so wie wir einen Ge-nossen als Kassierer wählen, wählen wir einen als Leiter unsererWirtschaftspolitik, einen als Leiter dieses Gebiets und einen als Leiterjenes Gebiets. (Sehr richtig!)

Das würde die Diskussion dann erleichtert haben.Aber, Genossen! Das Argument, das Alfred Nau als drittes vor-

trug,7 wenn man nicht so verführe, wie vorgeschlagen wird, dannwürde unter Umständen nicht die genügende Zahl von Genossen zurVerfügung stehen für hauptamtliche Tätigkeiten im Parteivorstand –das vermag mich nicht ganz zu überzeugen, und zwar aus demGrund, weil ich meine, daß es sehr wohl möglich ist, daß in demeinen oder anderen Fall wichtige Sachgebiete, Abteilungen, wenn ihrso wollt, beim Parteivorstand nicht stimmberechtigt, sondern bera-tend, angehören. (Sehr richtig! – Beifall.)

Das ist eine Art des Verfahrens, das es in der Organisation auchsonst gibt.

197 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 20. Mai 1958

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Darf ich noch zwei Bemerkungen zu den Organisationsfragenmachen. Erstens: Die Berliner Landesorganisation bleibt, obgleichsie nicht sehr viel Hoffnung hat, damit durchzudringen, bei ihrerseit Jahren immer wieder vorgetragenen Meinung, daß auf einemParteitag nur die von den Organisationen gewählten DelegiertenStimmrecht haben sollten, das, was also im Antrag 1058 drinsteht,die anderen haben sowieso durch ihr Wort mehr Gewicht. Ich binpersönlich der Meinung, daß im Grunde das Mandat eines Vor-standes erlischt, wenn ein neuer Parteitag zusammentritt, der dannerst einen neuen Vorstand wählt. Immerhin: Der Kreis derer, dieaußer den gewählten Delegierten mitstimmen, reduziert sich vonetwa 90 auf 41.9 Das begrüßen wir lebhaft. Wir würden es nochmehr begrüßen, wenn man sich darauf einigen könnte, daß die41 Genossen das Stimmrecht, wenn man das absolut für erforderlichhält, neben den gewählten Delegierten ausüben, nicht aber dasWahlrecht zu dem Gremium, für das sie überwiegend selbst kandi-dieren. (Beifall.)

Ich würde als dritten Punkt sagen wollen, daß ich in einer ge-wissen Abweichung von Max Kukil meine,10 daß ganz egal, was manüber die Landesausschüsse in das Statut hineinschreibt, die Stellungder Landesausschüsse so stark wie möglich sein sollte (Beifall), ausdem Grunde: weil diese Bundesrepublik, solange wir sie haben, nuneinmal so gegliedert ist. Und selbst wenn die Länder in der Entwick-lung etwas aufgeben von ihrer ursprünglichen Funktion, bleiben siewichtige Gliederungen, und die Sozialdemokratische Partei (Glocke)muß auf dem Wege über die Länder und über die großen Städte unddurch die Koordinierung unserer Tätigkeit in den Ländern und inden Städten manches von dem zu kompensieren suchen, was ihr anGestaltungsmöglichkeiten auf der eigentlichen Bundesebene in die-ser Runde noch immer genommen ist. (Beifall.)

Gestattet mir, Genossinnen und Genossen, eine oder zwei ab-schließende Bemerkungen: Es geht schließlich nicht um kleinlichenorganisatorischen Klatsch. Es geht darum, daß eine große Partei wiediese Vertrauen ausstrahlen muß, und dieses Vertrauen muß sichausdrücken in der Gesamttätigkeit, in der Gesamtaussage, nicht zu-

198 Redebeitrag auf dem SPD-Parteitag, 20. Mai 1958

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letzt aber auch in dem, was man auch in dieser Debatte „das Gesichtder Partei“ genannt hat.

Und zweitens: Eine große Partei wie diese – und davon zeugt dochwohl auch dieser Parteitag – muß selbstbewußt sein, über einen ge-sunden Willen zur Macht verfügen und sich durch Klarheit ihrerAussage auszeichnen, muß offen sein für alle Strömungen in dieserZeit. Kein bloßer Weltverbessererklub, sondern eine politische Partei,die die Geschicke eines Volkes, eines Staates gestalten will, die sich daszutraut, die das ausstrahlen läßt auf die Menschen in diesem Volk, undmeine Hoffnung geht dahin – trotz allem, daß wir auf diesem Parteitagund über diesen Parteitag hinaus einige Schritte auf dem Wege vor-ankommen – nicht dieser Partei wegen, sondern der Menschen undder Sache wegen, für die diese Partei steht. (Starker Beifall.)

Nr. 22Aus dem Protokoll der Sitzung des Parteivorstands der SPD24. April 19591

AdsD, SPD-Parteivorstand, Parteivorstandsprotokolle April 1959.

[. . .]

Deutschlandplan

[. . .]Brandt: erklärt, dass auch er Bedenken zum Plan habe,2 die aber nichtdie von Paul Hertz seien. Paul Hertz habe auch nur in einer internenParteiveranstaltung gesprochen und sei für die Veröffentlichungnicht verantwortlich. In Berlin sei man bemüht, keine Differenzen inder Partei aufkommen zu lassen. Verschiedene Resolutionen derKreise zum Deutschlandplan sind daher abgeriegelt worden. Am18.3.[1959] habe er per Fernschreiben Erich Ollenhauer gebeten, dassGünter Klein in seiner Vertretung einige Berliner Gesichtspunktedem PV vortragen dürfe. Das wurde nicht zugestanden. – Nicht klar

199 Sitzung des PV, 24. April 1959

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sei ihm, warum der Plan zu diesem Zeitpunkt unbedingt heraus-kommen musste, zumal am selben Tage Carlo Schmid und Fritz Erlermit einiger Erschütterung von Moskau zurückgekommen waren.3

Zudem hätte durch den Stuttgarter Parteitagsbeschluss auch die An-hörung des PR zwingend sein müssen. Er selbst hätte damals, wenn ernicht verhindert gewesen wäre, auch zum Inhalt einige Bedenkenvorzubringen gehabt. Sehr anspruchsvoll scheinen ihm die Titel: ,DerDeutschlandplan bringt die Wiedervereinigung‘, ,Rettet Berlin‘.4

Die Formulierungen zum Berlinprogramm entsprechen seinerAuffassung.5 Aber auch nach den Erläuterungen durch die Broschüre,die viele Angriffsflächen abbaut, bleibt eine einseitige Stossrichtungmit den Hinweisen auf die Versäumnisse des Westens. Diplomati-sche Noten sind nur ein Teil der Wirklichkeit, die reale Welt desUlbricht ist aber ein anderer Teil. In der Partei gibt es Stimmungen,die vom Anti-Adenauer- und Anti-Amerikanismuskomplex zu einerwohlwollenden Betrachtung der Sowjetunion kommen.

Nr. 23Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt,an den ehemaligen militärischen Berater des SPD-Partei-vorstands und der Bundestagsfraktion, Beermann16. Juli 1959

AdsD,WBA, A 6, 22 (alt).

Lieber Fritz Beermann,ich hoffe, daß Du gut in den USA angekommen bist und daß es Dirdort gefällt. Die Umstellung wird vermutlich nicht einfach sein, aberich glaube, es ist eine gute Sache, daß Du dieses Jahr zwischen-schalten konntest, um dann – wie ich hoffe – an maßgebender Stellein der Bundeswehr mitzuarbeiten.1

Hier bzw. in Bonn ist mancherlei im Gange. Mommer hat nichtlocker gelassen, wobei man allerdings darüber streiten kann, ob erden taktischen Erfordernissen immer genügend Rechnung trägt. In

200 Brandt an Beermann, 16. Juli 1959

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der vorigen Woche hat Erich Ollenhauer, wie Du wissen wirst, dieerwartete Erklärung abgegeben, daß er nicht mehr für eine staatlicheSpitzenfunktion kandidieren werde.2 Es ist ein Ausschuß aus dreiLandesfürsten (Zinn, Brauer, Brandt) und drei Mitgliedern der Frak-tion (Schmid, Erler, Deist) gebildet worden, der gemeinsam mit demVorsitzenden über die personell und sachlich zu fällenden Ent-scheidungen beraten soll.3

So sehr ich es begrüße, daß bestimmte Dinge in Fluß geraten, sosehr bereitet es mir natürlich auch Sorgen, daß ich mich neben mei-ner Berliner Aufgabe in zunehmenden Maße für westdeutsche Dingeinteressieren muß. Trotzdem wird die Berliner Aufgabe zunächst an-deren Erwägungen vorangestellt werden müssen. Ich vermute, wirwerden hier heil durch die Krise4 hindurchkommen. Aber ent-scheidende Fragen werden eben doch nicht gelöst, sondern es wirdihre Beantwortung hinausgeschoben.Mit allen guten Wünschen und herzlichen GrüßenDein

Nr. 24Aus dem Schreiben des Mitglieds des SPD-ParteivorstandsBrandt an den Vorsitzenden der SPD, Ollenhauer17. Juli 1959

AdsD,WBA, A 6, 20 (alt).

Lieber Erich,da ich wegen meines Urlaubs an der Vorstandssitzung am Dienstagnicht teilnehmen kann, möchte ich nachstehend einige Gesichts-punkte zu dem neuen Programmentwurf zu Papier bringen.1 Nachder Aussprache in der letzten Vorstandssitzung sehe ich ein, daß derernste Versuch gemacht werden muß, auf dem außerordentlichenParteitag zu einer Verabschiedung des Programms zu kommen. Um

201 Brandt an Ollenhauer, 17. Juli 1959

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so mehr bedauere ich es, an der Beratung im Vorstand nicht teil-nehmen zu können und auch diese meine schriftliche Äußerung un-ter einem gewissen Zeitdruck vornehmen zu müssen.

Zunächst sind es drei Hauptpunkte, auf die ich gern hingewiesenhätte:

I. Es sollte überlegt werden, in den einleitenden Abschnitt jeneGedanken aufzunehmen, die in der „Berliner Präambel“ des Aktions-programms einen recht guten Niederschlag gefunden haben.2

II. Für wichtig halte ich es, daß die Erfolge der Sozialdemokratiebzw. des demokratischen Sozialismus klarer und stärker herausgestelltwerden. Eine Formulierung zu diesem Gegenstand könnte eine we-sentlich klärende Bedeutung haben. Hierbei käme es vor allem daraufan, der jungen Generation zu zeigen, daß sich eine Bewegung an siewendet, die nicht nur wie schon vor Jahrzehnten Zielvorstellungenproklamiert, sondern die in einem gewiß nicht einfachen oder gar wi-derspruchslosen Prozeß der gesellschaftlichen Umformung doch schonin gedanklicher undgestaltender Hinsicht einiges zu leisten vermochte.

Das Thema ist im 3. Absatz auf Seite 3 angeschnitten.3 MeinerMeinung sollte darauf hingewiesen werden, was sozialdemokratischgeführte Regierungen geleistet haben (z. B. demokratisch-soziale Um-gestaltung in den skandinavischen Ländern, neue Politik gegenüberden Kolonialvölkern unter Führung einer Labourregierung). Viel-leicht sollte auch von dem Einfluß demokratisch-sozialistischer Ideenin Asien, Afrika und in anderen Teilen der Welt die Rede sein. Es kämewohl mit auf den Hinweis an, daß manches von dem, was ur-sprünglich von den Sozialdemokraten allein vertreten wurde, mitt-lerweile zum Bestandteil oder zumindest zum Diskussionsgegenstandpraktischer Politik in weiten Teilen der Welt geworden ist.

In dem Referat, das Oskar Pollak in Hamburg hielt,4 sind einigeGesichtspunkte enthalten, die für eine Formulierung dieses Ab-schnitts herangezogen werden könnten.

Hierbei taucht dann natürlich auch die Frage auf, was zur Ent-wicklung und Leistung der deutschen Sozialdemokratie gesagt wer-den sollte. Ich wäre dafür, daß folgende vier Etappen zumindest an-gedeutet würden:

202 Brandt an Ollenhauer, 17. Juli 1959

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a) historische Leistung der Arbeiterbewegung vor dem 1. Weltkrieg,b) der Gestaltungsversuch von Weimar und sein Scheitern,c) Frontstellung gegen Nazismus und neue totalitäre Bedrohung,d) entscheidende Beiträge zum deutschen Wiederaufbau.

III. Die grundsätzliche Abgrenzung vom Kommunismus solltenicht im Schlußkapitel vorgenommen werden.5 Wie die Dinge nuneinmal liegen, und keineswegs nur unter dem taktischen Gesichts-punkt der Wirkung nach außen, erfordert dieser Gegenstand ein ei-genes Kapitel, das ziemlich vornheran stehen muß. Hierbei sollteklar gemacht werden, daß wir nicht „Wanderer zwischen den Wel-ten“ sind und daß wir nicht eine geometrische Mitte zwischen „Ka-pitalismus“ und „Kommunismus“ suchen, sondern daß wir an un-terschiedlichen Fronten mit unterschiedlichen Mitteln kämpfen.[. . .]6

Mit den besten GrüßenDein

Nr. 25Artikel des Vorsitzenden des Landesverbandes der SPD Berlin,Brandt, für die Berliner Stimme12. September 1959

Berliner Stimme vom 12. September 1959, S. 1.

Gedanken zum Grundsatzprogramm

Die heutige Ausgabe dieser Zeitung enthält den neuen Entwurf fürein Grundsatzprogramm,1 das der Vorstand der SPD dem Außer-ordentlichen Parteitag in Godesberg2 als Antrag vorlegen wird. Soumständlich muß man den Tatbestand ausdrücken; denn nach einerKette von Entwürfen, Hunderten von Anträgen und einem gutenDutzend Kommissionssitzungen konnte es erst zu diesem neuenVorschlag des Vorstandes kommen.

203 Artikel für die Berliner Stimme, 12. Sept. 1959

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Dieser etwas mühselige und dem Außenstehenden vielleichtverwunderliche Weg zeugt von dem Ernst, den man der Sache ge-widmet hat, und gibt vielleicht auch denen recht, die von vornhereinmit einer großen Skepsis dem Versuch gegenüberstehen, haltbareGrundsätze für eine politische Partei in dieser sich wandelnden Weltformulieren zu wollen.

Ich erinnere mich einiger Gespräche mit Kurt Schumacher, der,als zu seinen Lebzeiten die Diskussion um ein neues Grundsatz-programm der Partei begann, von den gleichen Bedenken erfüllt war,in diesem geteilten Lande und angesichts der uns umgebenden welt-politischen und technisch-wissenschaftlichen Wandlungsprozessedie Grundsätze des demokratischen Sozialismus neu fixieren zu wol-len.3

Aus der gleichen Zurückhaltung war ja auch der vom Landes-parteitag der Berliner Sozialdemokratie gefaßte Beschluß, auf eineVertagung von Godesberg hinzuwirken, zu verstehen.4 Die großeMehrheit der Partei hat sich, soweit man es übersehen kann, diesenBedenken nicht angeschlossen. Es wird mit sehr großer Wahr-scheinlichkeit in Bad Godesberg zu einer Beschlußfassung über dasGrundsatzprogramm kommen.

Wir Berliner Sozialdemokraten sollten uns an der Diskussionund dieser Beschlußfassung aktiv beteiligen. Auch der Skeptikersollte seinen Beitrag dazu leisten, daß, wenn Grundsätze für unsereArbeit formuliert werden, sie klar und nüchtern und unmißver-ständlich zum Ausdruck kommen. Als einer, der an der Vorbereitungdes vorliegenden Entwurfs im Parteivorstand beteiligt war,5 darf ichheute zum Inhalt des Programms folgendes sagen:

Gegenüber dem Vorschlag, der dem Stuttgarter Parteitag vor-gelegen hat,6 ist der neue Entwurf wesentlich gestrafft und von jenenEinzelfragen befreit, die nicht in ein Grundsatzprogramm, sondern indas Aktionsprogramm gehören. Der Aufbau ist klar und vernünftiggegliedert. Er hält sich frei von Utopien und grenzt die Grundwerte,von denen er ausgeht, deutlich ab von den letzten Bindungen desGewissens des einzelnen, die ihm seine Religion oder Weltan-schauung bieten können.

204 Artikel für die Berliner Stimme, 12. Sept. 1959

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Sicher wird es zu einigen Hauptfragen noch erhebliche Dis-kussionen geben. Das Kapitel über die Wirtschaftsordnung ist ent-scheidend an dem Gedanken der Kontrolle wirtschaftlicher Machtorientiert und kennt die Überführung von Privat- in Gemeineigen-tum keineswegs mehr als Allheilmittel für die Krankheiten unsererGesellschaft. Ebenso wird bei dem Kapitel über die Sozialordnung dieDiskussion über die schmale Grenze zwischen sozialem Rechtsstaatund Versorgungsstaat noch einmal aufleben.

Zum Problem der Landesverteidigung bringt der Entwurf einewesentliche Klärung. In der Auseinandersetzung mit der totalitärenBedrohung und anderen freiheitsgefährdenden Mächten ist die Aus-sage unmißverständlich.

Im ganzen zeigt das Programm die Züge eines modernen, fort-schrittlichen demokratischen Sozialismus, der seine eigene Ge-schichte gewiß nicht verleugnet, aber aus den bitteren Erfahrungenund auch den Irrtümern der letzten Jahrzehnte gelernt hat. Darumkann er auch der Grundriß für die Ordnung sein, die wir uns für einwiedervereinigtes Deutschland vorstellen.

Diese Ordnung muß frei sein von den Schrecken des menschen-verachtenden Totalitarismus. Sie kann aber auch nicht geschaffenwerden mit jenen Kräften, die mit ihren Vorstellungen noch immertief im 19. Jahrhundert leben.

205 Artikel für die Berliner Stimme, 12. Sept. 1959

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Nr. 26Redebeitrag des Mitglieds des SPD-Parteivorstands Brandtauf dem Außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg13. November 1959

Protokoll der Verhandlungen des Außerordentlichen Parteitages derSozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13.–15. November 1959 inBad Godesberg, Hannover-Bonn o. J., S. 74–77.

(Mit lebhaftem Beifall begrüßt) Liebe Genossinnen und Ge-nossen! Ich habe zu denen gehört, die ursprünglich Bedenken gegendie Verabschiedung des Programms zu diesem Zeitpunkt hatten.1

Drei Gründe haben mich veranlaßt, zusammen mit dem ganz über-wiegenden Teil der Berliner Parteiorganisation für die Verabschie-dung auf dieser Grundlage einzutreten.

Erstens. Es ist eine im ganzen und im wesentlichen zeitgemäßeAussage, die uns in unserer Arbeit helfen wird und die es unserenGegnern schwerer machen wird, sich mit einem Zerrbild statt mit derWirklichkeit der deutschen Sozialdemokratie auseinanderzusetzen.(Beifall)

Zweitens. Es ist ein Programm, das die deutsche Sozial-demokratie nach den bitteren, noch immer nicht abgeschlossenenErfahrungen mit dem Totalitarismus darstellt als eine kämpferischdemokratische Freiheitsbewegung in dieser Zeit, eine Partei, dieden Mut hat und über die Kraft verfügt, als das zu erscheinen, wassie ist.

Und drittens. Es ist, so meine ich, ein Programm, das in seinerGesamtaussage noch klarer als bisher – wobei wir uns ja im Laufe dernächsten drei Tage noch über eine Fülle von Einzelfragen unter-halten werden – unseren Standort bestimmt, wo es sich um die ent-scheidend wichtigen Fragen unserer Stellung zum Staat und im Staateinschließlich der bewaffneten Macht, unseres Verhältnisses zu denKirchen und unserer Beurteilung dessen handelt, was angesichts desWandlungsprozesses der Wirtschaft erforderlich ist. In diesem Sinne

206 Redebeitrag auf dem a.o. SPD-Parteitag, 13. Nov. 1959

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Redenotizen Willy Brandts für den Godesberger Parteitag 1959

207 Redebeitrag auf dem a.o. SPD-Parteitag, 13. Nov. 1959

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wird uns das Programm in unserer täglichen Arbeit zusätzliche Kraftvermitteln.

In der Debatte der hinter uns liegenden Wochen ist u. a. auch dieFrage aufgeworfen worden, ob wir nicht warten sollten, bis wir dieWiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erreichthätten. Erich Ollenhauer hat heute morgen darauf schon eine Ant-wort gegeben.2 Er hat bei dieser Gelegenheit auch ein Wort des Gru-ßes an unsere Freunde in der Zone und an die Freunde in Berlin, fürdie ich sprechen darf, gerichtet. Ich bin ihm dafür dankbar. Ichmöchte darauf mit einem Wort des Dankes der Berliner Sozial-demokraten und des Volkes von Berlin antworten, des Dankes für alldas, was diese große deutsche Sozialdemokratie in den hinter unsliegenden Jahren für den am schwersten bedrängten Teil des freienDeutschlands getan hat. Wir wären manchmal viel mehr verlassengewesen, als wir es gewesen sind, wenn wir nicht gewußt hätten: Esgab immer einen treuen Verbündeten der bedrängten und doch le-benserfüllten deutschen Hauptstadt, und das war die deutsche So-zialdemokratie. (Beifall)

Aber, liebe Genossinnen und Genossen, ich möchte doch nochfolgendes zu diesem Argument „Laßt uns warten bis zur Einheit!“sagen. Wenn wir alle anderen Probleme bewältigen, die mit der Ein-heit Deutschlands verbunden sind, werden wir es auch noch schaf-fen, uns auf ein Programm für die Sozialdemokratie im ganzenDeutschland zu verständigen und das heutige Programm bei allemRespekt vor ihm als Zwischendokument zu den Akten, den ge-wichtigen Akten der Partei zu nehmen.

Im übrigen gilt für die Partei wie für das Ganze, was im Pro-grammentwurf selbst steht, nämlich: Erst in einem wieder-vereinigten Deutschland wird das ganze Volk in freier Selbst-bestimmung Inhalt und Form von Staat und Gesellschaft gestaltenkönnen. Heute können hier in dieser Aussprache keine Einzelfragender Wiedervereinigungspolitik erörtert werden, obgleich sicherlichin unseren Reihen weitgehend Klarheit darüber besteht, daß wir dieErfahrungen nicht nur der letzten Jahre, sondern gerade auch derletzten Monate werden zu verarbeiten haben, werden wir unsere

208 Redebeitrag auf dem a.o. SPD-Parteitag, 13. Nov. 1959

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weiteren Beiträge zum Ausweg aus einer fast hoffnungslos er-scheinenden Situation zu unterbreiten haben.

Worauf es ankommt, ist dies: Es gibt keine absolut auswegloseSituation. Hitler mußte nicht an die Macht kommen, die SpaltungDeutschlands mußte nicht versteinert werden, und in der Bundes-republik muß sich nicht ein pervertiertes Kaiser-Wilhelm-Denkendurchsetzen. (Beifall)

Das Thema der Wiedervereinigung, das Thema unseres Stand-orts im willkürlich gespaltenen Deutschland wird im Programment-wurf unmißverständlich behandelt. Vielleicht kann die Redaktions-kommission noch die eine oder andere Unterstreichung vornehmen.Vielleicht kann sie unter anderem noch zusätzlich klarmachen, daßdie deutsche Sozialdemokratie auch dort weiterlebt, wo sie gewalt-sam unterdrückt wird.

Aber ich möchte im Rahmen der allgemeinen Aussprache dochfeststellen dürfen, welche Grundsätze zur deutschen Frage, zum Le-bensrecht und zur Selbstbehauptung unseres widernatürlich ausein-andergerissenen Volkes im Programm niedergelegt sind. Wir bezie-hen uns erstens auf das Grundgesetz und stellen fest, daß wir in sei-nem Sinn die Einheit Deutschlands in gesicherter Freiheit erstreben.Wir sagen zweitens, daß die Spaltung Deutschlands einerseits denFrieden bedroht, daß zum andern ihre Überwindung für das deutscheVolk lebensnotwendig ist.

Wir müssen diese Aussage im Zusammenhang mit dem sehen,was in den Abschnitten über die Grundwerte und Grundforderungenausgesagt wird, nämlich daß Freiheit und Gerechtigkeit einander be-dingen, daß alle Völker sich einer internationalen Rechtsordnungunterwerfen, daß alle Völker die gleiche Chance haben müssen. Dasgilt auch für dieses Volk, in dessen mißbrauchtem Namen anderenVölkern schreckliches Unrecht zugefügt worden ist, dem aber auchselbst Unrecht zugefügt wurde. Wir müssen diese Aussage des Pro-gramms zur Wiedervereinigung auch im Zusammenhang mit demsehen, was im Abschnitt über die internationale Gemeinschaft abge-handelt wird. Dort bekennen wir uns, wenn wir dieses Programmannehmen, im Sinne alter sozialistischer und demokratischer

209 Redebeitrag auf dem a.o. SPD-Parteitag, 13. Nov. 1959

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Grundgedanken zum Selbstbestimmungsrecht und zur Gleich-berechtigung aller Völker. Wir setzen uns ein für ein Volksgruppen-recht, das in Einklang mit den von den Vereinten Nationen ver-kündeten Menschenrechten steht. Mit anderen Worten, dieses Volk,in dem wir leben und für das wir politisch wirken, hat ein Recht, dieSelbstbestimmung auch für sich in Anspruch zu nehmen, hat einRecht sich leidenschaftlich dagegen aufzulehnen, daß in diesem Teilder Welt eine neue Art von Kolonialismus errichtet wird, währenddie Zeit der Kolonialherrschaft in anderen Teilen der Welt zu Endegeht. (Beifall)

Wir dienen unseren heimatvertriebenen Landsleuten nicht mitleichtfertigen Versprechungen und forschen Appellen. Wir tretennicht in Konkurrenz mit den Kräften, die Königsberg und Breslau iminnerpolitischen Machtkampf mißbrauchen (Beifall) und die er-staunlich schweigsam sind, wenn befreundete Regierungen andererLänder über Grenzfragen entscheiden, über die auf Grund inter-nationaler Abkommen erst auf einer Friedenskonferenz entschiedenwerden kann. (Lebhafter Beifall)

Liebe Genossinnen und Genossen! Wir bleiben dabei, so meineich, daß wir erstens alles tun wollen, um die deutschen Menschendort, wo sie heute leben, zusammenzuführen, und daß wir zweitensjede nur mögliche Anstrengung machen wollen, um zu möglichstgerechten Grenzen zu gelangen, das Heimatrecht und ein demo-kratisches Volksgruppenrecht zu Bestandteilen der internationalenRechtsordnung werden zu lassen. Vor allem aber wollen wir, obwohlwir diesmal in Godesberg – das wir alle schätzen – tagen, uns nichtgeistig und politisch eingraben am linken Ufer des Rheins, auchnicht westlich der Elbe und der Werra. Wir wirken in diesem TeilDeutschlands, aber wir kämpfen für das ganze Deutschland. (Beifall)

Wir wollen mit unverbrauchter Energie, über die dieser Flügelder deutschen Politik verfügt, die politische Führung des Staatesübernehmen, und wir werden sie übernehmen. In uns wird lebendigsein und bleiben, was der deutsche Osten uns geistig, was er uns auchmenschlich gegeben hat. Dazu gehört auch ein stolzes Kapitel deut-scher Arbeiterbewegung. (Lebhafter Beifall)

210 Redebeitrag auf dem a.o. SPD-Parteitag, 13. Nov. 1959

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Nr. 27Schreiben des Vorsitzenden des Landesverbandes der SPD Berlin,Brandt, an den ehemaligen militärischen Berater des SPD-Parteivorstands und der Bundestagsfraktion, Beermann14. März 1960

AdsD,WBA, A 6, 26 (alt).

Lieber Fritz Beermann,Deine Briefe vom 24.7. und 29.8. [1959] vergangenen Jahres sind hierunbeantwortet liegengeblieben.1 Aber Du wirst Dir vorstellen kön-nen, daß ich nur im geringen Maße dazu komme, meine Korrespon-denzschulden fristgerecht abzuarbeiten. Nun sagte mir AnnedoreLeber, daß sie dieser Tage mit Dir zusammentreffen werde. Sie kannDir dann im einzelnen über unsere Berliner Sorgen berichten. Solltedieser Brief vor ihr da sein, bitte ich, meine besten Grüße zu über-mitteln.

Was Dein unmittelbares Arbeitsgebiet angeht, so wird Dir nichtentgangen sein, daß mit dem Godesberger Programm ein nicht un-wesentlicher Fortschritt erzielt wurde. Es ist allerdings fraglich, obdas für die Auseinandersetzungen im nächstjährigen Wahlkampfausreichen wird. Für das Manifest,2 das wir auf dem Parteitag im No-vember vorlegen wollen und über das ich mir vorbereitend Ge-danken mache, möchte ich allerdings auf eine Behandlung derWehrfragen ganz verzichten.

In Hannover wird es sich nicht nur darum handeln, daß einepolitische Plattform unterbreitet wird (Schwergewicht: Zwang zurGemeinsamkeit der tragenden politischen Kräfte!), sondern es wirdauch die Regierungsmannschaft zu bestätigen sein. Erich Ollenhauerhat kürzlich im Parteirat verkündet, daß die „Mannschaft“ von Carlo[Schmid] oder mir anzuführen sein würde.3 Ich bin von dieser Aus-sicht nicht sonderlich begeistert, zumal ich nicht weiß, wie weit wirmit den drückenden Berliner Sorgen fertig sein werden. Andererseitshandelt es sich natürlich nicht um persönliche Interessen, sondern

211 Brandt an Beermann, 14. März 1960

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um eine Entscheidung, die die Partei unter dem Gesichtspunkt desgrößtmöglichen Effekts zu fällen haben wird.Mit herzlichen GrüßenDein

Nr. 28Schreiben des Mitglieds des SPD-Parteivorstands Brandtan das Mitglied des SPD-Parteivorstands Schmidt30. Mai 19601

AdsD,WBA, A 6, 24 (alt).

Lieber Helmut,ich habe mich sehr darüber gefreut, daß Du mir Deine Unterstützungvor allem auf militärisch-politischem Gebiet zugesagt hast. Ganz soahnungslos, wie ich es Dir geschildert habe, bin ich natürlich nicht.Ich versuche, die internationale Debatte zu verfolgen und habe auchvon unserem Freund Beermann manchen nützlichen Hinweis be-kommen.2 Aber es fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im einzelnenund an solider Untermauerung dessen, was dann vielleicht meistensnur in Form allgemeiner Wendungen wird ausgesagt werden kön-nen.

Mir wäre sehr damit geholfen, wenn Du bis zum Herbst ein „po-licy paper“3 ausarbeiten würdest, auf das man sich dann bei Stel-lungnahmen stützen könnte und das gegebenenfalls in den folgen-den Monaten zu ergänzen wäre, falls sich wesentliche Verände-rungen ergeben.

Unabhängig davon – beziehungsweise zuvor – läge mir an einerkurzen Äußerung dazu, ob und wie die Sicherheitsfrage in jenem„Manifest“ zu behandeln wäre, das wir für den Parteitag im Novem-ber vorbereiten.4 Es soll sich dabei um ein Dokument von nur zweibis drei Schreibmaschinenseiten handeln, so daß man in keinerlei

212 Brandt an H. Schmidt, 30. Mai 1960

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Einzelheiten einsteigen kann und wohl in erster Linie eine positiveFormulierung finden muß, die es dem Gegner schwer macht, uns inden falschen Stall zu treiben.

Für die Zeitschrift „Außenpolitik“ möchte ich zum Herbst einenArtikel vorbereiten, in dem ich mich zusammenhängend über meineaußenpolitischen Vorstellungen äußern will.5 Die Zeitschrift selbstist nicht furchtbar wichtig, aber man kann das, was dort gedrucktwird, natürlich auch anderswo verwerten. Mir schwebt vor, daß ichmich in erster Linie mit den neuen Faktoren und mit den Wand-lungen befasse, die sich seit 1950 beziehungsweise seit der Verab-schiedung der Westverträge ergeben haben. Die Sicherheitsfragenwerden nicht im Mittelpunkt dieses Artikels stehen können, aber ichsollte sie wohl auch nicht umgehen. Deshalb wäre mir auch hierzuDein Rat sehr willkommen.Herzliche GrüßeDein

PS: Meine größte Sorge im Augenblick ist die für den 30.6.[1960]vorgesehene außenpolitische Debatte. Du mußt mir helfen zu ver-hüten, daß dort mehr Porzellan zerschlagen wird als unbedingt nötigist.6

213 Brandt an H. Schmidt, 30. Mai 1960

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Nr. 29Hs. Vorlage für das Telegramm des Mitglieds des SPD-Parteivorstands Brandt an den stellvertretenden Vorsitzendender SPD Wehner30. Juni 19601

AdsD,WBA, A 6, Korrespondenz (alt).

Zu Deiner grossartigen Rede möchte ich Dich herzlich beglück-wünschen und Dir meinen freundschaftlichen Dank sagen. Du hastder gemeinsamen Sache einen bedeutenden Dienst erwiesen.2

W[illy]B[randt]

Entwurf des Telegramms von Willy Brandt an Herbert Wehner vom30. Juni 1960

214 Brandt an Wehner, 30. Juni 1960

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Nr. 30Aus dem Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin,Brandt, an das geschäftsführende Präsidialmitglied desDeutschen Städtetages, Ziebill14. Juli 1960

AdsD,WBA, A 6, 24 (alt).

Lieber Otto Ziebill,Dein Brief vom 7. Juni1 [1960] ist bisher unbeantwortet geblieben. Esstimmt, daß die Spaltung unserer Studentenbewegung hier in Berlinbesondere Probleme aufgeworfen hat.2 Es unterliegt auch keinemZweifel, daß im hiesigen SDS wertvolle Kräfte stecken, die der Parteinicht verloren gehen dürften. Andererseits sagt man mir, daß der PVüber Unterlagen verfüge, die ihn zu einem noch klareren Tren-nungsstrich gegenüber dem SDS veranlassen würden. Hierüber sollam kommenden Dienstag in Bonn entschieden werden.3 Daranwerde ich allerdings nicht mitwirken können, da ich morgen meinenJahresurlaub antrete.[. . .]Mit herzlichen GrüßenDein

215 Brandt an Ziebill, 14. Juli 1960

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Nr. 31Rede des Mitglieds des SPD-Parteivorstands Brandtvor dem Parteirat der SPD24. August 19601

Vorwärts vom 2. September 1960, S. 1 f.

Das politische Leitbild

Die Rede des Kanzlerkandidaten vor dem Parteirat der SPD

Ich habe zunächst Dank zu sagen an Erich Ollenhauer, an den Par-teivorstand und Parteirat für das Vertrauen, das sich aus dem Vor-schlag und durch die Abstimmung hier ausdrückt, und ich darf denDank für Carlo Schmid2 und alle Mitglieder der Mannschaft3 mitaussprechen. Ich darf in Anlehnung an das, was heute hier schon ge-sagt worden ist, hinzufügen:

Das Nominieren eines Kanzlerkandidaten und einer Mannschaftmuß als mehr aufgefaßt werden als nur als eine Wahl mit propagan-distischen Absichten oder als eine Propagandamaßnahme. Es handeltsich auch um mehr als die persönliche oder zeitgemäße Darstellungdessen, was wir politisch vertreten wollen. Es muß als Ausdruck un-serer Entschlossenheit empfunden werden, unseren Willen zu be-kunden, alle Energien, die in unserer Partei stecken, zu entwickelnund alle unverbrauchte Kraft für das deutsche Volk auf den einenentscheidenden Punkt zu konzentrieren, das heißt: Nicht nur einbißchen mehr Erfolg, nicht nur Gewinn, sondern Sieg im Herbst1961.

Man hat von der Mannschaft als von einer Visitenkarte der Par-tei gesprochen. Ich habe nichts gegen diese Bezeichnung. Man kannvon einer Mannschaft von einem Ausdruck eines politischen Leit-bildes sprechen, mit dem die Partei in den Wahlkampf eintreten will.Das soll diese Mannschaft sein. Sie ist nicht einfach eine Regie-rungsmannschaft. Mir liegt daran, auch zu sagen, daß es mehrerehervorragende Persönlichkeiten aus der sozialdemokratischen Poli-

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Willy Brandt im Gespräch mit Klaus Schütz am Rande des SPD-Partei-tages im November 1960

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tik gibt, auf die eine sozialdemokratisch geführte Regierung nichtwürde verzichten können, auch wenn diese Persönlichkeiten jetztnicht in der Mannschaft sind.

Es kann nicht die Aufgabe der Mannschaft sein, an sich Auf-gaben heranzuziehen, die nicht nur den Statuten entsprechend, son-dern auch nach dem Wesen und dem Aufbau der Partei Aufgaben derParteiführung sind. Die Aufgabe, die vor uns liegt, wird nur in sehrengem, vertrauensvollem Zusammenwirken zwischen Parteiführungund Mannschaft zu lösen sein, allerdings auch bei klarer Abgrenzungder Verantwortlichkeiten und bei einer Arbeitsteilung, die sich unsaufzwingen wird. Ich bekenne mich zu der Verantwortung in dop-pelter Hinsicht: Einmal gegenüber der politischen Gemeinschaft, indie wir eingebettet sind, und zum anderen gegenüber der verfas-sungsgemäßen Ordnung, der wir gegenübergestellt sind, in die wireingefügt sind und die uns Verantwortlichkeiten auferlegt, die nie-mand uns abnehmen kann. Wenn uns die große Anstrengung desnächsten Jahres gelingt, und ich bin überzeugt, daß sie uns gelingenkann und gelingen wird, dann wird es sich nicht darum handeln, daßeine Regierung der Sozialdemokratischen Partei, sondern eine neueRegierung des deutschen Volkes und für das deutsche Volk entsteht.

Die Dinge, die vor uns liegen – ich glaube, ich habe eini-germaßen reale Vorstellungen davon –, werden uns eine Reihe vonAnfeindungen einbringen.4 Anfeindungen der Person und der Partei.Ich habe mit den Freunden gesprochen, ob ich der Partei zumutendarf, solche Anfeindungen auch auf sie beziehen zu lassen, dennmein Lebensweg war eben nicht einfach. Aber ich habe meine Bücheroffengelegt. Das wird gewiß nicht alle daran hindern, der Partei undmir Vorwürfe zuzumuten. Wir müssen wissen, daß der Versuch, unsgegeneinander auszuspielen, bereits begonnen hat, aber erst am An-fang ist, und daß noch viele Anfeindungen kommen werden. Das,was einem gestern mit einer besonderen Plusnote angerechnetwurde, soll einen heute zum Dummerjahn machen.

Ich darf auch offen sagen, ich habe mich fragen müssen: Kannich diese Kandidatur Berlins wegen annehmen. Von einer einfachenMitbürgerin aus Berlin habe ich einen Brief bekommen. Sie hat, wie

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viele, mich beschworen: „Lassen Sie uns hier nicht im Stich“. Es gibtechte Sorgen und nicht nur Leute, die jemanden festloben wollen.Mein Freund, der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Landesvor-sitzender der CDU in Berlin,5 hat es für völlig selbstverständlich ge-halten und wir haben es ihm nicht übel genommen, daß er als Bun-desminister Ende 1954 in die Auseinandersetzungen eingestiegen ist,wer Regierungschef in Berlin wird. Das ist sein gutes Recht und wirwollen es ihm nicht beschneiden. Aber der gleiche Bundesministermeint, es sei unstatthaft, daß ein Chef einer Landesregierung in dembesonderem Falle Berlins für das Kanzleramt kandidiert und sich indas Geschäft hineinbegibt der Auseinandersetzung mit dem ver-dienten bisherigen Bundeskanzler.

Ich konnte, soweit es Berlin angeht, die Kandidatur nur an-nehmen, weil ich davon überzeugt bin, daß neue Impulse der deut-schen Politik im Ringen um unsere staatliche Einheit auch Berlinhelfen werden. Berlin wird nicht allein gelassen, sondern der größereTeil des freien Deutschlands wird mit dem gefährdeten Teil des freienDeutschlands noch enger verbunden werden. Berlin ist ein Glied inder Kette im Ringen um die deutsche Frage. Alle guten Kräfte in derdeutschen Politik werden diesen entscheidenden Punkt, die FreiheitBerlins, zusammengefaßt im Auge haben. Das ist für mich aus-schlaggebend.

Wenn wir uns anschauen, was sich in den letzten drei Jahren beiden Landtags- und Gemeindewahlen abgespielt hat, wenn wir uns dieMeinungsbefragungen ansehen, die öffentlichen und die anderen, dienicht bekanntgemacht worden sind, dann wissen wir, welche be-trächtlichen Chancen wir haben. Die Frage an uns ist, ob wir dieseChance von diesem Tage an nutzen wollen.

Es ist meine Überzeugung, daß wir von heute an eine Aufgabe zuerfüllen haben, die allen anderen Aufgaben dieser Partei, so wichtigsie sein mögen, vorgeordnet und übergeordnet sein muß. Jede Politikist ein Sichbesinnen auf eine Rangordnung, ein Sichverständigenüber Prioritäten, ein Sichverständigen darüber, welche Punkte jetztund heute wichtig und welche grundsätzlich und bedeutungsvoll inder allgemeinen Politik sind.

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Wir müssen uns auf das Wesentliche und auf die jeweils näch-sten Schritte konzentrieren und das Ressortdenken und das allzuenge Stoffdenken in manchen Fragen zurückstellen. Es hat in Teilender Partei eine Auffassung gegeben, daß man kommunal- und bun-despolitische Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Gewich-ten durchzustehen habe. Bei regionalen oder kommunalen Ausein-andersetzungen geht es um etwas, was recht unmittelbare Ziele an-geht, und dann, so sagt man, gibt es noch Dinge, die „die da in Bonn“erledigen. Aber gerade die Energien, die wir in den Städten, Gemein-den und Ländern aufwenden, müssen jetzt auch in der Bundes-republik und für die bundespolitische Auseinandersetzung mit ein-gesetzt werden. Wir haben nichts zu verheimlichen, müssen uns nurdaran erinnern, daß Manöverkritik am besten nach dem Manöverstattfindet. Das hat nichts mit Opportunismus zu tun.Wir haben erstkürzlich in unserem Programm unsere grundsätzlichen Über-zeugungen festgehalten. Die Bewährung einer politischen Partei hataber in ihrem Ringen um die politische Macht zu erfolgen. Unserengrundsätzlichen Zielen dienen wir alle am besten dadurch, daß wirpolitisch Einfluß gewinnen. Das geschieht nicht um der Partei, son-dern um der Sache willen, wie wir sie sehen. Wo wir Chancen unge-nutzt lassen, dienen wir unseren Zielen nicht. Das ist keine Politikbequemer Anpassung, sondern das Gegenteil. Es ist der Versuch einerkämpferischen Politik.

Nach meiner Überzeugung können wir als Ausgangsposition fürunsere politische Arbeit drei Punkte festhalten, die zeigen, daß wirdie gute Kraft in unserem Volk kennen und alle Kräfte für einesachliche Politik und einen Ausgleich zusammenführen wollen:6

1. Es darf in unserem Volk kein Zweifel darüber bestehen, daßdie Regierung, die die SPD stellen wird, dieses Land fest in der west-lichen Gemeinschaft läßt, in der westlichen Gemeinschaft und in denSicherheitssystemen, so unzulänglich sie sein mögen, in die wir hin-eingestellt sind. Das deutsche Volk kann sich darauf verlassen, daßwir ihm jeden nur denkbaren Schutz vor dem Kommunismus bieten,aber auch alle Kräfte für die Sicherung des Friedens und für eine eu-ropäische und internationale Zusammenarbeit einsetzen. Wir be-

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mühen uns gleichzeitig um neue Antworten auf die neuen Fragen,die die weltpolitische Entwicklung diesem noch keineswegs ge-sicherten Volk künftig mehr und dringlicher stellen wird als in derVergangenheit.

2. Wir bekennen uns zu der Aufbauleistung unseres Volkes inden vergangenen Jahren. Das ist keine Identifizierung mit den Me-thoden der heutigen Politik, aber wir teilen den berechtigten Stolzauf die Arbeits- und Aufbauleistung. Nur wenige haben das einmalfür möglich gehalten.Wir wollen gar nicht alles anders machen. Aberwir wollen das, was das Volk sich geschaffen hat, sichern, ausbauen,es besser machen und vor allem dauerhafter.

3. Die gute Kraft in diesem Volk muß zusammengefaßt werdenfür alle Antworten, die wir auf die Herausforderung unserer Zeit ge-ben müssen. Diese Antworten sind nicht nur militärischer Art, siesind auch in der geistigen Mobilisierung zu suchen. Wir müssen allenoch ungenutzten geistigen Kräfte der Demokratie zur Verfügungstellen, sie wecken und der Zukunft des Volkes dienstbar machen.

Dazu ist eine Politik der Sachlichkeit und des Ausgleichs nötig.Und deshalb darf ich um Vertrauen und um jede nur mögliche Un-terstützung bitten. Es geht nicht um die Person oder um die Partei. Esgeht um viel mehr: Wir müssen den Menschen, die mit uns leben, dieÜberzeugung geben, daß wir um das Wohl und Wehe unserer staat-lichen Gemeinschaft und um die Zukunft unseres Volkes kämpfen.

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Nr. 31AAus dem Interview des Bundeskanzlers und Vorsitzenden derSPD, Brandt, mit dem britischen Publizisten Prittie21. August 19721

AdsD,WBA, A 9 (Anmerkungen Willy Brandts zur Biographie von TerencePrittie), 1.

[. . .]T[erence] P[rittie ] : [. . .] Die 1. Frage war: War es eine Überraschung in1961 als SPD-Kanzlerkandidat vorgesehen zu werden? Was waren IhreGefühle? Als Sie als Kanzlerkandidat gewählt wurden?

B[undes]K[anzler] :Die Entscheidung fiel nicht 1961, sondernnatürlich 1960 für die Wahl 1961. Und es war keine völlige Über-raschung, wenn es auch nicht völlig klar war, daß so entschiedenwerden würde. Denn es war vorausgegangen, daß in einer engenSitzung der SPD-Führung, eine Sitzung, an der ich nicht teilgenom-men hatte, weil ich zu diesem Kreis damals nicht gehörte, vereinbartworden war, daß E[rich] Ollenhauer nicht den Wahlkampf 1961 alsSpitzenkandidat und damit Kanzlerkandidat führen würde. Dies hater auch in einer Sitzung bekanntgegeben und dann wurde einekleine Kommission gebildet.2 [. . .] Es gab damals eigentlich 3 Namen,auf die sich die innere Führung konzentriert hatte, das war einmalder damalige hessische M[inister]Pr[äsident] August Zinn, der wieich zum Vorstand der SPD gehörte, der leider seit einigen Jahren ausdem Amt ist, weil er sehr krank ist, und das war 2. Max Brauer, derHamburger Bürgermeister, und das war 3. ich.3 Und dann ist einesTages der damalige und jetzige Schatzmeister Alfred Nau zu mir ge-kommen und hat mir zunächst vertraulich gesagt, daß man in derinneren Führung, dem damaligen Präsidium, der Meinung sei, michvorzuschlagen, und offiziell hat es Waldemar von Knoeringen, derdamals einer der beiden stellvertretenden SPD-Vorsitzenden war,mit mir im Sommer 1960 besprochen. Und dies hing natürlich zu-sammen, das muß man nüchtern sehen, damit, daß der Berliner

222 Interview mit Prittie, 21. Aug. 1972

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Bürgermeister, der ich war, stark hervorgehoben war in jener Zeit,auch eine bestimmte Auslandswirkung hatte und daß ich jüngerwar als die anderen eben genannten Kandidaten Brauer und auchZinn. Ebenfalls ist dies dann, wenn ich mich recht erinnern kann,als es vorgeschlagen wurde, einstimmig so beschlossen worden.Aber wie gesagt, als es richtig vorgeschlagen wurde, war ich nichtmehr uninformiert. Und insofern stellt sich auch nicht die Fragevon bestimmten Gefühlen, weil es kein plötzlicher Vorgang [war],wo man [. . .] aus einer Versammlung heraus zu irgendetwas auf denSchild gehoben wird. Es war ein Prozeß, [der] sich über Monate er-streckte, ein stiller, in vertraulichen Gremien [verlaufender Prozeß],aus dem heraus diese Nominierung erfolgte. Die eigentliche Bestäti-gung durch die Gremien war dann [. . .] aber keine Überraschungmehr.

T[erence] P[ritt ie ] : Haben Erler und Wehner kein Interesse gehabt,zu kandidieren in dieser Zeit?

B[undes]K[anzler] : Wehner überhaupt nicht. [. . .] Als Ollen-hauer erklärte, er wolle sich für ein Staatsamt nicht zur Verfügungstellen, haben Wehner und von Knoeringen als die damaligen bei-den Stellvertreter dieselbe Erklärung auch für sich abgegeben. Erlergehörte mit mir zu dem erwähnten Siebener-Kreis. Es wurde einSiebener-Kreis4 gebildet mit dem Blick auf die Wahlen [19]61, demgehörte Erler an, der ganz sicher die Voraussetzungen [zum Kanz-lerkandidaten] mitbrachte. Aus irgendeinem Grunde wurde er zudiesem Zeitpunkt für diese Nominierung nicht an einer der ersten3 Stellen genannt, sondern an den ersten 3 Stellen wurden die ge-nannt, die ich erwähnt habe. Das sagt aber nichts über die tatsäch-liche Rangordnung von Erler, [. . .] der ganz gewiß das Zeug zueinem Bundeskanzler hatte. Aber wenn ich etwas so auf die pri-mitive Form bringen darf, es gab keine Rivalitätsprobleme zwischenErler und mir.

[. . .]Als Ollenhauer seinen Entschluß bekanntgab, daß er nicht die

Wahl [19]61 führen wolle, diesen Entschluß hat er wohl 1959 be-kanntgegeben, im Vorstand der SPD, da hat er ihn u. a. damit be-

223 Interview mit Prittie, 21. Aug. 1972

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gründet, er habe das Gefühl, das Empfinden, daß es Leute gäbe, in derjüngeren oder mittleren Generation, die befürchteten, die Parteikönne daran zerbrechen, wenn sie nicht, so rasch es ginge, in die Re-gierungsverantwortung käme. [. . .] Ich glaube nicht, daß er oder ir-gendeiner von uns geglaubt hat, man könne tatsächlich schon 1961führende Regierungspartei werden. Dazu waren die Abstände zugroß.

Nr. 32Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt,an das Mitglied des SPD-Parteipräsidiums Schmid29. August 1960

AdsD, NL Schmid, Mappe 1359.

Lieber Carlo,es war schade, dass Du an den Besprechungen Anfang voriger Wochein Bonn nicht teilnehmen konntest. Egon BAHR hat mir von DeinemIdyll in Südfrankreich erzählt, und ich kann gut verstehen, dass DuDeinen Urlaub nicht vorzeitig abgebrochen hast.

Der Start für die grosse Auseinandersetzung des nächsten Jahreshätte noch besser sein können.1 Zu den wirklichen Lichtblickengehört für mich allerdings Deine noble Haltung.2 Es wird daraufankommen, dass wir einen wirklichen Arbeitskontakt herstellenund uns vornehmen, wirklich an einem Strang zu ziehen. Dazubedarf es zunächst einmal einer Generalaussprache, für die wir unsim Laufe des September hier oder in Bonn genügend Zeit nehmensollten.

Die Chancen sind besser, als manche unserer Freunde wissen.3

Gross ist aber auch die Gefahr, dass die Chancen nicht so genutztwerden, wie es möglich wäre. Wir müssen mit anderen Worten sehraufpassen.

224 Brandt an C. Schmid, 29. Aug. 1960

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Ich wünsche Dir noch schöne Tage der Erholung und hoffe, dasswir uns bald sehen werden.HerzlichstDein<Willy Brandt>4

Nr. 33Aus dem Schreiben des Mitglieds des SPD-ParteivorstandsBrandt an den Mitarbeiter der ZWL der SPD Anders1. September 19601

AdsD,WBA, A 6 (alt).

Lieber Karl!Egon BAHR sagt mir, dass wir uns hier am nächsten Mittwoch sehenwerden. Ich begrüsse das sehr. Für Dienstag abend bin ich mitHerbert WEHNER verabredet.

Heute in Kürze zu einigen Punkten, über die wir zum Teil nochim einzelnen sprechen sollten:

1. Ich möchte Dich sehr bitten darauf hinzuwirken, dass die inmeinem Vermerk über den „Appell von Hannover“2 genannten Ter-mine eingehalten werden.

2. Ich halte es für gut, dass Alex MÖLLER und Klaus SCHÜTZim nächsten Monat nach Amerika fahren.3 Selbstverständlich be-grüsse ich auch Deine Reise nach Schweden. Für etwaige weitere Be-mühungen in Skandinavien steht uns Ernst PAUL zur Verfügung.

3. Genaue Überlegungen erfordert die von mir angedeutete„fund-raising-campaign“4 im nächsten Frühjahr. SCHÜTZ hat hierzueinige Überlegungen angestellt.

4. Wegen der policy-papers5 habe ich keine Sorgen wegenAussenpolitik einschliesslich Verteidigung, Innenpolitik, Soziales,

225 Brandt an Anders, 1. Sept. 1960

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Kommunalpolitik, Kulturpolitik und Generationenfrage; hierzu isteiniges eingeleitet. Der schwache Punkt ist die Wirtschaftspolitik.

5. Wir müssen darüber sprechen, was aus den beiden Vorlagenvon Heinrich DEIST werden soll. Ich bleibe dabei, dass es ein ver-hängnisvoller Fehler sein könnte, mit dem Kohleprojekt in denWahlkampf zu ziehen.6 Was andererseits die Frage der Vermögens-verteilung angeht, so scheinen mir die Dinge noch nicht genügendausgegoren zu sein.

6. Es wird darauf geachtet werden müssen, dass ich bei meinenBesuchen in verschiedenen Teilen der Bundesrepublik mit be-kannten Fachleuten zusammengeführt werde. Darüber kann dannim einzelnen Fall auch berichtet werden. Hier muss die Idee des„brain-trust“7 übernommen werden, ohne dass man sich dabei aufeinen eng begrenzten Kreis beschränkt.

7. Wichtig bleibt die Gedankenlinie „Vom Rathaus zum Bun-deshaus“. Mir schwebt vor, dass wir im Januar [1961] in Hamburg eineArbeitsbesprechung mit einer Reihe unserer Oberbürgermeister ma-chen, um sie auf die bundespolitische Auseinandersetzung vorzube-reiten.8 Hamburg deswegen, weil unsere dortigen Freunde zur gleichenZeit NEVERMANN einführen wollen und dazu eine Kulisse brauchen.9

8. Rolf MENZEL, der Chefredakteur des SFB, hat mir gesagt, erhätte Euch das Filmmaterial geschickt, das während meiner vor-jährigen Weltreise gemacht wurde,10 also nicht nur Amerika, sondernauch Asien. Falls erforderlich, kann man sicherlich zusätzlich Materialvon den Produzenten der Wochenschauen bekommen. Ausserdem solldas Bundespresseamt einen Filmüber Berlin gemacht haben, indem ichrelativ stark zur Geltung komme. Selbst habe ich diesen Film allerdingsnicht gesehen. Zu erwägen ist auch, ob man nicht einen Filmstreifenmitverwenden kann, der zeigt, was in Berlin in den letzten Jahren ge-leistet worden ist. Hier könnte Egon BAHR nähere Hinweise geben.

9. BAHR und ich sind der Meinung, dass es richtig wäre, angeeigneter Stelle eine Meldung zu bringen, die über die bereits an-laufende und noch zu erwartende Kampagne des Ostens gegen michAufschluss gibt.11 Hierbei spielt das nordische Institut in Greifswaldeine besondere Rolle.

226 Brandt an Anders, 1. Sept. 1960

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10. Mit unseren Freunden in den Bezirken sollte darüber ge-sprochen werden, dass man in stärkerem Masse durch Leserbriefeeinwirken könnte.

11. Deinen Vermerk über die Z[entrale]W[ahlkampf]L[eitung]über den Parteitag in Hannover habe ich gesehen. Im ganzen durchauseinverstanden. Besonders wichtig ist die Frage der Farben.12 Ich habenichts dagegen, dass die Tradition in der geeigneten Form gewahrtbleibt; besonders schön finde ich einige der alten Banner wie das eine,das wir noch aus der Zeit von LASSALLE bewahrt haben. Wichtig istaber, dass die Bundesfarben dominieren. Daneben sollte die nieder-sächsische Landesfahne und die hannoversche Stadtfahne nicht feh-len. Falls es räumlich möglich ist, könnten auch an einer Wand odervor dem Tagungslokal alle Länderfahnen mit zur Geltung kommen.[. . .]Beste GrüsseDein

Nr. 34Schreiben des Kanzlerkandidaten der SPD, Brandt,an das Mitglied des Deutschen Bundestags Blachstein2. Januar 19611

AdsD,WBA, A 6, 26 (alt).

Lieber Peter,Deinen Brief vom 12.12.[19]60 habe ich erhalten.2 Für Deine Offenheitund die kritischen Hinweise bin ich dankbar.

Du gehst allerdings von einer falschen Voraussetzung aus, wennDu meinst, ich hätte mich in Hannover von „den Gewerkschaften“abgrenzen wollen und mein Verhalten zu den Gewerkschaften sei„frostig“.

227 Brandt an Blachstein, 2. Jan. 1961

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Ich möchte Dich bitten, den betreffenden Passus meiner Hanno-ver-Rede noch einmal anzuschauen.3 Es liegt doch im gemeinsamenInteresse, daß wir nicht den Anspruch erheben, „Gewerkschafts-partei“ zu sein. Tatsache ist freilich, daß mich – und nicht mich allein– gewisse Entwicklungen vor allem in der IG-Metall mit Besorgniserfüllen;4 das hat ja auch Erich Ollenhauer in Hannover deutlichwerden lassen. Aber du darfst davon überzeugt sein, daß ich sowohlaus allgemeinen Gründen als auch unter den besonderen Aspektendes Wahljahres an einer engen Kooperation mit den Gewerkschaftenund ihren Sprechern interessiert bin.

Es würde mich freuen, wenn Du mich wissen liessest, welchepraktischen Schritte von mir aus erfolgen sollten, um bei der ge-botenen Einheitlichkeit in der Sache zu jener starken Zusammenfas-sung der Kräfte zu gelangen, die Dir vorschwebt und die ich be-grüßen würde. Ich bin auch für alle anderen Hinweise und Vor-schläge für dieses schwierige Jahr von vornherein dankbar.Mit freundlichen Grüßen und allen guten Wünschen für 1961Deingez. W[illy] B[randt]

Nr. 35Schreiben des Kanzlerkandidaten der SPD, Brandt,an den Bundespräsidenten a. D., Heuss18. Januar 19611

AdsD,WBA, A 6, 28/29 (alt).

Verehrter Herr Altbundespräsident,haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief vom 31.12.[19]60.2 Ich ant-worte erst heute, weil ich hoffte, noch ein Original des Saar-Flugblattsauftreiben zu können.3 Das ist mißlungen, und ich muß Ihnen nuneine Photokopie schicken.

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Befürchten Sie bitte nicht, daß ich Sie für „meinen“ Wahlkampfeinspannen will; Sie würden das auch gar nicht mit sich machen las-sen. Aber ich muß doch sagen dürfen, daß es hier nicht in erster Linieum meine Person oder meine Chancen geht, sondern darum, ob wireine Verwilderung der innenpolitischen Sitten als etwas Unab-weichliches hinnehmen. An der Saar habe ich in einem Fall schonMühe gehabt, junge Parteifreunde davon abzuhalten, daß sie ihrerErbitterung in drastischer Form Luft machen.

Es ist unwahrscheinlich, ob es den Initiatoren der Anti-Emi-granten-Kampagne gelingt,4 die in ihrem Sinne positiven Wirkungenzu erzielen und die objektiv negativen zu verhindern. Ich habe ge-hört, daß im Mai vorigen Jahres in Karlsruhe Gerstenmaier undKiesinger vor einer Diffamierungskampagne gewarnt haben; sie ha-ben sich nicht durchgesetzt.5 Ich weiß, daß auch ein Teil des Ka-tholischen Klerus diese Kampagne mit großen Bedenken sieht. Dereinzige, der sie beenden könnte, nämlich der Bundeskanzler, läßt siegeschehen, ohne sich damit identifizieren zu müssen. Und ich habemich nicht entschließen können, mit ihm darüber zu sprechen, weilich dabei in die Gefahr geraten wäre, in der Rolle eines Bittstellers ineigener Sache zu erscheinen.

Meine Mitarbeiter haben schon eine dicke Mappe mit üblenZeitungskommentaren und Versammlungsberichten gefüllt. Ich binauf Steigerungen gefaßt und glaube trotzdem nicht, daß die Mobi-lisierung niedriger Instinkte ziehen wird.Verzeihen Sie, daß ich Sie hiermit behelligt habe.Mit herzlichen GrüßenIhr sehr ergebener(Willy Brandt)

229 Brandt an Heuss, 18. Jan. 1961

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Nr. 36Rede des Kanzlerkandidaten der SPD, Brandt,auf dem Außerordentlichen Kongress der SPD in Bonn28. April 19611

Brandt, Willy: Das Regierungsprogramm der SPD. AußerordentlicherKongress der SPD, Bonn 28. April 1961 (als Manuskript gedruckt).

Das Regierungsprogramm der SPD

I.

Ende November vergangenen Jahres, in Hannover, haben wir dieGrundsätze entwickelt, die für eine von uns geführte Regierungmaßgebend sein werden. Diese Grundsätze bleiben unverändertgültig.2 Ich kann mich auf sie stützen, wenn ich heute dasProgramm bekanntgebe, das wir in den vor uns liegenden Mona-ten vertreten werden. Es ist kein Wahlprogramm, sondern einRegierungsprogramm, denn wir versprechen nichts, was wir nichtin der Regierungsverantwortung zu verwirklichen entschlossensind.

Die Antwort der Unionspartei auf die in Hannover entwickeltenGrundsätze war so, wie diese heutige CDU-Regierung ist: anmaßend,eigensüchtig, widerspruchsvoll und sogar unehrlich. Sie ist ver-braucht. Die CDU-Regierung hat sich selbst überlebt. Im Interesseunseres Volkes muß sie abgelöst werden.

Das hat auch der Parteitag der CDU bestätigt.3 Er war eine Fluchtin die sterile Starrheit des Nein. Er ging an der staatspolitischen Not-wendigkeit vorbei, alle Kräfte zur Bewältigung der vor uns liegendenAufgaben zusammenzufassen und war damit eine Sünde an unseremVolk. Dieses Volk wird über diesen Parteitag der totalen Verneinungselbst urteilen.

Ich gehe zur Tagesordnung über. Sachlich und mit offenem Vi-sier, im Sinne des Dichterwortes: Mein Pfeil soll treffen, doch er trägtkein Gift.

230 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Wir haben unserem Volk in den vergangenen Monaten klar ge-macht, daß eine neue Regierung die Stellung und das Ansehen derBundesrepublik im Sicherheitssystem des Westens festigen wird. DieFreundschaft zu den Vereinigten Staaten bleibt ein Eckpfeiler un-serer Außenpolitik.

In der Welt vollzieht sich eine Wandlung in den Beziehungender Menschen und der Völker zueinander. Das Gefühl der Verant-wortung füreinander wächst.

Das bedeutet: Wir Deutsche müssen in den kommenden Jahrenendlich zu uns selbst finden, wenn wir als Volk und Nation bestehen,wenn wir unsere Verantwortung für uns selbst und gegenüber an-deren Völkern erfüllen wollen.

Es geht um die Gesundung unseres Volkes. Die Beseitigung in-nenpolitischer Ungerechtigkeiten und der Wille zur Entspannungnach außen sind zwei Seiten einer einheitlichen Politik, einer Politikfür Deutschland mit den Völkern der Welt.

Die Zeiten sind vorbei, in denen der Nationalstaat der politischeHöchstwert war. Ungerechtigkeiten nach innen und Überheblichkeitnach außen sind untauglich für die Bewältigung der vor uns liegen-den Aufgaben. Die unveräußerlichen Rechte jedes Menschen undseine Würde treten in den Mittelpunkt aller Politik. Innenpolitikund Außenpolitik sind zwei Seiten derselben Medaille. Ausgleichnach innen und Ausgleich nach außen: das ist die Devise. Wenn wirdiesem Ziel nicht gerecht werden in der Innenpolitik, verlieren wirunsere Glaubwürdigkeit nach außen. Wenn wir diesem Ziel nachaußen nicht gerecht werden, wird uns die beste Innenpolitik nichtsnützen.

An diesem Gesetz will dieses Regierungsprogramm gemessenwerden. Dieses Gesetz entspricht unserer Zeit; es wird die Richt-schnur unserer Regierung sein. An diesem Gesetz ist auch die bishe-rige CDU-Regierung zu messen.

Ich sage nicht, daß die bisherige Regierung ohne jedes Verdienstwäre, obwohl sie ohne den Arbeitswillen, den Fleiß und den Idealis-mus aller Schichten unseres Volkes erfolglos geblieben wäre. Aber siehat viele ihrer Versprechungen nicht erfüllt. Sie ist weder den Auf-

231 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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gaben unserer inneren Ordnung noch dem Wandel in der Welt ge-recht geworden.

Namens der Sozialdemokratischen Partei und ihrer Mannschaftklage ich die bisherige Regierung, ihren Chef, die Kabinettsmit-glieder und die führenden Funktionäre der Unions-Partei an, in le-benswichtigen Fragen unseres Volkes versagt zu haben.

1. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Ihr Versprechen, daß die Politik der Integration und forcierten

Rüstung automatisch zur Einheit führen würde, ist nicht eingelöst.Wie von uns vorausgesagt, ist das Ziel aller deutschen Politik, dieWiedervereinigung in Frieden und Freiheit, ferner gerückt undschwieriger geworden.

2. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Sie hat auch die innere Einheit unseres Volkes nicht hergestellt.

Sie hat vor der Aufgabe versagt, die staatsbejahenden Kräfte zu einergemeinsamen Politik in den Grundfragen unserer Nation zusam-menzuführen.

Willy Brandt auf „Deutschlandreise“ im Wahlkampf 1961

232 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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3. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Sie hat die demokratischen Fundamente unserer inneren Ord-

nung grob gefährdet. Regierungschef und Minister haben das Amtdes Bundespräsidenten zum Spielball persönlicher Neigungen undparteiegoistischer Zwecke gemacht.4

Sie haben die Rechte der Länder verletzt und das höchste Gericht,dessen Aufgabe allein der Schutz der Verfassung ist, mißachtet.5

4. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Schwäche und Opportunismus gegenüber Interessentengruppen

und damit Vernachlässigung des allgemeinen Wohls. Absprachenhinter dem Rücken der Ressortminister haben Lobbyisten Einflußauf Regierungsangelegenheiten gestattet.

5. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Leichtfertigen Umgang mit öffentlichen Geldern und Miß-

brauch der Staatsmacht. Die verfassungswidrigen Fernsehgeschäfteund ihr Fiasko müssen aus Steuergeldern gedeckt werden.6 Jeweilsdreieinhalb Jahre hat sie die offene Hand für die Großen gehabt undjeweils ein halbes Jahr vor der Wahl plötzlich ihr Herz für benach-teiligte Gruppen der Bevölkerung entdeckt.

6. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Die großen Gemeinschaftsaufgaben, Forschung und Wissen-

schaft, Förderung des geistigen Nachwuchses und Vermögensbil-dung auf breiter Grundlage wurden sträflich vernachlässigt.

7. Ich werfe der bisherigen Regierung vor:Sie hat die Stellung Deutschlands in der Welt belastet durch an-

maßendes Rüstungsgebaren, durch unangebrachte Atomforderun-gen,7 durch mangelhafte Zusammenarbeit bei der Entwicklungshilfe.

Alle diese Fehler, Versäumnisse und Unterlassungen sind Merk-male 12jährigen politischen Stils, den wir nicht mehr wollen.

Wir, die Regierungspartei von morgen, die Opposition vonheute, sind der öffentliche Ankläger. So ist es unsere demokratischePflicht.

Wir werden nicht gestatten, daß die gegenwärtige Regierungsich der Rechenschaft und Verantwortung entzieht und in Eigenlobund Verleumdung ausweicht.

233 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Wir werden dieser Pflicht genügen. Aber unsere ganze Leiden-schaft gilt der Zukunft. Wir brauchen eine neue Politik, damit wirunserer Zeit gewachsen sind:

Der Herausforderung durch die kommunistische Welt,den Erwartungen der jungen Nationenund der wissenschaftlichen Revolution, die nach den Sternen

greift.Wir brauchen die kommunistische Herausforderung nicht zu

fürchten.Wir nehmen sie an.Wir werden ihr militärisch widerstehenund sie mit der Stoßkraft unserer freiheitlichen Ordnung überwinden.

Die neue Regierung wird führen, aber nicht herrschen. Sie wirddie besten Kräfte zur Beratung und Mitwirkung heranziehen.

Niemand auf dieser Welt ist fähig, ein Volk allein durch die Me-thode einsamer Beschlüsse zu führen. Die führenden Staatsmänner derWelt folgen nur den Gesetzen unserer Zeit, wenn sie neben dem Regie-rungsapparat über Gremien unabhängiger Sachverständiger verfügen.Wenn ich, gerufen vom Vertrauen der Wähler, vorgeschlagen vomBundespräsidenten und gewählt durch den Bundestag, das Amt desBundeskanzlers zu übernehmen habe, werde ich, unabhängig von Par-tei- oder sonstiger Zugehörigkeit, allen Sachverstand mobilisieren undEntscheidungen nach Anhören und Abwägen der verschiedenen Ge-sichtspunkte fällen. So entspricht es dem Geist dieser Zeit.

In den nächsten vier Jahren wird nicht alles getan werden kön-nen, was nötig wäre und was wir auf längere Sicht erstreben. Aber beider Entscheidung am 17. September [1961]8 geht es allein um das, wasder vierte Deutsche Bundestag und die neue Bundesregierung biszum Jahre 1965 tun werden. Ich beschränke mich deshalb auf dennüchternen Vortrag unserer Absichten und Vorhaben in den vor unsliegenden vier Jahren.

II.

Wir wollen ein gesundes Volk in einem gesunden Staat. Das ist dieLeitlinie für die gesamte Innenpolitik der von uns geführten Regie-rung.

234 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Dazu gehört, daß unser Volk die böse Vergangenheit endgültigüberwindet und mit sich selbst ins Reine kommt. Entscheidend ist,daß wir ein mündiges Volk werden und uns jeder neuen Bedrohungvon Recht und Freiheit zu erwehren wissen. Das Ringen der Mei-nungen in unserem Volk ist ebenso unentbehrlich wie das Austragenunterschiedlicher Interessen unvermeidlich ist. Aber sie müssen ineinem gesunden Organismus harmonisiert werden. Unser Programmder inneren Gesundung ist aber auch wörtlich zu verstehen. Es gibtGemeinschaftsaufgaben,

A u f g a b e n u n d L e i s t u n g e n f ü r a l l e ,

die, bisher gröblich vernachlässigt, endlich angepackt werden müs-sen. Der demokratische und soziale Bundesstaat, wie ihn das Grund-gesetz vorschreibt, ist noch nicht verwirklicht. Deshalb stecken wirdie Grenzen weiter.

1. Der Staat muß der Gesundung seiner Bürger dienen. In dermodernen Gesellschaft ist der Mensch nicht nur durch Krankheiten,sondern auch durch frühzeitigen Verbrauch seiner Kräfte stark ge-fährdet.

Der einzelne bedarf zur Erhaltung seiner Gesundheit einer aus-reichenden Erholung. Die gegenwärtige Urlaubsdauer ist nach denErkenntnissen der ärztlichen Wissenschaft zu kurz.

Die neue Bundesregierung wird deshalb ein Urlaubsgesetz vor-legen, das von 1962 an einen jährlichen Mindesturlaub von drei Wo-chen vorsieht. Der Mindesturlaub wird bis zum Jahre 1965 auf vierWochen erhöht.

2. Zur sinnvollen Ausnutzung der Freizeit werden wir Sportund Spiel und die dazu notwendigen Einrichtungen fördern.

Die neue Bundesregierung wird den von der Deutschen Olympi-schen Gesellschaft aufgestellten Goldenen Plan9 nicht nur bejahen, son-dern tatkräftig verwirklichen helfen. Sie wird vorschlagen, daß nochim Jahre 1962 ein koordinierender Deutscher Sportrat aus Vertreternder Turn- und Sportverbände sowie von Vertretern des Bundes, derLänder und der Gemeinden gebildet wird.

235 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Die neue Bundesregierung wird dafür sorgen, daß die aner-kannten Pläne zur Erweiterung von Erholungsgebieten und Natur-parks Wirklichkeit werden.

3. Die soziale Krankenversicherung muß in den Dienst derGesundheitsvorsorge gestellt werden. Jeder Bürger muß die Möglich-keit haben, sich mindestens einmal im Jahr kostenlos untersuchenzu lassen.

Im Krankheitsfalle hat jeder Anspruch darauf, nach den mo-dernsten Erkenntnissen und Methoden der ärztlichen Wissenschaftbehandelt zu werden, und zwar ohne Rücksicht auf die entstehendenKosten. Jede zeitliche Begrenzung der Leistungen muß wegfallen.Eine Kostenbeteiligung der Versicherten lehnen wir ab. Die Kran-kenkassen müssen von sachfremden Ausgaben befreit werden. FreieArztwahl, freiberufliche Tätigkeit der Ärzte und ihre Selbstverwal-tung sind unantastbar.

Der Bau von modernen Krankenanstalten und Sanatorien wirdin Anlehnung an die Vorschläge der Deutschen Krankenhausgesellschaftgefördert werden.10

Die neue Bundesregierung wird ein Gesetz vorlegen, das allen dieberufliche Wiedereingliederung erleichtert, die durch Krankheit,Verkehrs- und Arbeitsunfälle Schaden gelitten haben.

4. Der Wohlstand unserer produktionsstarken Wirtschaftwird zur Ungerechtigkeit, wenn er vor den Türen der älteren Mit-bürger halt macht. Wer sein ganzes Leben gearbeitet hat, soll seinenLebensabend in Ruhe und Sicherheit verbringen können.

Die neue Bundesregierung wird die Rentenreform verbessernund vollenden. Wir werden dafür sorgen, daß jeder Versichertenach einem vollen Arbeitsleben 75 Prozent seines der Bei-tragszahlung zugrunde liegenden Arbeitsverdienstes als Alters-rente erhält. Die Renten für Witwen werden entsprechend ange-paßt.

Wir werden den Selbständigen die gleiche Möglichkeit zur Al-terssicherung bieten; zurückliegende Zeiten können überbrücktwerden. Frauen erhalten auf Antrag Altersrente mit Vollendung des60. Lebensjahres.

236 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Der Mindestbetrag der Altersrenten wird nach Ablauf eines vol-len Arbeitslebens bis zum Jahre 1962 auf DM 225,– erhöht. Soweit dieMindestrenten nicht durch Beitragsleistung gedeckt werden, werdensie durch Staatszuschüsse aufgestockt.

Wir werden dafür sorgen, daß die Renten unmittelbar nachVollendung des 65. Lebensjahres ausgezahlt werden, so daß der oftmonatelange Weg zum Fürsorgeamt beseitigt wird.

In vielen Fällen geht es nicht allein um eine ausreichende Al-tersversorgung. Um allen Rentnern ihren Lebensabend verschönernzu helfen, werden wir ihnen beispielsweise von 1962 an den Erwerbvon Fernsehgeräten finanziell ermöglichen. Wir werden zusätzlichWege vorschlagen, damit diejenigen der älteren Mitbürger, die eswünschen, solange wie möglich tätige Mitglieder unserer Gemein-schaft bleiben können.

5. Die neue Bundesregierung wird eine Politik verfolgen, diedie Einzelprobleme aller direkten und indirekten Opfer des Kriegesin Einklang bringt und nach Möglichkeit innerhalb der kommendenvier Jahre in ein System der sozialen Integration einmünden läßt.Hierbei geht es um die eigentlichen Kriegsopfer ebenso wie um dieHeimatvertriebenen, die Sowjetzonenflüchtlinge und die Kriegs-sachgeschädigten.

In diesem Zusammenhang werden alle Möglichkeiten einer be-schleunigten Abwicklung und Verbesserung des Lastenausgleichsausgeschöpft werden. Unsoziale Stichtagsbeschränkungen sollenaufgehoben, die Unterhaltshilfe soll an die Entwicklung der Sozial-renten angepaßt werden.

Härten für die Zonenflüchtlinge wird die Bundesregierungdurch ein besonderes Gesetz beseitigen. Ihnen sollen Eingliede-rungsbeihilfen nach den Grundsätzen des Lastenausgleichs gewährtwerden. Die neue Bundesregierung wird ein wirksames Beweissiche-rungsgesetz für eingetretene Schäden schaffen.

6. Die neue Bundesregierung wird im Rahmen einer gesundenFamilienpolitik die Familiengründung erleichtern und vor allem denjungen Familien helfen. Sie wird dafür sorgen, daß junge Ehepaareverbilligte Darlehen erhalten.

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Sie wird die Familie durch Erziehungs- und Ausbildungsbeihil-fen entlasten.

Wir werden schon von 1962 an Kindergeld generell für das2. Kind aus öffentlichen Mitteln gewähren und gleichzeitig den or-ganisatorischen Wirrwarr auf diesem Gebiet beseitigen.

Die neue Bundesregierung wird den Mutterschutz verbessern,vor allem die arbeitsfreie Zeit verlängern. Halbtagsbeschäftigung fürFrauen soll in verstärktem Maße ermöglicht werden.

7. Jede Familie hat ein Recht auf eine Wohnung. Der Woh-nungsbau darf nicht am Maßstab der Konjunkturpolitik gemessenwerden. Wir brauchen noch viele Wohnungen zu tragbaren Mieten.Die Erhebung verlorener Baukostenzuschüsse wird unterbunden.Der soziale Wohnungsbau ist durch systematische Sanierung derüberalterten Wohnviertel zu ergänzen.

Die neue Bundesregierung wird es allen dem Gemeinwohl ver-pflichteten Bauträgern ermöglichen, Eigenheime und Eigentums-wohnungen gegen zumutbare Raten zu bauen und zu verkaufen.Auch Angehörige der bisher nicht bevorrechtigten Gruppen werdendie Möglichkeit erhalten, zum eigenen Heim zu kommen.

Es ist ein unerträglicher Zustand, wenn der Wille zum eigenenHeim am Wucher von Bodenspekulanten scheitert. Wir werden dieBodenspekulation bekämpfen, damit jeder Bauwillige zu einem an-gemessenen Preis ein Grundstück erwerben kann.

Das nennen wir eine gesunde und soziale Wohnungspolitik.8. Ungelöst sind bisher auch viele Aufgaben auf dem Gebiete

der Raumordnung und des Städtebaus.Das Bundesbaugesetz trägt den staatspolitischen Not-

wendigkeiten kaum Rechnung. Es wird bis 1963 ergänzt. Die Ge-sichtspunkte der Raumordnung, der Landesplanung und des Städte-baus müssen mit der Energiepolitik, dem Verkehrswesen und demSiedlungswesen in Einklang gebracht werden.

9. Reine Luft, reines Wasser und weniger Lärm dürfen keine pa-pierenen Forderungen bleiben. Erschreckende Untersuchungsergeb-nisse zeigen, daß im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luftund Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis, Blutbildver-

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änderungen sogar schon bei Kindern festzustellen sind. Es ist bestür-zend, daß diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheitvon Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde.Der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden.11

10. Überfüllte Straßen, mehr Verkehrsunfälle, viele davon mittödlichem Ausgang, das ist das Bild des Straßenverkehrs in unserenTagen. Auch ein Wald von Verbotsschildern kann dieses Chaos nichtbeseitigen.

Die neue Bundesregierung wird dem Verkehrstod Schach bieten.Sie wird das Straßennetz gleichmäßig und schneller ausbauen. Siewird die Verkehrssicherheit erhöhen und für verstärkte Verkehrs-erziehung sorgen.

Die Abgaben des Straßenverkehrs werden ausschließlich demStraßenbau zugute kommen.

Jeder der vorgenannten zehn Punkte zeigt ein Versäumnis derbisherigen Regierung. In unserem Regierungsprogramm bilden diesezehn Punkte einen entscheidenden Teil der inneren Gesundung undder sozialen Harmonisierung.

III.

Die beiden bestimmten Ziele unserer Wirtschaftspolitik sind

G e s u n d e W i r t s c h a f t – g e r e c h t e r W o h l s t a n d

Der wirtschaftliche Aufstieg der Bundesrepublik ist kein Wunder,sondern ist das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen unseres gan-zen Volkes; dabei wollen wir, bitte, nie die Initialzündung der ame-rikanischen Wirtschaftshilfe vergessen.

Der deutsche Wiederaufbau hat in den schwierigsten Nach-kriegsjahren begonnen, lange bevor es eine Bundesregierung in Bonngab Die Aufbauleistungen der Gemeinden und der Länder sind einehistorische Tatsache. Die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaftenhaben daran einen entscheidenden Anteil gehabt.

Aber die Früchte der gemeinsamen Arbeit sind ungerecht ver-teilt. Die eigentlichen Nutznießer der bisherigen Wirtschaftspolitik

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sind die Großunternehmer. Sie haben ihre Produktionsstätten imletzten Jahrzehnt in einem ungewöhnlichen Umfang erweitern kön-nen. Hierzu steht die Entwicklung der Einkommen bei unseren Ar-beitern, Angestellten, Beamten und der freien Berufe in keinem an-gemessenen Verhältnis.

Begriffe wie Wettbewerb und private Initiative sind zu demago-gischen Schlagworten abgewertet worden. Sie sollen den Tatbestandeiner Konzentration unübersehbarer wirtschaftlicher Macht ver-schleiern, während die Klein- und Mittelbetriebe benachteiligt undPreise auf Kosten der Verbraucher diktiert werden. Die neue Bun-desregierung wird die Begriffe Leistung und persönliche Tatkraftwieder mit lebendigem Inhalt erfüllen. Der Selbständige, der Verant-wortung trägt und persönlich haftet, ist wichtiger und willkomme-ner Partner. Wo jedoch persönliche Haftung und eigene Verant-wortung schwinden, wächst die Pflicht der Regierung zur Wachsam-keit im Interesse aller. Freier Wettbewerb und soziale Verantwortungsind keine Gegensätze, sondern müssen einander ergänzen. Im ein-zelnen wird die Wirtschaftspolitik in den kommenden vier Jahrendurch die folgenden Richtlinien bestimmt sein:

1. Die wirtschaftliche Entwicklung gibt uns die Chance, un-seren Lebensstandard in weniger als einer Generation zu verdoppeln,wenn der Frieden erhalten bleibt und Krisen verhindert werden.Diesem Ziel gilt unsere Politik.

Die Verdoppelung des Lebensstandards bedeutet Vermehrungdes persönlichen Wohlstandes. Vor allem aber muß es bedeuten, daßdie bisher vernachlässigten Aufgaben und Leistungen für die Ge-meinschaft, wie wir sie umrissen haben, erfüllt werden und die bis-her zu kurz gekommenen Gruppen in unserer Bevölkerung einengerechten Anteil am Ertrag der gemeinsamen Arbeit erhalten.

2. Die neue Bundesregierung wird gemeinsam mit der Deut-schen Bundesbank die Währung schützen und die Stabilität derD-Mark sichern.

Sie wird insbesondere den Wettbewerb stärken und wird dahinwirken, daß der technische Fortschritt in Form von Preissenkungenan den Verbraucher weitergegeben wird.

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Sie wird jedem Preiswucher entgegentreten.Die neue Bundesregierung wird einen Preisrat berufen, der die

Interessen der Gesamtheit vertritt. Die Hausfrau wird in diesemPreisrat eine gewichtige Stimme erhalten.

3. Die neue Bundesregierung wird eine Politik des gerechtenWohlstandes verfolgen. Das Wachstum unserer Wirtschaft soll allenzugute kommen.

Die Mehrheit der Lohn- und Gehaltsempfänger und auch vieleSelbständige sind bis heute nicht in der Lage,Vermögen zu bilden. IhrEinkommen muß deshalb verbessert werden.

Ein Teil des Wertzuwachses der Großwirtschaft muß für dieVermögensbildung der breiten Schichten unseres Volkes her-angezogen werden. Wir haben hierzu die Errichtung einer DeutschenNationalstiftung und die Ausgabe der Deutschen Volksaktie vorge-schlagen.12 Die neue Regierung wird alle geeigneten Vorschlägeernsthaft prüfen und dem Parlament ein umfassendes Programm zu-gunsten einer breiten Vermögensbildung unterbreiten.

Ein staatliches Kreditsystem soll es jungen Handwerkern, Kauf-leuten, Ärzten und anderen ermöglichen, sich zu günstigen Be-dingungen selbständig zu machen.

Das Sparprämiensystem wird ausgebaut und vereinheitlicht;Sparern mit kleinen Einkommen werden verstärkte Vorteile ge-währt.

4. Die neue Bundesregierung wird nicht dulden, daß unsereEnergiewirtschaft zum Spielball mächtiger Interessengruppen wird.Die Lage im Kohlebergbau bedarf besonderer Beachtung. Eine unab-hängige Kommission aus Vertretern von Wissenschaft, Wirtschaftund Politik wird beauftragt, Lage und Entwicklungsmöglichkeitender deutschen Energiewirtschaft zu prüfen und Vorschläge zu einerNeuordnung zu unterbreiten.

5. Im Zeichen der aktiven Wirtschaftspolitik wird die neueRegierung dem Bundestag und dem Bundesrat den „Jahres-Wirt-schaftsbericht“ unterbreiten. Sie wird darin die Maßnahmen dar-legen, die sie für erforderlich hält, um Wirtschaftswachstum, Voll-beschäftigung, Preis- und Währungsstabilität zu sichern.

241 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Bis zum Sommer 1962 wird die Regierung gesetzgeberische undandere Maßnahmen ergreifen, um dem Mißbrauch wirtschaftlicherMacht entgegenzutreten, die Leistungsfähigkeit der mittleren undkleinen Selbständigen zu stärken, gerechten Wohlstand auch für dieLandbevölkerung zu sichern und eine Steuer- und Finanzreform ein-zuleiten.

6. Die neue Bundesregierung weiß, daß die Leistungsfähigkeitder modernen Industriewirtschaft zu einem wesentlichen Teil aufder Leistungskraft der Großunternehmen beruht.

Großunternehmen sind jedoch der Versuchung der Macht aus-gesetzt, die sie nicht selten auf Kosten der Selbständigen und derKonsumenten mißbrauchen. Deshalb wird die neue Bundesregierungvorschlagen, die Kartellgesetzgebung zu verbessern und die Befug-nisse des Bundeskartellamtes zu erweitern. Gleiche Wettbewerbsbe-dingungen sind zu sichern, marktbeherrschende Unternehmungeneiner wirksamen Kontrolle zu unterstellen. Das Kartellamt soll dasRecht erhalten, Fälle von Machtmißbrauch in öffentlichen Verfahrenzu untersuchen. Zusätzlich wird eine unabhängige Monopolkom-mission gebildet.

Die längst fällige große Aktienrechtsreform wird verwirklicht.Dabei ist besonderes Gewicht auf die Offenlegung der Unterneh-mensverhältnisse, auf den organischen Einbau des Mitbestim-mungsrechts und auf einen wirksamen Schutz der kleinen Aktionärezu legen.

7. Die neue Bundesregierung wird die Leistungsfähigkeit derSelbständigen stärken.

Steuerliches Unrecht muß beseitigt werden. Eine ausreichendeKreditversorgung wird gesichert. Genossenschaftliche und andereEinrichtungen der Selbsthilfe werden gefördert.

Ein leistungsfähiges „Institut für die selbständigen Mittelschichten“wird dafür sorgen, daß die Erkenntnisse der modernen Wissenschaftmittleren und kleinen Unternehmen zugute kommen.

8. Die neue Bundesregierung will gleichen Wohlstand fürStadt und Land. Deshalb wird sie die wirtschaftliche, soziale undkulturelle Entwicklung der Landgebiete energisch fördern.13

242 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Die Landwirtschaft, die Forstwirtschaft, der Gartenbau, derWeinbau und die Fischerei sind unentbehrliche Faktoren unsereswirtschaftlichen und nationalen Lebens.

Mit Flickwerk ist es nicht getan. Rationalisierung, Flurbereini-gung, Aufstockung und Wegebau sind im Interesse der Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft voranzutreiben, nichtzuletzt im Blick auf den europäischen Markt. Die Arbeit der Bäuerinist durch Sanierung der Gehöfte und Technisierung der Hauswirt-schaft zu entlasten.

Für diese Aufgaben wird die neue Bundesregierung ein um-fassendes und langfristiges Investitionsprogramm vorlegen.

Bauern und Landarbeiter müssen zu einem Einkommen ge-langen, das dem vergleichbarer Bevölkerungsschichten entspricht.

Der bäuerliche Familienbetrieb ist ein wesentlicher Bestandteileiner freien Gesellschaftsordnung. Das private Eigentum des Bauernan Grund und Boden muß durch ein neuzeitliches Bodenrecht ge-sichert werden.

Marktpolitik, Marktordnung und Preisgestaltung müssen einenredlichen Ausgleich zwischen den Interessen der Erzeuger und derVerbraucher herbeiführen. Genossenschaften und andere Einrich-tungen der bäuerlichen Selbsthilfe sind zu fördern.

Die einseitige Bindung der bisherigen Regierung an die indu-strielle Großwirtschaft wird abgelöst durch eine ehrliche Partner-schaft zwischen Stadt und Land.

9. Die neue Bundesregierung wird unser gegenwärtiges Steu-ersystem übersichtlicher und gerechter gestalten und den Verwal-tungsapparat vereinfachen.

Die Steuerpolitik der bisherigen Bundesregierung hat die Groß-vermögen ungerechtfertigt begünstigt. Wir werden die Vermögens-und Erbschaftssteuer für die Millionenvermögen gestaffelt erhöhen.

Große Spekulationsgewinne sollen der Einkommensteuer un-terliegen. Die derzeitige außergewöhnliche Begünstigung großeranonymer Gesellschaften bei der Körperschaftssteuer wird abge-schafft. Bei der Einkommensteuer ist für Großeinkommen überDM 100 000 eine stärkere Progression einzuführen.

243 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Die Freibeträge bei kleinen und mittleren Vermögen sind zu er-höhen. Bei der Lohnsteuer sollen die Freibeträge für Werbungskostenund Sonderausgaben erhöht werden.

Die Umsatzsteuer muß wettbewerbsneutral sein. Sie darf nichtdie Großunternehmen gegenüber den kleinen und mittleren Be-trieben begünstigen.

Die freiberufliche Tätigkeit soll der Umsatzsteuer nicht mehrunterliegen.

Die Verbrauchssteuern für Zucker und Salz werden abgeschafft.Kaffee- und Teesteuer sollen schrittweise abgebaut werden.

Bagatellsteuern, wie Zündholz- und Süßstoffsteuer, werden ab-geschafft; ihr Aufkommen rechtfertigt nicht den Verwaltungsauf-wand.

10. Seit Jahren bedarf es in der Bundesrepublik einer Finanzre-form, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben in derRangfolge der Dringlichkeit der Bedürfnisse erfüllen können. Diebisherige Bundesregierung hat auch diese Aufgabe nicht zu lösenvermocht. Die neue Bundesregierung wird sie erfüllen.

Zu den Zielen einer solchen Neuordnung gehört die Stärkungder Finanzkraft der Gemeinden, damit sie ihre Aufgaben zum Wohleihrer Bürger leisten, insbesondere die innerstädtischen Verkehrs-probleme bewältigen, die Schulraumnot überwinden und den Kran-kenhausbau verstärken können. Die Gemeinden sollen an dem Auf-kommen ertragreicher und krisenfester Steuern beteiligt und in die-sem Sinne dritte Säule unserer Finanzverfassung werden.

Die neue Bundesregierung wird unabhängige Sachverständigebeauftragen, Vorschläge zur Finanzreform bis 1962 zu erarbeiten.

Modern, sachgerecht und mit dem Blick auf die Probleme vonmorgen, dem Ausgleich von ungesunden Spannungen und demwohlverstandenen Interesse aller dienend, so wird unsere Wirt-schafts- und Finanzpolitik beschaffen sein.

Man mag uns fragen, ob nicht in gewissen Bereichen der Wirt-schafts- und der Sozialpolitik eine Ähnlichkeit zwischen diesem Pro-gramm und den Forderungen, die überraschenderweise auch dieCDU in Köln erhoben hat, festzustellen ist. Dazu ist zu sagen:

244 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Einmal: Warum hat die gegenwärtige Mehrheitspartei das, wassie jetzt fordert, nicht bereits angepackt? Zeit genug hatte sie.

Zum anderen: Was soll man von einer Partei halten, die die anderegroße Partei an dem gleichen Tag wegen ihrer politischen Zielsetzungverleumdet, einen großen Teil unserer Forderungen aber abschreibt?

Wenn gewisse Ähnlichkeiten zwischen unseren Vorschlägenund dem Kölner Manifest14 der CDU auffallen, so ist dazu zu sagen,daß die CDU kurz vor den Wahlen, wenn es um die Stimmen geht,immer ihr soziales Gewissen zu entdecken pflegt.

Es ist pikant, daß diese Partei gleichzeitig bei ihrem politischenGegner maust und ruft „Haltet den Dieb!“ Das gehört zu den vielenMerkwürdigkeiten, zu denen die Wähler berechtigte Fragen haben.

IV.

Unser Volk braucht die Aussöhnung mit sich selbst. Dazu ist er-forderlich

e i n n e u e r S t i l u n s e r e r i n n e r e n O r d n u n g

Die Verketzerung Andersdenkender, die Hexenjagd auf politischMißliebige und Gesinnungsschnüffelei müssen endlich aufhören.Wir unterscheiden nicht zwischen Wahrheit, reiner Wahrheit undlauterer Wahrheit, sondern zwischen Wahrhaftigkeit, Lüge und in-famer Lüge.

Die neue Bundesregierung wird dafür sorgen, daß ein neuerGeist durch unsere Lande weht, ein Geist der Achtung vor demNächsten und der Aussöhnung der Generationen. Wir Deutsche sindtrotz allem eine Familie, Glieder einer Schicksalsgemeinschaft. Wirbrauchen einen Staat, den jeder Bürger als seine wirkliche Heimstättebetrachten kann.

Die Verwirklichung dieses neuen Stils in der Politik beginntoben. Die Freiheit des Staatsbürgers ist wichtiger als die Bequem-lichkeit der Regierenden. Die Regierung hat sich als Vorbild für je-dermann zu verhalten: in der Achtung der Verfassung, in dem Re-spekt vor ihrem Wortlaut und Sinn. Es wird Schluß gemacht werden

245 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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mit den Versuchen, das Grundgesetz zu manipulieren, auszuhöhlen,autoritär umzudeuten und damit die Fundamente einer freiheitli-chen Staatsordnung zu untergraben.

Im einzelnen bekennen wir uns zu folgendem:1. Die neue Regierung wird die Rechte des Parlamentes res-

pektieren und in ihm nicht ein willfähriges Instrument, sondern denPartner sehen.

Sie wird den föderalen Aufbau der Bundesrepublik achten undvertrauensvoll mit den Ländern zusammenarbeiten.

Sie wird die Freiheit der öffentlichen Meinung vor jeder Zensurund jeder unberechtigten Beeinflussung bewahren.

Wir brauchen mehr freiheitlichen Geist und Duldsamkeit inunserem staatlichen Leben, aber

wir brauchen auch Härte gegen alle Feinde der Demokratie. Wirwerden die freiheitliche Ordnung kraftvoll nach innen und außensichern. Gemeinsam mit allen demokratischen Kräften im Bund undin den Ländern werden wir für den Fall von Notständen vorsorgen,gleichzeitig aber sicherstellen, daß Willkür nicht Tür und Tor ge-öffnet werden.

Die neue Bundesregierung wird endlich den Auftrag des Grund-gesetzes erfüllen und ein Parteiengesetz vorlegen, das eine finanzielleBeherrschung durch anonyme Geldgeber verhindert.

2. Die neue Regierung anerkennt, daß die großen Verbändewichtige Bestandteile der modernen Industriegesellschaft sind.

Als Vertreter der Arbeitnehmer und ihrer Familien haben dieGewerkschaften besondere Bedeutung für die freiheitliche Ordnungunseres gesellschaftlichen Lebens. Wir werden ihre Unabhängigkeitachten und schützen.

Die Tarifautonomie bleibt Grundlage für die Ordnung des Ar-beitslebens.

3. Die neue Regierung weiß, daß der Staat auf tüchtige, demganzen Staat verpflichtete Beamte angewiesen ist. Eine solche Be-amtenschaft nimmt sie in ihren Schutz.

4. Für alle Interessenvertreter in der Bundeshauptstadt undihrer Umgebung wird eine Registrierpflicht eingeführt.

246 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Interessenvertretung ist legitim. Es ist Schuld der Regierung,wenn sie unangemessenen und unsachlichen Einfluß gewinnt.

5. Die Justizpolitik der neuen Regierung wird die rechts- undsozialstaatlichen Grundsätze unserer Demokratie zur vollen Geltungbringen. Sie wird die Rechtssicherheit verstärken, die Reform desStrafrechts vollenden und den Verfahrensgang vor den verschiede-nen Gerichten durch eine allgemeine Prozeßordnung vereinheitli-chen und vereinfachen.

6. Die Pflege der geistigen Kräfte, die Förderung der Künsteund Wissenschaften gehören zu den Pflichten jeder Bundesregie-rung, die sich für die unvergänglichen Güter der Nation und für ihreZukunft verantwortlich fühlt.

Kulturpolitik ist Aufgabe der Länder. Sie haben dabei auch einebundesstaatliche Aufgabe zu erfüllen. Die Bundesregierung wird dieZuständigkeiten, die das Grundgesetz festlegt, sorgfältig beachten.Aber das Grundgesetz verbietet der Bundesregierung nicht, für dasNotwendige einzutreten und den Ländern durch Bereitstellung vonMitteln dabei zu helfen, daß sie ihre Pflichten voll erfüllen können.

Die neue Bundesregierung wird der Gefahr begegnen, daß unserVolk durch eine Vernachlässigung von Wissenschaft und Forschung,von Bildung und Ausbildung, seinen Platz als führende Industriena-tion verliert.

Sie wird darauf hinwirken, daß die Schulpflicht auf das neunteSchuljahr ausgedehnt, ein freiwilliges zehntes Schuljahr vorgesehen,das Berufsschulwesen ausgebaut und der zweite Bildungsweg ver-wirklicht wird. Jeder junge Mensch hat unabhängig vom Ein-kommen seiner Eltern einen Anspruch auf volle Entfaltung seinerFähigkeiten. Die Jugendlichen aus Stadt und Land werden die glei-chen Ausbildungschancen bekommen. Unser Volk kann es sich nichtleisten, Begabungen brachliegen zu lassen. Wir können auf kein Ta-lent verzichten.

Die neue Regierung wird darauf hinwirken, den Mangel anSchulräumen und Lehrkräften endlich zu beseitigen.

Sie wird die Vorschläge des Wissenschaftsrates entschieden un-terstützen und den schnellen Ausbau der Universitäten und Hoch-

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schulen fördern.15 Ausreichend dotierte Plätze für wissenschaftlicheForschung und Lehre müssen dem Abwandern junger Kräfte Einhaltgebieten.

Die wissenschaftliche Forschung bedarf der wirksamen Koor-dinierung durch den Bund. Geeignete Einrichtungen sind finanziellso auszustatten, daß sie Aufträge vergeben können, deren Ergebnisallen Zweigen der Wirtschaft zur Verfügung stehen.

[7.] Die neue Bundesregierung erkennt die Öffentlichkeits-aufgabe der Kirchen an, aus den Grundsätzen ihrer Glaubenslehrenihr Wort zu den allgemeinen Fragen des Lebens zu sagen. Sie garan-tiert der Kirche Schutz ihrer Wirksamkeit und dem Bürger Glaubens-und Gewissensfreiheit.

Sie weiß und wird es fördern, daß die brüderliche Gemeinschaftder Kirchen eine der wenigen Klammern für den inneren Zusam-menhalt unseres gespaltenen Volkes darstellt.

8. Die neue Bundesregierung wird die junge Generation auf-rufen, mehr Verantwortung zu tragen, und sie wird ihr die Wege da-hin ebnen. Sie wird auch dafür sorgen, daß tüchtige Frauen in derBundesregierung sind und auch sonst führende Stellungen über-nehmen.

Wir können uns keinen Bruch der Generationen leisten, sondernmüssen die Kontinuität wahren und die Erfahrungen weitergeben.Unsere Jugend ist in der Lage, wichtige Aufgaben zu übernehmen. Sieist einer der lebendigsten Träger der Verständigung zwischen denVölkern.

Für die wichtigen Gebiete der Jugendhilfe, des Jugendschutzesund der Berufsausbildung wird die neue Regierung zeitgemäße bun-desgesetzliche Regelungen vorlegen, sie wird den Jugend-Arbeits-schutz verbessern.

9. Die neue Bundesregierung weiß, daß die Träger staatlicherVerantwortung der Unterstützung und des Rates der Sachverständi-gen bedürfen. Sie weiß auch, daß die geistigen Schichten eine be-sondere Verantwortung für unser Volk tragen.

Die Schatten der Vergangenheit gebieten uns, der Welt zu zei-gen, daß die Bundesrepublik ihren Weg als demokratischer Staat

248 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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unabhängig, frei und sicher geht. Mit den Verbrechern jener Vergan-genheit hat sie nichts gemein. Jene Vergangenheit hat bei uns keineZukunft.

Aber kein Deutscher kann an der Geschichte seiner Nation vor-beileben. Es ist das Vorrecht des freien Menschen, seine Verant-wortung zu sehen. Das nazistische Unheil ist nicht zuletzt deswegenüber uns gekommen, weil die führenden Schichten versagt haben.Unnötige Zwistigkeiten, unerlaubte Resignation oder freiwillige Iso-lierung in allerlei Elfenbeintürmen haben in jenen Jahren dazu ge-führt, daß das Feld freigegeben wurde, auf dem Opferbereitschaft undguter Wille mißbraucht, der deutsche Name entehrt und unser Zu-sammengehörigkeitsgefühl bis zum heutigen Tage vergiftet wordenist.

Unsere Jugend übernimmt ein schweres Erbe. Sie ist frei vonSchuld und Verantwortung, aber unsere Geschichte ist eine Einheit,und wir müssen, alle zusammen, im Einklang mit ihr leben – nichtnur mit ihren glanzvollen geistigen Höhepunkten, sondern auch mitihren dunklen Abgründen.

Dies meinen wir, wenn wir davon sprechen, daß unser Volk mitsich selbst versöhnt werden muß. Niemand von uns kann diese Ver-gangenheit von unserem Volk abwerfen, niemand kann sich von ihrlossprechen.Wir haben sie zu tragen, aber wir haben dafür zu sorgen,daß wir darüber nicht die Gegenwart und die Zukunft verlieren. Ihrmüssen alle Energie, aller Elan, aller Wille und alle Zähigkeit dienen.

Aus der Vergangenheit sollten wir die Erfahrung mitnehmen,daß niemand abseits stehen darf, daß vor allem auch die Intelligenzsich nicht aussperren lassen darf, daß die Besten unseres Volkes, woimmer sie im einzelnen stehen, mitwirken müssen. Kein guterDeutscher kann seine Verantwortung für das, was heute ist undmorgen sein wird, leugnen. Unsere Zukunft wird das Abbild dessensein, was wir heute alle miteinander zu tun bereit sind. Und niemand,der den guten Willen hat, darf ausgeschlossen werden.

In diesem Sinne wünschen wir uns die Verantwortung. Ichglaube daran, daß es in diesem Geist gelingen wird, unser Volk end-lich gesund zu machen und gesund zu erhalten.

249 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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V.

Wir haben an uns selbst die Forderung zu stellen, daß innenpolitischglaubhaft sei, was wir an Außenpolitik vertreten, und daß an unsererAußenpolitik erkannt wird, was uns innenpolitisch Wirklichkeit ist.

Dies ist eine Einheit: Ob Kopf oder Zahl, es sind immer nur diezwei Seiten einer einzigen Münze. Das zeigt sich an der ersten Auf-gabe jeder deutschen Politik: der Wiederherstellung unserer staat-lichen Einheit.

Das oberste Gebot, dem sich dieses Ziel unterzuordnen hat, istdie Erhaltung des Friedens. Die neue Bundesregierung wird freilichweder Freunde noch Gegner darüber im unklaren lassen, daß sie denaktiven Anspruch auf die Zusammenführung der deutschen Men-schen nicht aufgeben wird. Wer etwas anderes glaubt, hängt Illusio-nen nach. Das Selbstbestimmungsrecht, das einen Siegeszug um dieganze Welt angetreten hat, wird auf die Dauer auch an den deutschenGrenzen nicht aufzuhalten sein. Selbst wenn wir heute kein Datumwissen: die Tage eines Neo-Kolonialismus im Zentrum Europas sindschon gezählt.

Wir rufen unseren Landsleuten in der Zone zu, daß wir ihnendanken für ihr Ausharren und für alle Zeichen, sich nicht dem kom-munistischen Regime zu beugen. Sie erfüllen damit eine schwereAufgabe, die im Interesse unseres ganzen Volkes liegt. An ihrer in-neren Abwehr, an ihrer Kraft, sich die Reste individueller und geistigerFreiheit zu bewahren, entscheidet sich das Schicksal unseres Volkes.

Sie sollen wissen, daß wir sie mit einbeziehen, wenn wir diesesRegierungsprogramm für die Zukunft unseres Volkes verkünden.Und unsere aus der Heimat vertriebenen oder geflüchteten Lands-leute sollen wissen, daß die neue Regierung keine Politik hinter ih-rem Rücken betreiben wird.

Die neue Bundesregierung wird jedem Versuch wehren, dieZwei-Staaten-Theorie in unser Denken aufzunehmen. In der Bundes-republik Deutschland ist die demokratische Ordnung nicht auf Wi-derruf geschaffen. Aber die Bundesrepublik ist nicht des Deutschenganzes Vaterland. So will es auch das Grundgesetz.

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Ich brauche nicht viele Worte zu machen, wie ernst es der neuenBundesregierung sein wird, die Freiheit Berlins zu erhalten und eineenge Verbindung mit dem größeren Teil des freien Deutschland zubewahren. Unsere Behauptung in Berlin, das ist die Behauptung un-seres Anspruchs auf die Einheit unseres Volkes. Damit dienen wirauch dem Frieden der Welt.

Dies sind die Richtlinien unserer Außen- und Sicherheitspolitik:1. Die außenpolitische Stellung der Bundesregierung auf der

Seite des Westens ist unverrückbar. Das schließt ein die korrekte Er-füllung aller außenpolitischen Verträge und die Treue zum Atlanti-schen Verteidigungsbündnis. Auch die Sowjetunion wird von dieserTatsache ausgehen müssen.

Das ist das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, dienicht wiederholbar ist. Wir werden der gegenwärtigen Regierungnicht den Gefallen tun, die Tatsachen von heute zu leugnen, die sichaus nüchterner Bestandsaufnahme ergeben.

2. Die neue Regierung wird die Verteidigungspolitik in Über-einstimmung mit den Beschlüssen der NATO führen. Sie wird füreine bessere politische Koordination und für eine Arbeitsteilung inder Atlantischen Gemeinschaft eintreten. Die NATO muß von demZwang befreit werden, in Fällen konventioneller Aggression atomareWaffen einsetzen zu müssen. Wir werden deshalb an unsere euro-päischen Verbündeten den Wunsch richten, sich stärker als bisher ander konventionellen Rüstung zu beteiligen.

Die neue Bundesregierung wird die notwendigen Lasten auchdem deutschen Volk zumuten. Die Bundeswehr muß den in derNATO beschlossenen Umfang haben. Dazu kann derzeit auf dieWehrpflicht nicht verzichtet werden.

Die neue Bundesregierung wird eigene Vorschläge zu einergleichwertigen und kontrollierten Abrüstung machen. Verteidi-gungsbereitschaft und Rüstungskontrolle sind die beiden Seiten un-serer unteilbaren Sicherheit. Das erfordert ein besonderes Amt in derBundesregierung.

Die neue Bundesregierung wird sich innerhalb des Bündnissesgegen die Gewährung der Verfügungsgewalt über atomare Waffen an

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weitere Staaten aussprechen. Sie wird das Doppelspiel in der Frageder Atombewaffnung beenden und jeden Verdacht beseitigen, daßdie Bundesrepublik auf diese Weise an Gewicht gewinnen will.16

Unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daß in der Bundeswehrveraltete Waffen und Fahrzeuge durch modernes Gerät ersetzt wer-den. Die neue Bundesregierung wird die Bundeswehr führen – abernicht verwalten. Sie wird sich dabei von erfahrenen Offizieren be-raten lassen. Sie bringt den Soldaten das selbstverständliche Ver-trauen entgegen, denn die Bundeswehr dient immer nur dem ganzenStaat und darf niemals Werkzeug der jeweils regierenden Partei sein.

3. Das Werk der europäischen Einigung ist unvollkommengeblieben. Die Aussöhnung mit unserem französischen Nachbarnwird vom ganzen Volk getragen und hat eine schwere Last von dereuropäischen Entwicklung genommen.

Die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war eingroßer Schritt nach vorn. Die Bundesregierung wird darauf hinwir-ken, daß die Zersplitterung innerhalb der bestehenden Gemeinschaf-ten beseitigt und die parlamentarischen Kontrollen verstärkt werden.

Europa besteht nicht nur aus der Gemeinschaft der Sechs. Dieneue Bundesregierung wird alle Anstrengungen machen, um denGegensatz zwischen EWG und EFTA so schnell wie möglich zuüberwinden und damit engere Beziehungen zu Großbritannien her-zustellen. Jeder Zeitverlust erschwert die Zusammenarbeit des gan-zen Europa.

Die Bundesregierung wird die neue Organisation für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unterstützen undaktiv in ihr mitarbeiten.

4. Zu den neuen Elementen ihrer Außenpolitik werden dieBemühungen der künftigen Regierung gehören, mit allen ost-europäischen Völkern, vor allem mit dem polnischen Nachbarvolk,friedlich zusammenzuarbeiten und das Verhältnis zu ihnen zu ver-sachlichen. Dabei kann einem Friedensvertrag nicht vorgegriffenwerden.

Der neuen Bundesregierung wird es nicht nur um Formalitäten,sondern um den Inhalt der Beziehungen gehen. Ein besseres gegen-

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seitiges Verständnis kann ohnehin nicht beschlossen, sondern mußgewollt, gefördert und gepflegt werden.

Unabhängig von den gegenwärtigen politischen Schwierigkei-ten müssen wir uns immer daran erinnern, daß Europa nicht an derElbe aufhört und daß wir einer europäischen Zusammenarbeit denWeg ebnen müssen, die Ost und West zusammenführt.17

5. In der Entwicklungshilfe hat die bisherige Bundesregierungeine unglückliche Rolle gespielt. Sie hat die Aufgabe zu spät erkanntund dann geglaubt, mit großen Summen eine fehlende Konzeptionersetzen zu können.

Die Bundesrepublik kann und will auf die Freundschaft der jun-gen Nationen nicht verzichten. Wir wollen sie gewiß nicht zu Ver-bündeten im Kalten Krieg, sondern zu Freunden, denen wir mit Res-pekt vor ihrem eigenen Weg, ihrer eigenen Tradition und ihrer be-sonderen Lage gegenübertreten. Wir müssen bereit sein, zu helfen,wo diese Hilfe erwünscht ist und wo sie im Rahmen unserer Mög-lichkeiten liegt.

Die neue Bundesregierung wird das verwaltungsmäßige Durch-einander beseitigen und fortlaufend einen angemessenen Beitrag inden Haushalt einstellen. So dienen wir unserem Wunsch und un-serer Glaubwürdigkeit, Menschen zu helfen, die noch immer vonHunger und Seuchen geplagt sind. Sie haben das gleiche Recht wiewir, menschenwürdig zu leben.

Die neue Bundesregierung sieht eine weltweite Partnerschaftbewußt als einen ihrer außenpolitischen Schwerpunkte.

Die neue Bundesregierung wird geeignete junge Menschen auf-rufen, den jungen Nationen zu helfen. Sie wird dafür sorgen, daß denEntwicklungshelfern bei der Rückkehr in ihre Heimat keine Nach-teile erwachsen.

6. Die neue Regierung wird alles tun, um die fachlichenFähigkeiten und die Verantwortungsbereitschaft des AuswärtigenDienstes der Bundesrepublik zu mehren und wirkungsvoll zu nut-zen. Wir glauben nicht, daß in dieser komplizierten Welt die Einge-bung eines Mannes oder die Sachkunde einiger weniger für alle Pro-bleme ausreichen.

253 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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7. Die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik muß ver-bessert und wirksamer zusammengefaßt werden. Hierzu bedarf esvertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Ländern und mit denfreien Kräften der Kunst, Wissenschaft und Volksbildung.

Die neue Bundesregierung wird einen Deutschen Rat für Inter-nationalen Kulturaustausch berufen. Dieser wird sich vor allem auchder kulturellen Entwicklungshilfe anzunehmen haben. Die deutscheMitarbeit in der UNESCO ist zu verstärken.

Über die Förderung der deutschen Sprache und Bildung hinausmuß ein lebendiger Eindruck davon vermittelt werden, daßDeutschland wieder eine Heimstätte des Geistes und nicht nur deswirtschaftlichen Erfolges ist. In diesem Sinne werden wir derKulturpropaganda des Zonenregimes positiv und überzeugend be-gegnen.

Die künftige deutsche Außenpolitik wird ein Spiegelbild derneuen deutschen Innenpolitik sein: aufgeschlossen, verantwor-tungsbereit, loyal, verpflichtet dem Ausgleich der Interessen, derEntspannung und dem Frieden.

VI.

Das ist unser Regierungsprogramm. Und nun werde ich Ihnen sagen,wie wir die Wahlen gewinnen werden.

Wir werden den Kampf sachlich, hart, positiv, aber vor allemoffensiv führen. Wir werden wirksamere Werbemittel als früher ein-setzen. Aber diese Wahlen werden nicht entschieden in den Bürosvon Meinungsmachern und Meinungsmanipulatoren. Sie werdennicht durch mehr oder weniger gerissene Reklametricks entschieden.Diese Wahlen werden entschieden in den Herzen und Köpfen un-serer Mitbürger, und wir werden zu ihnen hingehen, ihnen in dieAugen sehen und mit ihnen das große Gespräch führen, das in dieEntscheidung des 17. September [1961] einmündet.

Wir werden den Gegner, der sich hinter der Mauer von Vorur-teilen und aufgeputschten Gefühlen verschanzen will, aus dem Ver-steck heraustreiben. Wir werden ihn stellen und schlagen.

254 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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In Arroganz und Hoffart glauben die Berater des CDU-Chefs, sichum das klärende Gespräch im Fernsehen herumdrücken zu kön-nen.18 Sie werden gerade diesen Entschluß noch bereuen. DieserWahlkampf wird zu einer einzigen großen Debatte vor dem ganzenVolk werden.

Auf unserer Seite befindet sich die Kraft einer Volkspartei, dieÜberzeugungstreue und Hilfsbereitschaft unserer Freunde überall.Stärker als früher stoßen zu uns auch unabhängige Gruppen, großeTeile der jungen Generation und der geistigen Kräfte.

Wir werden um jede einzelne Stimme ringen. Wir werden denvielen Menschen, die eigentlich unsere Freunde sind, helfen, überveraltete Klischeevorstellungen hinwegzukommen und den Weg zurrichtigen Entscheidungen zu finden.

Wir machen uns zum Dolmetscher dessen, was zeitgemäß undfür unser Volk gut ist. Die Menschen wollen, daß unsere Bundes-republik zu einer wahren Heimstätte wird. Ausgleich nach innenund außen ist nötig.

Regierungsprogramm und Wahlkampf sind ein einheitlichesGanzes. Mannschaft und Parteiführung sind eine Einheit. Alles istaufeinander abgestimmt, alles fügt sich ineinander. Gemeinsam rin-gen wir um das Vertrauen unseres Volkes. Niemand wird sich dabeischonen. Gemeinsam werden wir die Signale auf freie Fahrt stellen,auf freie Fahrt für eine neue deutsche Politik.

Lassen Sie mich noch ein persönliches Wort sagen. Ich bin ge-fragt worden, warum ich mich bereit erklärt habe, für das Amt desBundeskanzlers zu kandidieren, ob ich es nötig gehabt hätte, michzur Zielscheibe politischer Heckenschützen machen zu lassen, ob ichmich nicht allein auf mein Berliner Amt hätte konzentrieren sollen.

Nun, die Heckenschützen hätten auch eine andere Zielscheibe ge-funden. Sie haben im Grunde nur zu erkennen gegeben, daß sie Angsthaben vor unserer Herausforderung und vor meiner Kandidatur.

Daß ich in Berlin eine große Aufgabe zu erfüllen habe, weiß ichselbst am besten. Aber Berlin liegt nicht auf einem anderen Stern,und die Entscheidung, um die es hier geht, ist für Berlin mindestensso wichtig, wie für jede andere Stadt.

255 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Ich hatte und habe die große Sorge, daß die Zukunft Deutschlandsüberhaupt aufs Spiel gesetzt wird, wenn eine verbrauchte Führung ander Macht bleibt. Und außerdem: Wer zu diesem Amt gerufen wird,darf sich nicht verweigern und darf kein persönliches Opfer scheuen.Dies ist auch das Ergebnis einer ernsten Prüfung vor mir selbst.

Es geht darum, daß unser Volk nicht stehenbleiben darf. DerZukunft und des Lebens wegen muß unser Volk weiter voran.

Wir werden die Wahlen gewinnen, weil wir regierungsfähigsind, weil wir verantwortungsbereit sind, weil wir selbstbewußt undentschlossen sind und weil wir siegen wollen.

Man soll unser Programm unter die Lupe nehmen. Niemandwird guten Gewissens sagen können, es enthalte leichtfertige Ver-sprechungen. Niemand wird sagen können, wir hätten es uns leichtgemacht. Nein, man wird – wenn auch hier und da widerwillig – zu-geben müssen, daß hier ein Alternativprogramm aus einem Guß un-terbreitet wird.

Wir haben sachlich dargelegt, was wir in den nächsten vier Jah-ren durchführen können. Auch dort, wo wir uns mit einem knappenHinweis begnügen mußten, liegen sorgfältige Ausarbeitungen vor. Indem einen oder anderen Punkt wären wir gern einige Schritte wei-tergegangen. Wir haben es nicht getan, weil wir uns nichts vor-nehmen wollen, was wir nicht verantworten können.

Jeder unserer Vorschläge ist hieb- und stichfest. UnabhängigeFachleute haben die finanziellen Auswirkungen dieses Programms inseiner Gesamtheit geprüft und durchgerechnet. Es ist solide undehrlich. Ich verbürge mich für seine Durchführbarkeit.

Unser Volk spürt, daß die alte Richtung abgewirtschaftet hat,daß die alten Kräfte verbraucht sind.

„Adenauer, Erhard und die Mannschaft“ – das ist ein Schlagwortfür Vergeßliche. Es soll vergessen machen, daß der gegenwärtigeBundeskanzler seinen Stellvertreter für unfähig erklärt hat, seinNachfolger zu werden.19 Es ist ein Schlagwort, das die Menschentäuscht. Ich bin überzeugt, daß unser Volk weiß: Wer CDU wählt, derwählt nicht Adenauer, der wählt auch nicht Erhard, sondern einenganz anderen.

256 Rede auf dem a.o. SPD-Kongress, 28. April 1961

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Unser Programm atmet den Geist unserer Zeit. Es ist der Aus-druck neuen Stils.

Es geht um mehr als um einen Wechsel der Parteien. Was vonunserem Volk erwartet wird, ist ein Bekenntnis des Vertrauens inseine eigene Zukunft. Die Ruinen des alten müssen wir hinter unslassen. Die Vergangenheit müssen wir überwinden.

Es geht darum, einen neuen Bundestag und durch ihn eine neueRegierung zu wählen – eine Bundesregierung, die den Weg nach vornkennt und die besten Kräfte des Volkes zusammenfaßt.

Es geht um die Absage an Selbstgefälligkeit, Verneinung undEntzweiung.

Es geht um den Sieg unseres Programms der Zuversicht und derTatkraft, des Verantwortungsbewußtseins und der Gerechtigkeit. DerErfolg dieses Regierungsprogramms wird ein Sieg unserer Nation sein.

Nr. 37Artikel des Kanzlerkandidaten der SPD undRegierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt,für Die Neue GesellschaftJuli–August 1961

Die Neue Gesellschaft 8 (1961) 4, S. 245–249.

Entscheidung für Deutschland

In den nächsten Wochen wird der Wahlkampf in der Bundesrepublikseinen Höhepunkt erreichen. Es ist eine merkwürdige Sache mitWahlkämpfen bei uns in Deutschland. Manche der daran Beteiligtenbetrachten das politische Gespräch mit ihren Mitbürgern vor einersolchen Entscheidung offenbar als eine Gelegenheit, um Stimmungenzu mobilisieren, wobei sich die ins Spiel gebrachten Farben oft zudenkwürdigen Mustern mischen.1 Zugleich pflegen dieselben Poli-

257 Artikel für Die Neue Gesellschaft, Juli–Aug. 1961

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tiker mit einem Augenzwinkern zu versichern, ein Wahlkampf seieben ein Wahlkampf, und man dürfe das alles nicht so ernst nehmen.

Ich halte von dieser bloß taktischen und zuweilen zynischenAuffassung nichts.Vor allem sollten wir uns gerade jetzt davor hüten,Gemeinsamkeiten zu zerreden, die alle politisch verantwortlichenKräfte in der Bundesrepublik selbstverständlich verbinden müssen.Das ist erstens unser Wille, diese Bundesrepublik als einen demo-kratischen Rechtsstaat nach innen und außen zu sichern. Das istzweitensunsere Entschlossenheit, allesNotwendige zur Überwindungder kommunistischen Bedrohung unserer Freiheit zu tun. Das ist drit-tens unser energisches Bemühen um das Recht auf Selbstbestimmungfür unser ganzes Volk und um Ausgleich mit allen unseren Nachbarn.Und das ist viertens, so hoffe ich, die Anerkennung der Notwendigkeit,daß politische Gegner in unserem Lande nicht wieder zu Feindenwerden dürfen. Mancher mag sagen, die Übereinstimmung in diesenGrundsätzen sei nicht viel wert.Wesentlicher seien die Wege, die manzum gemeinsam angestrebten Ziel einschlagen wolle.

An diesem Einwand ist sicher etwas Richtiges. Gerade um dieWege, die wir in der deutschen Politik einschlagen können, geht es beider Entscheidung am 17. September [1961] .2 Meine politischen Freundeund ich sind entschlossen, bei der Suche nach dem jeweils gangbarenWeg nicht dogmatisch und parteiegoistisch vorzugehen, sondern dasGespräch mit allen aufgeschlossenen Menschen in unserem Lande zusuchen. Ich möchte wünschen, daß sich auch die andere große Parteiihren Blick und die Sicht ihrer Verantwortung für das Ganze nichtdurch Filzbrillen verdunkeln läßt, wenngleich manche ungereimteÄußerung des gegenwärtigen Regierungschefs diese Neigung erkennenläßt.

Unabhängige Wissenschaftler und Fachleute sollen bei der Ge-staltung unseres öffentlichen Lebens ihr gewichtiges Wort sprechenkönnen. Wir wollen keine Parteiregierung und keinen Konfessions-proporz bei der Besetzung öffentlicher Ämter.3 Wir wollen eine Re-gierung bilden, die alle Gruppen und Kräfte des Volkes zu gemein-samer Anstrengung und Arbeit zusammenführt. Das bedeutet nicht,es jedem recht machen zu wollen. Es ist vielmehr ein Appell an jeden

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einzelnen Bürger, sich seiner Mitverantwortung für unser allerSchicksal bewußt zu bleiben, über den Wahltag hinaus. Wir werdendiese Politik eines neuen Stils und eines sachlichen Ausgleichs imfreien Teil Deutschlands verfechten, vor und nach den Bundestags-wahlen dieses Jahres.

Hierzu möchte ich einige Bemerkungen anfügen zu der Kritik,die das Regierungsprogramm,4 das ich in Übereinstimmung mitmeinen Freunden der deutschen Bevölkerung zur Entscheidung vor-gelegt habe, bei unseren politischen Mitbewerbern gefunden hat.Diese vielfach an der Sache vorbeigehende Kritik ist darin begründet,daß sich die CDU/CSU natürlich von den Sozialdemokraten unter-scheiden will. Es wäre naheliegend gewesen, das durch ein eigenesProgramm zu tun. Man kann aber bei allem Wohlwollen den KölnerAppell der CDU5 und den Münchner Aufruf der CSU6 nicht als eineAussage über die Grundlinien der Regierungspolitik der nächstenvier Jahre bezeichnen. Es sind Allgemeinplätze, die an Stimmungenappellieren, aber nicht erkennen lassen, in welcher Weise die Politikin den nächsten Jahren geführt werden soll.

Damit wird ein Gebot der Demokratie vernachlässigt: demStaatsbürger die Unterscheidung zu ermöglichen zwischen den Zielenund Absichten der einzelnen Parteien. Mit einem Bekenntnis zumchristlichen Abendland, zu einer Fortsetzung der Politik ohne Phan-tasie, ist es nicht getan. Es ist gewiß zutreffend, daß ein Wahlkampfimmer mit starken Gefühlen verbunden sein wird, aber die Aufgabedemokratischer Parteien bleibt es gerade deshalb, Stimmungen soweitwie möglich mit Argumenten zu konfrontieren. Und ich habe bisheute von der gegenwärtigen Regierungspartei nicht gehört, welchesachlichen Argumente sie gegen das Regierungsprogramm der SPDvorzubringen hat. Die Argumentation, unser Programm sei finanziellnicht durchführbar, hat man längst eingestellt, nachdem die Prüfungvon verschiedenen Seiten die Durchführbarkeit bestätigt hat. Es bleibtjetzt nur, die sachliche Notwendigkeit dessen zu diskutieren, was wirvorgeschlagen haben. Wir haben uns dabei nicht von parteiego-istischen Gesichtspunkten leiten lassen, sondern undoktrinär in dasRegierungsprogramm aufgenommen, was nach objektiven Erkennt-

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nissen notwendig ist, ohne das, was aus finanziellen oder sonstigenGründen in den unmittelbar vor uns liegenden vier Jahren nicht ver-antwortet werden kann. Die Kritik der CDU an unserem Programm istder Versuch, sich ein Alibi für Versäumnisse oder für den Mangel aneinem eigenen Programm zu beschaffen.

Die gegenwärtige Regierungspartei sagt unserem Volk nicht, wo-hin die Reise in den nächsten vier Jahren gehen soll. Sie stützt sich inihrer Argumentation auf eine überholte Farbenskala in der deutschenPolitik, auf Begriffe, die seit langem unscharf geworden sind. Wortewie liberal, konservativ, sozial sind heute in dem, was sie sachlichmeinen, nicht mehr ohne weiteres eindeutig. Sie bedürfen der Klä-rung durch den, der sie verwendet. Natürlich kann man sagen, kon-servativ sei eine Politik, die das erhalten will, was ist, und restaurativsei eine andere, die etwas wiederherstellen will, was schon vergangenist. Sozial ist selbstverständlich das christliche Gebot der Näch-stenliebe, und Liberalität (etwa im Sinne von Theodor H e u s s ) istein Wesenszug jeder freiheitlichen modernen Demokratie.

Heute kommt es auf die Folgerungen an, die die einzelnen poli-tischen Parteien aus diesen Ideen ziehen, wie sie diese Ideen ver-wirklichen wollen. Das kann man nur, wenn man genau sagt, wasman in den verschiedenen Bereichen der Politik zu tun vorhat. DenSozialdemokraten ist es bei ihrem Regierungskonzept genau darumgegangen. Sie haben ihren Mitbürgern gesagt, auf weiche WeiseFreiheit, Gerechtigkeit und ein Zusammenleben, das von der Näch-stenliebe und von der Solidarität bestimmt sein soll, heute zu ge-stalten sind. Sie haben damit den Sprung von überholten und starrenIdeologien zu den lebendigen großen Ideen gewagt, die nach wie vorunser staatliches und persönliches Leben bestimmen müssen, wennwir ein Volk und eine große Gemeinschaft bleiben wollen.

Eine unserer Zeit gemäße Antwort auf die Spannungen zwischendem Einzelnen und der Gesellschaft kann man nicht in einer theo-retischen Polarisierung von Staat bzw. Gesellschaft und Individuumfinden, sondern nur durch ein Ausgleichen der Anliegen, die der ein-zelne Bürger an die Gesellschaft, an den Staat heranträgt, und denForderungen, die die Gemeinschaft an ihre Bürger richten muß.

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Die Sozialdemokraten sind mit der Reform ihrer politischenVorstellungen einem alten Grundsatz treu geblieben: das offen zusagen, was sie denken und wollen. Ich brauche mich nicht mit demEinwand zu befassen, unser Programm sei ein Ergebnis opportunis-tischer Erwägungen. Wer die Geschichte der Sozialdemokratie undihren Kampf für unser Volk kennt, weiß, daß ein solcher Vorbehaltnur bösem Willen oder Unkenntnis entspringen kann.

Aber es geht heute eben nicht mehr, daß man Politik einfach imStile der Großväter weiter betreibt. Nicht nur die Bedingungen derAußenpolitik, auch die innenpolitischen Gegebenheiten haben sichin den letzten Jahrzehnten verändert. Eine politische Partei, die denAnspruch erhebt, unser Volk sicher in die Zukunft führen zu wollen,muß daraus ihre Folgerungen ziehen. Wer das bestreitet oder es je-mandem anlastet, der einen solchen Weg gehen will, der kennzeich-net sich selbst als einen Anhänger großväterlicher Erinnerungen. Siegeben keine Konzeption für die deutsche Zukunft her.

Es verrät die Verlegenheit der gegenwärtigen Regierungspartei,wenn sie meinen politischen Freunden und mir vorwirft, in einenfarblosen und langweiligen Wohlfahrtsstaat hineingleiten zu wollen.Der Begriff Wohlfahrt ist eine schlechte Übersetzung des englischenwelfare, was sich eher mit Wohlergehen übersetzen und als derAnspruch jedes Menschen deuten läßt, ein glückliches Leben ohneNot und Furcht führen zu können. Dem Wort Wohlfahrt haftet imDeutschen das Odium einer von Standesvorurteilen noch belastetenFürsorge an. Wir sprechen deshalb von einem modernen, sozialenRechtsstaat. Diesen sozialen Rechtsstaat hat die Regierung Adenauernicht geschaffen. Sie verwechselt das Recht häufiger als zuträglichmit den Auffassungen einer wandelbaren Parlamentsmehrheit, undsie hat eine Sozial- und Wirtschaftspolitik betrieben, die wenigensehr viel zukommen ließ. Was ist das für eine politische Parole, dieden arbeitenden Menschen in unserem Volk sagt, Bescheidenheit seieine Tugend, die sich aber gleichzeitig auf zahlenmäßig kleine Grup-pen stützt, die seit Jahren mit Hilfe dieser Bundesregierung einenübersteigerten Lebensstandard zu ihrem Götzen machen! Die Bären-jagden in den Karpaten oder die Spesenmißwirtschaft einzelner Krä-

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merschichten sind nur zwei extreme Beispiele für die doppelte Moraleiner solchen Politik. Ich möchte sie nicht einfach im alten Sinnekapitalistisch nennen, aber sie ist durch und durch unaufrichtig.

Ich halte nichts von einer verallgemeinernden Kritik am soge-nannten Wohlstandsdenken, solange dieser Wohlstand so ungleich-mäßig verteilt ist wie heute. Die Gefahren des Wohlstandes kannman schließlich nur am Verhalten derjenigen studieren, die ihn ha-ben. Ich bin mit meinen Freunden der Auffassung, daß in einer ent-wickelten Industriegesellschaft jeder Bürger das selbstverständlicheRecht hat, ohne materielle Sorgen leben zu können. Damit sind nichtalle Probleme des Lebens gelöst, aber man soll hier nicht Aufgabender Bildung mit dem Gebot gleicher Startchancen für jeden und einergerechten Verteilung des Wohlstandes verquicken oder verwechseln.Es ist leider kennzeichnend für das Denken der noch in Bonn regie-renden Partei, daß sie unsere These vom doppelten Lebensstandard ineiner Generation dahin hat mißverstehen können, wir wollten jedemsozusagen statt eines Autos nun zwei Autos geben und neben einemFernsehgerät in der guten Stube noch ein zweites auf den Nachttischstellen. Kaum etwas verrät die politische Moral des doppelten Bodensvon vielen Politikern der CDU/CSU so deutlich wie dieses Mißver-ständnis. Wir haben in unserem Regierungsprogramm unmiß-verständlich gesagt, daß wir die Absicht haben, den steigendenLebensstandard unseres Volkes auch für die Lösung von großen Ge-meinschaftsaufgaben in der Gesundheits- und Verkehrspolitik, inWissenschaft und Bildung, in der Sorge für unsere Alten und in derFamilienhilfe einzusetzen. Das ist etwas völlig anderes als eine Poli-tik, die dem Meistbietenden ihre Gunst erweist und die Mehrheit aufdie Zehn Gebote verweist.

In der Eigenart der modernen Demokratie liegt es begründet, daßdie politischen Aussagen der Parteien nicht zuletzt in den Personendeutlich werden, die sie für die Übernahme von Führungsaufgabenim Staat nominieren. Ich bin stolz darauf, daß die deutschen Sozial-demokraten unserem Volk vorgeschlagen haben, mir das Vertrauenzu geben, die Regierung unseres Landes verantwortlich zu führen.Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich nicht die Absicht

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habe, den autokratischen Regierungsstil des gegenwärtigen Bundes-kanzlers fortzusetzen. Das sei gesagt, ohne die persönliche Leistungund die Eigenarten Konrad A d e n a u e r s Mißverständnissenaussetzen zu wollen. Aber außerdem entscheidet die Septemberwahldieses Jahres nicht darüber, ob Konrad A d e n a u e r oder ich dieFührung der Regierung übernehmen. Die Deutschen haben imGrunde darüber zu befinden, ob sie den von den Sozialdemokratenvorgeschlagenen Bewerber oder Franz Joseph7 S t r a u ß wählenwollen. Ludwig E r h a r d , der Apostel einer nicht ganz so freienMarktwirtschaft, würde nur ein Statthalter sein können. Ich führedeshalb diesen Wahlkampf nicht so sehr gegen Konrad A d e -n a u e r als gegen die Ideenlosigkeit, einen ethisch verbrämtenKrämergeist von Politikern der CDU/CSU und ihrer Exponenten.S t r a u ß und ich würden uns noch deutlicher, als das heute schonsichtbar ist, in einer politischen Grundfrage unterscheiden: Ich willder deutschen Politik eine starke, beständige, verläßliche Führunggeben. S t r a u ß würde, so fürchte ich, der Politik in unserem Landeden Stempel seiner Herrschaft und den seiner Partei aufprägen wol-len. Er würde den lebensnotwendigen Kreislauf der Ideen und derGestaltung in einem demokratischen Gemeinwesen bei sich be-ginnen und enden lassen, ohne daß die übrigen Organe und Gruppendes Staates und der Gesellschaft eine andere Aufgabe behielten als dieder Akklamation.

Unser Volk entscheidet deshalb am 17. September [1961] nichtnur zwischen zwei großen politischen Parteien, von denen die einesagt, was sie will, und die andere sich einem arithmetischen Mittelvon Opportunismus und Stimmungen anvertraut. Wir Deutschenentscheiden gleichzeitig darüber, welcher politische Stil unser Zu-sammenleben prägen soll. Dieses Zusammenleben muß frei bleibenvon jeder dogmatischen, weltanschaulichen und ideologischen Er-starrung oder Verengung. Die Freiheitlichkeit unseres Staates darfnicht eingeschränkt werden durch das Bleigewicht einer patheti-schen Vereinsmeierei und von den unterschiedlichen Graden derWahrheit, für deren Differenzierung schon der bisherige Regie-rungschef einen so ausgeprägten Sinn entwickelt hat.

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Wir wollen die Führung in der deutschen Politik übernehmen,weil wir zutiefst davon überzeugt sind, heute die politische Kraft zusein, die darauf einen Anspruch erheben kann und muß. Ich möchtemich nicht zu den etwas verfrühten Überlegungen äußern, wer dennnach den Wahlen mit wem und unter welchen Bedingungen eineKoalition bilden könnte. Niemand weiß, ob die außenpolitische Ent-wicklung uns nicht sehr bald dazu zwingen könnte, innerstaatlicheErwägungen in den Hintergrund zu rücken. Wem es tatsächlich umein Zusammenwirken aller Kräfte und fruchtbaren Ideen in derdeutschen Politik geht, der kann aus dogmatischen oder taktischenGründen keine mögliche Koalition ausschließen, sondern er wird beidieser Entscheidung von der Sache ausgehen müssen. Über diese Sa-che aber äußern sich erst einmal die Bürger unseres Landes.

Ich schlage dem deutschen Volk eine Politik vor, die von einemaufgeschlossenen Wirklichkeitssinn, von einer unorthodoxen Vor-stellungskraft und von einem starken Gestaltungswillen bestimmtsein wird. Ich vertraue darauf, daß unser Volk die Zeichen der Zeitversteht und mutig das Tor zu seiner Zukunft öffnet.

Nr. 38Artikel des Kanzlerkandidaten der SPD, Brandt,für die Süddeutsche Zeitung14. September 19611

AdsD,WBA, A 3, 125.

Der Wahlkampf zum vierten deutschen Bundestag ist nun zuende. Erhat sich vor dem ernsten Hintergrund der Schandmauer und derneuen Atompilze vollzogen.2

Am Ende dieser innenpolitischen Auseinandersetzung steht dieFrage, ob wir uns dieser besonderen Lage, in der sich unser Volk be-findet, gewachsen gezeigt haben.

264 Artikel für die Süddeutsche Zeitung, 14. Sept. 1961

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Ich empfinde einen gewissen Stolz darauf, dass meine Freundeund ich uns ständig bemüht haben, fair und sachlich zu bleiben. Wirhaben es uns nicht leicht gemacht.Wir hatten dabei den Vorteil, dasswir unsere Grundforderung, das Gemeinsame über das Trennende zustellen, nach dem 13. August [1961] nicht zu ändern brauchten. DasVerlangen nach Gemeinsamkeit in den Existenzfragen unserer Na-tion ist in diesen Wochen nur für jedermann überzeugend geworden.Unsere Forderung war auch vorher richtig. Jetzt weiss jeder, dassdiese Forderung notwendig ist.

Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte es spätestens seit dem14. August [1961] eine enge Zusammenarbeit aller verantwortlichenKräfte in der Bundesrepublik gegeben. Wir hätten den Wahlkampfim herkömmlichen Sinne beendet. Das bedeutet nicht, dass die Wahlselbst hätte vertagt werden müssen. Ein mündiges Volk kann sehrwohl auch ohne die Begleitmusik eines überhitzten Parteienstreitsseine innenpolitische Entscheidung treffen. Wir hätten gelernt, unsüber die Innenpolitik sachlich auseinanderzusetzen und nach aussenzusammenzustehen.

Ich muss meinen innenpolitischen Gegnern den Vorwurf ma-chen, dass sie sich dieser Lage nicht gewachsen gezeigt haben. Siehaben zuweilen getan, als würde die deutsche Geschichte am 17. Sep-tember [1961]3 zuende sein. Sie haben den Appell zur Gemeinsamkeitabgelehnt, obwohl sie selbst wissen, dass wir schweren Wochen ent-gegensehen, in denen uns bittere Rechnungen für manches Ver-säumnis der Vergangenheit präsentiert werden dürften. Keine Parteiwird die dann fälligen Entscheidungen allein auf ihre Schulternnehmen können.

Wir werden das Panier der deutschen Selbstbestimmung nichtsinken lassen dürfen. Das ist die Selbsterhaltungspflicht der Demo-kratie, es ist unsere nationale Pflicht und es entspricht unserer Ver-antwortung gegenüber unseren Freunden in der Welt, wenn nichtder 13. August [1961] auch die Geburtsstunde von Geistern werdensoll, die wir ein für allemal verbannen müssen.

Die letzten Wochen haben aber auch eine Reihe von Vorurteilenüber die Menschen in der Bundesrepublik revidiert. Es ist ein tiefer

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Schock durch unser Volk gegangen, der diejenigen Lügen straft, diegemeint haben, alle unsere guten Eigenschaften, Fleiss, Gründlich-keit und Tüchtigkeit seien in die Ellenbogen gerutscht und würdennur noch zum persönlichen Fortkommen eingesetzt werden. Diegeistigen und moralischen Kräfte, die unserem Volk oft abge-sprochen werden, sind in Wahrheit vorhanden. Sie sind nur nichtgeweckt worden; aber wir werden sie brauchen.

Die bisherige Bundesregierung hat es nicht verstanden, die mo-ralischen Kräfte unseres Volkes zusammenzufassen. Sie ist dafürverantwortlich, wenn heute die Gefahr besteht, dass wir in die voruns stehende Krise mit der Belastung der inneren Zwietracht hin-eintaumeln. Das ist eine Schuld, an der wir alle schwer zu tragen ha-ben werden. Ich hoffe, dass es keine historische Schuld ist.

Die CDU/CSU hat in der letzten Phase des Kampfes zu der Waffeder Verleumdung gegriffen.4 Es hat Angriffe gegen mich gegeben, diewörtlich mit den Angriffen der Kommunisten in Ost-Berlin gegen michübereinstimmen. Man ist so blind geworden, nicht zu merken, wennman aus dem gleichen Verleumdungskübel wie Ulbricht schöpft.

Die CDU/CSU hat nicht einmal gezögert, unserem gemeinsamenerbitterten Widersacher in die Hände zu spielen, indem sie ihn zumSchiedsrichter anrief. Ich empfinde das als eine zutiefst unwürdigeHaltung.

In diesen letzten Tagen des Wahlkampfes sollte das Volk in eineneue Verwirrung gestürzt werden. Die CDU/CSU ist mit Adenauer alsihrem Spitzenkandidaten in den Wahlkampf gezogen. Sein Kopf istimmer noch auf den Plakaten. Es gibt keine andere Erklärung als die,dass der Kanzlerkandidat der CDU/CSU Adenauer heisst.

Nun versucht man, den Eindruck zu erwecken, als ob die [CDU/]CSU mit dem Gedanken kokettiert, Adenauer durch Erhard zu er-setzen. Das bedeutet, vom Wähler einen Blankoscheck zu verlangen,den die [CDU/]CSU nach der Wahl ihrem Parteiinteresse entspre-chend ausfüllt. Drei Tage vor der Wahl ist die CDU/CSU in einer Si-tuation, in der sie zwar von Stabilität einer Regierung redet, inWahrheit aber dem deutschen Volk mehrere Regierungsumbildun-gen während der vor uns liegenden vier Jahre ankündigt.

266 Artikel für die Süddeutsche Zeitung, 14. Sept. 1961

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Sie verlangt eine starke Regierung und lehnt trotzdem die Ge-meinsamkeit ab. Sie erzeugt ein Zwielicht zwischen Adenauer undErhard in der Annahme, dass niemand sich danach fragt, was nachErhard kommt. Professor Erhard ist ein guter Wirtschaftsminister,aber ich glaube nicht, selbst wenn man der Meinung des derzeitigenBundeskanzlers nicht folgt,5 dass Erhard von Politik nichts verstehe,dass er die Regierung zusammenhalten oder Franz-Joseph6 Straussdaran hindern könnte, die oberste Sprosse zu besteigen. Keine deut-sche Regierung der nächsten vier Jahre könnte den Streit dieser bei-den Männer um die Führung ertragen.

Die Stabilität einer starken Regierung auf breiter Basis, die fürSicherheit und Frieden sorgt, kann nach Lage der Dinge nur gewähr-leistet werden, wenn meine Freunde und ich die Mehrheit erhalten.Die Risse in der CDU/CSU-Führung disqualifizieren sie, in der näch-sten Legislaturperiode die Führung zu übernehmen.

Die CDU/CSU sucht heute, drei Tage vor der Wahl, einen Kanz-lerkandidaten. Unser Volk aber wird sich am Sonntag entscheidenmüssen. Es ist die Entscheidung zwischen einem doppelten Ja undeinem doppelten Nein, zwischen dem Ja und Nein zu unserem gros-sen Programm der nationalen Notwendigkeiten, mit dessen Hilfe wirunseren Staat zu einer Heimstätte für alle ausgestalten können. Amkommenden Sonntag wird aber auch entschieden zwischen dem Jaund Nein zur gemeinsamen Verantwortung in den Lebensfragen un-seres Volkes.

Ich vertraue auf den Sinn für Anstand, für Fairness und fürSelbstvertrauen in unsere eigene Zukunft. Gemeinsam wird es leich-ter sein, für die Erhaltung des Friedens wirklich etwas zu tun. Ichweiss, dass Millionen von Menschen dies genauso empfinden. Dasgilt gerade für die Stillen im Lande, die sich kopfschüttelnd abge-wendet haben, weil ihr Vertrauen missbraucht worden ist. Ich hoffe,dass jeder einzelne dieser Menschen an unsere Landsleute hinter demStacheldraht denkt, die am Sonntag eine Wahl ohne Urne vor-nehmen müssen.7 Im freien Teil unseres Landes hat jeder wirklichdas Recht, zu entscheiden und zu bestimmen. Ich kann nur wün-schen, dass alle diese Menschen keine Furcht haben und ihrer in-

267 Artikel für die Süddeutsche Zeitung, 14. Sept. 1961

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neren Stimme folgen. Ich bin überzeugt, dass wir mit einer starkenneuen Regierung auf einer möglichst breiten Basis die vor uns lie-genden Schwierigkeiten meistern werden.

Nr. 39Hs. Notiz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt20. September 19611

AdsD,WBA, A 6, 63 (alt).

1. Am Montag 18.9.[1961] war ich von 16[.00] – 17.00 [Uhr] inder Godesberger Wohnung von B[undes]T[ags]-Präsident Dr. Gersten-maier.

Ich legte ihm dar, weshalb es jetzt einer offenen Orientierung derParteivertreter durch den amtierenden Bundeskanzler bedarf undschilderte ihm, was aussenpolitisch auf uns zukommt. G[ersten-maier] sagte, er sei über diese Dinge nur als Zeitungsleser orientiert.Aber er bestreite nicht, dass sich ein Notstand ergeben könnte, derüber die gemeinsame Beratung hinaus die gemeinsame Regie-rungsverantwortung erforderlich machen würde.2

Es wurden die verschiedenen Möglichkeiten im Zusammenhangmit der bevorstehenden Kanzlerwahl und Regierungsbildungzwanglos erörtert. G[erstenmaier] ging hierbei davon aus, dass Erhardder Nachfolger Adenauers sein würde. Er selbst würde sich nur unterganz aussergewöhnlichen Umständen bereitfinden können, für dieKanzlerschaft zur Verfügung zu stehen.

2. Am Dienstag 19.9.[1961] war ich vormittags – nach Verabre-dung zwischen den Herren Bahr und Schmückle – für eine gute halbeStunde bei F[ranz]-J[osef] Strauss in dessen Bonner Privatwohnung.

Ich appellierte an sein Wissen um den Ernst der auf uns zukom-menden Belastungen und Entscheidungen. Ihn selbst schien dabei

268 Notiz vom 20. Sept. 1961

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„Vertrauliche Notiz“ Willy Brandts über ein Gespräch mit Bundestags-präsident Eugen Gerstenmaier, 20. September 1961

269 Notiz vom 20. Sept. 1961

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besonders zu beschäftigen, dass die Souveränität der Bundesrepublikauf verteidigungspolitischem Gebiet eingeengt werden könnte.

Er bejahte vollinhaltlich den Vorschlag der Orientierung undgemeinsamen Beratung. Hieraus sollte seiner Meinung nach etwasBeständiges werden.

Für den Fall eines noch klarer sichtbaren Notstandes wollte erauch die Möglichkeit eines Allparteien-Kabinetts nicht ausschlies-sen.3 Im übrigen sei über die Regierungsbildung noch nichts ent-schieden. Er werde dem Kanzler im Laufe des Vormittags einige Vor-schläge und bittere Wahrheiten namens der CSU übermitteln.

Auf den Wahlkampf nahmen wir beide nur mit wenigen SätzenBezug.

Str[auß] meinte, man müsse sich doch einmal eingehender un-terhalten. Ob ich nicht einmal eine Einladung zum Essen bei ihmannehmen würde. Ich lehnte dies nicht ab.

Er fragte, ob er meinen Vorschlag betr. Orientierung und ge-meinsame Beratung als parteioffiziell betrachten und davon Ge-brauch machen könne. Ich bejahte dies und fügte hinzu, er könneauch von der Tatsache der Unterhaltung mit mir Gebrauch machen.<Br[andt]>4

Nr. 40Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Brandt,an den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Wehner3. Januar 19621

AdsD,WBA, A 6, 33 (alt).

Lieber Herbert,habe noch einmal Dank für Deinen Brief vom 17. Dezember [1961],über den ich mich – nicht nur wegen der Glückwünsche zum Ge-

270 Brandt an Wehner, 3. Jan. 1962

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burtstag – gefreut habe.2 Meine guten Wünsche zum neuen Jahrmöchte ich für Dich und die Deinen wiederholen.

Das Gespräch zwischen uns kann nun leider erst stattfinden,wenn ich aus Tunesien zurück sein werde. Ich werde mich nach derRückkehr aus dem Urlaub melden, damit wir uns über Ort und Ter-min verständigen. Wahrscheinlich ist es am zweckmäßigsten, wennwir es mit meinem nächsten Aufenthalt in Bonn verbinden.

Heute möchte ich mich nur kurz zu folgenden Punkten äußern:1. Wie Du weißt, hat sich hier „senatsseitig“ einiges verän-

dert.3 Karl Schiller wird es als Wirtschaftssenator nicht leicht haben,vor allem, da er bis auf weiteres auch keinen Senatsdirektor hat. Aberich bin überzeugt, daß er uns wertvolle Energien zuführen wird.Heinrich Albertz hat sich, nach allem, was ich übersehen kann, schonin wenigen Tagen gut in sein neues Ressort eingearbeitet. KlausSchütz sind Vorschußlorbeeren erspart geblieben. Das ist gar nicht soschlecht, denn er kann nun beweisen, daß die hier und da zum Aus-druck gebrachte Skepsis nicht berechtigt ist. Ernst Sünderhauf alsneuer Chef der Senatskanzlei bringt nicht nur die Erfahrungen alsReinickendorfer Stadtrat und als Senatsdirektor der Finanzverwal-tung mit. Er ist ja auch ein alter Parteihase, der auf seine Weise mit-helfen wird, meine verschiedenen Tätigkeiten vernünftig zu koor-dinieren. Als neuen Persönlichen Referenten haben wir uns fürAssessor Staar entschieden, der mich während der ganzen Deutsch-landreise und während des eigentlichen Wahlkampfes begleitethatte. – Ich halte es nebenbei gesagt für durchaus erwünscht, wennsichtbar wird, daß Genossen, die sich bewährt haben, auch in derVerwaltung vorankommen.

2. Was den Parteitag in Köln betrifft, bin ich selbstverständlichbereit, ein Referat zu übernehmen, das etwas über die StellungDeutschlands in der heutigen Welt aussagt.4 Ich bitte nur zu über-legen, ob man den Rahmen nicht so setzen könnte, daß neben der„Außenpolitik“ auch – hoffentlich fundierter als bisher – etwas zuden vernachlässigten Gemeinschaftsaufgaben gesagt werden könnte.Den Gedanken, ein besonderes Referat zur Lage und zu den Aufgabender jungen Generation vorzusehen, halte ich für sehr erwägenswert.

271 Brandt an Wehner, 3. Jan. 1962

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Wenn noch ein „Fachthema“ gefunden werden soll, sollte man über-legen, ob wir nicht jemanden finden können, der sich gründlich undwirksam mit den Problemen der Volksgesundheit befaßt.

3. Zur Frage der Parteispitze hatte ich vor Weihnachten in Pa-ris ein Gespräch mit Fritz [Erler]. Ich hatte den Eindruck, daß er ausdurchaus nicht egoistischen Gründen für eine Konstellation ist, dieihn mit ins Spiel bringt. Dies ist wohl im besonderen eine Sache, überdie wir noch einmal in aller Ruhe sprechen sollen.

4. Eine Beschlußfassung über den „Planungsstab“ sollten wirtatsächlich aufschieben, bis wir den Parteitag hinter uns gebrachthaben.5 Ich habe Klaus Schütz gebeten, inzwischen mit Alfred [Nau]und Dir beziehungsweise Erich [Ollenhauer] zu sprechen, damit ei-nige praktische Dinge anlaufen können. Es geht einmal darum, daßich die hier noch immer reichhaltig anfallende Korrespondenz wei-terhin bearbeiten lassen kann. Es geht zum anderen auch darum, daßman beginnen sollte, den einen oder anderen Auftrag zu vergeben,der Planungsaufgaben betrifft und der einen in die Lage versetzenwürde, konkreter als bisher darzulegen, worum es eigentlich geht.Ich weiß nicht, ob schon zugunsten einer „Forschungsstelle“ beim PVentschieden ist.6 Es gibt hierzu auch Anregungen von [Ulrich]Lohmar, die man prüfen sollte. Er geht davon aus, daß gewisse Ver-bindungen zu jüngeren nicht parteigebundenen Wissenschaftlernbesser unter der Firma der Fraktion gepflegt werden könnten. MitWerner Steltzer, der die Leitung unseres neuen Informationszen-trums7 übernommen hat, werde ich heute darüber sprechen, wie wirihn und andere aus dem Kreis um Dr. Robinsohn vernünftig mitunserer Arbeit verbinden können.8 Aber es kommen ja noch vieleandere Dinge hinzu, so auch der gar nicht unwichtige Kontakt zurGruppe 47.9

Mit herzlichen GrüßenDeingez. Willy Brandt

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Nr. 41Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtan den Vorsitzenden der SPD, Ollenhauer, den stellvertretendenVorsitzenden der SPD Wehner und den Schatzmeister der SPD,Nau4. Juni 1962

AdsD,WBA, A 6, 33 (alt).

Liebe Freunde,im Anschluß an unsere kurze Unterhaltung am Mittwochnachmit-tag, möchte ich gern darauf hinweisen, dass meine terminlichenVerpflichtungen in Berlin – jedenfalls in den nächsten Monaten –den Vorrang haben müssen. Mein Auftreten in Westdeutschlandsollte unbeschadet der neuen Funktion1 „überparteilich“ sein, wo esdie Notwendigkeiten erfordern. Auslandsaufenthalte werden von miraus auf ein Minimum reduziert (bisher nur: Anfang Oktober, HarvardUniversität)2. Mein Sommerurlaub ist für Mitte Juli bis Mitte Augustvorgesehen (wahrscheinlich Norwegen).

Im übrigen möchte ich folgende Punkte festhalten:1. Über mein Büro im Parteihaus werde ich bei nächster Gele-

genheit mit Alfred [Nau] sprechen.Hierbei wird auch die Frage einer Sekretärin, die das Büro be-

treut, zu klären sein.Die Frage eines weiteren Mitarbeiters wird sich aus der Notwen-

digkeit ergeben, einen Sekretär für die in Aussicht genommene Pla-nungsgruppe zu bestellen.

2. Das Büro in der Müllerstraße wird aufrechterhalten als Ber-liner Büro des PV und damit auch des in Berlin tätigen stellver-tretenden Parteivorsitzenden. Neben Jochen Holtz als Sekretär ge-hören diesem Büro Jule Hammer (nebenberuflich) und WolfgangMüller (auf Honorarbasis) an.

3. Ich werde meinen Persönlichen Referenten Winfried Staar– bei dem mein Terminplan geführt wird – beauftragen, eine Verfah-

273 Brandt an Ollenhauer, Wehner und Nau, 4. Juni 1962

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rensregelung zu entwerfen, die das gute Zusammenwirken zwischenden Bonner und Berliner Büros und meinem Büro im Rathaus ge-währleistet. Dies gilt auch für die Unterrichtung des Berliner Lan-desvorstandes sowie für den Kontakt zwischen meinem Pressechefund der Presseabteilung des P.V.

4. Wegen der Sitzungen des Präsidiums ist vorgesehen, daß ich– wenn nicht etwas Außergewöhnliches dazwischen kommt – jeden-falls an jedem ersten Montag in Bonn bin, und zwar auch schon zuVorbesprechungen am Vormittag. Es ist vereinbart worden, daß dasPräsidium einmal im Monat in Berlin tagt. Ich würde vorschlagen,hierfür jeden 3. Montag im Monat in Aussicht zu nehmen.

Klaus Schütz sollte als mein Vertrauensmann für die Verbin-dung mit der Arbeit des Präsidiums sorgen und in meiner Abwesen-heit auch Gelegenheit haben, meine Vorschläge zu unterbreiten.

5. Von Wichtigkeit erscheint es mir, daß wir uns kurzfristigüber eine mögliche Reorganisation der Arbeit im Parteihaus ver-ständigen. Wenn auch hierüber erst in der zweiten Juliwoche nähergesprochen werden sollte, ist es doch wichtig, daß schon einige Vor-arbeiten geleistet werden, d. h.:

a) Herbert [Wehner] sollte die Gedanken zu Papier bringen, dieer Mittwochnachmittag skizziert hat.

b) Alfred [Nau] sollte nach einem Gutachter bzw. einer FirmaAusschau halten, die wir damit beauftragen könnten, wie wir un-seren „Betrieb“ den heutigen Gegebenheiten entsprechend so effektivwie möglich gestalten können.

6. Ich möchte die schon vor Monaten erörterte Planungs-gruppe3 bilden und darf Euer Einverständnis voraussetzen, daß ichhierüber in der nächsten Präsidiumssitzung meine Vorstellungen vor-trage. Im einzelnen möchte ich heute auf folgende Punkte hinweisen:

a) Wir waren uns darüber einig, daß die Planungsgruppe keineEntscheidungskörperschaft ist, sondern ein Organ, mit dessen Hilfeeiner der beiden stellv.[ertretenden] Vorsitzenden – vor allem lang-fristige – Entscheidungen des PV vorzubereiten hilft.

b) Wir waren uns weiter darüber einig, daß – neben mir –Herbert [Wehner] der Planungsgruppe angehört. Ich würde im übri-

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gen davon ausgehen, daß der Vorsitzende und der Schatzmeister vorjeder Zusammenkunft der Gruppe unterrichtet werden und sie ent-scheiden, ob sie selbst teilnehmen wollen.

c) Wegen der Verzahnung mit der Arbeit der Fraktion würdeich die regelmäßige Mitarbeit von Fritz Erler (eventuell zu vertretendurch Karl Mommer) für erwünscht halten.

d) Objektiv erwünscht wäre die Mitarbeit von je einem Ge-nossen für die Arbeitsgebiete: Länder, Gemeinden, Gewerkschaften.Es ist jedoch nicht erforderlich, daß hierfür sofort eine Lösung ge-funden wird. Wir können uns auch mit der Methode des Hinzu-ziehens von Fall zu Fall begnügen, die ohnehin auf anderen Gebietenwird angewendet werden müssen.

e) Der Planungsgruppe sollten weiter angehören:der zu bestellende Sekretär der Planungsgruppe,Klaus Schütz,Karl Garbe,der verantwortliche Mitarbeiter des Grundlagenreferats, nachdemauf diesem Gebiete die entsprechenden Erfahrungen vorliegen,ein Vertreter des Godesberger Instituts,ein noch zu bestimmender Mitarbeiter auf dem Gebiet der Pub-lizistik.

f) Für die sekretariatsmäßige Betreuung der Planungsgruppehabe ich bisher keinen personellen Vorschlag. Es sollte vielleichtnoch einmal geprüft werden, ob hierfür Herm[ann] Bortfeldt, den ichleider nicht näher kenne, in Betracht käme.

g) Ich würde in Aussicht nehmen, daß die Planungsgruppezweimal im Monat zusammentritt, am besten am Freitag. (In mei-nem Terminplan sind der 1. und 3. Freitag für Verpflichtungen au-ßerhalb Berlins reserviert.)

7. Der Vorschlag Waldemars [von Knoeringen] bzw. der Auf-trag des Stuttgarter Parteitages,4 ein wissenschaftliches Büro zu er-richten, sollte wie folgt verwirklicht werden:

a) beim PV wird ein Referat für Gruppenarbeit, dabei insbe-sondere für die Beibringung der für unsere Arbeit erforderlichenwissenschaftlichen Unterlagen, eingerichtet.5 Für dieses Referat

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könnte Gen[osse] Helfer in Betracht kommen, falls er nicht durchseine kulturpolitischen Arbeiten in Anspruch genommen bleibt. Au-ßerdem sollte eine Form gefunden werden, Ulrich Lohmar fest indiese Tätigkeit einzubinden.

b) es werden die erforderlichen Absprachen getroffen, um dieMöglichkeiten der [Friedrich-]Ebert-Stiftung in vollem Umfang nutz-bar zu machen.

c) es werden die erforderlichen Kontakte zu Instituten undEinzelwissenschaftlern organisiert und hierfür entsprechende Mittelzur Verfügung gestellt. (Hierbei ist auch eine Besprechung mit Dr.Robinsohn erforderlich, um die Möglichkeiten des durch ihn betreu-ten Klubs zu erläutern.)6

d) das Grundlagen-Referat steht auch der Bildungsarbeit zurVerfügung, die als eine wichtige Sache der Organisation zu be-trachten ist.

e) statt des Beirats könnte ein geeignet zusammengesetzterAusschuß für Bildungsarbeit eingesetzt werden, der auch die ihm ge-boten erscheinenden Empfehlungen für Aufträge an das Grundlagen-Referat aussprechen kann.

8. Im Parteihaus wird eine den Erfordernissen unserer Arbeitentsprechende Handbibliothek eingerichtet. Hierzu wird der ge-eignete Bestand der bisherigen Bibliothek eingebracht.

Im übrigen wird mit der Ebert-Stiftung ein Vertrag geschlossen,der das Archivmaterial der Partei in deren Hände bringt – unter derVoraussetzung, daß in geeigneten Räumlichkeiten die Gewähr fach-licher Betreuung ebenso gewährleistet ist wie die Möglichkeit wis-senschaftlicher Arbeit.7

Mit freundlichen GrüßenW[illy] B[randt]

276 Brandt an Ollenhauer, Wehner und Nau, 4. Juni 1962

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Nr. 42Aus dem Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPDBrandt an den Vorsitzenden des Landesverbandes der SPDBayern, von Knoeringen8. Juni 1962

AdsD,WBA, A 6, 33 (alt).

Lieber Waldemar,in Köln hat sich leider keine Möglichkeit ergeben, nach dem Ab-schluß des Parteitages noch miteinander zu sprechen.1 Ich glaube, eswar im ganzen kein schlechter Parteitag, und ich bin sehr froh dar-über, daß sich Dein Ausscheiden aus der Gruppe der Vorsitzendenbeziehungsweise mein Einrücken in Deine Stelle in so erfreulichenFormen abgespielt hat.2 Du wirst ja selbst gespürt haben, wie sehr Dudas Ohr des Parteitages hattest und welch gute Gefühle unsererFreunde Dich begleiteten.

Wegen der Fragen, die Dich im besonderen Maße interessierenund über die wir gemeinsam mit [Hans-]Jochen Vogel und KlausSchütz gesprochen haben, werde ich am kommenden Montag inBonn Unterhaltungen führen. Ich glaube, daß wir um eine grund-legende Reorganisation des Parteihauses nicht herumkommen. Ne-ben der Planungsgruppe,3 für die ich verantwortlich zeichnen werdeund die sich weniger mit taktischen als mit strategischen Fragen zubefassen haben wird, sollten wir als nächsten Schritt ein Grund-lagenreferat bilden,4 das praktisch die Aufgaben eines wissenschaft-lichen Büros erfüllt beziehungsweise diese vorbereitet. Für diesesReferat käme wohl unser Freund [Klaus] Helfer in Betracht, falls ernicht überwiegend durch seine kulturpolitischen Arbeiten in An-spruch genommen bleibt. Ich denke, es läßt sich eine Form finden,Ulrich Lohmar fest in diese Tätigkeit einzugliedern. Sodann sind jeneAbsprachen zu treffen, die uns einmal die Möglichkeiten der [Fried-rich-]Ebert-Stiftung nutzbar machen und die Arbeitskontakte zu an-deren Instituten und Einzelwissenschaftlern garantieren.

277 Brandt an von Knoeringen, 8. Juni 1962

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Das Grundlagenreferat, das in der Planungsgruppe vertreten seinmuß, sollte andererseits auch der Bildungsarbeit zur Verfügung ste-hen. Statt des empfohlenen Beirats scheinen die beiden anderen Vor-sitzenden und Alfred Nau eher einen geeignet zusammengesetzten,nicht allzu großen Ausschuß für die Bildungsarbeit anzustreben, derauch die ihm geboten erscheinenden Empfehlungen für Aufträge andas Grundlagenreferat aussprechen kann.

Ganz egal ob Beirat oder Ausschuß, halte ich es für dringend ge-boten, daß Du an dieser Arbeit maßgebend beteiligt bleibst; dazu hastDu ja auch Dein Einverständnis erklärt. Darüber hinaus wäre ich na-türlich außerordentlich dankbar, wenn ich auch für die strategischenÜberlegungen der Planungsgruppe auf Deine Mitarbeit rechnenkönnte. Vielleicht läßt du mich gelegentlich wissen, ob Du das fürmöglich hältst. Ich wäre durchaus mit einer Form einverstanden, dieDich terminlich nicht zu stark in Anspruch nimmt.5

[. . .]Mit herzlichen GrüßenDein(Willy Brandt)

Nr. 43Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtan den Mitarbeiter des SPD-Parteivorstands Bortfeldt7. Juli 1962

AdsD,WBA, A 6, 34 (alt).

Lieber Hermann Bortfeldt!Wir haben ja am Montag nur sehr kurz miteinander sprechen kön-nen. Aber ich höre, daß es inzwischen ein Gespräch mit Klaus Schütz,Karl Garbe und Heinz Castrup gegeben hat und daß Du daraufhineinige der von Dir zu betreuenden Aufgaben skizzieren wirst.

278 Brandt an Bortfeldt, 7. Juli 1962

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Von mir aus möchte ich die Ergebnisse einer Besprechung fest-halten, die am Mittag des 2. Juli [1962] stattgefunden hat und an der diedrei Vorsitzenden, Alfred Nau, Fritz Erler, [Klaus] Schütz und [Karl]Garbe teilnahmen. Ich habe dort darauf hingewiesen, daß jedenfallsfolgende Dinge rasch angepackt bzw. weitergeführt werden müssen:

1. a) Zusammenfassung vorliegender Untersuchungen überdie Bundestagswahl, gegebenenfalls durch einige zusätzliche Ar-beiten zu ergänzen <, auch betr. NRW>.1 Jedenfalls muß dieses Mate-rial im Laufe des Herbstes fertig sein.

b) Anfang nächsten Jahres müssen die Ergebnisse der Land-tagswahlen2 ausgewertet und mit den Untersuchungen über die Bun-destagswahl auf einen Nenner gebracht werden. Praktisch handelt essich dabei um die Planungsgrundlagen für 1965.

2. Wir müssen in den nächsten Monaten intensiv daran ar-beiten, daß die vier in meinem Kölner Referat behandelten Gemein-schaftsaufgaben3 so sehr wie möglich konkretisiert werden.

a) Mit Klaus Helfer besprechen, wann jenes Gebiet bearbeitetsein wird, das unter dem Arbeitstitel Z II4 läuft.

b) Für das Thema „Alter“ sollte ein Schwerpunkt auf jenerKonferenz gebildet werden, die im Oktober anläßlich des Berlin-Treffens5 durchgeführt wird.

c) Das Thema „Gesundheit“ muß mit dem neu zu bildendenFachausschuß durchgeackert werden. Inzwischen könnte man viel-leicht jemanden ansetzen, der uns über den neuesten Stand in derKrebsforschung und der Mittel gegen den Herzinfarkt unterrichtet.

d) Ein oder zwei geeignete Mitarbeiter sollten angesetzt wer-den, um das zum Teil ausgezeichnete Material zusammenzutragenund für unsere Zwecke auszuwerten, das beim Deutschen Städtetagund beim Deutschen Gemeindetag vorhanden ist. Als Thema mußklar werden, was für den einzelnen Menschen von der Stadterneue-rung abhängt.

3. Mit unseren Wirtschaftlern muß gesprochen werden, wiewir wirksam in die Debatte über Löhne und Preise einsteigen kön-nen, wie Herbert Wehner meint: unter besonderer Berücksichtigungder Interessen des Sparers.

279 Brandt an Bortfeldt, 7. Juli 1962

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4. füge ich hier hinzu, wenn auch in der Besprechung am2. [Juli 1962] nicht ausführlich erwähnt: ich bereite für Anfang Okto-ber zwei Vorlesungen an der Harvard Universität vor, die im un-mittelbaren Anschluß daran in Amerika und in Deutschland alskleines Buch veröffentlicht werden.6 Darin sollen Fragen der Koexis-tenz und einer wirksamen Zusammenarbeit innerhalb der nicht-kommunistischen Welt behandelt werden. Wenn es gelingt, dasThema in den Griff zu bekommen, würden wir also hierdurch einenBeitrag für unsere außenpolitische Meinungsbildung zur Verfügunghaben.

Über persönliche Fragen müssen wir nach dem Urlaub einge-hend sprechen. Heute nur folgende Hinweise: Carlo [Schmid] sollte sostark wie möglich beteiligt werden, insbesondere auch dadurch, daßihm Ausarbeitungen zur Begutachtung vorgelegt werden. Dies sollteauch auf den betreffenden Fachgebieten für Deist, Möller, <Wal-demar v[on] K[noeringen],>7 Helmut Schmidt und andere PV-Mit-glieder gelten.

Die Mitarbeit von [Ulrich] Lohmar ist wichtig. Möglicherweiseübernimmt er den Vorsitz eines Fachausschusses „Wissenschaft undPolitik“. Dann könnte er darüber hinaus einen weiteren Kreis vonNahestehenden betreuen, wozu es ja im vergangenen Jahr wichtigeAnsätze gegeben hat.

Fritz Erler hält die möglichst rasche Mitarbeit von Fritz Schäferfür erwünscht. Das hätte den Vorteil, daß damit auch ein gewisserKontakt zu den Ländern hergestellt wäre, denn Schäfer kümmert sichja auch um die Koordinierung unserer Bundes- und Landespolitik.

Werner Steltzer, der mir im vorigen Jahr sehr geholfen hatte,und der jetzt unser Informationszentrum in Berlin leitet, solltefür Einzelaufgaben herangezogen werden. Das gilt auch für KlausVoigdt, der jetzt bei der „Deutschen Welle“ ist. Klaus von Dohnanyiin München hat seine Mitarbeit angeboten. Wir sollten darauf zu-rückgreifen, was allerdings wegen gewisser Spannungen zwischenden Godesbergern8 und Dohnanyi nicht ganz einfach ist.

Zur Mitarbeit angeboten hat sich Edzard Reuter, der Justitiar beider UFA war und jetzt Geschäftsführer jener Fernsehproduktions-

280 Brandt an Bortfeldt, 7. Juli 1962

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gesellschaft in München ist, die wohl in erster Linie durch Bertels-mann getragen wird. Wir müssen darüber sprechen, wie wir R[euter]vielleicht für Sonderaufgaben heranziehen können.

Wichtig ist natürlich auch im Hause eine gute Zusammenarbeitmit Klaus Helfer, dem das Grundlagen-Referat anvertraut werden wird.Mit den besten Grüßen(Willy Brandt)

Nr. 44Hs. Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPDBrandt an den Vorsitzenden der SPD, Ollenhauer25. Juli 1962

AdsD, NL Ollenhauer, Mappe 254.

Lieber Erich,wir sind schon anderthalb Wochen in der Einsamkeit der norwegi-schen Berge. Es ist wirklich grossartig und sehr erholsam. Mit demWetter haben wir bisher auch Glück gehabt. Die Gedanken sind al-lerdings immer wieder in Berlin (von wo ich regelmässig höre) undauch in Bonn.

Von Genf ist, was unsere Fragen angeht, sicherlich auch diesmalkein Fortschritt zu erwarten.1 Ich fürchte, wir müssen uns daraufeinstellen, dass es im weiteren Verlauf des Jahres doch zu dem Sepa-ratvertrag2 kommen könnte – vielleicht bei Ausklammerung der„Westberlin-Frage“.

Ich arbeite hier etwas an den Vorlesungen über Fragen der Ko-existenz, zu denen mich die Harvard-Universität für Anfang Oktobereingeladen hat.3 Ausserdem mache ich mir Notizen für die Pla-nungsarbeiten,4 die ich übernommen habe und mit denen wir imHerbst – möglichst ohne Publizität – vorankommen müssen.

281 Brandt an Ollenhauer, 25. Juli 1962

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Es ergibt sich aber auch unabhängig von den langfristigen Auf-gaben die Notwendigkeit einer Reihe von Initiativen. Im Regie-rungslager gehen die Dinge sehr durcheinander, und wir haben einegrosse Chance, uns als stabilisierende, gestaltende und vorwärtsdrän-gende Kraft der deutschen Politik zu bewähren. Ich hoffe, dass wir imkleinen Kreis möglichst bald nach dem Urlaub zu einem ruhigen Ge-sprächüberdiese Fragen kommen können.Von grosser Bedeutungwirddann auch die gemeinsame Sitzung mit dem Fraktionsvorstand sein.

Du weisst, wie sehr mir daran liegt, dass wir die uns gestellten Auf-gaben in vertrauensvoller Zusammenarbeit und ohne unnötigen Rei-bungsverlust anpacken. Leider kann ich ja wegen meiner starken Berli-ner Inanspruchnahme nicht so intensiv mitarbeiten,wie ich es möchte,aber im Rahmen der Möglichkeiten werde ich immer mitwirken.

Hoffentlich kommst Du dort zur Erholung! Ich werde – wennnicht noch etwas dazwischen kommt – am 12.8.[1962] wieder in Berlinsein. Spätestens am 19.8.[1962] werden wir uns in Hannover sehen.5

Dir und Martha [Ollenhauer] herzliche Grüsse und alle guten Ferien-wünsche, auch von RutDeinWilly

282 Brandt an Ollenhauer, 25. Juli 1962

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Nr. 45Hs. Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPDBrandt an den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagfraktion Erler28. Juli 1962

AdsD, NL Erler, Mappe 67 A.

Lieber Fritz,Über Deine Rede zum 20. Juli [1944]1 habe ich soviel Gutes gehört,dass ich Dir dafür auch von hier aus noch einmal Dank sagenmöchte.

Ich bin nun schon zwei Wochen hier in der sonnenreichen underholsamen Einsamkeit der norwegischen Berge. Die Gedanken sindaber natürlich immer wieder in Berlin und – was bleibt einem an-deres übrig? – auch in Bonn.

Alfred Nau hat mir Dein und Jaegers Buch geschickt.2 Ich habeDeinen Beitrag, der das Sicherheits-Thema ja berechtigterweise sehrbreit angeht, aufmerksam gelesen und finde, es ist eine wirksamePräsentation. Mir will scheinen, Veröffentlichungen dieser Art müs-sen nicht nur an einen Kreis von Meinungsträgern geschickt werden,sondern sie müssen auch an einen geeignet ausgewählten Kreis in-nerhalb der Partei gehen. Wenn wir hier die entsprechende Technikentwickeln, können wir rationelle Bildungsarbeit betreiben, ohnedass uns das viel kostet.

Von grosser Bedeutung wird die gemeinsame Sitzung von PVund FV sein,3 die wir nach dem Urlaub durchführen wollen. Auf demHintergrund des Bonner Durcheinanders haben wir eine grosseChance, uns als die stabilisierende, gestaltende und der Zukunft zu-gewandte Kraft in der deutschen Politik zu bewähren. Aber dazuwerden wir manches systematisieren und mit mehr Inhalt erfüllenmüssen, was reichlich schablonenhaft als „neuer Stil“ bezeichnetworden ist. Wir werden ja durch die Planungsarbeit gezwungen sein,uns hiermit sehr eingehend zu befassen. Von Dir wird es zu einem

283 Brandt an Erler, 28. Juli 1962

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grossen Teil abhängen, wie die Fraktion ihre Kräfte einsetzt. Von derzweiten Hälfte dieses Jahres kann schon viel abhängen.

Noch zwei besondere Dinge:a) Kannst Du mithelfen, dass Carlos [Schmid] Misstrauen und

Unzufriedenheit überwunden werden? Ich werde ihm an seinen Fe-rienort schreiben.4

b) Günter Klein wird dieser Tage aus dem Krankenhaus ent-lassen worden sein. Er wird mit seinen Kräften haushalten müssen,aber wir müssen ihm das Gefühl geben, dass er in der Fraktion ge-braucht wird. Kannst Du ihm ein paar Zeilen schreiben und ihm inAussicht stellen, dass Du nach dem Urlaub mit ihm sprechen wirst,bzw. wir gemeinsam? Er hat mir das Leben nicht leicht gemacht, aberer hat doch auch seine Qualitäten, und ausserdem sollten wir versu-chen, alte Freundschaften nicht verkümmern zu lassen.Mit herzlichen Grüssen und guten Urlaubswünschen Dir und DeinerFamilie, auch von RutDeinWilly Brandt

Nr. 46Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtan den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Wehner25. Oktober 19621

AdsD,WBA, A 6, 33.

Lieber Herbert,die peinliche Panne2 am vergangenen Sonntag hat bei mir einenSchatten auf die Berlin-Woche3 geworfen. Auch der Besuch derSchlußkundgebung war eine Enttäuschung und kein Ruhmesblatt inder Berliner Partei. Ich habe darum gebeten, daß die Techniker eine

284 Brandt an Wehner, 25. Okt. 1962

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schriftliche Erklärung über die Fehlschaltung zu Beginn der Veran-staltung geben.

Insgesamt war die Woche zweifellos ein Erfolg, der sich hier füruns und ganz gewiß auch für die Gesamtpartei günstig auswirkenwird. Mit dem bisherigen Presseecho können wir durchaus zufriedensein. Ich möchte Dir meinen besonderen Dank dafür sagen, daß Dudas Berlin-Treffen so wirksam gefördert hast.

Bei dem Tischgespräch am Sonntag bezog sich Dein Groll auf ei-nige Punkte, die mir unverständlich sind. Was die Wahl in Köln an-geht,4 so kann ich natürlich nicht für jeden einzelnen der Berliner dieHand ins Feuer legen. Aber der Eindruck, den du wiedergabst, istganz bestimmt falsch. Hierüber und über anderes müssen wir mit-einander reden, sobald sich dazu die Möglichkeit ergibt.

Für die Klausurtagung hat mein Büro einen Termin mit Alfred[Nau] vereinbart,5 der hoffentlich auch den anderen paßt. Dabei kannman natürlich auch, wie Erich [Ollenhauer] mir andeutete, über

Willy Brandt als Redner beim Berlin-Treffen der SPD im Oktober 1962

285 Brandt an Wehner, 25. Okt. 1962

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„Büro Brandt“ und „Berater Brandts“ sprechen. Aber im wesentlichengeht es doch wohl um wichtigere Probleme. Das „Büro Brandt“ kannnur als Berliner Büro des PV verstanden werden und muß noch besserals bisher mit der Arbeit des Landesverbandes koordiniert werden.Das Gerede um die „Berater“ ist vom Gegner in die Debatte gebrachtworden. Hier kann Klarheit nur geschaffen werden, wenn man sichan den Adressaten selbst hält und wenn gleichzeitig klargestellt wird,zu welchen Sachpunkten er sich möglicherweise durch unzweck-mäßige Ratschläge hat beeinflussen lassen.

Ich hatte mit Hermann Bortfeldt vereinbart, (Staar hat inzwi-schen auch wegen eines Termins mit ihm gesprochen) daß wir nochim November ein gründliches Gespräch über die anlaufenden Pla-nungsarbeiten haben sollten. Das könnte auch eine nützliche Vorbe-reitung der Klausurtagung sein.

Die DGB-Entscheidung vom Mittwoch6 mit den unerfreulichenBegleiterscheinungen kann uns noch schwer zu schaffen machen.Ich möchte die Dinge nicht dramatisieren. Aber es wird doch wohlnicht zu vermeiden sein, daß wir unseren eigenen Standpunkt so klarwie möglich herausstellen, um dadurch Schaden für die gemeinsameSache abzuwenden.

Es hat wenig Sinn, daß ich mich zu den Dingen in der Welt äu-ßere. Man hat mich wissen lassen, wozu es ja keiner besonderenFantasie bedarf, daß wir auf Rückwirkungen vorbereitet sein müssen.Herzliche GrüßeDein

286 Brandt an Wehner, 25. Okt. 1962

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Nr. 47Hs. Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPDBrandt an den Vorsitzenden der SPD, Ollenhauer30. November 1962

AdsD, NL Ollenhauer, Mappe 254.

Lieber Erich,es ist wohl besser, wenn ich heute noch liegen bleibe. Seit drei Tagenschlafe ich den grössten Teil der Zeit.

Sage bitte den Freunden, die zur PV-Sitzung da sind, einen schö-nen Gruss.1 Morgen früh möchte ich vorbei kommen. Ich habeHeinrich Albertz gebeten, den Bericht zu geben. (Ein Bericht darübermuss, wegen der Berliner Sonntagszeitungen, bis 11 Uhr raus)

Vielleicht können wir dann morgen vormittag anschliessend andie Sitzung noch im kleineren Kreis miteinander reden.

In der kommenden Woche will ich alle überflüssigen Terminestreichen. Aber ich hoffe, dass ich jedenfalls zur Klausur-Tagung2

werde kommen können.Wegen der Forderung nach Neuwahlen würde ich Vorsicht

empfehlen. Dann wäre schon erwägenswerter, eine eigene Initiativein Bezug auf Wahl eines neuen Kanzlers zu empfehlen, z. B. EugenGerstenmaier, und zwar mit ausdrücklicher Betonung, dass eine sol-che Initiative nicht mit dem Anspruch auf Regierungsbeteiligunggekoppelt zu sein bräuchte.

Alfred [Nau] wollte heute mittag über die Wirtschafts-Unter-suchung sprechen. Ich glaube, wir sollten so disponieren, dass hierausab Mitte 1963 ein zusätzliches innenpolitisches Thema werden kann.

Dieser Tage war ein indischer Sozialist3 bei mir. Frage: könnenwir etwas tun, um eine nicht nur regierungs-offizielle Hilfsaktion fürIndien einzuleiten zu helfen? Die Wirkung könnte beträchtlich sein.Herzliche Grüsse!Dein

287 Brandt an Ollenhauer, 30. Nov. 1962

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Nr. 48Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtan den Sozialwissenschaftler Sternberg3. Dezember 1962

AdsD, NL Sternberg.

Lieber Fritz,ich wende mich heute in einer etwas eigenartigen Sache an Dich. Eshandelt sich um eine unliebsame gerichtliche Auseinandersetzun-gen, die dem Wahlkampf des vorigen Jahres gefolgt sind.1 In denProzessen, die gegen so unappetitliche Figuren wie Kapfinger undFrederik geführt werden, spielt auch die Behauptung eine Rolle, un-sere bzw. meine Haltung zur Volksfront-Frage und zu den Einheits-bestrebungen in den dreißiger Jahren stellten den Beweis dafür dar,daß ich damals „Kommunist“ gewesen sei – wobei natürlich immereine Identifizierung mit der sowjetischen Politik unterstellt wird.

Es wäre sehr nett, wenn Du Dir die Mühe machen und mir denGefallen tun würdest, in den nächsten Tagen einmal aus Deiner Sichtzu Papier zu bringen (nicht mehr als eine Schreibmaschinenseite),worum es sich bei unseren damaligen Debatten wirklich gehandelthat.2 Natürlich kann ich für mich weder in Anspruch nehmen, daßich „immer recht gehabt“ noch daß sich meine Auffassungen nichtgewandelt hätten. Aber ich kann wohl guten Gewissens sagen, daßich schon in den dreißiger Jahren – wie auch während des Kriegesund nach dem Kriege – von den Kommunisten heftig angegriffenworden bin.Mit bestem Dank im voraus und mit freundlichen GrüßenDein<Willy Brandt>3

288 Brandt an Sternberg, 3. Dez. 1962

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Nr. 49Rede des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtzum hundertjährigen Bestehen der SPD31. Mai 19631

Sopade-Rednerdienst 6/1963, S. 1–9.

Sozialdemokratieauf dem Weg nach vorn

Wir haben uns versammelt, um der Tatsache zu gedenken, daß dieSozialdemokratische Partei Deutschlands in diesem Jahr ihren 100.Geburtstag feiert. Hundert Jahre – das ist eine lange Zeit. DeutschePolitik bedeutet in der Zeitspanne zwischen 1863 und 1963 häufiggenug, die Brücken hinter sich abzubrechen, ohne gleichzeitig einetragfähige Verbindung zur Zukunft aufzubauen. So gesehen ist eine100jährige politische Gemeinschaft etwas außergewöhnliches, jaeinmaliges in unserer Geschichte.

Nicht nur der ist modern in unserer modernen Zeit, der keinenhistorischen Ballast abzuwerfen braucht, weil er keinen besitzt. Dieformelhafte Beschwörung der Vergangenheit allein wird allerdingsdem geschichtlichen Zusammenhang auch nicht gerecht. Man mußeine Vergangenheit haben, um aus dieser Vergangenheit für die Zu-kunft lernen zu können.

Das ist der tiefe Sinn unserer Veranstaltungen zum 100jäh-rigen Bestehen der SPD. Wir kommen nicht zusammen, um unsgegenseitig auf die Schultern zu klopfen und uns zu bestätigen, wiegut wir sind, nur weil wir einer traditionsreichen politischen Ge-meinschaft angehören. Wir kommen zusammen, weil wir gemein-sam nachdenken wollen, was diese Tatsache für unser politischesWirken in der Gegenwart und für die Zukunft unseres Volkes be-deutet.

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Volk und Sozialdemokratie – unteilbare Einheit

Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, hier ein lückenloses Bild von der100jährigen, dramatischen und erregenden Geschichte unserer Parteizu entwerfen. Das geschieht in diesen Tagen relativ ausführlich undhäufig auch eindrucksvoll in den Illustrierten, im Rundfunk und imFernsehen. Ich begrüße diese Tatsache. Sie ist ein Zeichen dafür, daßwesentliche Teile der deutschen Öffentlichkeit gelernt haben, dieGeschichte der deutschen Sozialdemokratie als einen wesentlichenTeil der Geschichte des deutschen Volkes zu begreifen. Das deutscheVolk und seine Sozialdemokraten sind eine unteilbare Einheit. Beidegehören zusammen. Beide müssen zusammen gesehen werden.

Schumacher und Adenauer haben beide die jüngste deutscheGeschichte geprägt. Und vor 50 Jahren, beim Tode August Bebels, er-zählte Friedrich Naumann, er habe lange Zeit in seinem Zimmer dieBilder von Bismarck und Bebel nebeneinander hängen gehabt. In ih-nen habe „gegensätzlich und doch zusammengehörig“ die deutscheReichsgründerzeit gelebt.

August Bebel gehörte zur zweiten Generation der deutschen So-zialdemokraten. Geboren im Deutschland der bürgerlichen Revolu-tion, gereift unter den Drangsalierungen des Sozialistengesetzes, ge-storben am Vorabend des ersten Weltkrieges, gab er den deutschenArbeitern politisches Profil und organisatorische Einheit und führtesie durch die harten Jahre der Verfolgungen zu großen Wahlerfolgen.Sein Freund und Mitkämpfer Wilhelm Liebknecht formulierte imLeipziger Hochverratsprozeß aus dem Jahre 1872 die strategischeGrundhaltung der damaligen Sozialdemokratie, als er den Präsiden-ten des Gerichts mit den klassischen Worten konterte:

„Unsere Partei ist keine Partei der Putsche, keine Partei, die Kra-walle und Verschwörungen auf ihre Fahne geschrieben hat. Die Frageder Gewalt ist bis <heute>2 immer nur durch unsere Gegner gestelltworden, nicht durch uns. Wir wollen die Majorität der Bevölkerungfür unsere Ansichten durch Propaganda gewinnen.“3

Propaganda, Werbung, Überzeugung – dazu bedarf es der Mei-nungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der politischen Demo-

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kratie. Dazu bedarf es aber auch des Selbstbewußtseins jener, diewerben und überzeugen wollen.

Ferdinand Lassalles Forderungen

Niemand hat dies klarer gesehen als Ferdinand Lassalle, von dem dasstolze Wort stammt, der Arbeiter Sache sei die Sache der gesamtenMenschheit. Lassalle wußte vor 100 Jahren recht genau, daß dreiDinge zusammengehörten, wenn die breiten Schichten unseres Vol-kes die doppelten Fesseln ihrer Ausbeutung und ihrer Unmündigkeitabwerfen wollten: Die Überwindung proletarischer Lebensbedin-gungen, eine allgemeine Demokratisierung des Staates und eine ge-sellschaftliche Mitverantwortung für die moderne industrielle Pro-duktion.

Die Forderung nach dem allgemeinen, freien Wahlrecht stehtam Beginn sozialdemokratischen Wirkens in unserem Land. Fabrik-arbeiter und Handwerksmeister, freiheitliche Bürger und Männer desgeistigen Deutschland fanden einander im Ringen um die Demo-kratie. Aber während die demokratische Ordnung früheren Ge-nerationen noch als Mittel zum Zweck erschienen sein mag, ist sieuns nach bitteren Erfahrungen zum Eigenwert geworden. Sie ist unsnicht nur Plattform, sondern Lebensform.

Ferdinand Lassalle repräsentiert die erste Generation der deut-schen Sozialdemokraten. Er war geboren im Deutschland reak-tionärer Kleinstaaterei. Er reifte in den Zeiten der Revolution von1848 und starb in der Gründungszeit der ersten Sozialistischen In-ternationale. Er gab den deutschen Arbeitern Mut und Selbst-vertrauen, sich zu organisieren und als politische Kraft in die Arenader Geschichte zu treten. Der Organisation gab er ein konkretes Pro-gramm, um innerhalb der bestehenden Wirklichkeit wirksam zuwerden und sie neu gestalten zu helfen.

Karl Marx, als dessen Schüler Lassalle sich bezeichnete, hat mitseinen theoretischen Schriften weit über die erste Generation hin-ausgewirkt. Er ist vielfach mißverstanden und schrecklich miß-braucht worden. Er hat auch schwer geirrt. Aber nur Ignoranten

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können leugnen, daß diese ungewöhnliche geistige Kapazität voneiner starken sittlichen Idee beherrscht war und erfüllt von leiden-schaftlichem Gerechtigkeitsgefühl.

Sozialdemokratie nicht auf Marx eingeschworen

Die deutsche Sozialdemokratie ist nicht auf Marx eingeschworen. Sieist auch keine Ersatzkirche dieser oder jener Prägung. Aber sie hatden ganzen Strom sozialistischen Denkens, unendlich viel ehrlichesRingen und Streben in sich aufgenommen und verarbeitet. Sie führtMenschen zusammen, die unterschiedliche Bekenntnisse haben mö-gen, die aber aus gemeinsamer Verantwortung politisch handelnwollen. Die gemeinsam tun wollen, was für die Fortentwicklung un-seres Volkes notwendig ist. Es war die Gemeinschaft, die man schondamals vor 100 Jahren wollte, auch wenn man es nicht so nannte.Was seitdem deutsche Sozialdemokraten gedacht und getan haben,war letzten Endes allein auf dieses Ziel gerichtet: Die Gemeinschaftder Menschen, der Bürger unseres Staates und dann auch der Völkerzu verwirklichen.

Schon die ersten beiden Generationen haben viel erreicht, umdie materielle Not und die Rechtlosigkeit der Mehrheit unseres Vol-kes überwinden zu helfen. Dazu bedurfte es der Abgrenzung vomkonservativen Beharrungsvermögen und von liberalistischer Unter-schätzung dessen, was im Interesse der Gemeinschaft jeweils not-wendig war. Inzwischen hat die deutsche Sozialdemokratie natürlichauch Elemente des liberalen und des konservativen in sich aufge-nommen. Sonst wäre sie nicht zur Partei des Volkes geworden.

Des Reichspräsidenten Friedrich Eberts Verdienst

Unsere dritte Generation verkörpert sich in dem Namen FriedrichEbert. Geboren im Jahre der deutschen Reichsgründung, gereift in derGeburtsstunde der Weimarer Republik, gestorben, als Hitler seinenaufhaltbaren, aber unaufgehaltenen Aufstieg zur Macht begann,hatte er entscheidenden Anteil an der Gestaltung der ersten deut-

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schen Republik. Ebert und seine Generation deutscher Sozialdemo-kraten gaben ihr Bestes, um Freiheit und Recht zu tragenden Säulendes Weimarer Staates zu machen.

Sie repräsentierten einen neuen Stil der deutschen Arbeiterbe-wegung. Friedrich Ebert sagte 1919 vor der atemlos lauschenden Na-tionalversammlung:

„Ich will und werde als Beauftragter des ganzen deutschen Vol-kes handeln, nicht als Vormann einer einzigen Partei. Ich bekenneaber auch, daß ich ein Sohn des Arbeiterstandes bin, aufgewachsen inder Gedankenwelt des Sozialismus, und daß ich weder meine Her-kunft noch meine Überzeugung zu leugnen gesonnen bin. Jede Ge-waltherrschaft, von wem sie auch komme, werden wir bekämpfen biszum Äußersten.“4

Wer diese dritte Generation der deutschen Sozialdemokratiekritisiert – ich habe dies in meiner Jugend lebhafter als heute getan5 –,der muß das Schicksal der Demokratie in Deutschland kritisieren.Denn schon die erste deutsche Republik war nicht das Werk sieg-reicher Demokraten, sondern die Folge eines verlorenen Krieges. Diedemokratische Ordnung kam über Nacht, und bald schmolz die Zahlderer, die sie aus vollem Herzen bejahten. Vielen Arbeitern war dieRepublik zu „bürgerlich“, den besitzenden Bürgern und den Ge-bildeten aber war sie zu „proletarisch“. Im verborgenen schmiedetendie Feinde der Demokratie ihre Pläne – und ihre Waffen. Dies war dasSchicksal der dritten Generation: Sie wurde zerrieben im Kampf mitden Feinden von links und rechts.

Es kann keine Gemeinsamkeit mit den Kommunisten geben

Im deutschen Kommunismus steckte zunächst noch ein beträcht-liches Stück radikaler Arbeiterbewegung. Das hat sich durch kalteGewalt und blutige Unterdrückung verändert. Mit den totalitärenKommunisten kann es für die freiheitlichen Sozialdemokraten kei-nerlei Gemeinsamkeit geben. Der Rechtsradikalismus ist nach demzweiten Weltkrieg nicht wieder zu einer ernsthaften Kraft geworden,und dabei wird es hoffentlich bleiben. Die tiefbraunen Flecken auf

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der bundesrepublikanischen Weste haben wir freilich nicht über-sehen können. Wir sind für die wirkliche Aussöhnung unseres Vol-kes. Aber wir sind gegen faule Kompromisse.

Für die weitere Entwicklung bleibt wichtig, daß wir die Lehrenaus beiden Zusammenbrüchen beherzigen, dem von 1945 und demvon 1933.

Die Versuchungen der Macht sind groß. Aber wer aus politischerVerantwortung handelt, der muß politische Macht gewinnen wollenund sie zu handhaben wissen. Parteien sind kein Selbstzweck, son-dern die in unserer Verfassung vorgesehenen Instrumente, um denpolitischen Willen unseres Volkes auszudrücken und zu organi-sieren. Eine große Partei wird zu einer Art von Glasperlenspiel, wennsie nicht ständig bewußt auf dem Weg in die staatliche Verant-wortung ist.

Die Demokratie kann etwas Nobles sein, aber sie schwebt nichtüber den Wolken. Sie wird uns nicht ein für allemal geschenkt, son-dern wir müssen sie immer wieder neu sichern. Und wenn sie ange-griffen wird, dann muß sie sich, dann müssen wir sie mit Klauen undZähnen verteidigen. Und gleichzeitig müssen wir sie mit pulsieren-dem Leben erfüllen. Denn die moderne Demokratie ist kein Nacht-wächterstaat, sondern die staatliche Ordnung, die dem einzelnen seinGlück nicht streitig macht und die der Gemeinschaft gibt, was ihr imInteresse aller gebührt.

Kurt Schumacher – nationaler Politiker mit weltbürgerlicherVerantwortung

In Hitlers Konzentrationslagern verzehrte sich die vierte Generationdeutscher Sozialdemokraten. Ihr Repräsentant ist Kurt Schumacher.Er gehört zu jenen seltenen Persönlichkeiten, die einem Volk nichtoft geschenkt werden. Er faßte die historischen Leistungen der dreivorangegangenen Generationen in seiner Person zusammen: Er gabden einfachen Menschen in unserem Volk ihr Selbstbewußtsein zu-rück. Er grenzte die wiederbegründete SPD gegen den Machtan-spruch der Kommunisten unverwischbar ab. Er öffnete die Partei für

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alle Schichten des Volkes und behauptete sich als nationaler Politikermit weltbürgerlicher Verantwortung.

Kurt Schumacher und mit ihm die vierte Generation der deut-schen Sozialdemokraten war geprägt durch das Grauen des erstenWeltkrieges, gereift in den politischen Kämpfen der Weimarer Zeit,gezeichnet in den Prüfungen der Gewaltherrschaft, verzehrt beimAufbau eines neuen Deutschland. Hier haben wir anknüpfen müssen.Von hier aus müssen wir unseren Weg nach vorn ins Auge fassen.

Ich habe versucht, die Kontinuität der deutschen Sozialdemo-kratie in wenige große Namen zusammenzufassen. FerdinandLassalle – August Bebel – Friedrich Ebert – Kurt Schumacher.Von derGeburtsstunde an haben drei Elemente das Wirken der deutschenSozialdemokraten charakterisiert:

Der Kampf um die Befreiung und Gleichberechtigung der brei-ten arbeitenden Schichten;

Das Ringen um die Demokratisierung des Staates und der Ge-sellschaft;

Der Versuch verantwortlicher Beeinflussung des wirtschaft-lichen Geschehens.

Es ging in all diesen Jahrzehnten um die Idee der Solidarität, dermöglichst großen Gerechtigkeit für die Menschen innerhalb der Ge-meinschaft, und es sind Ideen, die Geschichte machen. Ohne denGemeinschaftsgedanken sind die brennenden Fragen unserer Zeitnicht zu beantworten. Nur eine Zivilisation der Gemeinschaft wirduns vor der Barbarei und dem Untergang bewahren können. Aberauch die Gemeinschaft ist kein Gott. Mittelpunkt unseres Bemühenssind der Mensch und seine Würde.

Wir brauchen eine dynamische Demokratie

Was wir brauchen, ist nicht die behäbige, sondern die dynamischeDemokratie. Ihr Ziel muß ein Höchstmaß an Gerechtigkeit und Ent-faltungsmöglichkeit sein. Dazu brauchen wir nicht nur die Freiheitin den staatsbürgerlichen Dingen, sondern auch die Freiheit zurUmgestaltung und Neugestaltung.

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Wir wollen gemeinsam nachdenken, was eine 100jährige Ge-schichte für unser politisches Wirken in der Gegenwart und für dieZukunft unseres Volkes bedeutet.Wo stehen wir heute? Mein FreundProfessor Richard Löwenthal hat auf der 100-Jahr-Feier der BerlinerSPD gesagt, die Bundesrepublik sei in den ersten 14 Jahren ihres Be-stehens ein konservativerer Staat gewesen als Weimar in den bestenJahren seines Bestehens. Aber sie sei gleichzeitig eine ungleich sta-bilere Demokratie, denn die konservativen Elemente seien diesmalüberwiegend auch Demokraten. Er fuhr fort:

„Was wir in diesen Tagen an öffentlicher Aufmerksamkeit ge-genüber der Geschichte der Sozialdemokratie erleben, das ist nicht nurein Ausdruck der Erwartung vieler, daß diese Sozialdemokratie baldRegierungspartei sein wird, es ist auch und sehr wesentlich ein Aus-druck der Tatsache, daß mehr als in Weimar die Sozialdemokratieauch von ihren politischen Gegnern als ein notwendiger und wesent-licher Bestandteil des demokratischen Staates akzeptiert wird.“6

Wenn das richtig gesehen ist, dann erhebt sich die Frage: WelcheAufgaben ergeben sich hieraus? Was kann unser Volk nach demhinter uns liegenden Jahrhundert von seiner Sozialdemokratie er-warten?

Was wurde bisher erreicht . . .

Die ersten 100 Jahre haben gezeigt, daß die Sozialdemokraten immereine ehrliche Antwort auf die Not unseres Volkes zu geben ver-suchten. Auf eine Not, die durch Menschen verursacht war und diedurch Menschen beseitigt werden konnte. Wesentliche Forderungenunserer Partei sind heute erfüllt, manche Ziele sind erreicht.

Unsere Idee war die soziale Sicherung der Menschen. Wir ringennoch immer um sie, aber wir sind ihr näher gekommen.

Unsere Idee war die wirtschaftliche Sicherung der Menschen.Wir ringen noch immer um sie, aber wir sind ihr näher gekommen.

Unsere Idee war das Hineinführen der Menschen in die Ge-meinschaft. Davon sind wir noch weit entfernt, aber es muß erreichtwerden, daß unser Staat zur Heimstätte für alle wird.

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Wir haben breiten Schichten unseres Volkes nicht nur Arbeits-schutz und Freizeit gebracht, sondern auch Bildung und Kultur. DieSozialdemokraten haben sich wahrlich bemüht, ihren Beitrag zurdeutschen Geschichte und zur europäischen Zivilisation zu leisten.Wir können vor unser Volk treten und mit Stolz auf die Erfolge eineslangen Kampfes zeigen. Vom Stimmrecht der Frauen bis zur sozialenSicherung: Das Gesicht unseres Volkes trägt unauslöschliche Zügeder Sozialdemokratie. Mehr sogar, als vielen unserer Mitbürger be-wußt ist.

Im freien Teil unseres Vaterlandes besitzt heute fast jederMensch ungleich mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr sozialeSicherheit und einen größeren Anspruch auf persönliches Glück alsvor 100 Jahren. Aber es ist auch wahr, daß im geschichtlichen Prozeßniemals ein bestimmtes Ziel voll erreicht wird. Die Menschen setzensich immer wieder neue Ziele, die aus der Gegenwart in die Zukunftweisen. In der Geschichte eines Volkes gibt es kein Vakuum. Werrastet, der rostet. Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, der hatverspielt.

Im ersten Jahrhundert ihres Wirkens haben die deutschen So-zialdemokraten den Fortschritt gefordert. Sie haben viele soziale undinnenpolitische Reformen erzwungen.

und was bleibt zu tun?

Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts ihres Wirkens werden die deut-schen Sozialdemokraten beweisen müssen, daß sie aus Überzeugung,mit Mut und Sachverstand jene innen- und außenpolitischen Maß-nahmen verantwortlich durchführen, zu denen sich andere nur mithalbem Herzen und unter dem Druck der Verhältnisse bereit findenoder die sie nicht erkennen.

Wenn Ferdinand Lassalle vor 100 Jahren zur Emanzipation desArbeiters und zur Befreiung der Frau aufrief, so geht es uns heute umjene gesellschaftlichen Bedingungen, die gleiche Chancen für alle er-möglichen: Es geht uns um neue und moderne Bildungschancen fürunsere Jugend und um menschliche Hilfe für unsere Alten.

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Wenn die Vorkämpfer gegen die Macht des Kapitals angingen,so geht es uns heute um mehr Eigentum für die breiten Schichten,um eine solidarische Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Eigen-tümern und Nichteigentümern überwunden ist.

Wenn Lassalle und Bebel gegen die Armut angingen, so geht esuns heute unter anderem darum, die Zivilisationskrankheiten alsneue Geißel der Menschheit wirksam zu bekämpfen.

Wenn die Sozialdemokraten vor 100 Jahren für ein allgemeinesgleiches Wahlrecht kämpften, so ringen wir heute um das gleicheRecht für die von uns getrennten Landsleute.

Wenn unsere Partei vor 100 Jahren für ein geeintes Deutschlandstritt, so streiten wir heute für ein heiles Deutschland in einem ge-einten Europa. Ich sage Ihnen: Die deutschen Sozialdemokratenwerden immer ein zuverlässiger Freund und Helfer jener sein, die derHilfe bedürfen.

Wir werden den Bürgern unseres Landes immer die Wahrheitsagen, auch wenn diese Wahrheit unpopulär sein sollte. Wir werdendurch Tatkraft und schöpferische Experimente dafür sorgen, daß dieUtopien unserer Eltern zur Wirklichkeit unserer Kinder werden.

Durchbruch zur Volkspartei

Die Partei des Godesberger Programms ist zu einer Partei des Volkesgeworden. Aber sie ist kein opportunistischer Haufen. Sie hat sich alspraktisch-politische Kraft und als Gesinnungsgemeinschaft neu for-miert. Sie hat manches hinter sich lassen müssen. Aber das Ge-rechtigkeitsstreben wird sie niemals über Bord werfen.

Insofern stimme ich Konrad Adenauer zu, wenn er in seiner Ei-genschaft als CDU-Vorsitzender gesagt hat, die SPD sei in ihren tra-genden Pfeilern geblieben, was sie gewesen ist. Ich stimme ihm auchzu, wenn er die Aufwärtsentwicklung der deutschen Sozialdemokra-ten in den letzten Jahren zur Kenntnis nimmt und mit unserem ent-scheidenden Erfolg im Jahre 1965 rechnet. Seine Deutung der letztenLandtagswahlen7 hält allerdings einer ernsthaften Prüfung nichtstand.

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Adenauer meint, die Ergebnisse der Landtagswahlen seien nichtallgemein-politisch, sondern regional begründet. Das ist falsch undaußerdem ungerecht. Denn es ist ungerecht, allein den CDU-Poli-tikern in den Ländern aufbürden zu wollen, was die CDU in Bonn zuverantworten hat und was ihren Abnutzungsprozeß kennzeichnet.

Die Berliner Wahlentscheidung vom Februar 1963 war keinZufallsergebnis, sondern das Ergebnis harter Arbeit und umfas-sender Wählererfahrung. So war es auch in Hessen, in Rheinland-Pfalz, in Niedersachsen. Dem bedeutenden, wenn auch begrenztenWahlerfolg vom September 1961 ist ein kontinuierlicher Vertrau-enszuwachs für die SPD gefolgt. Dabei hat vielerorts ein direkterWählerwechsel von der CDU zu den Sozialdemokraten stattge-funden.

In allen Ländern haben die Sozialdemokraten gegenüber denvoraufgegangenen Landtagswahlen an Einfluß gewonnen. Sie habendurchweg auch die hohen Stimmziffern der letzten Bundestagswahlwesentlich steigern können. Immer mehr Stimmberechtigte brechenauf zu neuen Ufern.

Moderne Sozialdemokratie auf dem Weg nach vorn

Die moderne Sozialdemokratie ist tatsächlich auf dem Weg nachvorn, auf dem Weg zur entscheidenden Mitgestaltung. Dies ist dieKrönung einer 100jährigen Tradition. Gestützt auf diese Traditionwerden wir die politische Macht erringen. Und dann werden wirmehr Ehrlichkeit und mehr Gerechtigkeit nicht nur fordern, sondernverwirklichen.

Wir wollen das Alte überwinden und an einer Ordnung bauen,die dem Kommunismus eindeutig überlegen ist.

Wir wollen nicht rasten noch ruhen, bis das Leben unseres Vol-kes im Zeichen gemeinschaftlichen Vorwärtsstrebens steht – frei vonNot und frei von Furcht.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands verbindet die Er-fahrungen aus 100 Jahren mit dem jugendlichen Mut, die Zukunft zuformen.

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Nr. 50Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtan Funktionsträger der SPD24. Juli 19631

AdsD,WBA, A 6, 38 (alt).

LieberIn den letzten Wochen ist deutlich geworden, daß unser innen-politischer Gegner den Versuch machen will, uns die Thematik derGemeinschaftsaufgaben zu entwinden und gleichzeitig der Öffent-lichkeit zu suggerieren, wir verfügten über kein sich deutlich ab-hebendes Programm.

Als ich am 15. Juli [1963] in Tutzing war,2 argumentierte BertholdMartin (Mitglied des Programmausschusses der CDU) mit einigerÜberheblichkeit auf der Linie, daß er jede Alternative vermisse. Fastalles, was ich bemängele oder vorschlage, sei von der Regierunglängst angepackt oder von der CDU längst erkannt worden.

[Franz Josef] Strauß hat auf der Landesversammlung der CSUnicht nur auf seine Widersacher eingedroschen; er hat auch Zielvor-stellungen entwickelt, die in der Berichterstattung untergegangensind. Es ist durchaus legitim, wenn wir Erhard eine Schelle um-hängen und den CSU-Vorsitzenden so einstufen, wie er es verdient.Aber wir sollten nicht überhören, was er beispielsweise am 10. Juli[1963] im Bayerischen Rundfunk ausgeführt hat.3

Dort war von dem „Fernziel“ die Rede, dem die Regierung Erhardund mit ihr die Union zustreben müsse: „nämlich unserem Volke einwissenschaftlich fundiertes Bild der künftigen Wirtschafts- und Ge-sellschaftsordnung vorzuhalten, wie das Leben in der Bundes-republik Deutschland in den 70er Jahren unter der Politik der Unionaussehen soll“. Schon heute müßten umfangreiche Mittel für die Le-bensgrundlagen der nächsten Generation bereitgestellt werden: „Dasgilt für die großen Bildungsprobleme, für wissenschaftliche Ent-wicklungen, für technische Forschung, für verstärkte Investitionen,

300 Brandt an Funktionsträger der SPD, 24. Juli 1963

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für die Lösung der Gemeinschaftsaufgaben.“ Strauß teilte bei gleicherGelegenheit mit, im Fraktionsvorstand der CDU/CSU sei Anfang desMonats über diese Problematik gesprochen worden, und man werdesich noch während der Parlamentsferien in kleinen Arbeitsgruppenmit diesen Fragen beschäftigen.

Der Presse konnte man dieser Tage entnehmen, daß FrauSchwarzhaupt dem Kabinett eine umfangreiche Vorlage zum Themader Volksgesundheit zugeleitet hat. Minister Lenz hat sich mit Ver-säumnissen der Länder und des Bundes befaßt und durchaus treffenddavon gesprochen, daß die Forschung von heute unser Brot vonmorgen ist. Die Sozialausschüsse der CDU und die Freien Demo-kraten bemühen sich um publikumswirksame Konzeptionen aufdem Gebiet der Sozialen Sicherung.

Unsere Veranstaltungen Ende August in Hamburg und die Öf-fentlichkeitswirkung, die davon ausgehen kann, gewinnen auf die-sem Hintergrund eine zusätzliche Bedeutung.4 Das gilt für den Kon-greß ebenso wie für die Sondertagungen und Fachgespräche. Wirsollten nicht nur unser Erstgeburtrecht behaupten, was die Gemein-schaftsaufgaben angeht, sondern wir müssen es erneut und über-zeugend deutlich werden lassen, daß wir uns in zunehmendem Maßequalifizieren, dem Ausbau der Bundesrepublik und der Zukunft un-seres Volkes die Richtung zu weisen.

Im Zusammenhang mit der Kulturkonferenz wird es in Ham-burg auch darum gehen, ob wir auf zwei wichtigen Gebieten unsereGlaubwürdigkeit verstärken können:

1. Der innenpolitische Gegner wird in der kommenden Zeitimmer wieder auf tatsächliche oder behauptete Versäumnisse derLänder verweisen, wenn wir von der Notwendigkeit sprechen, Bil-dung und Wissenschaft stärker zu fördern. Unsere Forderungen zurBildungs- und Kulturpolitik werden in ihrem Wert gemindert, wennsie nicht durch gemeinsame Überzeugungen und Anstrengungenunserer Freunde in der Länder- und Bundesverantwortung bestätigtwerden. Vorschläge wie Staatsvertrag und Bildungsrat werden unsnur abgenommen, wenn unsere Länderchefs und Kultusminister da-hinter stehen. Die Frage ist, wie die erforderliche Koordinierung noch

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vor oder spätestens in Hamburg erreicht werden kann. (Einer solchenKoordinierung bedarf es auch, wenn wir auf dem Gebiet der Raum-ordnung über das Theoretisieren hinauskommen wollen.)

2. Wie wir alle wissen, wird die weitere Entwicklung in derBundesrepublik wesentlich davon abhängen, ob der veränderteTrend in den überwiegend katholischen Gebieten andauert und ver-stärkt werden kann. Die schulpolitischen Erörterungen in Hamburgkönnen hierbei eine wichtige Rolle spielen. Ich glaube, daß der Ent-wurf des bildungspolitischen Programms insoweit eine geeignetePlattform ist und uns keineswegs in einen Gegensatz zur Substanzunserer traditionellen Forderungen bringt. Es wird zu überlegen sein,wie wir auch noch auf andere Weise Vorurteile abbauen können,ohne uns dem Vorwurf des Opportunismus auszusetzen.

Im weiteren Verlauf dieses Jahres werden uns vier weitere in-nenpolitische Aufgaben besonders in Anspruch nehmen:

a) Für die besprochene Zwischenbilanz zu unserem Regie-rungsprogramm werden die Unterlagen der Fraktions-Assistentendemnächst zur Verfügung stehen.Vermutlich wird dieses Material imwesentlichen für die Stellungnahme zu Erhards Regierungserklärungauszuwerten sein.5 Darüber wird im September [1963] ohnehin in denVorständen der Partei und der Fraktion eingehend zu sprechen sein.Wir sollten aber nicht nur auf Erhard reagieren, sondern der Öffent-lichkeit schon vorher klarmachen, welches die Elle ist, mit der wir ihnals Kanzler messen werden. Die Fraktionssitzung Anfang Oktober[1963] könnte die geeignete Gelegenheit sein, dies halb-öffentlich zutun.6

b) Die Wirtschafts-Konferenz im Oktober ist wichtig,7 weil derGegner ohne Zweifel bemüht sein wird, uns gerade auf diesem Gebietin Widersprüche zu verwickeln. Wir müssen dem nicht nur vor-beugen, sondern vor allem auch klar werden lassen, wie ein aus-gewogenes wirtschaftliches Wachstum unter den Bedingungen der60er und 70er Jahre gewährleistet werden kann. (Die Krise unsererLandwirtschaft wird uns unabhängig davon in den nächsten Mona-ten dauernd beschäftigen. Der Gegner weiß, daß für ihn hier auchwahlpolitisch einiges auf dem Spiel steht. Wenn wir uns vornehmen

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wollten, das Gros der Bauern in der nächsten Runde für uns zu ge-winnen, übernehmen wir uns. Saubere Antworten können aber auchauf andere Weise dazu beitragen, die Vorrangstellung der Union aufdem Dorf zu brechen.)

c) Der außerordentliche DGB-Kongreß im November [1963]8

bietet eine Möglichkeit, in den großen Fragen den Gleichklang vonPartei und Gewerkschaften deutlicher werden zu lassen. Für unsereÖffentlichkeitsarbeit bietet sich die Chance, „Godesberg“ gewisser-maßen noch einmal an den Mann zu bringen. (Es kann allerdingsnicht deutlich genug gemacht werden, wie sehr es darauf ankommt,den Begriff des Arbeitnehmers nicht zu eng zu fassen. Die letzte nie-dersächsische Befragung hat gezeigt, von wie großer Bedeutung esdort auch gewesen ist, daß sich Teile der Angestellten und Beamtenneu orientiert haben.)

d) Unsere Sozialpolitiker sollten ermutigt werden, ihre Über-legungen spätestens bis Ende des Jahres zum Abschluß zu bringen,damit wir Anfang des nächsten Jahres auf einer Fachtagung wirk-same Aussagen über unser Programm der Sozialen Sicherung ma-chen können.

Auf außenpolitische Fragen möchte ich heute nicht näher ein-gehen. Ich gehe davon aus, daß wir uns leichter als andere in einerveränderten weltpolitischen Landschaft zurechtfinden werden. Inder Europa-Frage schwebt mir eine neue Initiative vor; sie kann abererst begriffen werden, wenn die inhaltlichen Fragen hinreichend ge-klärt sind. Dem plumpen Versuch, Labour gegen uns auszuspielen,müssen wir mit verstärkten Bemühungen um tragfähige Elementeeiner gemeinsamen Politik begegnen. Wenn das mißlingt, bedarf eseindeutiger Abgrenzung.

Im übrigen gefällt es uns gut in den Bergen. Ich bleibe hier biszum 12. August [1963], bin am Vormittag des 13. in Zürich und nach-mittags in Berlin.Herzliche Grüße

P.S.: Egon Bahrs Diskussionsbeitrag in Tutzing hat einige Aufregungverursacht.9 Ich habe nicht die Absicht, über den Stock zu springen,

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den die Gegner hinhalten. Man muß den vollen Text lesen, um die Sa-che vernünftig beurteilen zu können. Ich war damit einverstanden,daß diese Gedanken zur Diskussion gestellt würden. Sie sollten in denrichtigen Rahmen eingeordnet und weder durch Hysterie noch durchmangelndes Selbstbewußtsein untergebuttert werden.

Nr. 51Aktenvermerk des Leiters des Presse- und Informationsamtesdes Landes Berlin, Bahr, für den Regierenden Bürgermeistervon Berlin, Brandt22. Oktober 19631

AdsD,WBA, A 6, 63 (alt).

R[egierender]b[ürger]m[eister]Es ist meiner Meinung nach notwendig, das Problem Ihrer vollenTätigkeit in Bonn mindestens noch einmal zu überlegen.2 Dabei stel-len sich folgende Fragen:

1. Gilt der R[egierende]b[ürger]m[eister] von Berlin in den Au-gen der westdeutschen Bevölkerung als Aussenseiter, als Fort-Kom-mandant, den man nicht ablöst während einer Krise? Diese Fragensind durch Meinungsforschung objektiv zu beantworten.

2. Kann es sein, dass die Bewerbung um das entscheidendepolitische Amt in Deutschland weniger ernst genommen wird, wennes von einem Mann ausgeht, der ein hohes Amt hat oder könnteumgekehrt die Entschlossenheit positiv wirken, wenn der Kanzler-kandidat sich ausschliesslich als Führer der Opposition auf den gros-sen Kampf konzentriert?

3. Ergeben sich aus dem Wechsel von Adenauer zu ErhardMomente, die den Wahlkampf erschweren, ganz besonders, wenndieser Kampf vom R[egierenden]b[ürger]m[eister] geführt wird, mitanderen Worten: könnte es nicht eine Erleichterung sein, den Kampf

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ohne die Rücksichtnahmen führen zu können, die der R[egierende]-b[ürger]m[eister] nehmen muss?

Mir sind die Argumente bewusst, die dagegen stehen. Ausserdemgehen mir die Fragen an sich contre cœur3. Aber bei der Bedeutungder Sache, um die es geht, muss man nüchtern und sachlich versu-chen, das beste im Interesse der Sache herauszufinden und danach zuentscheiden.<Ba[hr]>4

(Bahr)

Nr. 52Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Brandtan den Vorsitzenden des Landesverbandes der SPD Bayern,von Knoeringen30. Dezember 19631

AdsD,WBA, A 6, 39/40 (alt).

Lieber Waldemar,mit den besten Wünschen zum Neuen Jahr liegt mir daran, DeineMeinung zu hören, bevor wir uns Mitte Januar im PV über die per-sonellen Fragen schlüssig werden, über die auf dem außerordentli-chen Parteitag entschieden werden soll.2

Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Ergebnis gekommen,daß ich für den Parteivorsitz nur zur Verfügung stehen kann, fallsdamit nicht die Erwartung verbunden ist, daß ich das Berliner Amtniederlege. Ein Aussteigen hier würde ungünstige Wirkungen haben,auch im Ausland. Davon abgesehen, würde ein Parteivorsitzender inBonn, der nicht gleichzeitig für die parlamentarische Arbeit verant-wortlich zeichnet, sich ohnehin in einer wenig beneidenswertenSituation befinden.

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Es ist nicht meine Sache, darüber zu befinden, ob mir der Vorsitznach dieser Vorentscheidung angetragen werden soll. Ich kann nurversichern, daß ich nicht die Absicht habe, mich zu drücken. Einezeitliche und büromäßige Regelung, die der neuen Lage gerechtwürde, ließe sich sicherlich finden.

Wenn Fritz Erler neben der Fraktionsführung stellvertretenderParteivorsitzender wird, und wenn Herbert Wehner neben dem stell-vertretenden Parteivorsitzenden wieder einer der stellvertretendenFraktionsvorsitzenden wird, ergibt sich für die anlaufende Arbeit einMaximum an Verzahnung. Dem Vorsitzenden müßten dann das Bürodes Präsidiums und der Sprecher des PV unmittelbar unterstehen. Au-ßerdem müßte klargestellt sein, daß der Vorsitzende die Mitglieder derRegierungsmannschaft – nach entsprechender Vorklärung – beruft.

Ich wäre Dir sehr dankbar, lieber Waldemar, mir zu schreiben,was Du von diesen Erwägungen hältst.3

Mit herzlichen Grüßen auch an Deine FrauDein

Nr. 53Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für den General-Anzeiger (Bonn)14./15. März 19641

General-Anzeiger vom 14./15 März 1964.

Die SPD will ihre Bewegungsfreiheit behalten

FRAGE: „Herr Brandt, in welcher Weise wird Ihre Partei den Bundes-tagswahlkampf 1965 führen? Welches werden dabei die wichtigstenSachgebiete Ihrer Argumentation sein und wird der „weichenWelle“, der Persönlichkeitspropaganda von 1961 diesmal wieder eine

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stärkere Betonung der effektiven politischen Programmpunkte fol-gen?“BRANDT: „Den ersten Teil Ihrer Frage kann ich nicht in einemSatz beantworten: Wir werden hart darum ringen, 1965 zur stärk-sten Wählerpartei in der Bundesrepublik zu werden, aber wirwerden den Wahlkampf fair führen. – Auf unserem Parteitag inKarlsruhe im November dieses Jahres werden wir ein Regie-rungsprogramm für 1965 bis 1969 bekanntgeben.2 Ein Schwer-punkt dieses Regierungsprogrammes werden die Fragen von Bil-dung, Ausbildung und Forschung sein. Aufstieg durch Bildungwird bei uns groß geschrieben werden. – Wir werden uns weiterbemühen, ein wirkliches ,Sozialpaket‘ zusammenzuschnüren, dasauch finanziell zu verantworten ist. Die Probleme der Erhaltungder Gesundheit und die Verantwortung gegenüber den Alten wer-den darin einen wichtigen Platz einnehmen. – Nachdem unsereBundestagsfraktion das wegweisende Dritte Wohnungsbaugesetzeingebracht hat,3 werden wir es ergänzen und mit unseren Vor-schlägen für Stadterneuerung, für den rascheren Ausbau der Ver-kehrswege, für Raumordnung und Regionalplanung ergänzen. –Auch Fragen der Währungsstabilität, der Reform der öffentlichenFinanzen, der Schutz der Verbraucher und Sparer, die Anpassungder Landwirtschaft an die europäische Entwicklung und die Siche-rung der Mittelschichten werden in diesem Programm den ge-bührenden Platz finden.

Ich bin nicht der Meinung, daß man die Werbung des Jahres1961 als ,Weiche Welle‘ klassifizieren kann. Aber ich kann für 1965auf jeden Fall keine schwächere Gangart voraussagen. Die Bundesre-gierung und die sie tragenden politischen Gruppen werden sich ge-fallen lassen müssen, daß sie an den Notwendigkeiten gemessen unddaß Worte und Taten miteinander verglichen werden. Natürlichwird es bei den Wahlen 1965 auch um Personen gehen. Meine Parteihat mich beauftragt, den Wahlkampf so zu führen, daß wir nach denWahlen die Führung in der Bundesregierung übernehmen können.Man wird sich logisch auch mit den Exponenten der großen Parteienund ihren Zielsetzungen zu beschäftigen haben.“

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FRAGE: „Wie werden Sie sich in der Wahlauseinandersetzung denFreien Demokraten gegenüber verhalten?“BRANDT: „Ebenfalls fair! Ich will die Bedeutung der FDP nicht ver-kleinern. Sie ist schließlich in vier Ländern unser Koalitionspartner.Und diese Koalitionen arbeiten nicht schlecht. Auf der anderen Seiteweiß jeder, daß die Schwerpunkte der Auseinandersetzungen bei dengroßen Parteien liegen. Wir werden die FDP auch an dem messen,was sie getan hat und wie ihre Zielsetzung für 1965 aussieht. Die SPDwird sich ihre Bewegungsfreiheit gegenüber den beiden anderenParteien erhalten.“FRAGE: „Welche konkreten innenpolitischen Absichten hat IhrePartei noch für die nächste Zeit? Welche wichtigen Gesetzesvorgabenhofft sie, bis zu den Bundestagswahlen 1965 durchsetzen zu kön-nen?“BRANDT: „Die Probleme, die wir im Regierungsprogramm für 1965ansprechen, können selbstverständlich nicht bis Ende 1965 in denEisschrank gelegt werden. Manche sind darunter, wie der Bildungs-notstand, die uns auf den Nägeln brennen. Sie müssen deshalb auchin der laufenden Legislaturperiode behandelt werden, selbst wennwenig Hoffnung besteht, daß von der gegenwärtigen Koalition nochgroße Aufgaben angepackt werden. Wir werden auf jeden Fall drän-gen.“FRAGE: „Welche Chancen rechnet sich Ihre Partei für die nächstenBundestagswahlen aus?“BRANDT: „Die besten! Wir wollen stärkste Partei werden. So furcht-bar groß ist der Abstand zwischen SPD und CDU ja ohnehin nichtmehr.“FRAGE: „Glauben Sie, daß auch Fragen der Außenpolitik in großemMaße die Wahlauseinandersetzung des nächsten Jahres bestimmenwerden?“BRANDT: „Niemand kann voraussagen, vor welcher außenpoliti-schen Situation wir 1965 stehen werden, wenn der eigentlicheWahlkampf beginnt. Aber wie die Lage auch dann sein wird, meineAuffassung ist es, daß außenpolitische Probleme nicht ohne zwin-gende Not im Wettstreit der Parteien stehen sollten.Wenn wir sagen,

308 Interview für den General-Anzeiger, 14./15. März 1964

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daß in Lebensfragen der Nation ein Höchstmaß an Gemeinsamkeiterforderlich ist, dann gilt das auch für den Wahlkampf 1965. Das be-deutet aber keinesfalls, daß ich meine, außenpolitische Problemestehen außerhalb der Diskussion. Wir bemühen uns um Gemein-samkeit, aber in den Fragen, in denen wir es für erforderlich halten,werden wir auch unsere Meinung sagen. Es kommt aber entschei-dend auf die Formen an, in denen man das tut. Von anderer als so-zialdemokratischer Seite ist in dieser Hinsicht gerade in der jüngstenVergangenheit schwer gesündigt worden.“4

Nr. 54Interview des Vorsitzenden der SPD und RegierendenBürgermeisters von Berlin, Brandt,mit dem Journalisten Gaus für das ZDF25. September 19641

Tatsachen – Argumente, Nr. 104, Oktober 1964.

Zur Person:Willy Brandt

GAUS: Herr Bürgermeister Brandt, Sie werden in diesem Jahr 51 Jahre altund gehören damit zu jener Generation, die auch auf der politischen Bühneimmer mehr in den Vordergrund rückt. Schröder, Strauß, Mende sind un-gefähr im gleichen Alter. Sehen Sie eine Gemeinsamkeit dieser Generation,gibt es etwas, was allen diesen Politikern gemeinsam ist, unabhängig vonihrer Parteizugehörigkeit und ihrem Hintergrund?BRANDT: Ja, Herr Gaus, ich habe mich jetzt langsam daran gewöhnt,daß man zu gleicher Zeit ein jüngerer Politiker und ein älterer Ange-stellter sein kann. Oder, wenn nicht mehr „jüngerer Politiker“, danndoch einer, der politisch im besten Alter steht; und das habe ich danngemeinsam mit den Herren, die Sie erwähnten, und anderen.

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Also wir, die wir um die fünfzig herum sind, haben doch wohl je-denfalls dieses gemeinsam: Wir haben noch etwas mitgekriegt vomNiedergang der Weimarer Republik,wir haben aufdie eine oder andereWeise die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Krieges hinteruns und sind dann nach dem 2. Weltkrieg ernsthaft in die öffentlicheVerantwortung hineingekommen. Unser Denken, das Denken dermeisten von uns, ist wahrscheinlich weniger als das Denken Älterer– wenn ich jetzt mal meinen Sektor des politischen Lebens nehme –von dem fast unbegrenzten Fortschrittsglauben vergangener Zeitenbestimmt. Wir haben eine ganze Menge durchgemacht schon in jun-gen Jahren und sind genötigt gewesen, sind es immer noch, mit dieserWelt, so wie sie ist, fertig zu werden und mit der Lage unseres Volkes,die ganz abweicht von dem, woran man sich früher gewöhnt hatte.GAUS: Glauben Sie, daß diese enge Vertrautheit mit den Schwierigkeiten, indie jede Welt, jede Gesellschaft, jeder Staat jederzeit geraten kann, glaubenSie nach all den Erfahrungen, die Ihre Generation gemacht hat, daß dies einWert ist, der nicht nur den Älteren fehlt in der Beurteilung politischer Vor-gänge, sondern der auch den Jüngeren vielleicht fehlt, die heutzutage in einerrelativen Sorglosigkeit aufwachsen?BRANDT: So weit möchte ich nicht gehen. Ich erlebe das ja selbst zuHause. Ich wundere mich, wenn meine Jungs, na, sagen wir malHitlerplatten hören und darüber lachen, weil sie sich nicht vorstellenkönnen, welchen Zusammenhang das hat mit einer für unser Volk sogewichtigen Realität. Aber ich glaube doch nicht, daß wir den nach-wachsenden Jüngeren wünschen sollten, daß sie alles noch einmaldurchexerzieren, was wir, die wir jetzt um die fünfzig sind, habendurchleben müssen. Ich glaube schon, daß sich das auch vermittelnläßt.GAUS: Das wollte ich fragen. Kann man so etwas, diese Erfahrungen, dieseErkenntnisse, den Nachwachsenden mitgeben?BRANDT: Ich glaube, ja; das, was daraus abzuleiten ist. Es ist nichtnötig, daß jeder das Lehrgeld voll selbst bezahlt.GAUS: In einem Punkte, Herr Bürgermeister, hat natürlich Willy Brandtvielleicht eine noch leidvollere Erfahrung machen müssen als seine Alters-genossen. Man muß dazu etwas ausholen. Sie haben einmal in einer sehr

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noblen Rede im November 1960, als Sie Kanzlerkandidat Ihrer Partei, derSozialdemokraten, geworden sind, Sie haben mit dieser, wie ich finde, no-blen Rede Stellung genommen zu Unterstellungen und Kampagnen, die ge-gen Sie geführt worden sind. Sie erwähnten darin, daß Sie Ihren Geburts-namen Herbert Ernst Frahm abgelegt haben, und sagten: „Mit meinem Ge-burtsnamen und dem meiner damals unverheirateten Mutter verband michwenig mehr als die Erinnerung an eine nicht ganz leichte Kindheit. Das magvielen ungewöhnlich erscheinen und ist es wohl auch, aber es hat niemanddas Recht, mir meine Ehre streitig zu machen.“2 Wer seinerzeit diese Redehörte, der hatte den Eindruck einer, wie schon gesagt, noblen Klarstellung,und darüber hinaus wirkten Sie wie jemand, der ganz froh ist, daß er dieseDinge einmal klar beim Namen nennt. Das bringt mich zu meiner Frage:Hat Sie diese Besonderheit ihrer Herkunft, das Aufwachsen ohne Vater, ir-gendwann im Leben bedrückt, geniert, etwa im Kreise ihrer wohlsituiertenMitschüler?BRANDT: Ich würde das nicht ganz verneinen. Ich will es nicht dra-matisieren, das mit der schwierigen Kindheit oder „nicht ganz ein-fachen Kindheit“, so hatte ich wohl gesagt. Ich möchte es nichtschwieriger machen, als es war. Man hat gut für mich gesorgt, daswar es nicht. Aber es ist wahr, man unterschied sich von anderen.GAUS: Und wie empfanden Sie diesen Unterschied? Empfanden Sie ihnschmerzlich?BRANDT: Schmerzlich ist wohl zuviel gesagt, aber etwas bedrückendmanchmal.GAUS: Sie sind 1913 in Lübeck geboren, aufgewachsen unter dem EinflußIhres Großvaters, eines ehemaligen Landarbeiters, dann Lastwagenfahrersund überzeugten, fast möchte man sagen, gläubigen Sozialdemokraten,wenn man Ihrem Bericht über diesen Mann vertraut. Sie haben sich dersozialistischen Jugendbewegung angeschlossen und damit Ihre politischeTätigkeit begonnen. Das ist ein sehr direkter Weg: Einfluß des Großvaters,Traditionen und Milieu der Familie, folgerichtiger Entschluß des Enkels.Haben Sie niemals mit einer anderen politischen Ideenwelt als der der So-zialisten geliebäugelt, und sei es nur aus Opposition gegenüber der Umwelt,nur weil eben dieser Weg so vorgezeichnet war? Hat Sie das nicht verlockt,etwas anderes zu tun?

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BRANDT: Nein. Nein! Das, was ich in mich aufnehmen konnte, durchden Großvater, den Sie erwähnten, durch meine Mutter, die ebenso indieser politischen Heimat, wie man es empfand, stand, das hat michbestimmt. Die Opposition gegen das Elternhaus und die Familie, diewir sonst so häufig als ein Merkmal von Menschen finden, ist bei mirwahrscheinlich überspielt worden dadurch, daß das Unterschieden-sein von der Umwelt noch bedeutsamer war.GAUS: Es hat Sie hingeführt zur Familie und nicht weggeführt?BRANDT: So ist es. Das ist das eine. Das zweite ist – obwohl es dieseAnlehnung gab, dieses im selben Milieu Aufwachsen, in dieser geis-tigen Welt –, daß es nicht ohne <Friktion>3 war. Ich kann michnoch sehr genau erinnern, es wird so im Jahre 1931 gewesen sein.([Gaus:] Damals waren Sie Gymnasiast?) Damals war ich Gymnasiastund war mit meinen Freunden aus der sozialistischen Jugend-bewegung gegangen, in einem Ersten-Mai-Umzug mag es gewesensein oder in einem anderen Zug. Wir hatten ein Transparent mit-geführt, auf dem stand: „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus istdas Ziel!“4 Mein Großvater, der ein sehr einfacher, aber echter,großartiger Mensch war, der hat mit mir am gleichen Abend nochoder am nächsten gesprochen und gesagt: „Wie könnt Ihr eigentlichso undankbar sein.“ Mir ist erst später richtig klar geworden, wasdas bedeutete. Er war – Sie haben es vorhin gesagt – als Landarbeitergroßgeworden, seinen Vater hatte man noch bei einem Grafen imwestlichen Mecklenburg über den Bock gelegt, um ihn zu züchti-gen. Er selbst war in die Stadt gegangen, er lebte in den dreißigerJahren in einer kleinen Neubauwohnung mit ein paar Zimmern,einem kleinen Bad, ich hatte meine Kammer oben auf dem Boden.Er zahlte dafür 50 Mark, das war einer der vier Wochenlöhne imMonat. Er empfand dies als einen gewaltigen sozialen Aufstieg ge-genüber dem, was früher gewesen war. Er stand auf der Liste zurBürgerschaftswahl, nicht um gewählt zu werden, sondern weil manauch noch Namen brauchte, um die Liste ganz auszufüllen, er warWahlvorsteher in einem Wahllokal, er nahm eine Reihe andererehrenamtlicher Aufgaben wahr. Er fühlte, daß er dabei war in dieserRepublik, von der wir sagten, sie sei nicht viel. Insofern bedeutete

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dieses Dabeisein nicht, daß es nicht auch eine ganze Menge (Gaus:Spannungen) Spannungen gab, ja.GAUS: Es muß welche gegeben haben, denn 1931, eben in jenem Jahr, indem Sie im Mai-Umzug dieses Transparent mit umhergetragen haben, ha-ben Sie die SPD verlassen und sind Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-partei, einer weiter links orientierten Splittergruppe, geworden. Warum?BRANDT: Ja, warum? Es war damals so, daß ein großer Teil der sozia-listischen Jugend in Lübeck wie in einer ganzen Reihe anderer Städtemehr mit linksstehenden Abgeordneten im Reichstag sympathi-sierte, die also gegen die Tolerierungspolitik der Regierung Brüningwaren, die etwas vertraten, was wir damals als konsequenter, als ra-dikaler empfanden. Ich würde sagen, das, was uns bewegte, war einAufbegehren gegen die Kraftlosigkeit der Kräfte, die meine eigenePartei damals führten. Wir sind zu weit gegangen in der Kritik, aberes war das Unbefriedigtsein damit, daß die Weimarer Republik nichteinen großen Wurf zustande brachte.GAUS: Wenn Sie mit dem, Herr Brandt, was für Ihre Familie im wahrstenSinne Heimat war, mit der Sozialdemokratie, unzufrieden waren als sehrjunger Mann, dann interessiert mich, warum dann diese Splittergruppe„Sozialistische Arbeiterpartei“, warum nicht KPD?BRANDT: Die Frage hat sich uns damals in Lübeck gar nicht gestellt.Für uns war es eine Entscheidung innerhalb der sozialistischen Ju-gendbewegung, und wir empfanden diese Splittergruppe doch alseinen Teil der sozialistischen Bewegung. Ich glaube, ich hätte, was dieKommunisten anging, allenfalls für eine Figur wie Trotzki größeresInteresse aufbringen können. Der war aber schon außer Landes5 ge-gangen.GAUS: Er hätte aber möglicherweise auch bei der Sozialistischen Arbeiter-partei sein können?BRANDT: Das weiß ich nicht. Aber was uns erfüllte, war doch einegrundsätzliche Einstellung, und sie stand – so falsch manches sonstgewesen sein mag, wofür wir uns damals einsetzten – schon damalsin einem klaren Widerspruch und Gegensatz zu den bürokratischen,autoritären Tendenzen der Kommunistischen Partei, die nicht sosehr ein Werkzeug Moskaus war, wie es das Ulbricht-Regime später

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geworden ist, aber die eben doch praktisch damals schon ein Stückder sowjetischen Außenpolitik genannt werden konnte.GAUS: Ich glaube, Herr Bürgermeister, daß wir mit dieser SozialistischenArbeiterpartei und ihrem Anschluß an sie zu einem sehr wichtigen Punktgekommen sind. An die politische Wirksamkeit dieser sektiererhaften links-sozialistischen Partei konnte doch wohl nur glauben, wer dogmatische, pro-grammatische Fragen wichtiger nahm als die politische Realität. Ist das beiihnen so gewesen? War für Sie in dieser Zeit die dogmatische Seite des So-zialismus jene Seite, die Sie begeisterte?BRANDT: So wird es wohl gewesen sein: Rückschauend sehe ich esein bißchen anders. Rückschauend finde ich, daß die, die von linksopponierten, und die „Aktivisten“, die von rechts opponierten inner-halb der Sozialdemokratie, einander viel näher standen.GAUS: Sie haben das geschrieben,6 und zwar in bezug auf Julius Leber, derim Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordet worden ist ([Brandt:]Ja) und den Sie aus ihrer früheren Lübecker Zeit als Ihr Vorbild hinstellen.Ich glaube dennoch, daß es mehr – ich würde das noch einmal fragen mögen– die Neigung des jungen Mannes zur Utopie war. Ist das falsch?BRANDT: Nein, das ist nicht ganz falsch. Ich habe aber auch seitdemprogrammatischen Fragen immer großes Interesse beigemessen, einanderes als damals, aber ich bin daran weiter interessiert geblieben.

Für mich war dann wichtig, ,rauszukommen‘ und dort konfron-tiert zu werden mit einer anderen Art, die politischen Dinge zu se-hen. Aber ich muß Ihnen recht geben – ich will jetzt in meinem Le-benslauf nicht vorgreifen –, ich habe damals als junger Mann denFragen der dogmatischen Programmatik größere Bedeutung beige-messen, als ich es heute tun würde. Und trotzdem bedaure ich nicht,daß ich die Erfahrung dieser Splittergruppe mitgemacht habe. Ichmöchte sie nie wiederholen, aber ich bedaure nicht, daß ich sie mit-gemacht habe, denn in einer solchen Gruppe wird der einzelne vielmehr auf die Probe gestellt als das Mitglied einer Massenpartei. Manmußte sich als einzelner viel mehr mit den Fragen auseinander-setzen, und ich habe jedenfalls eine Menge dadurch gelernt.GAUS: Können Sie versuchen, rückwirkend die Motive zu nennen, die Sie zudiesem Glauben an die Utopie, an die ehrenwerte Utopie, veranlaßt haben?

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Was war das? War es Mitleid, war es das Gefühl: „Ich gehöre zu einerGruppe, die zu kurz gekommen ist und die ihre Chance erhalten muß“?BRANDT: Nein, es war das Festhalten an etwas, das ich geerbt hatteund wovon ich glaubte, daß die offizielle Sozialdemokratie es ver-ließe. Es war die Bebelsche Sozialdemokratie, die in den jungenLinkssozialisten lebendig war. Es war das, was mein Großvater mireigentlich gesagt hatte, uns vermittelt hatte. Und es war das Unbe-friedigtsein vom Weimarer Staat, wobei wir nur damals glaubten– das war der eigentliche Irrtum –, daß es am zu geringen Sozialismusläge; es lag aber an der zu wenig kämpferischen Demokratie.GAUS: Sie kommen da auf einen Unterschied, den ich für sehr bedeutsamhalte in ihrem Lebenslauf. Sie sind 1933 in die Emigration nach Norwegengegangen und dann bis zum Ende des Nationalsozialismus viel in Europaumhergereist, als Journalist und als linkssozialistischer Funktionär.7 Siesind auch vorübergehend illegal in Deutschland gewesen. Wir werden aufdiese Zeit noch kommen. An dieser Stelle interessiert mich nur eines: DerWandel Ihres Verhältnisses zur Programmatik, zur dogmatischen Pro-grammatik, wie Sie gesagt haben; wenn Sie so wollen, ihre Entideo-logisierung. Inwieweit und auf welche Weise ist dies durch ihre Begegnungmit Skandinavien bewirkt worden?BRANDT: Ganz entscheidend. Man glaubt es kaum, aber während ichin Norwegen war, das heißt in den dreißiger Jahren, ist dort zum er-sten Male das „Kapital“ von Karl Marx ins Norwegische übersetztworden. Das gab es vorher gar nicht, und es wurde dort von einer In-tellektuellengruppe übersetzt und herausgegeben. ([Gaus:] Zu der Siegehörten, glaube ich?) Mit der ich Verbindung hatte. Aber das, wasdie skandinavischen Sozialdemokraten mit ihren Schattierungen– die Norweger waren ein bißchen mehr links als andere –, was dieskandinavischen Sozialdemokraten insgesamt trug, das war das, wasaus den Kraftquellen des Christentums und des Humanismus ge-kommen war, viel mehr als das, was in der deutschen Sozial-demokratie von der Marxschen Soziologie, oder wie immer man dieLehre umschreiben will, gekommen war. Ich lernte eine große Of-fenheit kennen – bei uns blieb auch während der Weimarer Zeit allesdoch sehr abgekapselt, Schichten, Gruppen, Klassen, wenn man so

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will, im Verhältnis zueinander ([Gaus:] und im Verhältnis zum Staat)und im Verhältnis zum Staat. Ich lernte dort kennen, wie wirklichum die Demokratisierung eines Staatswesens gerungen wird, wie dasaussieht, wenn man wirklich dabei ist und sich um praktische Auf-gaben zu kümmern hat. Ich kam dorthin, als von meinen norwegi-schen Freunden eine Wahl gewonnen wurde unter dem Motto: „Dasganze Volk in Arbeit“. Das war das, womit in Amerika der New Dealbestritten wurde, eine aktive Krisenpolitik, während bei uns dieDogmatiker – es gab nicht nur Linkssozialisten, es gab auch Regie-rungsdogmatiker – glaubten, die deutsche Währung bräche zusam-men, wenn man ein paar Milliarden aufgebracht hätte für ernsthafteKrisenbekämpfungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme. Ich lerntekennen, wie eine moderne Sozialpolitik gestaltet wurde, und eineganze Menge anderer Dinge.GAUS: Sie sind, Herr Bürgermeister, nicht nur Kanzlerkandidat Ihrer Par-tei, sondern seit Anfang dieses Jahres auch der Vorsitzende der SPD. In die-ser Position, die durch das politische Gewicht des Regierenden Bürger-meisters von Berlin weiter gestärkt wird, hat natürlich Ihr ganz persön-liches Verhältnis zu den hergebrachten Denkformen des Sozialismus, desMarxismus, Folgen für das Selbstverständnis Ihrer Partei.

Ich habe dazu zwei Fragen: Der Widerstand in der SPD gegen dieReformer, zu denen Sie gehören, ist doch beträchtlich gewesen, und es hatlange Jahre gedauert, bis man endlich zum Godesberger Programm ge-langte. Worin sehen Sie die Motive für diesen Widerstand, Sie ganzpersönlich? Waren das nach Ihrer Kenntnis und nach Ihrer Auffassungvornehmlich Personalkämpfe, waren das Sentimentalitäten, war das ver-knöcherter Traditionalismus?BRANDT: Darf ich zunächst mal, Herr Gaus, auf den AusgangspunktIhrer Frage zurückkommen? Sie sagten, ich sei nun nicht mehr nurKanzlerkandidat meiner Partei, sondern auch Vorsitzender dieserPartei. Ich sehe das eigentlich nicht als zwei verschiedene Aufgaben.(Gaus: Es ist eine Zeitlang an zwei Personen gebunden gewesen.)Das Natürliche ist, daß ein gewählter Vorsitzender, ein vom Ver-trauen seiner politischen Freunde getragener Vorsitzender einergroßen Partei diese Partei auch in den Wahlkampf führt, das heißt,

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Kanzlerkandidat ist. Das ist zeitweilig anders gemacht worden, weilHerr Ollenhauer nicht wünschte, diese Koppelung in seiner eigenenPerson vertreten zu sehen, und daher kam der Vorschlag, der michzum Kanzlerkandidaten und zum stellvertretenden Vorsitzendender SPD machte. (Gaus: Das war 1960?) Ja. Nun die eigentliche Frage:Welches waren die Motive für den Widerstand gegen die Er-neuerungen, gegen die Modifizierung der Sozialdemokratie? Eigent-lich gab es den ersten großen Ansatz ja gar nicht durch die, die danndas Godesberger Programm durchgesetzt haben; den ersten Anlaufmachte Kurt Schumacher. Das ist vielfach vergessen worden. KurtSchumacher sagte 1946: „Dies ist nicht einfach eine wiederbegrün-dete SPD, sondern eine neu begründete.“8 Er wollte damit sagen:eine Partei, die zwar anknüpft, die auch unter demselben Namenwieder auftritt wie vor Hitler, die aber die Erfahrungen der Zwi-schenzeit, die Erfahrungen mit dem Totalitarismus, mit den Nazis,mit den Kommunisten, mit verarbeiten will. Das, was dann anWiderstand kam, hat, glaube ich, mit persönlichen Dingen ver-hältnismäßig wenig zu tun gehabt. Es hat zu tun gehabt mit derverständlichen Neigung der Menschen, das, was sie einmal in sichaufgenommen haben, möglichst nicht, wie sie es empfinden, „überBord zu werfen“; sie neigen dann dazu, am Buchstaben zu kleben.Aber ich will das nicht in herabsetzender Bedeutung verstandenwissen. Es bleibt natürlich in einer so großen Partei immer ein ge-wisses Ringen zwischen mehr konservativen – im höchst an-ständigen Sinne des Wortes konservativen – und mehr vorwärts-strebenden Tendenzen und Meinungen. Aber wir können doch sa-gen – ich sehe es jedenfalls so –, daß diese offene, für alle Schichtenoffene, moderne deutsche Sozialdemokratie angeknüpft hat an das,was über ein Jahrhundert hinweg Vorstellung geblieben ist: Näm-lich das Ringen darum, daß breite Schichten unseres Volkes, dieAußenseiter waren, buchstäblich an den Tisch der Gesellschaft unddes Staates herangeführt werden. Es bleibt die Vorstellung von einerErweiterung der Demokratie: Demokratie nicht auf Rationierungs-karten, sondern Demokratie weit ausgedehnt verstanden. Es bleibtdrittens die Vorstellung von einer verantwortlichen Beeinflussung

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des wirtschaftlichen Geschehens, damit die Menschen nicht nurdessen Objekte sind.GAUS: Ich komme in diesem Zusammenhang zu meiner zweiten Frage,Herr Bürgermeister. Sie haben in einer Rede im Sommer vorigen Jahres ge-sagt, als Krebsschaden der Deutschen nach dem Kriege betrachteten Sie, ichzitiere nun: „. . . das Diktat kleiner oder sogar kleinlicher Zweckmäßig-keitserwägungen. Es gibt bei uns zulande zu viel Opportunismus, und wirhaben alle auf der Hut zu sein, damit nicht der begrüßenswerte Trend zurEntideologisierung mit dem Preis der Grundsatzlosigkeit bezahlt wird.“9

Nun ist es so: Gerade diese Zweckmäßigkeitserwägungen und die Ge-fahr der Grundsatzlosigkeit werden Ihnen und Ihrer Partei nicht nur vonparteipolitischen Gegnern zum Vorwurf gemacht. Es wird gelegentlich ge-sagt, die SPD und ihr Vorsitzender Willy Brandt hätten aufgehört, diePflichten der Opposition wahrzunehmen. Was sagen Sie zu einem solchenVorwurf? Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Entideologisierung, die Siewünschen, und Grundsatzlosigkeit, die auch Sie fürchten?BRANDT: Zuerst einmal ist die SPD nicht nur die Oppositionsparteiin der Bundesrepublik Deutschland; das würde den föderativen Auf-bau unseres Staates nicht genügend berücksichtigen. Die SPD ist aufder Länderebene in all diesen Jahren immer in der Verantwortunggewesen, in einer kleineren oder größeren Zahl von Ländern. Sie hatdie deutschen Gemeinden, den größten Teil der deutschen Städteverantwortlich mitgetragen. Aber ich sehe die Gefahr, von der ichallgemein gesprochen hatte, auch für den Sektor des politischen Le-bens, für den ich selbst Verantwortung trage. Da muß man selbst sehraufpassen und mit seinen Freunden darum ringen, daß das legitimeBemühen um das Vertrauen, auch um Wählerstimmen (Gaus: Umdie Gunst), um die Gunst der Wähler, nicht so etwas wird wie derPapagei, der sich einem auf die Schulter setzt und dann diktiert, wasman zu tun hat. Man muß sich immer wieder selbst die Frage stellen– wie meine Partei es getan hat im Godesberger Programm und inspäteren Dokumenten –: Welches sind die Grundwerte, die Zielvor-stellungen, an denen man sich orientiert?GAUS: Ich muß etwas boshaft werden. Sie haben in einer Autobiographie„Mein Weg nach Berlin“, die Sie zusammen mit dem Schriftsteller Leo

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Lania verfaßt haben, geschrieben: „Was wir brauchen, ist die Synthesevon praktischem Denken und idealistischem Streben. Sagt nicht ,entweder– oder‘, sondern ,sowohl als auch‘, wie Strindberg empfiehlt.“10 Das habenSie geschrieben. Nun kommt meine Boshaftigkeit. Gelegentlich hat man,wenn man dieses Buch von Ihnen liest, wenn man Ihre Reden hört – abernicht nur bei Ihren Reden, sondern, durchaus nicht auf Ihre Partei be-schränkt, bei allen Parteien – das Gefühl, daß ein Zug vorherrscht, nämlichder Drang, jedem etwas zu sagen zu haben. Befürchten Sie nicht, HerrBürgermeister, daß auf diese Weise die Austragung politischer Gegensätzeunterbunden wird zugunsten einer möglichst publikumswirksamen Dau-erwerbung?BRANDT: Da ist was dran. Aber wenn Sie mich zitiert haben, dort ausdem Buch „Mein Weg nach Berlin“, dann darf ich sogar dem, was dasteht, noch etwas hinzufügen, was ich selbst seitdem noch gelesenhabe und was mich beeindruckte. Ein kluger Mann in einem anderenLand hat gesagt: „Man kann heutzutage nur ein guter Realist sein,wenn man auch an Wunder glaubt.“ Da ist auch das „sowohl alsauch“, nur etwas anders ausgedrückt, Herr Gaus.GAUS: Für den Kanzlerkandidaten der Opposition ist es natürlich be-sonders hübsch, wenn er auf den Glauben an Wunder verweist, wenn ichdas sagen darf.BRANDT: Augenblick mal, da muß ich etwas deutlicher werden, be-vor wir auf die folgende Frage noch einmal zurückkommen. Ich habees auf den Berlin-Fall einmal so angewandt: Wir, die wir Politik ma-chen, haben ja doch alle oder fast alle Bismarck gelesen und wissenum ihn als einen der großen deutschen Staatsmänner, ganz gleich, obman nun jeden seiner Schritte nachträglich für richtig hält odernicht. Von Bismarck stammt die einfache Faustregel, daß die Politikdie Kunst des Möglichen sei. Wir in Berlin haben uns sagen müssen– ich habe das seinerzeit in Gesprächen mit Ernst Reuter in den al-lerschwersten Nachkriegsjahren entwickelt –, daß wir heute damitnicht mehr auskommen. Für uns in Berlin – aber das gilt auch für diedeutschen Dinge überhaupt – ist Politik zu der Kunst geworden, daszunächst unmöglich Erscheinende dennoch möglich werden zu las-sen. Man kann nicht nur in den Tag hineinleben und sich arran-

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gieren, man muß auch abzielen auf Dinge, von denen einem diemeisten sagen: Das wird wohl nicht, oder das wird wohl nicht sorasch. Insofern bleibe ich also ganz bei dem, was da steht, und wäreeher geneigt, es noch dick zu unterstreichen.

Aber trotzdem haben Sie recht, wenn Sie hinführen zu einer Be-trachtung darüber, ob nicht bei zwei großen Parteien oder 2 1/2, je-denfalls bei zweien, die sehr in die Breite gehen, ob nicht bei beiden– man sieht ja davon auch etwas in anderen Ländern – die Gefahrbesteht, es zu vielen Leuten recht machen zu wollen. Ich sehe das alseine Gefahr. Ich glaube, es ist deutlich genug, und wenn es etwasunklar geworden sein sollte, wird es bald wieder sehr klar werden:Auf der einen Seite ist ein größeres Beharrungsvermögen da, einstärkeres Verhaftetsein im Vergangenen und im Jetzigen, im Grundeder Glaube daran, daß die Welt, wie wir sie haben, eine der schönstenist. Auf der anderen Seite ist eine Kraft, die stärker an den Anschlußan die neuen Fragestellungen, an die Fortentwicklung unseres Staa-tes und unserer Gesellschaft denkt.GAUS: Zurück zu Ihrer Emigrationszeit, Herr Bürgermeister. Sie habengeschrieben: „Ich wollte kein Emigrant sein.“11 Folgerichtig haben Sie sichum die norwegische Staatsbürgerschaft bemüht, die Sie schließlich nach derAusbürgerung durch die Nationalsozialisten erhalten haben und erst umdie Jahreswende 1947/48 gegen die deutsche wieder eintauschten. ErklärenSie mir bitte, was das heißt: „Ich wollte kein Emigrant sein“?BRANDT: Darin steckt mehr als eine Frage. Erstens hatte ich immeretwas gegen das Wort selbst. Emigranten waren im vergangenenJahrhundert diejenigen unserer Landsleute, die nach Amerika aus-gewandert sind, weil sie dort eine neue Heimat finden wollten. Die-jenigen, die während der Nazizeit Emigranten genannt wurden, teilsvon der Nazipropaganda, aber so übernommen auch in die Sprachedes Volkes, waren nicht Emigranten. Sie waren politische oder rassi-sche oder auch religiöse Flüchtlinge. Flüchtlinge! Wir nennen die, dieaus der Zone kommen, auch nicht Emigranten, wir nennen sieFlüchtlinge.

Das war das eine. Aber es kam noch etwas hinzu. Ich war 19Jahre, als ich flüchtete, und ich hatte das Glück, schon etwas Kontakt

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zu haben zu dem Land, in das ich ging. Ich konnte seine Spracheschon etwas sprechen und sie sehr rasch so lernen, daß ich mich derSprache nach nicht unterschied von anderen in diesem Land. Ichhatte also das Glück, daß ich, anders als Intellektuelle sonst, eine Tä-tigkeit in dem Land finden konnte. Das war sonst die Tragik derer, dienicht Handarbeiter waren. Auch Handarbeiter hatten es dort, wo Ar-beitslosigkeit war, noch sehr schwer, aber die, die Rechtsanwältewaren oder Beamte oder Journalisten, besonders die Älteren, hatten jadas Handicap des Schreibens in einer anderen Sprache, oder sie hat-ten ein anderes Recht gelernt und was der Dinge mehr sind. Das warfür mich wegen meiner Jugend keine Hürde. Ich konnte also dorteine Tätigkeit ausüben, ich war in einer großen Hilfsorganisation tä-tig, ich war als Journalist tätig und ich habe gelernt im Rahmen derArbeiterbildungstätigkeit in Norwegen und später in Schweden.Aber das hat nicht bedeutet, daß ich mich getrennt hätte von denFreunden, die aus Deutschland gekommen waren. Ich habe immer inNorwegen und später in Schweden zu den Gruppen der deutschenSozialisten oder Sozialdemokraten in der Emigration gehört. Es be-deutete nur für mich, daß ich nicht den großen Teil meines Tages mitdem verbrachte, womit andere ihn verbringen mußten, nämlichüberwiegend damit, darüber nachzudenken, warum es so gekommenwar, wie es 1933 gekommen war. Ich stand mehr in einem täglichenLeben, das stark mit der Wirklichkeit meines Gastlandes, das dannmeine zweite Heimat wurde, zusammenhing.

Und da bin ich bei meiner Staatsbürgerschaft, Herr Gaus. Siesagen richtig – mir liegt daran, es hier noch einmal zu unter-streichen, weil das manchmal falsch dargestellt wird –, ich bin imJahre <1936>12 ausgebürgert worden durch die nationalsozialistischeRegierung. Ich war dann staatenlos. Als Staatenloser habe ich dienorwegische Staatsangehörigkeit angenommen, und ich war dank-bar dafür, daß sie mir gegeben wurde, wie anderen auch. Als ichdann zurückkehrte, habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit wie-der beantragt. Ja, um genau zu sein, es gab sie noch gar nicht wieder,denn es gab noch keine Bundesrepublik. Die Landesregierung vonSchleswig-Holstein in Kiel hat mich, weil ich in Lübeck geboren

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war, bei sich im Lande Schleswig-Holstein wieder eingebürgert. Da-mit entfiel meine norwegische Staatsangehörigkeit, weil ein Mannnach norwegischem Recht nicht zwei Staatsangehörigkeiten habenkann.GAUS: Sie sind wegen einer Reihe von Büchern, Broschüren und Arti-keln, die Sie während der Zeit, in der Sie im Ausland waren, geschriebenhaben, im letzten Bundestags-Wahlkampf heftig attackiert worden,13 un-ter anderem wegen Artikeln, die Sie im Zusammenhang mit dem spani-schen Bürgerkrieg geschrieben haben, den Sie als Journalist und als Be-obachter für Ihre linkssozialistische Gruppe gesehen haben.14 Offensicht-lich haben Sie sich gegen einen Vorwurf, Herr Bürgermeister, entschiedenzur Wehr gesetzt, gegen die unrichtige Behauptung nämlich, wie man,glaube ich, feststellen kann, daß Sie mit der Waffe in der Hand gegenDeutschland gekämpft hätten. Ich habe dazu eine Frage. Wenn Sie sichausgerechnet gegen diese Unterstellung besonders verwahren, beugen Siesich damit nicht bösen Ressentiments, die es da und dort hierzulandenoch gibt? Wie denken Sie über die Berechtigung des bewaffnetenKampfes von Deutschen gegen das militaristische, nationalsozialistischeDeutschland?BRANDT: Darf ich, bevor ich das beantworte, noch einmal zu Spanienein Wort sagen, Herr Gaus (Gaus: Bitte.)

Sie haben eine Tätigkeit dabei jetzt nicht erwähnt (Gaus: Sekre-tär des Hilfskomitees?) Ja. Denn das hat mich von der spanischen Zeitab bis in die Zeit, in der ich wieder nach Berlin zurückging, immerbegleitet: Die enge Verbindung mit humanitärer Tätigkeit. Ich wurdeSekretär des von den norwegischen Gewerkschaften getragenen Ko-mitees, das Lebensmittel, Kleidung und Medikamente nach Spanienschickte. In ein Spanien überdies, das damals meine Sympathie hatte,weil gegen eine legale Regierung ein Aufstand passierte. Es warenkeine Kommunisten, gegen die geputscht wurde; die haben spätererst Einfluß bekommen. Es war eine Regierung unter Führung einesLiberaldemokraten, und es waren Sozialdemokraten und Christde-mokraten mit in dieser Regierung. Ich sehe heute vieles anders alsdamals, aber das eine muß man festhalten: Es ist so gewesen, undviele in der ganzen Welt empfanden es so, daß dort in Spanien, im

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Vorfeld des 2. Weltkrieges, der Versuch gemacht wurde, eine Demo-kratie zu stabilisieren. Auch in Spanien selbst sehen das heute vieleLeute anders und sind wohl auf dem Wege der Aussöhnung ein gutesStück vorangekommen.

Der Vorwurf, von dem Sie sprechen: mit der Waffe in der Handgekämpft zu haben, ist gelegentlich in Verbindung mit Spanien er-hoben worden. Mehr aber in Verbindung mit Norwegen. Er ist inbeiden Fällen falsch. Und wenn ich Wert darauf gelegt habe, dieVorwürfe gerade zu diesem Punkt vor deutschen Gerichten klärenzu lassen – und sie sind geklärt worden vor deutschen Gerichten –,dann deswegen, weil mir einfach daran lag, die Tatsachen festzu-stellen. Es ist nicht wahr: ich habe nicht mit der Waffe in der Hand,ich habe nicht gegen deutsche Soldaten gekämpft. Wer das be-hauptet, sagt etwas Falsches. Wenn es jemand behauptet, will er da-mit ein Ressentiment schaffen gegen den Mann, der eine bestimmtepolitische Aufgabe in diesem Land, in diesem Volk übernommenhat und vor sich hat. Darum muß ich Wert darauf legen, daß solcheverleumderischen Behauptungen als das charakterisiert werden, wassie sind.

Das, was Sie mir nun als Frage stellen, geht weit über eine sol-che Klarstellung hinaus. Lassen Sie mich – das hilft uns vielleicht –als Beispiel erst ein außerdeutsches, dann ein deutsches wählen. Wirwissen alle, daß der General de Gaulle ein großer Franzose ist undeine große Erscheinung dieser Zeit, ganz gleich, ob man immer mitihm einer Meinung ist oder nicht. Nun ist es geschichtsnotorisch,daß der General de Gaulle als Führer der Freien Franzosen gegenFranzosen gekämpft hat: in Syrien, in Nordafrika zeitweise und an-derswo. Gegen Franzosen, die einer Regierung in Paris, dann inVichy unterstanden, die sich als die legale französische Regierungbezeichnete. Niemand wird sagen wollen, daß de Gaulle – jedenfallsbei ihm zu Hause sagt man es nicht – ein schlechter Franzose sei.Jetzt nehme ich den deutschen Fall. Wir wollen doch wohl nichtsagen, daß, wenn irgendwo an der Zonengrenze etwas passiert – wirhoffen, es passiert nichts –, wenn unser Grenzschutz . . . nun, neh-men wir an, Deutsche stehen Deutschen gegenüber: Dann wird man

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doch wohl nicht zu dem Deutschen auf der anderen Seite, der sichabwendet, sagen, er sei ein schlechter Deutscher. Jedenfalls ist dasnicht unsere Art des Denkens heute. Man sagt für die Staatlichkeit– oder quasi-Staatlichkeit, auf den einen Fall bezogen –, die es heutegibt, nicht, daß es einen unbedingten Gehorsam gegenüber der Ob-rigkeit gibt. Wir legen andere Maßstäbe an. Ich will damit sagen: ichselbst habe meinen politischen Kampf gegen das Hitler-Regime ge-führt und es für richtig gehalten, dort die Grenze zu setzen. Aber ichmuß denen meinen Respekt bekunden, jedenfalls mein Verständnis,die in Lagen hineingeraten sind, die schwieriger waren als meineLage.GAUS: Was hat Sie 1948 bewogen, die deutsche Staatsbürgerschaft wiederanzunehmen?BRANDT: Sehen Sie, ich war nach Berlin gekommen – der Außenmi-nister <Halver>15 Lange, mit dem ich seit jungen Jahren befreundetwar, fragte mich, ob ich gehen wollte – und habe im Laufe wenigerMonate gemerkt, daß ich nicht zu lange warten dürfte, wenn ichmich wieder in die deutschen Dinge einfügen wollte. Ich habe dasGefühl gehabt, daß ich hier – ich sage das ohne alle Überheblichkeit –mehr gebraucht würde, als ich in jenen Jahren in meiner zweitenHeimat hätte gebraucht werden können. Ich glaubte, daß ich nachdem, was ich gelernt hatte draußen, auch einiges dazu beitragenkönnte, Dinge wieder in Ordnung zu bringen, vermittelnd, aus-gleichend zu wirken. Auch wurde mir gerade 1947 in Berlin klar, wasfür Deutschland und für ganz Europa davon abhängen würde, ob derVersuch, die deutsche Demokratie ein zweites Mal aufzubauen, ge-lingen würde oder nicht. Nun, im Herbst 1947 fragte mich meinePartei, mit der ich immer Kontakt gehalten hatte, ob ich ihr Vertrau-ensmann für den Kontakt mit den Alliierten in Berlin und für einigeandere Verbindungsaufgaben sein wollte. Ich habe dann meinennorwegischen Freunden erklärt, daß ich zur Jahreswende 1947/48 dasmache, wovon ich überzeugt war, daß es das Richtige sei. Ich habenicht erst abgewartet, bis die Dinge im Deutschland wieder in Ord-nung waren. Dies war vor der Währungsreform und weit vor derBerliner Blockade. Ich habe es für richtig gehalten, mich damals ein-

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zuordnen in das, was war, mit allen Risiken, die drin waren, aberauch mit der großen Chance, die es gewesen ist, an einem schwie-rigen Punkt zu zeigen, daß man ein bißchen beitragen kann, daß manauch aus schwierigen Situationen etwas machen kann.GAUS: Sie sind mit einer Norwegerin in zweiter Ehe verheiratet, mit der Sie3 Buben haben. Aus der ersten Ehe haben Sie eine Tochter, die in Norwegenlebt. Was hat Ihre Frau gesagt zu dem Entschluß, in Deutschland zu blei-ben?BRANDT: Meine Frau war damit ganz einverstanden. Sie hat sichrasch zurechtgefunden in Berlin. Es wäre ihr vielleicht nicht überallso leicht gewesen. Sie hat zunächst manchmal gesagt, Hamburg wäreauch noch leicht gewesen für jemanden, der vom Norden kommt.Inzwischen ist sie überall in Deutschland gut zu Hause.

Sie haben meine Tochter erwähnt. Ich bin stolz auf sie. Sie isteine junge Lehrerin in Oslo. Sie ist jedes Jahr bei uns, oder wir sehenuns bei ihr. Meine Frau und sie sind gute Freunde, und das hat allessehr viel leichter gemacht, als es hätte sein können.GAUS: Mit der Neueinbürgerung, Herr Bürgermeister, ist Willy Brandt,wie Sie sich zunächst nur als Schriftsteller genannt haben, der amtlicheName geworden. Ich würde gern einmal hören, wie Sie auf Willy Brandtals Pseudonym gekommen sind.BRANDT: Das hat sich so ergeben in einem Gespräch mit denFreunden im Lübeck im März 1933, noch bevor ich weggegangenbin. So bin ich durch meine Freunde damals den Norwegern avisiertworden, so habe ich geschrieben, gesprochen. Ja, es heißt, manmacht sich einen Namen. Ich habe mir im eigentlichen Sinne desWortes diesen Namen gemacht, seit ich 19 war. Auf ihn lautete auchder Paß, den ich in meinem Status als norwegischer Mann bei derVertretung in Berlin hatte. Es war etwas anderes, als wenn jemandmit 40 oder 50 Jahren sich draußen einen „nom de guerre“, einenDecknamen wählt. Ich war unter meinem ursprünglichen Namennoch nichts oder fast nichts gewesen. Alles, was ich war, seit ich er-wachsen wurde, was ich getan hatte zum Guten und manchmalzum nicht ganz Überlegten, mit allen Fehlern drin, das hatte mitdiesem Namen zu tun. Und ich habe es damals, 1947/48, so gesehen:

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„Wenn ich davor jetzt weglaufe, wird mir gerade das vorgeworfenwerden“. Darum wurden in meiner Einbürgerungsurkunde beideNamen aufgeführt und das, was sonst nach deutschem Gesetz er-forderlich ist, wurde in die Wege geleitet.GAUS: Sie sind bei Ihrer Nachkriegskarriere in der SPD sehr bald als einVertreter des rechten Flügels in Erscheinung getreten. Wann haben Sie dieendgültige Abkehr von linksradikalen Vorstellungen vollzogen?BRANDT: Das kann ich selbst nicht sagen. Ich bin auch nie ganz si-cher gewesen, ob das mit „rechts“ und „links“ heute noch stimmt.GAUS: Ein bißchen stimmt es schon. Die Politiker neigen heutzutage dazu,diese Begriffe nicht mehr gelten lassen zu wollen, obwohl sie immer noch diebesten Hilfsmittel sind.BRANDT: Ja, aber wissen Sie, wenn man mit „links“ fortschrittlich,radikal im guten, im sich vorwärtsbewegenden Sinne meint, dannsteht solches „links“ im Gegensatz zum Verhaftetsein in über-kommenen Dingen, die nicht mehr mit der Wirklichkeit von heuteübereinstimmen, dann kann das, was Sie „rechts“ nennen, radikalersein. Aber das können wir vielleicht beiseite lassen.

Meine Wandlung zum Sozialdemokraten heutiger Prägung hatsich noch vor dem Kriege in Skandinavien vollzogen, zum Sozial-demokraten, wenn Sie so wollen, norwegischer Prägung. Ich habedies von dort mit nach Hause gebracht. Aber wie nun das genau inProzenten auszurechnen ist, das kann ich nicht sagen. Ich hatte nachKriegsende, als ich mich 1949 z. B. vor den Berliner Sozialdemokratenüber die programmatischen Grundlagen des demokratischen Sozia-lismus äußerte,16 noch manches drin, was ich heute für überholt undfür dogmatische Befangenheit halte, aber doch schon das Ent-scheidende, was meine Plattform war und geblieben ist.GAUS: Wie dachten Sie nach dem Kriege über die Möglichkeit einer Ein-heitspartei der Arbeiterschaft?BRANDT: Das war für mich keine Frage nach dem Kriege. Es klanghöchstens ein bißchen davon nach.GAUS: Sie haben in Ihrer Emigrationszeit darüber geschrieben.BRANDT: So ist es.17 Das war eine entscheidende Frage während derEmigrationszeit. Sehen Sie, bei denen, die in Deutschland in den La-

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gern saßen oder in den Gefängnissen, ebenso bei denen, die sich drau-ßen unter freieren Bedingungen treffen konnten, gab es immer dieDiskussion über mehr Einheitlichkeit als während der Weimarer Zeit.Wenn wir es recht sehen, ist ja eine Frucht solcher Überlegungen ausUntergrund und Illegalität die CDU. Sie ist eine Frucht des Wunsches,eine nichtsozialistische – im Ausgangspunkt vielleicht ein bißchen,dann nicht mehr sozialistische – einheitliche Partei zu bilden. Jene, dieaus dem kamen, was man die Arbeiterbewegung nennt mit ihren ver-schiedenen Flügeln, hatten ebenfalls diese Sehnsucht nach der Ein-heit, dieses Gefühl, auch deshalb untergegangen zu sein, weil Hitlereiner zersplitterten Gruppe von Gegenkräften gegenüberstand. Nunwar bei manchen damit die Hoffnung verbunden – so auch bei mir –,daß eine einheitliche sozialistische Bewegung die deutschen Kom-munisten herausnehmen könnte aus der Abhängigkeit von Moskau.Aus genau dieser Vorstellung heraus hat es unmittelbar nach demEnde des Hitler-Regimes an manchen Orten in Deutschland, auch indem, was wir heute die Bundesrepublik nennen, gemeinsame Partei-bildungen gegeben, von den Alliierten zunächst noch gar nicht rechtzugelassen, in denen sich frühere Sozialdemokraten und Kom-munisten und Gewerkschaftler, die nicht eng parteigebunden waren,zusammenfanden. Dann kam interessanterweise der erste Stoß gegendiese Art von Einheitspartei von den Moskauer Kommunisten. AlsUlbricht zurückkam aus Moskau nach Berlin, hat er zunächst das allesstoppen lassen, dort, wo er Einfluß auf die deutschen Kommunistenbekam. Erst in der Entwicklung der folgenden Monate, im Zusam-menspiel mit der militärischen Macht in dem, was wir die Sowjetzonenennen, wurde dann die Einheitspartei kommunistischer Prägung,sowjetischer Prägung gestartet. Und da war es das große Verdienst, dasgeschichtliche Verdienst von Kurt Schumacher, daß er dagegen einenWall aufgerichtet hat.GAUS: Ihr Verhältnis zu Schumacher ist nicht frei von Spannungen ge-wesen,18 Herr Brandt. Worauf gründeten sich diese Spannungen?BRANDT: Ja, worauf eigentlich? Sie haben recht, es ging nicht so gut,wie es hätte gehen können, und das hat mir leid getan. Erst in den letz-ten Tagen seines Lebens sind wir einander wirklich nähergekommen.

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Ich kann mich an ein paar Besuche bei ihm oben auf dem Venusbergerinnern, im Sommer noch des Jahres, in dem er starb, nämlich 1952.

Das Ganze fing schon mit einer Belastung an. Leute, die es nichtgut mit mir meinten, hatten nicht gut über mich gesprochen bei ihm,und das führte dazu, daß ich – noch bevor ich meine Aufgabe alsVertreter des Parteivorstandes in Berlin, als sein Vertreter übernahm –ihm einen Brief schrieb,19 in dem ich ihm unter anderem sagenmußte, ich hätte mich noch nie ganz einem anderen untergeordnet.Dies werde auch ihm gegenüber nicht der Fall sein. Er hat dasakzeptiert, aber das Verhältnis ist zunächst nicht herzlich geworden.GAUS: Es gibt Äußerungen von Ihnen über Kurt Schumacher, aus denenman schließen kann, daß ihnen die Fähigkeit zum Fanatismus, die er viel-leicht gehabt hat, unheimlich gewesen ist. Ist das richtig?BRANDT: Fremd. – Aber man muß ihm gerecht werden. Er war mehrauf der Wellenlänge der deutschen Situation damals. Er war die In-karnation dieses deutschen Elends, dieser körperlich so gezeichneteMann, der schwer gelitten hatte, und der nun auf eine sehr leiden-schaftliche Weise das Selbstgefühl dieses Volkes wieder aufzurichtenhalf. Und ich war eben einer, der nun von draußen zurückkam, nicht,wie manche glauben, von Fleischtöpfen – es hat auch für die, diedraußen waren, schwierige Situationen gegeben –, aber doch auseiner ganz anderen Umgebung.

Es hat aber überdies noch etwas eine Rolle gespielt, das ich gern mitangeschnitten hätte. Ich war ja schon etwas älter geworden als 19, ichwar 30 mittlerweile, ein bißchen darüber sogar, und ich geriet in dasSpannungsfeld Schumacher-Reuter – nicht nur, weil Reuter in Berlinwar und ich auch, sondern weil Reuter mir näher war in seinem Wer-degang, in seinen Erfahrungen gerade während der Nazijahre und derJahre draußen. So übertrug sich das Spannungsverhältnis zwischendiesenbeiden bedeutenden Männern ein bißchen aufmich. Ichwar haltein wenig abgestempelt bei Kurt Schumacher als jemand, der Reuternahestand. Aber ich finde, ich bin verpflichtet zu sagen, daß das allesnur Randbemerkungen sind. Keiner kann davon etwas abschneiden,Schumacher war eine der großen Gestalten dieser deutschen Nach-kriegsentwicklung, und er ist nicht wegzudenken aus diesem Prozeß.

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GAUS: Herr Brandt, auf welche Weise haben Sie und Herbert Wehner sichgefunden?BRANDT: Wir sind ziemlich verschiedene Typen. (Gaus: Das kannman sagen.) Aber wir haben im Laufe der Jahre seit 1949 eine Mengemiteinander zu tun gehabt. Ich war ja 8 Jahre lang im Bundestag, saßin seinem Ausschuß,20 in anderen auch, hatte mich dort sehr umBerlin-Dinge gekümmert, Eingliederung Berlins in den Bund undviele andere Geschichten. Wir haben einen sachlichen Arbeits-kontakt in jenen Jahren entwickelt. Es dauerte ein bißchen, bis wireinander menschlich näherkamen. Wir sind gute Freunde geworden.GAUS: Hätten Sie ohne Wehners Unterstützung das werden können in derPartei, was Sie jetzt sind?21

BRANDT: Das, was jetzt ist, hat sehr viel damit zu tun, daß diese bei-den Männer, der Wehner und der Brandt, sich zu einem Gespannzusammengefunden haben, mit ein paar anderen noch dabei. HerbertWehner hat mir einen Brief geschrieben um die Jahreswende 1960/61. (Gaus: Als Sie schon Kanzlerkandidat waren?) Ja. Er hat mir ge-sagt: „Du kannst immer mit mir rechnen, wenn es darum geht, ausdieser Partei eine wirkliche, konsequente Reformpartei zu machenund sie als solche weiterzuentwickeln, und Du kannst zweitens im-mer mit mir rechnen, wenn es darum geht, denen entgegenzutreten,die meinen, es reiche aus, Rouge aufzulegen.“22

GAUS: Es heißt gelegentlich, Herr Bürgermeister, daß Ihnen in ent-scheidenden Augenblicken Stehvermögen abgeht, daß Sie dann in ihrenEntscheidungen schwankend würden und allzu beeinflußbar seien. In demZusammenhang wird dann gern die Absage des Gesprächs mit Chru-schtschow, das Sie im <Juni 1963>23 verabredet hatten, erwähnt.24 Worinsehen Sie selbst Ihre Schwächen, Ihre wirklichen Schwächen als Politiker?Sie können natürlich sagen, Sie sehen keine.BRANDT: Darf ich mal hier etwas zum Stil eines Mannes sagen, derpolitische Verantwortung trägt. Jeder muß wohl seinen eigenen ha-ben. Zu meinem gehört, daß dort, wo ich den Vorsitz habe, selten ab-gestimmt wird. Ich bin viele Jahre Berliner Bürgermeister, aber Siekönnen an den Fingern einer Hand abzählen, wann mal abgestimmtworden ist. Ich schätze es, eine Frage zu diskutieren, diskutieren zu

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lassen, die Argumente gegeneinander abzuwägen, zu spüren, was ineiner Situation drin ist und was nicht, Änderungen anzuhören unddann meine Entscheidung zu fällen.GAUS: Fällt es ihnen schwer, solche Entscheidungen dann zu treffen?BRANDT: Ich habe sie manchmal sehr rasch und ganz allein fällenmüssen. Als im November 1958 das Chruschtschow-Ultimatumkam,25 war das für Berlin psychologisch eine solche Situation, daß ichweder Bonn noch Washington fragen konnte. Da mußte ich mich anmeinen Schreibtisch setzen und die fünf Punkte aufschreiben, die dieBegründung für das Nein waren.26 Als in der vorigen Woche die Pas-sierscheingeschichte in Berlin fast zu Ende war – am 24. [September1964] wurde unterzeichnet,27 am Abend vorher also, am 23. –, da kammein Beamter aus Ostberlin zurück. Er hatte dort eine letzte Bespre-chung unterbrechen müssen und berichtete mir von einer zusätz-lichen Zumutung der anderen Seite. Es war für mich eine ganzschwierige Situation. Im letzten Augenblick! Alles glaubte, die Sachesei schon perfekt. Ich habe weder den Senat gefragt, noch die Bun-desregierung in Bonn, sondern ich habe dem Beamten gesagt: „GehenSie zurück und sagen Sie, jetzt ist Schluß und dabei bleibt es!“ Und erkam zurück: Jawohl, es ist zurückgezogen worden. (Gaus: WelcheZumutung war das?) Es hilft nicht sehr, das jetzt auszumalen, aber eshätte für den einzelnen eine zusätzliche Belastung bedeutet, für dievielen einzelnen, die jetzt Gott sei Dank rübergehen können.GAUS: Herr Bürgermeister, erlauben Sie mir eine letzte Frage. Ein Politikermuß auch Fortune haben, Glück. Sie haben 1961 den Sprung ins Kanzler-amt nicht geschafft. Sagen Sie mir bitte, soweit man das kann, was hat fürSie diese Niederlage persönlich bedeutet, als die Wahl vorbei war, die Sienach sehr modernen Methoden bestritten haben und dann hat es nicht ganzgereicht?BRANDT: Natürlich hat es nicht gereicht, und insofern war ich ge-scheitert. Nun ist ja das bei uns etwas anders als dort, wo es ein echtesZweiparteiensystem gibt. Ich konnte mir immerhin sagen, die Partei,die du in diesen Wahlkampf geführt hast, ist mit 2 Millionen Stim-men mehr rausgegangen als das vorige Mal, und diese Partei, so habeich mir seitdem sagen können, ist, wenn man die deutschen Länder

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zusammennimmt, zum ersten Male, seit es die Bundesrepublik gibt,auf jener Ebene die stärkste Wählerpartei. Ohne Meinungsbefragun-gen wichtiger zu nehmen, als sie genommen werden müssen: 1960,als ich an die Aufgabe heranging, lag meine Partei im Durchschnitt7 Punkte hinter den beiden Unionsparteien zusammen; in den ent-sprechenden Monaten dieses Jahres liegt sie gleich mit den Unions-parteien. Das heißt, es war nicht ganz so schwer, die Niederlage zutragen.GAUS: Das war die Antwort des Politikers Willy Brandt. Die Antwort desPrivatmannes Willy Brandt, den es ja auch gibt? Wie ist das Gefühl, wennman über einen ganzen Wahlkampf hin ganz vorn gewesen ist, aufgestelltvon einer Partei, die sich sehr bemühte, es mit diesem Mann zu schaffen, undganz schafft er es doch nicht?BRANDT: Das hat mich eigentlich weniger bedrückt. Was mich einbißchen gequält hat, das waren meine Freunde draußen im Land, diesich mehr erhofft hatten und denen ich mehr Hoffnung hatte ma-chen müssen. Das Gefühl, die hast du enttäuschen müssen, das hatmich etwas gequält. Aber sonst habe ich den Eindruck gehabt, daßich zusammen mit meinen Freunden die Dinge ganz gut auf den Weggebracht habe.

Nr. 55Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Parlamentarischen Geschäftsführer derSPD-Bundestagsfraktion Schäfer1. Dezember 19641

AdsD,WBA, A 6, 44/45 (alt).

Lieber Fritz,Du hast sicherlich verstanden, weshalb ich mich bei der Vorstellungder Mannschaft mit der Lösung begnügt habe, für die jetzt eine breite

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innerparteiliche Basis zu erlangen war.2 Zu den nächsten Schrittengehört jene zusammenfassende Tätigkeit, die nicht dankbar ist, dieaber sein muss und für die Deine massgebende Mitarbeit unerlässlichist. Hierüber werden wir im einzelnen sprechen müssen.

Vor allem aber liegt mir heute daran, Dir für die grosse Arbeit zudanken, die Du auf Dich genommen hast, um passable Sachent-schliessungen vor den Parteitag zu bringen.3 Es tut mir leid, dass dieSchlussrunde mit dem Manifest nicht mehr klappte. Nach aussen istdas ja glücklicherweise kaum in Erscheinung getreten.Mit den besten GrüssenDein

Nr. 56Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für Der Spiegel11. August 1965

Der Spiegel, Nr. 33 vom 11. August 1965, S. 32.

Gescheite Dinge nur in den späten Abendstunden

SPIEGEL: Herr Regierender Bürgermeister, ist es wahr, daß Sie sichausschließlich für Politik interessieren?BRANDT: Ich glaube, das ist gar nicht wahr. Es kommt natürlichdarauf an, wie weit oder wie eng man den Begriff Politik faßt; der istja auch sehr weit zu fassen. Ich lese eine ganze Menge über Dinge, dienicht nur mit Politik zu tun haben. Ich interessiere mich für Men-schen – die natürlich auch zur Politik gehören.SPIEGEL: Wo muß man Ihre stärksten privaten Interessen suchen –Interessen jenseits der Hobbys und außerhalb der Politik?BRANDT (nach langer Überlegungspause): Das kann ich so gar nichtbeantworten. Die Politik läßt kaum etwas übrig. Vielleicht ein wenigGeschichte.

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SPIEGEL: Würden Sie sich selber als einen Intellektuellen bezeich-nen?BRANDT: Nicht als jemand, der irgendwo im Elfenbeinturm sitzt,ganz gewiß nicht. Ich schäme mich nicht, daß ich etwas gelernt habe;ein bißchen über das hinaus, was man in der Schule lernt. Aber ichglaube, ich habe es ganz gut umgesetzt und kann auch immer nochso sprechen, wie den Leuten der Schnabel gewachsen ist. Meine ei-gene Art, mich mit einem Problem auseinanderzusetzen, ist sichermehr die eines Intellektuellen, ja.SPIEGEL: Haben Sie Freunde – nicht nur politische, sondern auchpersönliche Freunde?BRANDT: Ja.SPIEGEL: Haben Sie denn auch Zeit für Freunde?BRANDT: Zu wenig. Das ist interessant, daß Sie das aufwerfen. Ichstelle nämlich manchmal selber fest: Da wirken alte Freundschaftenstärker als neue. Wenn ich Leute treffe, mit denen ich früher zusam-men war, dann nehme ich mir mehr Zeit als für Freunde aus derjüngeren Zeit; wenn ich zum Beispiel ins Ausland komme, wo ich

Willy Brandt auf Wahlkampftour im Jahr 1965

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früher gelebt habe, oder wenn ich Freunde treffe, die mit mir draußenwaren.SPIEGEL: Sind Sie ein Systematiker? Stört Sie zum Beispiel ein vollerSchreibtisch; haben Sie lieber einen leeren?BRANDT: Ich möchte gern einen ganz leeren Schreibtisch haben. Ichhabe ihn aber meistens nicht gehabt. Das ist jetzt übrigens besser ge-worden.SPIEGEL: Haben Sie genug Zeit nachzudenken? Und was ist Ihre be-vorzugte Umgebung für das Nachdenken?BRANDT: Das Flugzeug zum Beispiel, obwohl ich das viele Fliegengar nicht liebe. Oder ein Spaziergang im Garten. Ich will Ihnen einanderes Beispiel nennen: Neulich abends hatte ich mir zuerst vorge-nommen, ich sehe was im Fernsehen; dann hat mich das aber nurhalb interessiert, und ich habe ein Buch daneben genommen unddann noch einen Zettel daneben; denn beim Lesen fällt mir etwas ein,was damit gar nicht unmittelbar zusammenhängt, sondern was mitmeiner Arbeit zusammenhängt.SPIEGEL: Können Sie denn mehrere Dinge gleichzeitig tun?BRANDT: Nicht wie Napoleon, nein . . . Früher ist es mir so gegangen,daß ich gescheite Dinge eigentlich nur in den späten Abendstundenzustande gebracht habe; daß ich das Gefühl hatte, du mußt ein biß-chen müde sein, um was Gutes machen zu können: Wenn man ganzfrisch ist, was bei mir eh erst im Lauf des Vormittags passiert undnicht ganz früh morgens schon, dann kreuzt sich zuviel im Denken.Das war meine Erfahrung in einer ganzen Reihe von Jahren.SPIEGEL: Was tun Sie, um fit zu bleiben? Wie ist heute Ihre Kon-stitution?BRANDT: Viel besser als vor vier Jahren. Ich habe die ganze offizielleEsserei auf ein Minimum abgebaut, sowohl mittags als auch abends.Das hält ja auch kaum jemand durch; ich kenne Leute, die sich darankaputt gemacht haben. Sonst passe ich ein bißchen auf beim Essenund Trinken und laufe ein bißchen.SPIEGEL: Seit Ihrer Kur in Bad Kreuth sollen Sie keine harten Sachenmehr, sondern nur noch Wein, allenfalls mal ein Bier trinken; ist daswahr?

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BRANDT: Ja.SPIEGEL: Und auf wie viele Zigaretten kommen Sie pro Tag?BRANDT: Das zähle ich nicht. Ich rauche jetzt überwiegend Zigaril-los. Das ist nicht mehr so schlimm mit dem Rauchen. Meine Fraufindet sicherlich, ich rauche immer noch zuviel.SPIEGEL: Sie fahren nicht selber Auto. Hat das einen bestimmtenGrund?BRANDT: Ja, hat es wohl. Aber vielleicht wird das zu einer fixen Idee.Ich habe in früheren Jahren gemeint, es hänge mit Kindheitser-innerungen zusammen. Ich bin bei meinem Großvater aufgewach-sen, der Kraftfahrer war, und der hat ein- oder zweimal ein Malheurgehabt – er konnte beide Male nichts dafür –, wo jemand umge-kommen ist. Das hat mich in meinen jungen Jahren verfolgt. Viel-leicht wäre ich später sogar ein ganz guter Fahrer geworden. Aber ichhabe das Gefühl, mir geht es nicht so wie denen, die sagen, siespannten ab beim Autofahren. Ich kenne manche, die eher etwasnervöse Typen sind, und die sagen, beim Autofahren werden sie ganzruhig. Ich habe das Gefühl, das ist bei mir genau umgekehrt.SPIEGEL: Haben Sie eine „dünne Haut“?BRANDT: Ob ich empfindlich bin, meinen Sie? Sicher, manchmal ja.Ich glaube, es wechselt sehr. Und es ist wohl auch ganz gut, wennman nicht zu sehr abgebrüht ist und sich noch ärgern kann über was,wenn’s nur nicht allzu sehr haften bleibt.SPIEGEL: Wie reagieren Sie zum Beispiel darauf, daß immer wiederpersönliche Angriffe an Ihrer Vergangenheit, besonders an IhrerEmigration aufgehängt werden?1 Macht Sie das wütend, traurig,mutlos?BRANDT: Nicht mehr, nicht mehr.SPIEGEL: Aber?BRANDT: Manchmal frage ich mich, ob es richtig war, daß ich michjemals überhaupt gegen die Vorwürfe zur Wehr gesetzt habe. Das istdas einzige, was mich dabei beschäftigt. Aber es wird mich nichtmehr stören und mir nicht unnötig Kraft nehmen wie in früherenJahren.

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Nr. 57Rede des Vorsitzenden der SPD, Brandt,auf dem Wahlkongress beim Deutschlandtreffen der SPD inDortmund14. August 1965

Tatsachen – Argumente, Nr. 175/1965.

Ja zur SPD –Ja zu Deutschland

Worum geht es in den kommenden 35 Tagen bis zum 19. September[1965]?1 Geht es darum, wer besser schimpfen kann? Ich meine nein.Ich meine es geht darum, alle Mitbürgerinnen und Mitbürger zumMitdenken und zur Mitverantwortung zu bewegen. Es geht darum,daß sie ihr Ja sagen zum deutschen Weg nach vorn.

Die Schicksalsfragen unseres Volkes können nicht von obenherab gemeistert werden. Heutige deutsche Politik muß der bewußteAusdruck des Volkes sein, muß gemacht werden aus der Mitte desVolkes heraus. Sie muß alle aufbauenden und unverbrauchten Kräftewecken und zusammenführen.

Wer geglaubt hat, wir wären hier in Dortmund, um dasSchauspiel der CDU vom vorigen Sonntag zu beantworten,2 denmuß ich enttäuschen. Wir Sozialdemokraten führen unserenWahlkampf nicht gegen etwas oder gegen andere. Wir führen denWahlkampf für etwas, für Deutschland, für eine Politik der Zu-kunft. Wir werden uns nicht in Angriffen gegen CDU, CSU undFDP erschöpfen. Wir haben ein Programm, ein Programm, das gutist für die Bundesrepublik Deutschland und für das ganze deutscheVolk.

Dieses Programm richtet sich aus an unserer Vorstellung von derRolle Deutschlands in der Welt. Um der Sicherheit willen wollen wirim westlichen Verteidigungsbündnis loyal unsere Pflichten erfüllen.Aber unser Volk hat weder den Ehrgeiz noch die Fähigkeit, wiedereine militärische Weltmacht zu werden.

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Die Bundesrepublik Deutschland muß mehr sein als eine Inte-ressengemeinschaft zur Erzeugung von Wohlstand mit der unbe-haglichen Sorge vor morgen. Sie soll eine große Macht werden aufallen Gebieten des Geistes, der Technik, der großzügigen innerenOrdnung. Hier wollen wir uns bewähren, hervortun, ein großes Volksein. Wir wollen der Welt etwas geben, und wir wollen der Welt et-was sein. In diesem Sinne soll Deutschland vorankommen, sollDeutschland vorn sein.

Wir lieben dieses Land und dürfen uns freuen, wenn uns Tüch-tigkeit, Fleiß und guter Wille nachgesagt werden. Darum ist unserWeg in die Zukunft möglich. Wir werden ihn gemeinsam gehen. DieMenschen dieses Landes haben es verdient, daß es wieder eine hand-lungsfähige, tatkräftige Regierung gibt. Diese neue Regierung wirdden Weg nach vorn weisen, verantwortungsbewußt, zielstrebig, zu-verlässig und ohne Scheuklappen.

Wirtschaftlich nahezu ein Riese, verhält sich die BundesrepublikDeutschland politisch wie ein Zwerg. Gewisse Eierschalen müssenweg. Wir kommen nicht durch als Musterschüler, der jeweils nickt,wenn der amerikanische Präsident sich räuspert oder der General inParis hustet. Unser Volk ist mündig und hat seinen verantwortlichenBeitrag zur Erhaltung des Friedens zu leisten – als erwachsener Part-ner, als verläßlicher Verbündeter, als ein Land mit Selbstvertrauenund Stolz.

Ich kenne die Staatsmänner der uns verbündeten Staaten undweiß, daß Feigheit vor dem Freund sich nicht lohnt. Ich kenne vieleStaatsmänner der neutralen Welt und weiß, daß sie auf ein Deutsch-land warten, das seine Rolle in der Welt würdig, fest und mit Gewichtzu spielen versteht.

Wir werden eine Politik führen, die jeden möglichen Beitragleistet, um den Frieden sicher zu machen, in Deutschland, in Europa,in der Welt. Das soll keine Duckmäuserpolitik sein, im Gegenteil:eine mutige Politik. Aber ich erkläre feierlich: Von Deutschland auswird es keinen Krieg, keine Drohung mit Gewalt geben.

Wir überschätzen uns nicht, wir werden uns nicht mit er-hobenem Zeigefinger zu allen Problemen in aller Welt äußern. Das

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gilt für den Kongo, für Lateinamerika, auch für Vietnam. Aber nie-mand soll sich im unklaren sein können über unsere brennendeSorge um den Frieden überall in der Welt.

Wenn die Gefahren in Südostasien gebannt sind, wird es leichtersein, über die Sicherung des Friedens in Europa zu sprechen. Friede inEuropa, das heißt: über Deutschland reden. Diese Stunde wird kom-men, und sie muß uns Deutsche vorbereitet finden.

Es wird zu den vordringlichen Aufgaben einer sozialdemokra-tisch geführten Bundesregierung gehören, Grundzüge eines Frie-densvertrages zu erarbeiten. Die werden wir mit unseren Verbünde-ten abstimmen und das Gespräch dann auch mit der Sowjetunionbeginnen. Ich bin auch in dieser Hinsicht ohne Illusionen. DiesesWerk ist schwer, es wird viel Zeit, Geduld und Beharrlichkeit er-fordern.

So dankbar wir für die Verständigung mit den Nachbarn imWesten sind, Sicherheit und Ruhe wird es für unser Volk erst geben,wenn wir auch den Ausgleich mit unseren östlichen Nachbarn ge-funden haben werden.

Voll ehrlicher Überzeugung und guten Gewissens kann ich sa-gen: Eine von mir geführte Regierung wird über Deutschland nichtnur reden, sondern endlich und tatkräftig an die Lösung der deut-schen Fragen herangehen. Das entspricht auch unserer gewachsenenVerantwortung.

Wir werden alles tun, daß der Beginn der europäischen Einigungnicht zerstört wird. Zugleich werden wir ein größeres Europa insAuge fassen.Wir werden für einen dauernden Frieden arbeiten, einenFrieden, der nicht das Produkt der Furcht ist, sondern die InteressenDeutschlands, Europas und der Weltmächte auf einen Nenner bringt.Die Wunden unserer Nation können nicht geheilt werden mit Autosund Kühlschränken. Solange die Teilung anhält, werden wir gedul-dig um Kontakte mit den Menschen im anderen Teil Deutschlandsringen. Wir werden erreichen, was ohne Anerkennung des Zonen-regimes, das heißt ohne die Teilung anzuerkennen, zu erreichen ist.

Mit Gedenktagen ist es nicht getan. Die Menschen beider TeileDeutschlands dürfen sich nicht aus den Augen, nicht aus dem Sinn

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verlieren. Ich überschätze nicht die Bedeutung von Passierscheinenund anderen kleinen Schritten. Immer habe ich gewußt, daß das allesan großen Zielen zu messen ist. Aber ich bleibe dabei: alle Politik istnichts wert, wenn sie nicht dazu dient, den Menschen im Rahmendes Möglichen das Leben leichter zu machen. Was in Berlin möglichwar,3 darf für die ganze Bundesrepublik nicht unmöglich sein: festgegen Drohungen, taub gegen Lockungen, aber nicht erstarrt im blo-ßen Anti.

Gestern waren vier Jahre vergangen seit dem Bau der Mauer inBerlin. Die Machthaber im anderen Teil Deutschlands haben sichdamit selbst gerichtet. Eine vernichtende Abfuhr muß denen zuteilwerden, die diese Schande im freien Teil Deutschlands verteidigenoder verniedlichen möchten.

Beschämend bleibt es aber auch, daß CDU, CSU, FDP vor vierJahren die Herausforderung durch die Mauer nicht begriffen haben.Es wurde im Wahlkampf weiter geholzt, als ob nichts passiert wäre.4

Es wurde nach den Wahlen überhört, daß wir die gemeinsame Re-gierungsverantwortung vorschlugen als angemessene Antwort aufdie unüberhörbare nationale Not.5

Wir sind seither niemandem nachgelaufen und werden unsauch weiterhin nicht aufdrängen. Aber wir werden unser Gewichteinsetzen, um aus der Bundesrepublik Deutschland einen aktiven,verantwortungsbewußten Partner zu machen. Die politischen Ener-gien sollen aus einem Land fließen, das sich mutig und besonnen,vorausschauend und selbstbewußt auf seine Zukunft ausrichtet. Na-tionalbewußtsein heißt verantwortungsbewußte politische Aktion.Das ist unser Programm. Es heißt Ja zu Deutschland.

Frieden und Friedensvertrag, Deutschland und Europa – das sinddie Orientierungspunkte unserer Politik. Und in diesem Zusammen-hang geht es auch um die innere Ordnung, um den Ausbau unsererBundesrepublik zu einem vorbildlichen Land. Das Grundgesetz sagt,daß diese Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Rechts-staat sein soll. Das ist keine Situationsbeschreibung. Das ist ein Auf-trag. Und zwar der dauernde zwingende Auftrag zu Erneuerung undFortschritt.

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Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen den beidenHauptrichtungen deutscher Politik. Die Unionsparteien sind damitbeschäftigt, auf die Vergangenheit zurückzublicken. Sie begnügensich mit dem, was ist und treten auf der Stelle. Nun, die Sozial-demokraten wissen, woher sie kommen. Aber sie wissen vor allem:Der Mensch befindet sich in einem unaufhörlichen Kampf um Ver-änderungen zum Fortschritt. Seine Horizonte sind nicht starr. Damitsie nicht enger werden, muß er sie erweitern. Er muß sich mit demFortschritt verbünden.

Die CDU sagt, sie führe den Wahlkampf gegen die SPD. Dasüberrascht uns nicht, und es wirft uns nicht um. In Wirklichkeitführt sie ihn zu ihrer Selbsterhaltung. Der Wahlkampf wird hart,hat sie hier am vergangenen Sonntag verkündet. Es muß in derTat hart sein, wenn eine verbrauchte, zerrissene Partei mit ver-schleiertem Blick für die Zukunft bloß um ihre Selbsterhaltungringt.

In den vergangenen vier Jahren ist die Ära Adenauer zu Endegegangen.6 In peinlichen Affären und Koalitionskrächen haben sichdie Koalitionsparteien systematisch zermürbt; dem Ausland bot sichein blamables Bild. Unter Erhard bekamen wir ein Kabinett der gutenVorsätze, der manchmal schönen Worte, aber der fehlenden Ent-scheidungen, der peinlichen Schwäche.

Aus Herrn Erhards wiederholten und meist dilettantischen In-itiativen wurde nichts. Wann immer er zum Schlage ausholte,brachte er es nur zu Schlägen ins Wasser. Aus den versprocheneninneren Reformen wurde eine Serie von Versäumnissen und neuenVersprechungen.

Wert und Rang der Gemeinschaftsaufgaben werden auch vonder Union nicht mehr bestritten. Aber die CDU/CSU darf nicht sotun, als sei sie sechzehn Jahre lang in der Opposition gewesen und alsmöchte sie nun endlich zeigen, was sie in der Regierung leisten kann.Die gegenwärtige Bonner Koalition hat nicht verdient, daß ihr Man-dat verlängert wird. Sie hat ihren Kredit überzogen. Es ist höchsteZeit für eine Wachablösung. Oder, da wir im Ruhrgebiet sind, kannich auch sagen: Schichtwechsel.

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Auf die Schimpfereien von Ludwig Erhard brauche ich nichteinzugehen. Er war schlecht beraten und unbalanciert, als er dieSchriftsteller „Pinscher“ nannte.7 Er war schlecht beraten und un-balanciert, als er über die Gewerkschaften herfiel, statt die große Lei-stung der deutschen Arbeitnehmer zu würdigen.8 Er war schlechtberaten und unbalanciert, als er die Opfer des Krieges und der Ver-treibung anrempelte, indem er ihnen ihr hartes Schicksal als einen„zweiten Beruf“ vorwarf.9 So spricht man nicht, wenn man seinerSache sicher ist. So spricht man nicht, wenn man ein gutes Verhältniszu den breiten Schichten seines Volkes hat. Darüber hätte es sich ge-lohnt, auch im Deutschen Fernsehen zu sprechen.

Die Wählerinnen und Wähler wollen keine Olympiade desSchimpfens. Sie wollen wissen, wer eine vernünftige Politik machenkann. Auf diesen Wettbewerb sind wir gut vorbereitet. Keiner hat dieWahrheit gepachtet, niemand hat die Weisheit mit Löffeln gegessen.Aber die sozialdemokratische Regierungsmannschaft hat gute Ant-worten auf die offenen, die brennenden Fragen unseres Volkes.

Dieser Wahlkampf geht in Wahrheit darum, daß Deutschlandseine Nachkriegsperiode hinter sich läßt und mündig, selbstbewußtund verantwortlich seine Zukunft gestaltet. Dieser Wahlkampf istentschieden, wenn es uns gelingt, die Blicke unseres Volkes nachvorn zu richten.

Die sozialdemokratische Regierungsmannschaft ist stark undgerüstet.10 Sie sieht, was zu tun ist. Sie wird tun, was getan werdenmuß. Unsere Partei ist besser gewappnet als je zuvor.

Es ist Aufgabe jedes einzelnen unserer Freunde, sich mit allerKraft dafür einzusetzen, daß jedermann in Stadt und Land, jederwahlberechtigte Bürger weiß, was wir wollen, und sich bewußt ent-scheidet für das bessere Programm, für die Zukunft.

Die Bundesrepublik Deutschland muß sich kraftvoll und mutigden Herausforderungen der Zukunft stellen. Wer zurückblickt, magzufrieden sein. Aber wer nach vorn blickt, sieht die riesigen Auf-gaben. Wer nur zurückblickt, bringt unser Volk in Gefahr zurück-zufallen. Unser Gewicht als Industrienation hängt ab von der Er-kenntnis, daß es lebensnotwendig ist vorauszuschauen. Das ist nicht

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bequem. Die SPD verzichtet bewußt auf ein Programm der Bequem-lichkeit.

Mit bloßen Versprechungen ist es nicht mehr getan.Wir denkennicht daran, allen nach dem Mund zu reden. Wir möchten vielmehrunsere Mitbürgerinnen und Mitbürger ins Vertrauen ziehen. Wirmöchten ihre Unterstützung für eine klare Rangordnung der zu lö-senden Probleme. Was für die unmittelbare Zukunft am wichtigstenist, muß mit Vorrang angepackt werden – selbst wenn wir dann aufanderen Gebieten zeitweilig kürzer treten müssen. Wir versprechennicht jedem alles, sondern allen nur das Mögliche.Wir erklären unserProgramm und sagen, was wir halten können. Dafür verbürge ichmich.

Wir haben ein Programm dessen, was nötig ist für unser Volk. Indem „Aufruf 1965“11 sind die Aufgaben umrissen, für die ausgearbei-tete und durchgerechnete Leitlinien vorliegen. Die Gemeinschafts-aufgaben sind darin der Schwerpunkt. Sie bedeuten: Zügiger Ausbauund rasche Modernisierung; sie bedeuten vor allem auch mehr Acht-ung, mehr Sorge für den einzelnen im Interesse aller.

Unser innenpolitisches Programm leitet die BundesrepublikDeutschland sicher in den wissenschaftlichen und technischen Fort-schritt. Wir werden sie fit machen für die nächsten zehn bis zwanzigJahre. Gerade auf diesem Sektor wollen wir eine führende Nationwerden. Niemand kommt mehr ohne Vorausschau aus. Es wird Zeit,daß sie auch in unserer Bundesrepublik heimisch wird. Die sorgloseÜberheblichkeit, in den Tag hinein und von der Hand in den Mundzu leben, ist auf die Dauer zu teuer, und das können wir uns nichtleisten. Eine sorgsame Vorausschau hat das freie Spiel der Kräftenicht abzulösen, sondern zu ergänzen. Wir sind nicht nur dagegen,daß irgend jemandem etwas weggenommen wird. Wir sind auch ge-gen bürokratisches Hineinregieren in die Betriebe. Aber systemati-sches Vorausdenken ist heute lebensnotwendig.

Unser Programm ist finanziell solide durchgerechnet. Die neueRegierung muß als Hinterlassenschaft der alten ein großes Defizitübernehmen. Insofern werden wir kein leichtes Erbe antreten. DasJahr 1966 wird das Jahr der finanziellen Gesundung und Ordnung

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sein müssen. Dennoch werden wir unverzüglich für die Gemein-schaftsaufgaben Akzente setzen, Weichen stellen, Ansätze schaffen.In den folgenden Jahren werden wir sie umfassend verwirklichen.Das ist keine populäre Aussage, aber sie entspricht unserer Verant-wortung für die Bundesrepublik Deutschland und für eine wert-beständige D-Mark.

Unser Wahlziel ist klar: Wir wollen am 19. September [1965]auch im Bund zur stärksten Partei werden. Wir wollen ein Vertrau-ensvotum für die Führung der Bundesregierung erlangen.

Unsere Chance ist ebenfalls klar: Zum ersten Male sind die bei-den großen Lager der deutschen Politik gleichgewichtig in denWahlkampf gegangen. Die Entscheidung fällt in den nächsten35 Tagen. Sie fällt in 248 Wahlkreisen. In Karlsruhe, im Novembervergangenen Jahres, habe ich gesagt: <Es ist nicht sicher, ob wir sie-gen werden, aber ich bin sicher, daß wir siegen können.>12 Heute sageich Euch: Der Sieg ist zum Greifen nah. Er ist unser, wenn wir dasVertrauen mobilisieren, das uns für die Arbeit in Gemeinden undLändern entgegengebracht worden ist. Und wenn wir unser Wähler-reservoir wirklich ausschöpfen. Und deshalb müssen und werden wirin diesen fünf Wochen überzeugen, arbeiten, nochmal arbeiten undkämpfen. Es ist interessant, wie sehr sich andere den Kopf überkünftige Koalitionen zerbrechen. Es ist amüsant und rührend, wie siesich deshalb zerstreiten und verzanken. Ich habe gesagt und dabeibleibt es: Erst müssen die Wähler entscheiden. Über eine Regie-rungszusammenarbeit wird nicht vor, sondern erst nach dem19. September [1965] verhandelt. Dies ist verbindlich für die SPD. Esgeht im übrigen nicht um einen Proporz, sondern um Aufgaben undGestaltung der deutschen Zukunft.

Das ist meine Bitte an alle Freunde: Gehen Sie alle mit Mut undKraft gestärkt an die Arbeit, dann ist der Erfolg sicher.

Das ist meine Bitte an die Wählerinnen und Wähler: Helfen Siemeinen Freunden und mir, daß wir den Weg nach vorn, den Weg in dieZukunft verantwortungsvoll und sicher miteinander gehen können.

Ich bitte Sie für den 19. September [1965] um Ihr Ja. Um das Jazur SPD, das Ja zu Deutschland.

343 Rede auf dem SPD-Wahlkongress, 14. Aug. 1965

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Nr. 58Aus dem Protokoll der Sitzung des Parteivorstands der SPD22. September 19651

AdsD, SPD-Parteivorstand, Protokolle September 1965 – März 1966.

Leitung: Willy Brandt[. . .]Brandt: eröffnet die Sitzung und begrüsst neben den Mitgliedern desParteivorstandes die Mitglieder des bisherigen Fraktionsvorstandesund Wenzel Jaksch, den man wegen Vertriebenenfragen besonderseingeladen habe.Brandt: geht auf das Wahlergebnis ein2 und stellt fest, dass diePartei zwar erneut Terrain gewonnen habe, aber das gesteckteWahlziel nicht erreicht worden sei. Das Wahlergebnis müsseuntersucht werden, auch im Hinblick auf Unterschiede, die sich inden einzelnen Ländern gezeigt hätten. Das Wahlergebnis selbst seieine gute Ausgangsbasis für die nächsten Landtags- und Kom-munalwahlen. Es gebe jetzt noch zwei Nachwahlen zum Bundestagund es müsse alles getan werden, um das Mandat im Obertaunus-kreis zu bekommen.3

Zunächst wolle er allen für die Mitarbeit und die gute Zusam-menarbeit während des Wahlkampfes danken. Die Arbeit im Erich-Ollenhauer-Haus, die früher oft geschmäht worden sei, sei in diesemWahlkampf draussen von allen gelobt worden. Man sei beeindrucktgewesen von der einheitlichen Wahlkampfführung und auch vondem guten Material, das herausgekommen sei. Den Dank für dieseLeistung habe er allen Mitarbeitern des Hauses bereits ausgespro-chen.

Das Präsidium habe beschlossen, am 25. 9. 1965 eine Informa-tionstagung durchzuführen.4 Man habe diesen frühen Zeitpunkt ge-wählt, um durch die Unterrichtung der führenden Genossen allenmöglichen Kombinationen, die sicherlich gestellt würden, entgegen-zutreten.

344 Sitzung des SPD-PV, 22. Sept. 1965

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Willy Brandt und Klaus Schütz im Wahlkampfsonderzug 1965

345 Sitzung des SPD-PV, 22. Sept. 1965

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Das Wahlergebnis bedeute, dass von uns keine Initiative in Be-zug auf die Regierungsbildung erfolgen könne.

Andererseits sei Zurückhaltung notwendig, um die anderennicht unnötig zusammenzutreiben. Den Streit innerhalb der Koali-tion sollte man nicht überwinden helfen.

Das Gespräch mit Lübke habe nicht viel ergeben und es sei dar-aus auch nichts abzuleiten.5

Ein Gespräch mit Mende habe er führen lassen (Einzelheitensiehe Vorsitzendenbesprechung am 21.9.1965).6

In dieser Sitzung solle die Regierungsmannschaft ihren Auftragan den Parteivorstand zurückgeben. Das gelte für alle, auch für ihn,da er nicht die Absicht habe, ein permanenter Kanzlerkandidat derSPD zu sein. Man müsse rechtzeitig überlegen, in welcher Schlacht-ordnung man neu antrete.

Karl Schiller und Helmut Schmidt sollten sich in nächsterZeit entscheiden, ob sie das Bundestagsmandat annehmen.7 Erwürde es sehr begrüssen, wenn sie in der Fraktion mitarbeitenwürden.

Waldemar von Knoeringen solle gebeten werden, dass er sich derkulturpolitischen Arbeit annehme und ausserdem in Zusammen-arbeit mit August Zinn sich der Aufgaben Bund, Länder und Ge-meinden widme. Die bisherige Arbeit des Länderausschusses müssegefestigt werden. W[aldemar] v[on] Knoeringen solle möglichst baldeinen konkreten Vorschlag machen, wie diese Arbeit gestaltet wer-den könne. Ausserdem solle er in Zusammenarbeit mit Carlo Schmidund Willi Eichler Vorschläge für die Neubesetzung des Kultur-politischen Ausschusses beim Parteivorstand unterbreiten.

Erwin Schoettle solle in Zusammenarbeit mit [Hans-]JochenVogel Vorschläge für die Neubesetzung des KommunalpolitischenAusschusses beim Parteivorstand unterbreiten. Dabei sollten die Er-fahrungen der letzten Zeit mit berücksichtigt werden. Man müsseüberlegen, welchen Landrat man für die anders geartete Arbeit derLandkreise gewinne, weil Zerbe durch seine Wahl in den Bundestagfür diese Arbeit nicht mehr zur Verfügung stehen könne, da er seinLandratsmandat aufgeben müsse.

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Schoettle solle – in Zusammenarbeit mit Georg Leber – Vor-schläge für den Wohnungspolitischen Ausschuss beim Parteivorstandmachen. Dabei müsse eine Verzahnung mit der Arbeitsgemeinschaftsozialdemokratischer Wohnungswirtschaftler (Geschäftsführer PaulNevermann) erreicht werden.

Als Vorsitzender der Partei sei er (W[illy] B[randt]) gewillt, dievolle Verantwortung für die Gesamtpolitik der Partei zu übernehmen.Darunter verstehe er die Verantwortung auf allen drei Ebenen (Bund,Länder, Gemeinden). Fritz Erler und Herbert Wehner hätten als Stell-vertreter versichert, dass sie mit dieser Auffassung uneingeschränktübereinstimmen und zur Mitarbeit und Zusammenarbeit zur Verfü-gung stehen. In dieser Situation sei die einheitliche Führung der Parteibesonders wichtig. Es gebe keinen Grund,von dem Kurs, den die Parteigesteuert habe, abzuweichen (Beifall des Parteivorstandes). Da dürftees keine Schwierigkeiten geben. Der Vorsitzende habe die Verant-wortung für die gesamte Politik. Durch diese Feststellung sei einerkünftigen Politik nicht vorgegriffen. Er möchte feststellen, dass es inder Partei keine erblichen Ämter gebe. Die führenden Genossenmüssten sich immer neu prüfen und stellen.

Die tatsächliche Wirksamkeit des Berliner Amtes dürfe nichtunterschätzt werden. Man sehe das an dem kleinen Beispiel der Pas-sierscheinverhandlungen.8 Trotzdem meine er, dass in dieser Situa-tion – trotz aller Schwierigkeiten – Berlin für die Partei ein starkerPunkt bleibe. Man könne nicht Bürgermeister bleiben und der Bun-destagsfraktion angehören. Er habe sich die Sache nicht leicht ge-macht und vor seiner Entscheidung um Rat gefragt. Er habe unter-schiedlichen Rat bekommen. Wenn er sich für das Verbleiben inBerlin entschieden habe, werde das dem nicht gerecht, was manchevon dem Parteivorsitzenden erwartet haben. Er sei nicht unberührtgeblieben von der Kampagne,9 die man gegen ihn geführt habe unddie auch in der Partei zu einer gewissen Unsicherheit geführt habe. Essei nicht einfach, in dieser Gesellschaft als Kind aus dem Chaos zubestehen. Ihn habe auch beeindruckt, was Allensbach zum Ausdruckbrachte: dass es um die SPD gut gestanden habe, bis sich die Positio-nen Erhard/Brandt zugespitzt hätten. Dann sei es schlechter gewor-

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den. Trotzdem müsse er sich fragen, warum das Ergebnis Dortmundanders sei als in anderen Gebieten.10 Er wolle in dieser Partei seinePflicht tun, möchte aber nicht die Partei beschweren durch den Ein-druck, er hemme den weiteren Aufstieg der Partei. Als Parteivor-sitzender wolle er in nächster Zeit nicht so sehr in der Öffentlichkeit,sondern mehr innerhalb der Partei wirken.

Jetzt wolle er folgende Vorschläge machen:1. Prüfung des Wahlergebnisses durch zwei Kommissionen:a) Untersuchung der strukturellen, soziologischen und psy-

chologischen Fragen im Verhältnis zum Wahlergebnis. Mit dieserArbeit sollten Helmut Schmidt, Georg Leber und Heinz Kühn betrautwerden;

b) Untersuchung aller Probleme durch ,infas‘;c) Untersuchung der Wahlkampagne und Werbemittel. Hier

sollte Herbert Wehner mit der Federführung beauftragt werden.Ausserdem solle eine Konferenz der Bezirksgeschäftsführer sich mitdiesen Fragen befassen. In diesen Komplex müsse auch die Aktion,Steigerung der Wahlbeteiligung der Arbeitnehmer‘ einbezogen wer-den.

2. Die Aktivitäten, die sich an der Peripherie des Wahlkampfesgezeigt hätten (Schriftsteller, Schauspieler, Intellektuelle, Architek-ten),11 müssten weiter verfolgt und bearbeitet werden.

3. In diesem Wahlkampf habe es auch besondere Kontakte zurWirtschaft gegeben. Diese seien so intensiv geführt worden, dass essogar gelungen sei, eine grosse Anzeigenkampagne kurz vor denWahlen zu verhindern. Auch diese Kontakte seien zu pflegen.

4. Das Problem Partei und Gewerkschaft müsse noch mehr inden Griff genommen werden.12 Otto Brenner habe sich um grosseLoyalität bemüht. Daran müsse man anknüpfen.

Seine (W[illy] B[randt]) in der Rede vor dem Kongress der IG-Me-tall gemachten Formulierungen seien faule Äusserungen gewesen.13

Es müsse für die Zukunft erreicht werden, dass es keine doppelteLoyalität gebe.

Bei den Betriebsratskonferenzen, die er während des Wahl-kampfes durchgeführt habe, habe er grosse Zustimmung bekommen.

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Daraus schliesse er, dass es möglich sei, in den grossen Fragen derallgemeinen Politik zu einer Zusammenarbeit zu kommen.

Für den nächsten Parteitag solle man auch Überlegungen übereine mögliche Veränderung des Parteirates anstellen. Vielleichtkönne dieser noch erweitert werden. Er denke dabei an Vertreter derGewerkschaften und andere. Es müsse versucht werden, den Parteiratin seiner Bedeutung anzuheben.

Für die weitere Arbeit komme es darauf an, das im Wahlkampfvertretene Programm, für die praktische Politik Rangordnungen zuschaffen, nicht untergehen zu lassen. In der Auseinandersetzung mitden Koalitionsparteien müsse diese Rangordnung im Vordergrundstehen. Ausserdem müsste den anderen Parteien klar sein, dass eskeine Situation geben werde, in der die SPD-Stimmen einspringen,wenn bei bestimmten Problemen die Stimmen des eigenen Lagersfehlen. Das sei sicher in der praktischen Arbeit schwierig, aber derVersuch müsse unternommen werden. Zu dieser Frage gehöre auch,dass man die anderen auf ihre Wahlkampfversprechungen festnagele.Wenn es zu einem Gespräch über bestimmte Notwendigkeiten kom-men sollte, sollte man nicht gleich ablehnen. Aber auch das dürfenicht dazu führen, dass die anderen ihren Katalog aufstellen und unsvor vollendete Tatsachen stellen bzw. uns dann ansprechen, wenn sieden Zeitpunkt für gewisse Fragen für gekommen halten.

In Bezug auf verfassungsändernde Gesetze – wie Notstand –werde sich die andere Seite sicher melden. Wir sollten in solchenFragen nicht vorprellen. Der Komplex der auswärtigen Politik seisehr schwierig und auch da sollten wir auf Klarheit drängen.

Erler: Er könne jedes Wort, das Willy Brandt gesagt habe, unter-streichen. Der Kurs der Partei sei richtig und daran müsse auch inZukunft festgehalten werden. Die zukünftige Arbeit im Parlamentmüsse geprüft werden. Das von Willy Brandt vorgeschlagene Prinzip,sich nicht missbrauchen zu lassen, sei richtig. In der Praxis werde dasjedoch sehr schwierig, denn es könne Situationen geben, in denenAnträge von uns von einem Teil der anderen Zustimmung erhaltenwürden. Es tauche auch die Frage auf, solle man schlechte Entwürfeder anderen passieren lassen und sie so schlecht lassen, oder solle

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man versuchen, sie zu verbessern, auch dann, wenn die anderen denErfolg für sich verbuchen könnten.

Zur Wahlkampagne wolle er eindeutig feststellen, dass der Erfolgnicht möglich gewesen wäre, ohne den Einsatz von Willy Brandt.Seine Reise habe Erfolg gebracht. Auch sei er der Meinung, dass manan der Konstellation der Parteiführung nicht rütteln solle. Mit derFührung sei man gut gefahren und das werde auch in Zukunft so sein.Kühn: dankt Willy Brandt für seinen Einsatz. Dieser verdiene be-sondere Anerkennung. Er sei der Meinung, dass jeder, der an die Spitzegestellt werde, von den anderen systematisch abgewertet werde.Blachstein: dankt ebenfalls Willy Brandt und glaubt, dass dessenVergangenheit keine Belastung für die Partei sei. Er rege an, über dieAussenpolitik zu sprechen, um in diesen Fragen zu einer Verständi-gung zu kommen.Franke: geht auf das Ergebnis in Niedersachsen ein14 und verweist aufdas völlige Verschwinden der DP: Dadurch sei der Stimmenzuwachsder CDU zu erklären. Das Konkordat habe für den Wahlausgang sei-ner Meinung nach keine grosse Bedeutung gehabt.15 Die FDP habeden Wahlkampf ausschliesslich mit der Haltung gegen das Konkor-dat geführt und habe auch in Niedersachsen einen grossen Stimm-verlust [erlitten].Gabert: dankt Willy Brandt und allen Mitgliedern der Regierungs-mannschaft. Für Bayern solle man überlegen, ob die bayerische Or-ganisation in Zukunft in Bezug auf Inserate etc. eine grössere Freiheiterhalten könne, um speziell der CSU wirksamer und gezielter ent-gegentreten zu können.

Ein Gespräch über die Fragen und das Verhältnis zu den Ver-triebenenverbänden sei sicher notwendig.Jaksch: nimmt Bezug auf die Flüsterpropaganda gegen bestimmtePersonen und wendet sich gegen die Geschichtsklitterung. Er sei derMeinung, dass man dagegen aggressiv vorgehen müsse.Fuchs: unterstützt die Bemerkungen, dass man am Kurs der Parteinichts ändern solle. Es sei ein schwieriges Unterfangen, in dieser Zeitder Bevölkerung klarzumachen, dass sie anders wählen solle. DieAnlage des Wahlkampfes sei richtig und gut gewesen. Er möchte de-

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nen danken, die in monatelanger Kleinarbeit alles vorbereitet haben.Er sei gegen den Vorschlag Jaksch’s. Man solle über die Vergangen-heit keine gross angelegte Auseinandersetzung führen. Wir müsstenden inneren Frieden anstreben.Conrad: bringt seine Befriedigung über das Ergebnis im Saarland zumAusdruck.16 Unsere Politik dürfe nicht geändert werden. Es müsseverstärkt daran gearbeitet werden, bestimmte Randschichten anzu-sprechen.

Pressekonferenz

Der Parteivorstand beschliesst, nach der Sitzung eine Presse-konferenz mit Willy Brandt in Bonn durchzuführen.17

Brandt: Die Landesorganisation Baden/Württemberg solle besondersuntersuchen, worauf das schlechte Ergebnis in diesem Lande zu-rückzuführen sei.18 Vielleicht spiele dabei eine Rolle, dass die Politikim Lande zu sehr von führenden Kräften entblösst sei.

In Zukunft müsse noch stärker der Versuch gemacht werden, diePolitik zu verbinden mit dem Abbau von Vorurteilen.

Das von Jaksch angesprochene Problem müsse im Sinne einesinneren Ausgleichs in unserem Volke angepackt werden und nichtumgekehrt.Wehner: schildert die Vorbereitungen, die Strategie und die Taktiksowie den Ablauf des Wahlkampfes. Besonders sei die Aktion der,NEUEN BILDPOST‘ zu erwähnen, die das ,Gag Festival‘ in die Wahl-auseinandersetzung gebracht habe.19 Durch einen Formfehler der,NEUEN BILDPOST‘ sei es noch gelungen, eine einstweilige Verfü-gung zu erreichen. Trotzdem seien viele Exemplare des Sonderdrucksverteilt worden.

Zur Führungsfrage sei er für eine andere Lösung eingetreten. Erhabe gewünscht, dass Willy Brandt nach Bonn komme. Willy Brandthabe anders entschieden, und er müsse das respektieren.

Die von Willy Brandt vorgeschlagenen Kommissionen solltenschon möglichst bald mit ihrer Arbeit beginnen. Eine Inventur überdie Werbemittel sollte gemacht werden, ohne Ansehen der Person.

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Auch zu der ständig erhobenen Forderung einer Alternativewolle er kurz Stellung nehmen. Er müsse sagen, dass es bedeutsamgewesen sei, dass die CDU in einer Voruntersuchung habe feststellenmüssen, dass die Bevölkerung die Regierungsmannschaft [der SPD]als regierungsfähig bezeichnet habe. – Im übrigen glaube er, dass wireine gute Alternative in dem Programm der Regierungsmannschafthaben.

Vor dem Vorschlag Wenzel Jaksch wolle er auch warnen.Käber und <Hansen>20: nehmen zu den Ergebnissen in Schles-wig/Holstein und Bremen Stellung.21 Hansen glaubt, dass dasschlechte Ergebnis in Bremen auf bremische Probleme zurück-zuführen sei.Behrendt: glaubt, dass es notwendig sei, sich den Problemen der An-gestellten mehr anzunehmen. Man solle mit den Gewerkschaftendarüber sprechen.W. v. Knoeringen: regt an, die Länderfragen weiter zu aktivieren. Dasmüsse ein Beratungspunkt im Parteivorstand werden.H. Schmidt: stellt fest, dass es im Schnitt gesehen, den Menschen inder Bundesrepublik gutgehe. Der Durchschnittsbürger sei auch anden grossen politischen Fragen nicht interessiert. Wenn uns trotz-dem weitere Millionen die Stimme gegeben hätten, sei das sehr er-munternd. Es wäre auch falsch zu glauben, dass andere Personen ander Spitze mehr Erfolg gebracht hätten. Es wäre jeder diffamiertworden. Über den Verlauf der Debatte sei er erfreut, denn keiner habegesagt, dass die Politik falsch war oder dass man in der Parteiführungetwas ändern müsse.

Ein besonderes Problem sei das Verhältnis Gewerkschaft undPartei. Darüber müsse im Parteivorstand demnächst einmal aus-führlich gesprochen werden.

Zum Problem Erhard wolle er bemerken, dass es möglich sei,dass dieser Glück habe und sich weiterhin durchwursteln könne. Esmüsse aber auch damit gerechnet werden, dass dieser strauchelt undein anderer aktiverer und besserer Mann an seine Stelle komme.Dann werde die Auseinandersetzung für uns noch schwerer. Manmüsse damit rechnen, dass Erhard schon jetzt mit jungen Leuten

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<umgehen>22 werde. Diese Sache dürfe man nicht unterschätzen undauch unsere Partei müsse sich bemühen, junge Leute im Bund, aberauch in den Ländern bewusster zu fördern.

Während seiner Wahlkampfreise habe er Erfahrungen überSchwächen und Unterschiede in unserer Organisation sammelnkönnen. Er würde vorschlagen, zu überlegen, für jeden Bezirk,Unterbezirk bzw. Wahlkreis einen verantwortlichen Genossen alsWahlkampfleiter einzusetzen. Auch solle man überlegen, ob es nichtzweckmässig sei, von den Kundgebungen abzukommen und Ver-sammlungen mit Diskussionen durchzuführen. Das Interesse – ge-rade junger Menschen – an einem Gespräch sei sehr gross.Nau: teilt die Meinung, dass man sich den Fragen der Gewerk-schaften besonders annehmen müsse; auch um die Gemeinwirtschaftmüsse man sich kümmern. Die Gefahr der Entpolitisierung in derSpitze sei gegeben. Hier müsse man aktiver werden.

Zum Wahlkampfabkommen wolle er feststellen, dass diesesnatürlich nicht vollkommen sein könne. Wenn man aus den jetztgesammelten Erfahrungen noch mehr machen könne, sei das einegute Sache. Immerhin sei es gelungen, die Diskrepanz im Auf-wand der CDU und uns schon durch dieses Abkommen zu ver-kleinern.

Die Diskussion im Parteivorstand habe ihn befriedigt, denn manhabe sowohl in der Sache als auch zu den Personen richtig gelegenund brauche nichts zurückzunehmen. Das Wort von HelmutSchmidt über führende Personen sollte auch öffentlich gesagt wer-den. Man sollte noch hinzufügen, dass Willy Brandt das uneinge-schränkte Vertrauen des Parteivorstandes besitze.

Über den Vorschlag von Alfred Nau gibt es eine Diskussion undes wird dann die aus dem anliegenden Kommuniqué ersichtlicheFassung beschlossen.23

Konferenz am 25.9.196524

Die Durchführung der Konferenz mit Referaten von Willy Brandt,Fritz Erler und Herbert Wehner wird beschlossen.

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Brandt: stellt zusammenfassend fest, dass die von ihm gemachtenpraktischen Vorschläge keinen Widerspruch finden. Das Präsidiumwerde daran arbeiten und darauf zurückkommen. Folgende anderePunkte aus der Diskussion wolle er herausstellen:

1. Fragen der Angestellten;2. weitere Bearbeitung des Wahlbegrenzungsabkommens;3. Generationenproblem (Förderung junger Genossen).Ausserdem solle betont werden, dass der Parteivorstand in einer

selbstbewussten und kritischen Art festgestellt habe, dass der Kursder Partei unverändert bleibe und dass man mit einer gestärkten Po-sition in die nächste Phase der politischen Arbeit eintreten werde. –Über die menschlichen Worte des Dankes und der Anerkennunghabe er sich besonders gefreut.

Nr. 59Pressekonferenz des Vorsitzenden der SPD, Brandt22. September 19651

AdsD,WBA, A 3, 218.

Franz Barsig: Meine Damen und Herren, ich darf die Pressekonferenzeröffnen. Sie wissen schon aus unserer technischen Mitteilung, daßSie zu einer hier für Bonn nicht ganz gewöhnlichen Zeit stattfindenmuß,2 aber der Vorstand legte Wert darauf, ohne Zeitdruck zu be-raten. Wir bitten dafür um Entschuldigung. Herr Brandt wird ein-gangs eine Erklärung abgeben. Nachher stehen wir Ihnen zu Fragenzur Verfügung.Willy Brandt: Meine Damen und Herren, auch von mir aus Dankdafür, daß wir uns zu dieser, wie Herr Barsig sagt, nicht ganz ge-wöhnlichen Tageszeit für eine Pressekonferenz hier zusammen-finden können. Der Vorstand der SPD hat heute die Situation nachden Bundestagswahlen vom Sonntag besprochen und festgestellt,

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daß die SPD Terrain gewann, aber nicht die Schlacht gewonnen hat,d. h. nicht das Ziel erreicht hat, das sie sich gesetzt hatte. Die Bera-tungen des Vorstandes waren selbstbewußt und selbstkritisch. Siebezogen sich auf drei Gebiete, nämlich erstens die Politik, die sichableitet aus diesem Wahlergebnis; die Arbeit der Partei, die gedank-lich (eins und zwei) ineinandergreifen, und die Vorbereitung derWahlen, die jetzt in den nächsten Monaten bevorstehen.3 Da gibt esmehrere wichtige regionale Lokalwahlen,4 für die wir unsere Vor-bereitungen getroffen haben, gestützt auf das Ergebnis vom letztenSonntag.

Was die unmittelbaren Konsequenzen der Bundestagswahl an-geht, unmittelbare Konsequenzen für die Regierungsbildung, so liegtes in der Natur der Sache, daß eine Initiative in dieser Frage von derSPD nicht ausgehen konnte und nicht ausgehen kann. Die rein rech-nerische Möglichkeit, aus dem Zusammenzählen von SPD- und FDP-Mandaten eine Mehrheit festzustellen, ist keine Möglichkeit derpraktischen Politik. So wird es auch vom Vorsitzenden der FDP ge-sehen, habe ich Anlaß anzunehmen.

Ohne jede Bitterkeit über den Ausgang der Wahl, der der SPDnicht Stimmenverluste, sondern Stimmengewinne gebracht hat, istes unsere Meinung und Überzeugung, daß durch diesen Wahlaus-gang keines der Sachprobleme gelöst worden ist, um die es schonging und jetzt erst recht geht – innen- und außenpolitisch –, und ichfürchte, daß ich einer Regierung Erhard, die auf der Basis der kleinenKoalition gebildet wird, keine besseren Prognosen stellen kann, als esder Zustand der Unentschlossenheit und der Zerstrittenheit in denhinter uns liegenden zwei Jahren gezeigt hat.

Was die SPD angeht, so ist der Kurs des Godesberger Programmsund die Politik, die die SPD in diesem Wahlkampf vertreten hat,nachdrücklich einmütig unterstrichen worden. Sollte es irgendwojemanden geben, der glaubt, er könne, gestützt auf den jetzigen Zu-stand, an Godesberg rütteln, dann wird der sich wundern, auf einewie geschlossene Sozialdemokratische Partei er dabei stößt. Das än-dert nichts daran, daß es in bezug auf die Formen der Arbeit, die zu-sätzliche Vertrauenswerbung immer noch Möglichkeiten und Not-

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wendigkeiten gibt, das war zu verbessern. Der Vorstand hat eineReihe von Arbeitsaufträgen vergeben,5 auch solche, die sich auf eineanalytische Betrachtung des Wahlergebnisses beziehen. Sie wissen jaebenso gut wie ich, daß diese Bundestagswahlen stärker als irgend-welche früheren Bundestagswahlen durch starke regionale Unter-schiede gekennzeichnet sind.6

Die Regierungsmannschaft, die diesen Wahlkampf geführt hat,die sozialdemokratische Regierungsmannschaft, hat ihren Auftrag anden Vorstand der SPD zurückgegeben. Die sachlichen und personel-len Positionen aus der Regierungsmannschaft werden in die norma-len Körperschaften, Organe der Partei zwischen zwei Wahlen einge-bracht. Ich darf hinzufügen, daß von den Sachpunkten, die die Re-gierungsmannschaft der SPD erarbeitet hat und die die ganze Parteivertreten hat in diesem Wahlkampf, nichts abgestrichen wird für diepraktische Politik, die jetzt vor uns liegt.

Ich darf im Anschluß daran eine Bemerkung machen odereinige Sätze sagen, die sich auf mich selbst beziehen. Gestützt aufdas Vertrauen meiner politischen Freunde werde ich als Vorsitzen-der der SPD für die gesamte Politik dieser Partei verantwortlichbleiben, und kann das um so leichter mir zutrauen, weil ich es indem Bewußtsein tue, daran mitgewirkt zu haben, dabei mit ge-holfen zu haben, daß diese Partei jetzt im Bund bei Bundestags-wahlen über 12,4 Millionen Wähler verfügt, eine höhere Zahl als siejemals auf diesen Teil Deutschlands bezogen um sich hat scharenkönnen. Meine Stellvertreter im Parteivorsitz, Herbert Wehner undFritz Erler, und ich werden diese engere Führungsgruppe der Parteigeschlossen darstellen und können uns dabei auf einen ein-heitlichen Vorstand unserer Partei stützen. Zum anderen bleibe ichin meiner staatlichen Verantwortung in Berlin Regierender Bürger-meister. Ich habe in Berlin, bevor diese Runde der politischen Aus-einandersetzungen in Deutschland begann, gesagt, daß ich Regie-render Bürgermeister bleiben würde, wenn ich nicht in eine Regie-rungsverantwortung in Bonn einzutreten haben würde. Ich bininsoweit im Wort. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlandswar, von meiner Person abgesehen, immer im Wort Berlin gegen-

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über. In einer Zeit oder zu einem Zeitpunkt, da alliierte VorbehalteBerlin gegenüber eher noch deutlicher unterstrichen worden sind,wie ich es sehe, ohne daß ein eigener Standpunkt der deutschenSeite durch die gegenwärtige Regierung deutlich gemacht wordenist, mag diese Verzahnung auch als eine positive Klammer geltenzwischen dem größeren und dem kleineren Teil des freien Deutsch-land. Das heißt, als Vorsitzender der SPD trage ich die Verant-wortung, von der ich gesprochen habe, für die Gesamtpolitik dieserPartei. Ich bleibe in der staatlichen Verantwortung als RegierenderBürgermeister. Daraus ergibt sich, daß ich nicht im kommendenBundestag mitwirken oder gar die Führung der parlamentarischenOpposition übernehmen werde. Daraus folgert auch, daß ich keinAnwärter für 1969 auf das Amt des Bundeskanzlers der Bundes-republik Deutschland bin.7

Die Anerkennung, die meine Freunde mir haben zuteil werdenlassen am heutigen Tage, und die glaube ich auch in einem Kom-muniqué8 ihren Niederschlag gefunden hat, hat mich sehr gefreut,hindert mich aber nicht daran, Ihnen in diesem Kreis in allem Frei-mut folgendes zu sagen.

Es hat eine offizielle Wahlkampagne gegeben, die man mehroder weniger fair nennen kann. Es hat eine darunter liegende Wahl-kampagne gegeben, die mich wie 1961 nicht unverletzt aus diesemWahlkampf hat herausgehen lassen.9 Ich bin mit sauberen Händennach Deutschland zurückgekommen, mit sauberen Händen nachDeutschland zurückgekommen. Ich bekenne mich zu meinem Le-bensweg. Ich bekenne mich zu dem Stück freiheitlicher Traditiondieses Landes, in der ich stehe. Auch die Bitterkeit über die Dreck-kampagne, die auf der Ebene unterhalb des offiziellen Wahlkampfesgegen mich bis in die letzten Tage [ge]führt worden ist, hindert michnicht daran und wird mich nicht daran hindern, das weiter zu ver-folgen mit meinen Möglichkeiten, wofür ich mich vor fünf Jahrenauf dem Hannoverschen Parteitag der SPD ausgesprochen habe,nämlich alles, was in meiner Kraft steht, zur Aussöhnung dieses Vol-kes zu tun.10 Aber ich gebe es zu, ich bin nicht unversehrt aus dieserKampagne herausgekommen.

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Was die Politik der SPD angeht, so sage ich das im Bundestag undauf den anderen Ebenen der Politik, daß die SPD die Verantwortungträgt, die ihr 12,4 Millionen Wähler in diesen Wahlen auferlegt hat.Diese Politik wird orientiert sein an den Sachprogrammen, die diesachliche Alternative darstellen. Die Sachprogramme kann jedernachlesen. Die werden weiterentwickelt werden, immer wieder ingeeigneter Weise zusammengefaßt und eingeführt werden in dieAbschnitte deutscher Politik, mit denen wir es zu tun haben werden.Dabei ist es die Meinung des Vorstandes der SPD und meine eigene,daß eine ohne die SPD gebildete Regierung der kleinen Koalitionnicht darauf rechnen darf, beliebig auf Stimmen der SPD zurück-greifen zu können für eine Mehrheit, die einer solchen kleinen Ko-alition bei Sachentscheidungen fehlen sollte. Ebenso wird die SPDnicht auf Abruf bereitstehen für einen Katalog der Notwendigkeiten,den andere ohne Beratung mit der SPD aufstellen.

<Zweitens>11: Die SPD wird sich an die von ihr selbst entwickel-ten und für notwendig gehaltenen Rangordnungen halten. Das ha-ben wir in diesem Wahlkampf vertreten – der ganze Komplex derGemeinschaftsaufgaben ist von uns seit Jahr und Tag entwickelt, wirwerden versuchen, davon soviel einzubringen, wie uns Wähler be-auftragt haben, dies zu versuchen.

Drittens: Wir werden eine gegen uns gebildete Regierung undKoalition auf deren Versprechungen im Wahlkampf festnageln, ein-schließlich der Versprechungen, die den Kriegsopfern und den Hei-matvertriebenen in diesem Wahlkampf gegeben worden sind.

Viertens: Wir werden aufmerksam als scharf und genau kon-trollierende Partei im Bundestag prüfen, wie die, die die Regie-rungsverantwortung übernehmen, den Haushalt in Ordnung bringenund die Preisstabilität und die Währungsstabilität sichern wollen.

Fünftens: Wir werden bei Grundgesetzänderungen stets zuSachgesprächen bereit sein, aber nicht bereit sein, ad hoc aus der In-teressenlage anderer zur Verfügung zu stehen. Oder noch ein biß-chen mehr zugespitzt: es wird keine Grundgesetzänderungen gebenzu Vorschlägen und Vorstellungen, die nicht denen der SPD entspre-chen.

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Sechstens: Man spricht manchmal von der Stunde der Wahrheit.Ich denke, die Jahre der Wahrheit werden kommen und die Sozial-demokratische Partei wird auch gestützt auf den Wählerauftrag, densie hat, auf Offenheit und Klarheit in außenpolitischen und gesamt-deutschen Fragen bestehen müssen. Sie wird, wenn man uns weitererzählt, mit wem man alles in der Welt einig sei, sehr bestimmt da-nach fragen, worüber man einig sei. Und sie wird auch sagen müssen,daß die Zerstrittenheit einer Regierungskombination keine Ent-schuldigung ist für die Vernebelung außenpolitischer und gesamt-deutscher Zusammenhänge, insofern wird also ein Zustand, der bis inden Wahlkampf hinein ja eine beträchtliche Rolle gespielt hat, sonicht einfach andauern können. Ich weiß nicht, ob es bekannt ist, amSonnabend wird ein etwas größerer Kreis von Mandatsträgern mei-ner Partei in Godesberg zusammenkommen,12 die neugewähltenAbgeordneten, das, was wir den Parteirat nennen, unsere führendenMitarbeiter in den Ländern und Parteibezirken, werden gerade, wasdiesen Teil angeht, sich über die Ausformung der künftigen Politikaussprechen, gestützt auf das Ausspracheergebnis des heutigenTages.Ich danke Ihnen.

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Nr. 59AAus dem Interview des Bundeskanzlers und Vorsitzenden derSPD, Brandt, mit dem britischen Publizisten Prittie21. August 19721

AdsD,WBA, A 9 (Anmerkungen Willy Brandts zur Biographie von TerencePrittie), 1.

[. . .]T[ERENCE] P[RITTIE: [. . .] Und warum ist es nicht besser in [19]65 ge-gangen? Was Sie eben von [19]61 gesagt haben, ist [. . .] klar, das war keinegroße Enttäuschung für Sie. Sie haben das praktisch erwartet, daß Sie nichtgewinnen konnten. Aber in [19]65, Sie haben sicherlich Ihre Chancen besserbeurteilt.B[UNDES]K[ANZLER: Ich kann das nicht so genau rekonstruieren.Die Lage [19]65 war nicht objektiv besser für die SPD, als [19]61,glaube ich, vor allen Dingen aus folgendem Grunde nicht. Es war[19]63 der Kanzlerwechsel erfolgt, und bei aller Popularität, die Kon-rad Adenauer erreicht hatte, hatte eben doch gegen Ende seiner Kar-riere das Gefühl zugenommen, nun habe er eine gewisse Altersgrenzeerreicht, und es kam Ludwig Erhard, der ja doch in der ersten Zeitseiner Kanzlerschaft sich auf eine starke Popularität stützen konnte.Und aus dieser heraus den Wahlkampf führen konnte. [. . .] seineSchwierigkeiten kamen erst nach der Wahl [19]65 und führten dannim Herbst [19]66 zu seinem Debakel. Aber [. . .] es wirkte wie eine er-neuerte Regierung, und er hat selbst in der ersten Zeit seiner Kanz-lerschaft seine Popularität noch zu steigern vermocht, insofernglaube ich nicht, daß es an und für sich vom Start her sehr viel bes-sere Chancen gab als [19]61. Eine andere Sache ist dann, das klang inIhrer Frage mit an, der relative Wahlerfolg, es gab bei den Wahlen[19]61 und [19]65 je etwa 3 % Stimmenzuwachs für die SPD, das ist inLändern mit Proportionalwahlrecht gar nicht so schlecht, wenn manvon Wahl zu Wahl 3 % dazulegt.2 [. . .] Aber meine Reaktion auf dasWahlergebnis [19]65 war eine, die sehr stark zusammenhing mit der

360 Interview mit Prittie, 21. Aug. 1972

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Art, in der der Wahlkampf geführt worden war. Nun war ich [auch]im [19]61er Wahlkampf nicht zimperlich behandelt worden undnicht mit Samthandschuhen angefaßt worden, sondern es gab ebenauch ins Persönliche gehende Angriffe. Das war [19]65 wieder derFall, und meine Reaktion [war] damals zu sagen, dies sei meine letzteKandidatur gewesen und ich wolle jetzt nach Berlin zurückgehen,allerdings ohne den Vorsitz der Partei niederzulegen.3 Das war eineandere Frage. Das ist ja auch in unserem System nicht notwendiger-weise verbunden. Ich war ja auch vorher Vorsitzender, ohne Kanzlerzu sein. Das war ein Ergebnis von Gesprächen mit Freunden aus demLande, die mir gegenüber von ungewöhnlicher Freundschaft undSolidarität waren, aber nicht verhehlten, daß sie vor allen Dingen inden entlegeneren und in den landwirtschaftlichen Gebieten großenSchwierigkeiten ausgesetzt gewesen waren wegen der Angriffe, dieauf mich gerichtet waren. Und mein Empfinden war, daß ich ihnendamit vielleicht zu viel zumutete. [. . .]T[ERENCE] P[RITTIE: Ich habe den Eindruck, ich habe natürlich bis jetztsehr viel von Ihnen und von der ganzen Geschichte und vor allem gelesenund gehört. Ich habe den Eindruck, daß Sie manchmal, was auf Englisch thelate reaction4 genannt wird, erlitten haben. Bei den großen Strapazen habenSie nichts gemerkt, sondern der Effekt kam etwas später.B[UNDES]K[ANZLER: Ja, das stimmt. Nun kommt auch natürlich<. . .>5 altersmäßig hinzu. Ich weiß nicht, ob das ungewöhnlich ist.Ich war also Ende [19]63 50 Jahre alt geworden. Und das ist, glaubeich, häufig so, daß Männer, wenn sie 50 oder etwas über 50 sind, soallmählich in eine Krise kommen. Und bei einigen ist es dann über-haupt so, daß sie etwas absacken und bei anderen ist es so ein Zwi-schenstadium, bevor sie den Kopf wieder ganz hoch nehmen. Aberdas andere, was Sie sagen, das stimmt schon. Das hab ich in der Tathäufig gespürt. Richtige Anstrengungen, die machen nicht soviel aus,aber es kommt dann auf eine andere Weise hinterher.[. . .]T[ERENCE] P[RITTIE: Gab es besondere Gefühle nachher, als Siewirklich diesen Eindruck gehabt haben, daß Sie so zwischen Leben undTod . . .6

361 Interview mit Prittie, 21. Aug. 1972

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B[UNDES]K[ANZLER: Es war eben so, ich mußte mich einige Wochenschonen, insoweit war es schon eine gesundheitliche Geschichte.Aber plötzlich sah das Leben etwas anders aus. Viele Dinge nahmman nicht mehr so wichtig, und es war sozusagen für mich derPunkt, noch deutlicher als <[19]61>7 war es mehr eine äußere Sache,von der ab ich, wenn Sie so wollen, nichts mehr werden wollte. Nomore ambition8. Was nicht bedeutet, daß man nicht trotzdem ganzgerne was tut. Und sobald man, das hab ich jedenfalls gefunden, so-bald man als Politiker zu diesem Punkt gekommen ist, kann manunter Umständen effektiver sein, weil dann kommt es mehr daraufan, was andere einem zutrauen und was man mit denen zusammenmachen kann.

Nr. 60Rede des Vorsitzenden der SPD, Brandt,vor Funktionären der Berliner SPD15. Oktober 19651

Berliner Stimme vom 30. Oktober 1965.

„Laßt Euch den schönenErfolg nicht vermiesen!“

Eine Partei, die mit 12,8 Millionen Stimmen aus diesen Bundestags-wahlen hervorgegangen ist, die, wenn man Berlin mitrechnet, mitknapp 14 Millionen Stimmen im freien Teil Deutschlands dasteht, istkeine schwache Partei, sie ist eine starke politische Kraft.2 Ich habevon dem Vorsitzenden einer großen europäischen Bruderparteigleich nach der Wahl ein Telegramm bekommen, in dem der Satzstand: „Laßt Euch den schönen Erfolg nicht vermiesen“, und meinenorwegischen Freunde haben mir geschrieben: „Wir verstehen dasgar nicht, bei uns haben die nichtsozialistischen Parteien ein ProzentStimmen gewonnen, und das war ein Sieg, und Ihr habt drei Prozent

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gewonnen und macht daraus eine Niederlage oder laßt eine darausmachen.“

Solche Betrachtungen mögen als Gegengewicht nützlich sein,können mich aber von meiner Gesamteinschätzung nicht abbringen.Wer es verfolgt hat, der weiß ja, daß ich nach reiflicher Überlegungnoch in der Wahlnacht gesagt habe:

Zu weit vorgeschobenes Ziel?

Wir haben diese Wahlen nicht gewonnen, wir haben unser Wahlzielnicht erreicht. Und wenn man das Ziel, das man sich selbst setzte,nicht erreicht hat, dann hat man politisch eine Schlappe hinnehmenmüssen. Man mag bei der Debatte, die wir jetzt miteinander in un-serer Partei zu führen haben werden, die Frage aufwerfen: Ja, aberwar das Ziel vielleicht ein zu weit vorgeschobenes Ziel? Es mag auchmancher meinen, es sei ein nicht realistisches Ziel gewesen. Ichwürde dann aber wahrheitsgemäß darzulegen haben – dazu steheich –, daß ich vor dem 19. September [1965] nicht gegen meine eigeneÜberzeugung gesagt habe, daß ich es für erreichbar hielte, mit deranderen großen Partei in etwa gleichzuziehen oder sie gar knapp zuüberrunden und eine Situation zu schaffen, in der die Bildung einerneuen Bundesregierung gegen die Sozialdemokratische Partei nichtmehr möglich sein würde.

Nun, die Union, die ich der Einfachheit halber hier als eine Parteiwerten will, hat ihr Wahlziel auch nicht erreicht, denn sie wollte dieabsolute Mehrheit erlangen, wenn möglich der Stimmen, jedenfallsaber der Mandate. Sie war von der Hälfte der Mandate schon dasvorige Mal nicht weit entfernt. Aber sie hat diesmal ganze drei Man-date dazu gewonnen, die CDU/CSU, und wenn man in Berlin sichdarüber unterhält, muß man sich darüber im klaren sein, das sindgenau drei Mandate, die die Berliner Sozialdemokraten der BerlinerCDU 1963 abgenommen hatten. Das heißt, diese drei Mandate wer-den aufgewogen durch die drei Mandate, mit denen die Berliner So-zialdemokraten mehr nach Bonn gehen, nämlich 15 statt 12 und dieCDU mit sechs statt neun.3

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Die Koalition, die die bisherige Regierung getragen hat und diedie neue Regierung mehr schlecht als recht tragen wird, hat Mandatenicht gewonnen, sondern eingebüßt. Die SPD hat Mandate nichtverloren, sondern gewonnen. Wir haben unser Wahlziel nicht er-reicht. Die CDU hat ihr Wahlziel auch nicht erreicht. Trotzdem ergabsich bei der Regierungsbildung – und das ist der erste entscheidendeund in der Regel dann für vier Jahre maßgebende politische Akt – füruns keine eigentliche Manövrierfähigkeit. Ich habe gerade heutewieder einige Telegramme aus der Organisation bekommen, auchsolche mit dem Hinweis, man solle doch Mende versprechen, daß erbei uns Gesamtdeutscher Minister bleiben würde.

Selbstbewußt und nüchtern

Diese Telegramme gehen davon aus, daß die Mandate von SPD undFDP zusammengezählt im Bundestag eine, wenn auch ganz schwa-che, Mehrheit ergeben.4 Rechnen können wir auch, das können auchdie Kollegen von der FDP. Diese rein rechnerische Möglichkeit warund ist aber keine Möglichkeit der praktischen Politik. Sie war esschon 1961 nicht, sie war es 1962 nicht bei der Strauß-Krise,5 und siewäre es auch jetzt nicht gewesen. Und für diejenigen, die ein Frage-zeichen dahintersetzen, möchte ich die Feststellung hinzufügen– ohne in Einzelheiten einzutreten –, auch Dr. Mende hat es so ge-sehen, und ich habe mich dessen vergewissert.6 Es lohnt also nicht, inDebatten in unserem Kreis darüber Worte zu verlieren, das ist un-nütz aufgewendete gedankliche Energie.

Nach dem ganzen Verlauf des Wahlkampfes, aber auch beidem politischen Naturell des gegenwärtigen Bundeskanzlers, dassich ja im Wahlkampf nicht enthüllt, sondern nur bestätigt hat,durfte man auch nicht damit rechnen, daß etwa eine Erwägungerneut angestellt werden würde, wie wir deutschen Sozialdemo-kraten sie vier Jahre früher aus der Nachmauersituation herausangestellt hatten, nämlich ob angesichts einer bestehenden Ent-wicklung der außenpolitischen und gesamtdeutschen Dinge maneinmal ganz neu und gestützt auf ein ganz bestimmtes Programm

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für eine Vierjahresperiode an die Dinge herangehen könnte odersollte.

Wir haben dann lediglich deutlich gemacht – auch durch unserVerhalten in den letzten drei Wochen, das manche so aufgefaßt ha-ben mögen, als hätten wir uns auf Tauchstation begeben –, daß wirnicht die Absicht hatten, uns im Koalitionsspiel der anderen zuSpielkätzchen machen zu lassen. Dazu sind wir uns zu schade. Dazuist diese Partei zu groß, dazu nimmt sich diese Partei selbst zu ernst.

Die FDP hat trotz Mendes Äußerung über den Sieg der Koalitioneine Million Stimmen verloren. Was aber für diesen Bereich, für denBereich außerhalb der CDU/CSU einerseits und der SPD andererseits,am charakteristischsten ist, das ist das weitere Absorbieren dritteroder vierter Kräfte, ein Vorgang, der sich sowohl auf Parteien bezieht,die schon das vorige Mal nicht mehr im Bundestag vertreten waren,wie auf die FDP.7 Ich will das jetzt nicht im einzelnen ausmalen,sondern nur sagen, der Konzentrationsprozeß in der westdeutschenWählerschaft außerhalb des sozialdemokratischen Bereichs dauertan, der Konzentrationsprozeß, auf die CDU/CSU bezogen, dauert an.Außer bei der FDP ist nun freilich nicht mehr viel zu holen. Die wei-tere Entwicklung wird deshalb sehr interessant, weil sich heraus-stellen wird, wieweit die FDP diesem Konzentrationsprozeß imnichtsozialdemokratischen Bereich gegenüber wird standhaltenkönnen.

Noch entscheidender bleibt freilich die Frage: Wie sieht eigent-lich soziologisch und bewußtseinsmäßig die Gruppe deutscherWähler aus, die jetzt mit einer gewissen Regelmäßigkeit allein beiBundestagswahlen in Erscheinung tritt. Wir haben diesen Prozeßmehrfach nacheinander erlebt, und es gibt Methoden, durch die je-denfalls annähernd erfaßt werden kann, aus welchen Schichten, auswelchen Gruppen sich die Wähler zusammensetzen, die, grob ge-sprochen, an Landtagswahlen nicht teilnehmen, aber zur Bundes-tagswahl hingehen. Die bei der Bundestagswahl zwar nichts daranändern, daß die absolute Zahl der sozialdemokratischen Stimmenweiter zunimmt, bei der CDU aber dann die absolute Ziffer, die run-tergegangen war, sehr rasch und steil, gemessen an der zwischen-

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liegenden Landtagswahl, nach oben ging. Übrigens, mancher in un-seren Reihen, der die Welt für einfacher hält, als sie ist, wird, was diesoziologische Zusammensetzung dieser Gruppe angeht, dann ver-mutlich überrascht sein. Das geht in die niedriger bezahlten Arbei-terschichten tief hinein, es geht in Rentnerschichten hinein, von de-nen man auf Grund anderer Analysen meinte, daß sie soziologischbei der Arbeitnehmerschaft ihre eigentliche Anlehnung und Ent-sprechung fänden. Aber ich will gründlicheren Untersuchungennicht vorgreifen.

Eine Analyse setzt überhaupt gründliche Vorarbeit voraus, auchwirklich wissenschaftliche Vorarbeit. Nun ist in den letzten Tagen anmehr als einer Stelle viel darüber geschrieben worden, wie wohl dieinnerparteiliche Aussprache in der SPD verlaufen werde.8 Und dereine und andere, der darüber geschrieben hat, in den anderen Bun-desländern (Westdeutschlands) mindestens soviel wie in Berlin, derhat fast den Eindruck vermittelt, als sei das ein Novum, wenn die SPDeine innerparteiliche Aussprache zu führen hat. Diesen Eindruckkann nur jemand vermitteln, der diese Partei nicht kennt. Innerpar-teiliche Diskussion ist in der SPD kein exzeptioneller, kein ein-maliger und kein unerwünschter, sondern ein normaler, ein perma-nenter und ein erwünschter Vorgang. Innerparteiliche Diskussionmacht die Partei nicht schwächer, sondern macht sie stärker. Ich binsehr für eine solche Diskussion über die Erfahrungen der letztenBundestagswahl, und ich habe in der ersten Sitzung des Parteivor-standes nach den Wahlen selbst die entsprechenden Vorschläge ge-macht, wie diese innerparteiliche Debatte sachlich vorbereitet wer-den sollte, und zwar durch drei solide Untersuchungen, die dann zurDebatte gestellt werden sollen:9 erstens eine unabhängige Unter-suchung von Leuten, die durch ihre Ausbildung und von Berufs we-gen massenpsychologische Entwicklungen, Wählerentwicklungen,Trendentwicklungen zu deuten verstehen und dabei ja auch diewichtige Aufgabe haben würden, uns einiges zu sagen über inte-ressante Auseinanderentwicklungen in den Einschätzungen ver-schiedener deutscher Meinungsforschungsinstitute. Die zweite Auf-gabe, mit der wir drei Parteivorstandsmitglieder beauftragt haben,

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Helmut Schmidt, Heinz Kühn, unseren nordrhein-westfälischenLandesvorsitzenden, und Georg Leber, den Vorsitzenden der IG Bau.

Solide Analyse

Wir haben diese drei gebeten, sich – von den demoskopischen undziffernmäßigen Dingen losgelöst oder jedenfalls zusätzlich zu diesen –auch um die interessanten regionalen soziologischen und massen-psychologischen Entwicklungen, mit denen wir es hier zu tun hat-ten, zu befassen und uns darüber ihre Eindrücke aufzuschreiben.Und drittens werden wir noch im November mit unseren Bezirksge-schäftsführern und anderen Mitgliedern, auch gestützt auf Empfeh-lungen des Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit beim Parteivor-stand und nach einer Klausurtagung unseres Präsidiums, die Anlageder Kampagne selbst untersuchen, die publizistischen, die werbe-mäßigen Methoden. Wir werden uns fragen, was war geglückt, waswar vielleicht nicht so geglückt, und dann auch darüber einen Be-richt zusammenstellen. Und ich glaube, wenn wir das haben, diesedrei Grundlagen, dann können wir manches besser beurteilen, alswir es heute können, als auch ich es heute kann.

Meine Bemerkungen heute abend stehen also unter dem Vorbe-halt, daß die Grundlagen für eine ernste Analyse erst noch erarbeitetwerden müssen. Das ist nicht in zwei Wochen, das ist, wenn es seriössein soll, auch nicht in zwei Monaten zu machen.

Niemand will bestreiten, daß diese Partei immer wieder aus ih-ren Erfahrungen zu lernen hat und sich immer wieder Gedankendarüber zu machen hat, wie sie es noch besser machen könnte. Aberlaßt mich auch offen sagen: Zur Analyse gehören Nüchternheit undSachlichkeit. Und zu einer Analyse gehört, daß möglichst alle maß-geblichen Gesichtspunkte und Faktoren einbezogen werden. Und ichbin wirklich davon überzeugt, daß man dieser Aufgabe, um die eshier geht, mit gefühlsmäßigen Reaktionen, mit Einäugigkeit, zumalmit oberflächlicher Einäugigkeit, mit eingeengter Betrachtungsweiseoder auch mit vorgefaßten Meinungen nicht gerecht werden kann.Und mit Ereifern, mit gelegentlichen Verunglimpfungen schon gar

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nicht. Und auch, daß ich diesem Punkt jetzt große Bedeutung bei-messe, das kann ja ohnehin nur ein Ausrutscher gewesen sein, Kreti-nismus ist jedenfalls kein Faktor in der Meinungsbildung der SPDund wird es hoffentlich niemals sein.

Krise der Großstadtorganisationen

Wir müssen über manches sprechen, auch darüber, daß sich trotz derausgezeichneten Erfolge, wie sie in Dortmund, in Oberhausen, inGelsenkirchen usw., usw. oder in Hagen errungen wurden, auf dasBundesgebiet insgesamt gesehen so etwas wie eine Krise von Groß-stadtorganisationen abzeichnet. Und dieses Thema wird nicht hin-reichend beantwortet dadurch, daß in Hamburg zweimal der ErsteBürgermeister gewechselt worden war oder daß in Bremen kurz vorBeginn des Wahlkampfes Wilhelm Kaisen abgelöst wurde.10

Eine weitere Feststellung, gedacht als Merkposten für später, istdiese: In einer Zeit, in der die modernen Massenkommunikations-mittel noch an Bedeutung zunehmen, erleben wir zugleich, daß einePartei wie unsere, die als Volkspartei expandieren will, in zu-nehmendem Maße auch wieder wird anknüpfen müssen bei den äl-testen, den urältesten Formen der Wahlarbeit. Das heißt, die moder-nen Massenkommunikationsmittel machen nicht überflüssig, daßeine Partei, die die Hand am Puls halten will, eine Partei, die etwasbewegen will, selbst wieder den unmittelbaren Weg zum Wählerfinden muß. Das ist nicht nur der Weg des Gesprächs im Betrieb, dasist auch das Gespräch mit den Menschen dort, wo sie wohnen.

Grob gerechnet können wir sagen, mit Ausnahme von Nord-rhein-Westfalen und dem Saargebiet ist die CDU auf das Bundesge-biet insgesamt bezogen erfolgreicher gewesen beim Ausschöpfen desStimmenreservoirs in ihren Hochburgen, als die SPD es geschafft hat,das Wählerreservoir in ihren Traditionsgebieten auszuschöpfen. Undeine zweite erlaubte Verallgemeinerung ist, daß bei der besonderenkonfessionellen Gliederung in der Bundesrepublik Deutschland of-fensichtlich die antisozialdemokratischen Ressentiments in einerReihe katholischer Regionen haben abgebaut werden können.

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Dann, liebe Freunde, ist es eine alte Erfahrung, nicht nur inDeutschland, daß Unruhe in der Welt durchweg zugunsten einer ander Macht befindlichen Regierung geht. Und wer das verfolgt hat, derweiß ja, wie gerade auch in den letzten 10, 12, 14 Tagen vor der Wahlnicht nur Vietnam, sondern dann Indien, Pakistan und was es dasonst noch gab,11 ein wenig in der öffentlichen Darstellung angeheiztwurden – nach dem Motto: Die Lage war noch nie so ernst.

Zwei weitere Kriterien: Dort, wo Frauen- und Männerstimmengetrennt gezählt wurden, ist noch einmal deutlich geworden, daß dieFrauen nicht im gleichen Maße den Sozialdemokraten zugetan sindwie die Männer. Unser Kandidat Dr. Rau beispielsweise, der imWahlkreis Ulm kandidiert hat, würde dort den Bundeskanzler Prof.Erhard geschlagen haben, wenn nur die Männerstimmen gezählthätten. Die Wahl in Ulm ist durch die Frauenstimmen entschiedenworden. Ich habe neulich schon in Godesberg gesagt12 und auch jetztist es nur eine Randbemerkung, die dem Thema insgesamt nicht ge-recht wird: Auch das, was sozialdemokratische Frauenarbeit genanntwird, stellt zweifellos in den meisten Teilen Deutschlands nur einenganz bedingten Transmissionsriemen dar, zu diesem großen Gebietder Vertrauenswerbung, das vor uns liegt.

Brandt, Wehner und Erler lassen sich nichtauseinandermanövrieren

Ich bin davon überzeugt, daß sich bei der innerparteilichen Mei-nungsbildung der nächsten Monate ganz eindeutig zeigen wird, daßdie Partei in ihrer erdrückenden Mehrheit auf dem Boden des Godes-berger Programms steht, die Politik des Godesberger Programmsweitergeführt sehen will und sich auch zu den Sachprogrammen be-kennt, die wir, gestützt auf dieses Godesberger Programm, entwickelthaben. Außerdem: Wer darauf setzen sollte, den Brandt und denWehner und den Erler auseinandermanövrieren zu können, der irrt.Sie werden zusammenstehen, so, wie es ihre Pflicht in der Partei ist.

Die Anlage des Wahlkampfes ist nicht durch ein kleines Gre-mium, sie ist auf dem Karlsruher Parteitag beschlossen worden. Ich

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werde die Debatte führen als einer, der dafür mitverantwortlich ist,daß der Wahlkampf so geführt worden ist, wie er geführt worden ist.Damit sage ich nicht, daß alles richtig war. Ich bin auch hier bereit,über Plakate, Texte, Formate und Farben, über alles mit mir reden zulassen, nur vergeßt eine alte Lebensweisheit dieser Partei nicht. Dasentscheidende Kriterium dafür, ob Plakate gut oder schlecht waren,ist das Wahlergebnis. Ich meine auch, daß unsere innenpolitischenSchwerpunktaufgaben im ganzen alternativ gut herausgearbeitetworden sind. Nicht immer konkret genug, das gebe ich zu, manchesist Formelkram geblieben und nicht in gängige Münze umgesetztworden. Auf manchen Gebieten haben wir Stahl produziert undnicht schon Werkzeuge daraus gemacht. Das mag alles stimmen.

Einige unserer Freunde meinen, wir hätten unser Verhältnis zuden Gewerkschaften strapaziert, das kann man auch umgekehrt se-hen, womit ich nicht die Gewerkschaften meine. Ich habe auf demMetallkongreß mitten im Wahlkampf in Bremen gesagt,13 daß es sichhier nicht darum handeln kann, daß der eine vor dem anderenkuscht, daß der eine der Gefangene des anderen ist. Aber ich fügeebenso offen hinzu: Das sind keine Formeln, die weit über eine mo-mentane Situation hinaus tragen, sondern da fängt das Problem erstan. Eine Partei unseres Typs mit ihrer Geschichte, die weitgehendidentisch ist mit der der Gewerkschaft, muß zwangsläufig auch bereitsein, auf sich einwirken zu lassen, durch prononcierte, zuweilen übereigene Programme hinausgehende Interessenforderungen dieser gro-ßen Gruppe der Arbeitnehmer, durch prononcierte Auffassungennicht nur zur Sozialpolitik und zum Arbeitsschutz, sondern auch zurWirtschaftspolitik. Das ist doch klar. Aber was die eigentlicheStaatspolitik angeht, dabei kann es keine doppelten Loyalitäten vonMitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geben.Das ist das Problem, dafür müssen wir die Formen finden, da müssenwir zusätzliche Kontakte, ernste Aussprachen finden.

Die künftige Politik der Partei ergibt sich aus dem GodesbergerProgramm, aus den Vorschlägen der sozialdemokratischen Regie-rungsmannschaft und aus dem Auftrag von 40 Prozent der bundes-deutschen Wähler. Im Vordergrund wird stehen die eigene Initiative

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entsprechend unserer eigenen Verantwortung, unserer eigenenÜberzeugung. Das bedeutet: Die Sozialdemokratische Partei hatte einRegierungsprogramm entwickelt, das ein Ergebnis langer sorgfältigerArbeit gewesen ist, und das war orientiert an dem, was notwendig ist,und an dem, was möglich ist. Und das, was nötig und was möglich ist,das gilt heute genauso wie bis zum 19. September [1965]. Mit anderenWorten: die SPD wird ihr konstruktives Programm dem der gegen siegebildeten Regierung gegenüberstellen. Und wir werden die gegenuns gebildete Regierung zwingen, sich mit unseren Forderungenauseinanderzusetzen, und wir werden ohne Illusionen versuchen,unseren eigenen Forderungen Geltung zu verschaffen.

Gewachsene Verantwortung

Die SPD, davon bin ich überzeugt, begreift ihre gewachsene Verant-wortung. Und es wird schnell deutlich werden, daß sie im Bundestag– aber auch mit gewachsenem Gewicht im Bundesrat – die solideAlternative ist zu einer Koalition, die ihre tiefen Meinungsverschie-denheiten durch Formeln verkleistert, ohne damit die Meinungsver-schiedenheiten auszuräumen. Nichts braucht zurückgenommen zuwerden von dem, was wir im Wahlkampf vertreten haben. Die Sorgevor der Erstarrung der deutschen Teilung ist nur zu berechtigt. DieSorge vor dem Zurückbleiben der Bundesrepublik Deutschland hinterder internationalen Entwicklung, auch die Sorge vor einer Isolierungder Bundesrepublik Deutschland, die ist nach dem tragikomischenGezerre um die Koalitionsbildung in Bonn begründeter denn je.

Die Regierungsparteien haben sich offenbar noch nicht rechtklargemacht, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Sie verstehen bis-her nur die einfacheren Rechenkunststücke. Anders ist es nicht zuerklären, daß sie glauben, über ein Sachprogramm sich verständigenzu können, ohne mit der SPD geredet zu haben. Entweder CDU/CSUund FDP klammern wichtige Sachfragen aus ihrem Sachprogrammaus, Sachfragen wie die Finanzreform oder wie die Sicherung derGrundrechte in Krisenzeiten, Sachfragen, zu denen Verfassungsän-derungen erforderlich sind. Wenn sie aber diese Fragen oder auch

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wichtige Vorhaben wie die Sanierung der beiden größten Bundes-betriebe, Bundesbahn und Bundespost, in den nächsten Jahren lösenwollen, dann können sie das nicht ohne die SPD, und sie können esnicht gegen die SPD. Solange in diesen Punkten keine Überein-stimmung mit der SPD existiert, ist das Programm der Koalitions-partner zu diesen Punkten der deutschen Politik nicht das Papierwert, auf dem es aufgeschrieben wurde.

Die SPD trägt ihre Verantwortung für unsere deutsche Zukunft.Aber sie wird nicht das Feigenblatt sein, das die Schwäche der Koali-tion verdeckt. Für mich steht fest, daß das Godesberger Grundsatz-programm unumstritten ist, für mich steht fest, daß unsere Sach-programme für die praktische Politik in der Partei im wesentlichenunumstritten sind, so sehr sie auch weiterentwickelt werden müssen.Für mich steht fest, daß wir die lebendige Meinungsbildung zu einerVielzahl der aufgeworfenen Fragen des Wahlkampfs brauchen, aberfür mich steht auch fest, daß alle schließlich innerhalb und außerhalbder Partei zur Kenntnis nehmen werden, daß die Führung dieser Parteifest gefügt ist und sich nicht auseinander manövrieren lassen wird!

Nr. 61Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Schriftsteller Grass21. Oktober 19651

AdsD,WBA, A 6, 48/49 (alt).

Lieber Herr Grass,erst nach unserem letzten Beisammensein in der Menzelstrasse2 habeich Ihre Darmstädter Rede3 nachlesen können. Ich möchte Ihnenaufrichtigst danken für den Nachdruck, den Sie Ihrem staatsbürger-lichen Engagement verliehen und für die kraftvolle Hilfe, die Sie mirgewährt haben.

372 Brandt an Grass, 21. Okt. 1965

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Mit Karl Schiller habe ich gesprochen. Er ist bereit, für denKontakt zwischen SPD und Schriftstellern verantwortlich zu zeich-nen. Ich habe ihm von Ihrer Bereitschaft berichtet, in einem Kreisführender Sozialdemokraten über Ihre Wahlkampf-Erfahrungen zuberichten.

Schiller hatte ohnehin vor, die Teilnehmer am Wahlkontor4 zueinem Vortrag zu bitten. Er will es so einrichten, dass ich daran teil-nehmen kann.

Weiter nachdenken sollten wir über einen „Beirat Kunst“ beimVorstand der SPD.Mit herzl[ichen] GrüssenIhr

Nr. 62Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an das Mitglied des SPD-Parteivorstands Schmidt25. Oktober 1965

AdsD,WBA, A 6, 48/49 (alt).

Lieber Helmut,am vergangenen Dienstag hatte ich Dir in der Fraktion schon kurzsagen können, daß ich mich über Deinen Brief aus New York-Ham-burg sehr gefreut habe.1 Es ist gut, bestätigt zu finden, daß sich unsereZusammenarbeit auf eine so freundschaftliche Gesinnung stützenkann.

Als wir uns auf dem Frankfurter Flughafen trafen, war ich aufdem Wege nach Südfrankreich. Dort war es sehr schön, nur war dieachttägige Unterbrechung etwas zu kurz. Trotzdem ist es jetzt sehrviel leichter, die Überlegungen über die zukünftigen Aufgaben inBerlin und im Vorsitz der Partei zu ordnen. An Arbeit wird es auchweiterhin nicht fehlen. Vielleicht gelingt es mir, mich aus dem

373 Brandt an H. Schmidt, 25. Okt. 1965

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Kommentieren der Tagesereignisse weitgehend herauszuhalten unddadurch etwas mehr Kraft aufwenden zu können für die langfristigenAufgaben.

Da ich schon beim Schreiben bin: Für Dich wird es sehr daraufankommen, daß Du Dich nicht übernimmst und vor wichtigenEntscheidungen den Rat guter Freunde hörst.2 Zögere bitte nicht,Dich an mich zu wenden, wenn immer Du es für zweckmäßighältst.

Über die Schlachtordnung für 1969 sollten wir nicht zu frühentscheiden. Ich habe gewisse Vorstellungen über das Verfahren, unddarüber werden wir wohl auch im Vorstand sprechen müssen.Mit nochmaligem Dank und guten GrüßenDein

Nr. 63Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Chefredakteur des SFB, Walden18. November 19651

AdsD,WBA, A 6, 49 (alt).

Sehr geehrter Herr Walden,haben Sie herzlichen Dank für die klare und noble Haltung, mit derSie in Ihrer „Quick“-Kolumne einen besonderen Aspekt der letztenBundestagswahl behandelt haben.2

Selbst würde ich in doppelter Hinsicht nicht so weit gehen. Ichbetrachte die Emigration und die Aktivität draußen nicht als einVerdienst und möchte daraus nicht nachträglich einen Maßstab fürdas Verhalten anderer ableiten.3 Das würde der Aussöhnung in un-serem Volk nicht zuträglich sein. Mir reicht der Respekt, auf den ich– mit anderen – Anspruch habe. Außerdem würde es nicht schaden,wenn die Ahnungslosen erführen, daß mancher auch draußen böse

374 Brandt an Walden, 18. Nov. 1965

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Zeiten durchgemacht und mehr als einmal das Leben aufs Spiel ge-setzt hat.

Andererseits glaube ich nicht, daß in den Reihen meiner politi-schen Freunde eine nennenswerte Neigung besteht, der von Ihnenvermuteten „Legende einer Niederlage“ anzuhängen.4 Ich kann Ih-nen nur sagen, daß ich erschrocken war, als ich – in diesem Umfangerst nach dem 19. September [1965]5 – erfuhr, was sich tatsächlich ineiner Vielzahl von Wahlkreisen zugetragen hat. Einer meiner Mit-arbeiter stellt das gerade zusammen. Ohne über eine volle Übersichtzu verfügen, habe ich meinen Freunden in den Tagen nach derWahl gesagt, sie hätten für mich viel mittragen müssen, und ichkönnte leider nicht wissen, ob meine eigenen Anstrengungen nichtdurch die Wirkungen der Dreck-Kampagne aufgewogen wordenseien.Mit freundlichen GrüßenIhrgez[eichnet] W[illy] B[randt]

Nr. 64Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Vorsitzenden der IG Metall, Brenner25. März 19661

AdsD,WBA, A 11 (Allgemeine Korrespondenz), 29.

Lieber Otto,In Deinem Bergneustädter Diskussionsbeitrag Ende Januar [1966]hast Du einige wichtige Fragen angeschnitten, die das Verhältniszwischen Partei und Gewerkschaften bzw. zwischen Parteiführungund sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern betreffen.2 Ichmöchte endlich auf die Niederschrift dieses Beitrages eingehen, willaber sowohl die historischen wie die aktuell-politischen Punkte au-

375 Brandt an Brenner, 25. März 1966

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ßen vor lassen und beschränke mich deshalb auf folgende Be-merkungen bzw. Vorschläge:

1. Du stellst fest, daß es am 19. September 1965 nicht gelungensei, „das Reservoir an Arbeitnehmerstimmen für die SPD ganz auszu-schöpfen“ und sagst weiter: „Dabei wurde deutlich, daß die Parteidort besonders viel Arbeitnehmerstimmen für sich gewinnenkonnte, wo der Wahlkampf in enger Zusammenarbeit mit sozial-demokratischen Gewerkschaftsfunktionären geführt wurde. Umge-kehrt kann man daraus aber auch die Schlußfolgerung ziehen, daßdas Verhältnis zwischen der sozialdemokratischen Parteiorganisa-tion und den sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionärennicht im ganzen Bundesgebiet so gut ist, wie es sein sollte.“

Dieser Analyse würde ich nicht generell widersprechen wollen.Im Gegenteil, ich habe selbst – vor allem an Rhein und Ruhr – sehrschöne Beweise der von Dir erwähnten Zusammenarbeit erlebt.Trotzdem möchte ich zwei Erwägungen für die weitere Diskussionvorgemerkt wissen:

a) Es gibt leider auch Beispiele dafür, daß sozialdemokratischeGewerkschaftsfunktionäre sich vom Bundestagswahlkampf fern-gehalten oder durch ihr Verhalten sogar Bemühungen der Partei be-hindert haben.

b) Es muß weiter als eine Tatsache gelten, daß „die Gewerk-schaften“ von einem großen Teil der Bevölkerung, auch der arbeit-nehmenden Bevölkerung ungerecht beurteilt werden und daß dieseungerechte Beurteilung bis zu einem gewissen Grade auf die Parteiübertragen worden ist.

2. Du bemängelst zu Recht, daß die Verbindungen nicht nurauf betrieblicher, lokaler und regionaler Ebene zu wünschen übriglassen, sondern auch „zwischen dem Parteivorstand und den Ge-werkschaftsvorständen“. Du sagst weiter, bei einer nüchternen Prü-fung der Tatsachen müsse man feststellen, „daß es vielfach zu einergewissen Entfremdung und zu einer ganzen Reihe von Spannungenzwischen SPD und Gewerkschaften gekommen ist, und daß sichdiese auf die Arbeit sowohl der Partei als auch der Gewerkschaftenauswirken“.

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Nun sind wir ja dabei – nicht zuletzt in Anknüpfung an dieUnterhaltung, die wir nach der Bundestagswahl hatten –, „Spitzen-gespräche“ regelmäßiger und substantieller zu führen.3 Wir solltenjedoch nicht von der Vorstellung ausgehen, als handele es sich umzwei Gruppierungen, die einander gegenüberstehen. In den Füh-rungsgremien der Partei bemühen wir uns immer wieder, die Ent-wicklung in den Griff zu bekommen und richtige Antworten aufneue Fragen zu finden. In den Reihen der sozialdemokratischen Ge-werkschaftsführer gibt es neben den gemeinsamen Überzeugungennatürlich auch manche unterschiedliche Beurteilung. Es wäre alsogut, wenn wir davon ausgingen, daß Sozialdemokraten, die an ver-schiedenen Stellen eine wichtige Verantwortung tragen, ihre Auf-fassungen aufeinander abzustimmen haben, wenn sie ihrer Ver-pflichtung gerecht werden wollen. Für mich ist klar, daß dies aufdem Boden des gegenseitigen Respekts und der Achtung vorein-ander zu geschehen hat.

3. Du gehst davon aus, daß es „im Zeichen der Entwicklungder SPD von einer reinen Arbeitnehmerpartei zur Volkspartei“ imgewerkschaftlichen Bereich zu Spannungen gekommen sei, denndiese Entwicklung sei „zwangsläufig mit vermehrten Bemühungender Partei in sozialen Schichten außerhalb der Arbeitnehmerschaftverbunden“. Du sprichst von den „an sich sehr verständlichen undbegrüßenswerten Bemühungen der Partei, neue Wählerschichtenzu erobern“, die jedoch mit der Gefahr verbunden sei, „daß füreinen großen Teil der Arbeitnehmer das politische Profil der Parteiundeutlich wurde“: „Man konnte den Wandel, der mit dem Godes-berger Programm im Jahre 1959 begann, nicht so recht begreifen.“An anderer Stelle sagst Du, es sei „einfach unverkennbar, daß dieTaktik der Partei sich von der offenen Identifizierung mit derPolitik der Gewerkschaften im einzelnen immer weiter entfernthat“.

Dieser Interpretation kann ich im wesentlichen nicht folgen,und zwar aus folgenden Gründen:

a) Die Entwicklung „von einer reinen Arbeiternehmerparteizur Volkspartei“ ist nicht durch das Godesberger Programm ausgelöst

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worden, sondern mit dieser Problematik hat es die Partei seit AugustBebels Tagen zu tun.4

b) Das Godesberger Programm läßt es aus der Sicht der moder-nen Sozialdemokratie an der Identifizierung mit der Arbeitnehmer-schaft und an einer politischen Würdigung der Gewerkschaften be-stimmt nicht fehlen.

c) Eine Identifizierung mit der „Politik der Gewerkschaften“stößt dann auf Schwierigkeiten, wenn diese mit der „Politik der Par-tei“ nicht auf einen Nenner zu bringen ist.

4. Du beschäftigst Dich dankenswerterweise mit der Arbeitunserer Betriebsgruppen und verweist auf den Beschluß des Stutt-garter Parteitages vom Mai 19585 sowie auf die Richtlinien vomFrühjahr 19596.

Es ist nicht zu bestreiten, daß unsere Betriebsgruppenarbeit – wieall unsere Arbeit – immer wieder kritisch überprüft werden muß. Duhast sicher Recht mit der Feststellung, daß unsere Betriebsgruppenvielfach nur dort und dann Aktivität entfalteten: „wenn unsere Geg-ner mit Erfolg sozialdemokratische Positionen im Betrieb gefähr-deten“. Du merkst auch an, „daß die Betriebsgruppenarbeit, wenn sienicht behutsam geführt wird, sogar Konflikte mit den Gewerk-schaften auslösen kann“.

Kritische Hinweise gibst Du im Hinblick auf die Sozialen Ar-beitsgemeinschaften, die nur in einigen Bereichen funktionieren.Deine Bedenken beziehen sich insbesondere darauf, daß bestehendeSAGs „als ein Instrument der Partei benutzt werden und sich nicht zuGremien entwickelt haben, in denen sozialdemokratische Gewerk-schaftsfunktionäre und Parteifunktionäre gemeinsam Aufgaben undMeinungen diskutieren“. Du sprichst von einer „Einbahnstraße ohneGegenverkehr“.

Zunächst möchte ich darum bitten, daß Du Dir die „Richtlinienfür die Betriebsgruppenarbeit“, die ich als Anlage beifüge, noch ein-mal ansiehst.

Zum anderen wäre es erforderlich, daß die überwiegend positivenErfahrungen, die wir mit unseren Arbeitnehmertagungen gemachthaben, in den Kreis dieser Betrachtungen mit einbezogen werden.

378 Brandt an Brenner, 25. März 1966

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In diesem Zusammenhang sollten wir auch nicht ganz übersehen,daß in manchen Gebieten einzelne Gewerkschaftsgruppen versuchen,ihre Vorstellungen von der Politik der Partei durchzusetzen – undzwar nicht als Einzelmitglieder der SPD, sondern als Vertreter von au-ßerhalb der Parteidiskussion erarbeiteter Meinungen.

Ich möchte vorschlagen, daß eine besondere Besprechung bzw.Konferenz vorbereitet wird, um über unsere Betriebsgruppenarbeitund über die Weiterentwicklung bzw. Neubelebung der SAGs zu be-raten. Es wird kaum möglich sein, dies mit angemessener Vorberei-tung noch vor dem Dortmunder Parteitag zu tun; aber es sollte einTermin kurz nach den Sommerferien in Aussicht genommen wer-den.

Es wäre jedoch gut, wenn Du selbst und/oder andere Freunde andem Arbeitskreis III des Parteitages teilnehmen könnten.7 Ich hieltees für erwünscht, daß die Thematik des Arbeitskreises durch einigequalifizierte Beiträge zu dem hier erörterten Gegenstand bereichertwerden würde.

5. Der entscheidende Punkt ist für mich Deine Feststellung,„daß es in unserem eigenen Interesse zu den wichtigsten Aufgabengehört, das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Partei zu ver-bessern“.

Neben den „Spitzengesprächen“ sollten wir für die angeregteKonferenz bzw. auch schon für den Dortmunder Parteitag ein-vernehmlich an praktikablen Vorschlägen für die SAGs auf zentralerund regionaler Ebene arbeiten.

Bleibt die wichtige Frage, wie wir zu einer institutionellenVerzahnung gelangen können, damit mehr führende sozialdemo-kratische Gewerkschafter in die Beratungen und Entscheidungender Parteiführung einbezogen werden. Meine Erwägung, dies so zutun, daß die zentralen SAG das satzungsmäßige Recht erhielte,mehrere Vertreter in den Parteirat zu entsenden, begegnet von derSystematik her gewissen Schwierigkeiten. Eine entsprechendeForm könnte dann auch von anderen Arbeitsgemeinschaften ge-fordert werden, selbst wenn diese ein erheblich geringeres Gewichthätten. Der Organisationsausschuß beim Parteivorstand ist beauf-

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tragt worden, die Fragen zu erörtern und einen Vorschlag ein-zureichen.

Diese meine Stellungnahme ersetzt natürlich nicht eine einge-hendere Behandlung der von Dir aufgeworfenen Fragen.8

Mit freundlichen Grüßen(Willy Brandt)

Nr. 65Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an die Mitglieder der SPDMai 19661

AdsD,WBA, A 3, 232.

Liebe Freunde,niemand kann sagen, ob es zu „Chemnitz und Hannover“ kommenwird.2 Das Thema der Konfrontation, des offenen und öffentlichenAustausches von Meinungen und Argumenten, wird jedoch nichtmehr von der Tagesordnung der deutschen Politik verschwinden.Dank der Haltung der Mitgliedschaft der SPD wurde es möglich, dasfreie Wort im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zur Geltung zubringen. Ich möchte mit diesen Zeilen einmal die Leitlinien für dieAuseinandersetzung deutlich machen und einige Hinweise geben,die von allen Gliederungen und Mitgliedern unserer Partei zu be-achten sind.

Die SPD wird die innerdeutsche Auseinandersetzung offensivweiterführen, auch wenn die Führung der kommunistischen SED aufZeitgewinn spekuliert oder sich überhaupt drücken will. Dabei kannes nicht auf einen bestimmten Monat ankommen. Entscheidendkommt es auf unsere selbstbewußte Bereitschaft [an], stellvertretendfür alle demokratischen Kräfte, die deutschen Lebensfragen vor denOhren und Augen des ganzen Volkes zu erörtern.

380 Brandt an die Mitglieder der SPD, Mai 1966

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Nur dadurchzwingen wir die SED, in den Kernfragen der deutschen Politik

Farbe zu bekennen, erkunden wir, wie weit den Menschen im geteil-ten Land geholfen werden kann, eine Aufgabe, die den Deutschenniemand abnehmen kann, können wir ohne Illusionen auch weiter-reichende Entwicklungen positiv beeinflussen.Für diese Politik

müssen die demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik in denentscheidenden Fragen zusammenwirken,

dürfen wir uns nicht von dem Kernthema abbringen lassen: dasLeben in unserem bis auf weiteres geteilten Land leichter zu machen,

müssen wir uns freihalten von Wunschdenken; denn wenn es zuden öffentlichen Veranstaltungen kommt, wird dadurch weder dieMauer in Berlin fallen oder gar die Teilung Deutschlands beendet sein.

Aber im Interesse der Menschen gilt es, jede Möglichkeit derKonfrontation und des Ringens um Erleichterungen wahrzunehmen,auch wenn der Erfolg vorher nicht sicher ist.

Für unsere Partei kommt es bei einer solchen Politik entschei-dend darauf an, die erforderliche Einheitlichkeit und Geschlossen-heit zu wahren. Für uns gibt es keinen Ersatz für die zentrale Kon-frontation.

Versuche der SED, auf Gespräche und Kontakte auf lokaler undregionaler Ebene auszuweichen, müssen wie bisher einheitlich undeindeutig zurückgewiesen werden. Die SPD ist weiterhin für kom-munistische Anbiederungsversuche oder Volksfrontmanöver nichtzu haben.

Wer für die Konfrontation ist, muß die Subversion bekämpfen.Die kommunistische Subversion, das heißt die Durchdringung derSPD-Basis, soll die SPD unfähig zur Konfrontation machen.

Die Bilanz der bisherigen Auseinandersetzung zeigt: Wir habenim In- und Ausland ein ungewöhnliches, ganz überwiegend positivesEcho gefunden. Im Ausland wird wieder über Deutschland gespro-chen, in der Zone sind unsere Fragen verstanden worden,3 in derBundesrepublik wird das Zusammenwirken der Parteien auf eineProbe gestellt.

381 Brandt an die Mitglieder der SPD, Mai 1966

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Mit unserer Initiative nehmen wir der Bundesregierung nichtdie Verantwortung ab. Und dennoch: Wenn es um Deutschland geht,sind die Sozialdemokraten unentbehrlich.

Wir werden uns nicht beirren lassen. Wir werden kleinlicheEinwände zurückweisen und gehässige Angriffe abwehren. Wir wer-den auf dem als richtig erkannten Weg weitergehen. Dafür erbitteich die Unterstützung und das einheitliche Verhalten der Mitgliederunserer Partei.Mit den besten Grüßen<Willy Brandt>4

Nr. 66Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an die Mitglieder der SPD15. Juli 19661

AdsD,WBA, A 3, 236.

Liebe Freunde,nachdem die für den 14. und 21. Juli [1966] vereinbarten Versamm-lungen in Chemnitz und Hannover durch die Absage der SED-Füh-rung unmöglich gemacht worden sind, ergibt sich für die SPD dieseNotwendigkeit: Es muß den Kommunisten unmöglich gemacht wer-den, ihr eigenes Ausweichen vor der direkten öffentlichen Dis-kussion hinter Ausflüchten und Täuschungsmanövern zu ver-stecken.

Der Parteivorstand hat sich in seiner Sitzung am 15. Juli [1966]mit der Situation befaßt.2 Er ist entschlossen, die mit der OffenenAntwort der SPD vom 18. März 1966 begonnene Aktion fortzu-führen.3 Der einstimmig gefaßte Beschluß des Dortmunder Partei-tags ist die eindeutige Richtlinie. Der Wortlaut dieses Beschlusses

382 Brandt an die Mitglieder der SPD, 15. Juli 1966

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wird hiermit allen Mitgliedern unserer Partei in Erinnerung ge-bracht:

„Der Parteitag begrüßt die durch den Vorstand eingeleiteteoffene Auseinandersetzung mit der kommunistischen SEDund erklärt sich einverstanden mit den Offenen Antwortenvom 18. März und 15. April 1966.Der Parteitag fordert den Vorstand auf, seine Bemühungenfortzusetzen, um vor den Menschen in ganz Deutschlandden Austausch von Argumenten über die Kernfragen derdeutschen Politik in Gang zu bringen und den Menschen imgespaltenen Deutschland das Leben leichter zu machen.“4

Der Parteivorstand dankt den Mitgliedern der SPD für die Ein-sicht und Disziplin, mit der sie in den vergangenen Monaten ent-scheidend zu dem bisherigen Erfolg der offenen Auseinandersetzungbeigetragen haben. Die SPD kann stolz darauf sein, daß das politischeVerantwortungsbewußtsein ihrer Mitglieder dem wirksamen Han-deln des Parteivorstandes die notwendige einheitliche und klareGrundlage gegeben hat.

Der Parteivorstand erwartet von allen Mitgliedern der SPD, daßsie weiterhin aktiv und solidarisch im Sinne dieses Beschlusses denParteivorstand bei der Fortführung der Aktion unterstützen.

Der Führung der SED muß und wird durch die politische Ge-schlossenheit der SPD deutlich gemacht werden, daß es vergeblicheMühe sein wird, sich durch ihre Sendboten an Ortsvereine, Unterbe-zirks- und Bezirksvorstände und überhaupt an Mitglieder der SPDheranzumachen, um durch Infiltration die verweigerte öffentlicheKonfrontation mit der Führung der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands zu umgehen.

Folgende Tatsachen dürfen nicht vernebelt werden:1. Die SED hat sich vor der offenen und öffentlichen Ausein-

andersetzung mit der Führung der SPD nun wiederholt gedrückt.Ende März hat die SED die Einladung abgelehnt, sich an einer un-beschränkten Fernsehdiskussion zu beteiligen. Dann hielt dieSED-Führung die für Mai vorgeschlagenen Versammlungstermine(Chemnitz und Hannover) nicht für opportun. Sie hat sich schließ-

383 Brandt an die Mitglieder der SPD, 15. Juli 1966

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lich mit immer neuen Vorbedingungen vor den zwischen den Beauf-tragten beider Seiten in aller Form vereinbarten Juli-Terminen ge-drückt. Einen erneuten Versuch, dann wenigstens zur öffentlichenFernsehdiskussion zu kommen, hat die SED-Führung wiederum mitfadenscheinigen Gründen abgelehnt.

2. Die SED-Leute reden jetzt von einer „zweiten Phase“ undmeinen damit die einseitig gesteuerte kommunistische Tätigkeit inder Bundesrepublik Deutschland und insbesondere in den Organisa-tionseinheiten unserer Partei. Sie sagen jetzt offen, es müsse zu vielenkleinen Veranstaltungen in der Bundesrepublik kommen. Sie versu-chen bereits, auf anderen Ebenen der Partei Kontakte zu finden und„Gespräche“ mit Sozialdemokraten einzuleiten. Die Kommunistenhaben selbst nach dem Dortmunder Parteitag noch nicht begriffen,daß man die SPD nicht auseinanderdividieren kann.

Trotz alledem wird sich die SED nicht der Konfrontation mit unsund unseren Argumenten entziehen können, auch wenn sie sich nochso sehr in alten Positionen des Kalten Krieges festzukrallen versucht.Das Rad läßt sich nicht mehr zurückdrehen. Das Rad wird auch nichtso laufen, wie sich das die Kommunisten ausgedacht haben.

In dieser Situation möchte ich allen Sozialdemokraten sagen,daß es für uns gegen alle derartigen Manöver nur ein klares Nein ge-ben kann. Es gibt keinen Ersatz für die zentrale Konfrontation. JedemMitglied muß klar sein, daß ein anderes Verhalten einen Verstoß ge-gen die Parteitagsbeschlüsse von Dortmund darstellt und daß dies alseine Desavouierung der Partei und der von ihr konsequent verfolgtenPolitik betrachtet und behandelt werden muß. Bei aller verständli-chen Ungeduld gerade auch junger politischer Menschen angesichtsder Spaltung unseres Landes kommt es darauf an, die ganze Kraft derSozialdemokratie als einheitlich handelnde politische Willensge-meinschaft und damit das Gewicht des freien Teils Deutschlandseinzusetzen. Die Konfrontation erfordert die Geschlossenheit derPartei, sie erfordert – soll sie erfolgreich sein – das Vertrauen in dieFührung der SPD.

Im Einvernehmen mit dem Parteipräsidium haben Jung-sozialisten und Falken Vorschläge für eine Neufassung der „Richtli-

384 Brandt an die Mitglieder der SPD, 15. Juli 1966

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nien für Ostkontakte“5 entworfen. Erste Besprechungen mit den Lan-des- und Bezirksgeschäftsführern sowie dem Ausschuß für Organisa-tions- und Beitragsfragen fanden darüber dieser Tage statt.Wir wollenunserer Organisation und allen Mitgliedern klare Richtlinien an dieHand geben, die einerseits die Begegnung von Menschen aus Ost undWest – einschließlich der wirtschaftlichen und kulturellen Kommu-nikation – fördern und andererseits den Mißbrauch von Begegnungengerade in dieser Phase der Konfrontation ausschließen helfen.

Unsere Partei wird den eingeschlagenen Weg weitergehen. Siewird vor den Menschen in ganz Deutschland den offenen und öffent-lichen Austausch von Argumenten über die Kernfragen der deutschenPolitik vertiefen. Wir werden weiterhin Möglichkeiten zum Handelnsuchen und nutzen. Wir Sozialdemokraten werden uns von nie-mandem beirren lassen, den als richtig erkannten Weg fortzusetzen.

„Aller Anfang ist schwer“, hatte die SED in einem ihrer „Briefe“gemeint. Mit „Initiative und Geduld“ – so hatten wir den Ball aufge-fangen – wird doch manches in Gang zu bringen sein, das schließlichdazu beitragen wird, den Menschen im gespaltenen Deutschland dasLeben unddasZusammenkommen leichter zumachen.6 Zudiesem Zielsoll und wird uns Sozialdemokraten keine Anstrengung zu groß sein.

Ich vertraue auf die Solidarität aller Sozialdemokraten, die zumErfolg führen wird.Mit freundlichem Gruß<Willy Brandt>7

385 Brandt an die Mitglieder der SPD, 15. Juli 1966

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Nr. 67Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für den Parlamentarisch-Politischen Pressedienst3. November 19661

Parlamentarisch-Politischer Pressedienst, Nr. 212/66 vom3. November 1966.

In der SPD: Jugend in die Verantwortung

PPP: Die Aufgaben, die der Führung einer Partei von der Größe undder Bedeutung der SPD erwachsen, sind so umfassend geworden, daßsich in zunehmendem Maße die Frage stellt, ob die jetzige Organisa-tion noch den gewachsenen Erfordernissen entspricht. Halten Siediese Frage für berechtigt, Herr Brandt?Willy Brandt: Natürlich unterliegt jede Organisation, auch die Orga-nisation einer Partei wie der SPD ständig der prüfenden Kontrolle, obsie so funktioniert, daß sie den ihr zugewiesenen Aufgaben voll ge-recht werden kann. Das Organisations-Skelett und das Organisations-Schema der SPD, die beide durch Jahrzehnte gewachsen sind, habensich aber im Prinzip bewährt, so daß ich im Augenblick keine Not-wendigkeit sehe, hier wesentliche Änderungsvorschläge erarbeitenzu lassen und sie dann den Führungsgremien meiner Partei vor-zulegen. Wenn es sich als erforderlich erweisen sollte, diese Partei-organisation den Erfordernissen einer modernen Massenorganisationnoch mehr anzupassen, wird das aber zweifellos geschehen. So hatunsere große Mitgliederpartei auch erhebliche Verwaltungsaufgabenzu bewältigen. Dafür haben wir noch nicht die Formen gefunden, dieauf der Höhe der Zeit sind. Bei der Einführung von Verbesserungenwürde ich mich vor allem auch auf die Erfahrungen und Ratschlägedes stellv[ertretenden] Parteivorsitzenden Herbert Wehner und un-seres Bundesschatzmeisters Alfred Nau stützen.PPP: Wenn also der Apparat als solcher im Prinzip gut durch-organisiert ist und daher auch recht gut arbeitet, so bleibt doch dieFrage nach den Menschen. Dazu eine ganz direkte Frage: Glauben Sie,

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Herr Brandt, daß die Führungsspitze Ihrer Partei, so, wie sie heute istund sich darstellt, ausreicht oder, besser gefragt, die anfallende Arbeittatsächlich noch bewältigen kann?Willy Brandt: Nein, das läßt sich nicht einfach positiv beantworten.Das hat, und diese Beteuerung braucht es faktisch gar nicht, nichtsmit den erprobten und erwiesenen Fähigkeiten der einzelnen Mit-glieder dieser Führungsspitze meiner Partei zu tun. Aber Sie sprachenvorhin schon selbst von den gewachsenen Erfordernissen oder Auf-gaben, denen sich die SPD gegenübersieht, als der Gemeinschaft von730.000 aktiven Parteimitgliedern und als der Partei, die im Bundes-tag und in den Ländern eine entscheidende Rolle spielt und in Tau-senden von Gemeinden Verantwortung trägt. An dieser Unsummevon Aufgaben, Pflichten, Verpflichtungen und auch Rechten ge-messen, ist die heutige Führungsspitze der Gesamt-SPD zu schmal.Die bedauerliche Tatsache, daß der stellv[ertretende] Parteivor-sitzende und Bundestags-Fraktionsvorsitzende Fritz Erler wegenKrankheit seit einiger Zeit ausgefallen ist und leider auch noch einigeZeit der aktiven Parteiarbeit fernbleiben muß, berührt diese Er-wägung nicht. Auch dann, wenn Fritz Erler wieder an unserer tägli-chen Arbeit teilnehmen kann, werden wir uns über eine Verbreite-rung der Spitze Gedanken zu machen haben. Die Aufgaben des Ge-schäftsführenden Vorstandes werden bei uns durch das zehnköpfigePräsidium wahrgenommen.2 Aber die Mitglieder des Präsidiums ha-ben natürlich eine Fülle sonstiger Arbeiten und Verpflichtungen.PPP: Wenn dem so ist, Herr Brandt, würde eine angestrebte Änderungdieser Situation nicht doch auf eine Organisations-Korrektur hi-nauslaufen müssen?Willy Brandt: Nein, die Konstruktion der Führungsspitze brauchtnicht umgemodelt werden. Notwendig ist eine Verbreiterung desunmittelbar unter der Führungsspitze stehenden personellen „Un-terbaus“. Nicht nur die drei Vorsitzenden, aber vor allem sie, müssensich auf eine Gruppe fähiger und tatkräftiger Mitarbeiter der jün-geren Generation abstützen können. Daneben liegt es im Interesseunserer Arbeit und des Führungsauftrages unseres Parteivorstandes,daß eine Anzahl von jüngeren Politikern, die ihre Sporen verdient

387 Interview für den Parlamentarisch-Politischen Pressedienst, 3. Nov. 1966

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und sich in ihrem Bereich als ideenreiche und in ihrer täglichen Ar-beit tüchtige Führungspersönlichkeiten erwiesen haben, mehr Ver-antwortung für die Formulierung der sozialdemokratischen Politikund für ihre Vertretung nach außen übernehmen sollten, dadurchwird sich zu gegebener Zeit auch eine sog[enannte] „Wachablösung“organisch vollziehen. Denn unter diesen jungen und jüngeren SPD-Politikern werden sich die Männer und Frauen finden, die nach undnach an die Schalthebel unserer zentralen Arbeit gelangen werden.PPP: So bestechend dieser Gedanke ist, Herr Brandt, so schwierigdürfte seine Verwirklichung sein, denn schließlich gibt es keine fes-ten Kriterien, nach denen Sie selbst oder Sie und Ihre Stellvertreteroder Sie und die Führungsgremien Ihrer Partei insgesamt die Aus-wahl der „jungen Männer im zweiten Glied“ vornehmen könnten.Vielleicht ist die Frage verfrüht, da es sich ja, wie Sie sagen, umÜberlegungen und nicht um einen Plan handelt, aber trotzdem: Wiewollen Sie Ihre Absicht personell realisieren?Willy Brandt: Natürlich nicht nach einem Schema des bürokrati-schen Aufstiegs, obwohl die Praxis und der Erfolg zwei durchaus er-hebliche Auswahl-Möglichkeiten sind. Vergessen Sie bitte nicht: DiePartei hat immer schon, aus sich heraus, die Männer und Frauen inSpitzenpositionen gebracht, die nicht nur das Vertrauen der Ge-meinschaft hinter sich wußten, sondern die auch ihre schwere Auf-gabe erfüllen konnten. Was mir jetzt zusätzlich vorschwebt, das istdas Bemühen, das diesen Prozeß auf breitere Grundlage stellt undBegabungen früher in führende Verantwortung ruft, als das vonselbst der Fall sein würde. Es geht mir um die bewußte Förderungjüngerer Führungskräfte, die sich bereits bewährt haben. Es soll einegute Chance gegeben werden, zum Nutzen der Partei und damit zumNutzen der ganzen demokratischen Gemeinschaft.

388 Interview für den Parlamentarisch-Politischen Pressedienst, 3. Nov. 1966

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Nr. 68Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Vorsitzenden der CDU und Bundeskanzler, Erhard11. November 19661

AdsD,WBA, A 11, ungeordnet.

Sehr geehrter Herr Professor Erhard,auf Grund der Beratungen der Vorstände der SPD und Ihrer Bundes-tagsfraktion möchte ich Ihnen folgendes vorschlagen:2

Die Vorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Par-teien und ihrer Fraktionen sollten zur Überwindung der Regierungs-krise so schnell wie möglich in gemeinsame Erörterungen der voneiner künftigen Regierung zu lösenden politischen Sachproblemeeintreten. Ich erlaube mir, Sie zur Aufnahme solcher gemeinsamenBeratungen einzuladen.

Ich habe Herrn Castrup gebeten, unverzüglich die erforderlichenAbsprachen mit Ihrem Büro zu treffen, um möglichst schnell dafüreinen allen Seiten passenden Termin zu vereinbaren.

Vorstand und Bundestagsfraktion der SPD haben heute eineKommission benannt, die beauftragt wurde, Verhandlungen über diemit der Bildung einer neuen Bundesregierung zusammenhängendenSachfragen zu führen.3 Dieser Kommission gehören an:

der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt,der amtierende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Herbert

Wehner,die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Dr. Alex Möller,

Prof. Dr. Karl Schiller und Helmut Schmidt.Einen Beitrag zu einigen Schwerpunkten der Innen-, Deutsch-

land- und Außenpolitik darf ich Ihnen nachreichen.Mit vorzüglicher HochachtungIhr sehr ergebenergez. Willy Brandt

389 Brandt an Erhard, 11. Nov. 1966

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Nr. 69Schreiben des Schriftstellers Grassan den Vorsitzenden der SPD, Brandt26. November 19661

AdsD,WBA, A 3, 243.

Lieber Willy Brandt,bevor es zur Grossen Koalition kommt, bevor also Sie zwischenKiesinger und Strauss den Kronzeugen einer falschen Harmoniewerden abgeben müssen, bitte ich Sie, den Vorsitzenden der SPD,einer Partei also, in die ich meine Hoffnung setzte und setze,2 nocheinmal die Folgen einer solchen Entscheidung zu bedenken.

Diese Entscheidung wird mich und viele meiner Freunde, gegenihren und meinen Willen, in eine linke Ecke drängen und zum blos-sen, obendrein politisch machtlosen Widerpart der NPD degradieren.Wie sollten wir weiterhin die SPD als Alternative verteidigen, wenndas Profil eines Willy Brandt im Proporz-Einerlei der Grossen Koali-tion nicht mehr zu erkennen sein wird?

Zwanzig Jahre verfehlte Aussenpolitik werden durch Ihr Ein-treten in eine solche Regierung bemäntelt sein. Der unheilbareStreit der CDU-CSU wird so auf die SPD übergreifen. Ihre Vor-stellung vom „Anderen Deutschland“ wird einer lähmenden Re-signation Platz machen. Die grosse und tragische Geschichte derSPD wird für Jahrzehnte ins ungefähr münden. Die allgemeineAnpassung wird endgültig das Verhalten zu Staat und Gesellschaftbestimmen. Die Jugend unseres Landes jedoch wird sich vomStaat und seiner Verfassung abkehren; sie wird sich nach linksund rechts verrennen, sobald diese miese Ehe geschlossen seinwird.

Meine kritische Sympathie Ihnen und der SozialdemokratischenPartei Deutschlands gegenüber verpflichtet mich, Ihnen diese Ge-danken mitzuteilen. Ich weiss, dass Herbert Wehner allzu rasch ge-neigt ist, im Andersdenkenden einen Neurotiker zu vermuten. Den-

390 Grass an Brandt, 26. Nov. 1966

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noch bitte ich Sie, diesen Brief der Fraktion zu verlesen. Nichts sollunversucht bleiben.<Freundliche Grüße,IhrGünter Grass>3

Nr. 70Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Schriftsteller Grass28. November 1966

AdsD,WBA, A 11, ungeordnet.

Lieber Günter Grass,Sie haben die Sorgen und Befürchtungen formuliert,1 die viele Men-schen – und nicht die schlechtesten – in unserem Land mit Ihnenteilen.

Die Große Koalition enthält Risiken. Gefühl und Wille zur Füh-rung wiesen vielen von uns einen anderen Weg. Nach sehr ernsterPrüfung auf dem Hintergrund der dürren Ziffern im Bundestag undangesichts der Aufgaben im Innern und nach außen habe ich zu demErgebnis kommen müssen, daß der andere Weg nicht gangbar war.

Wenn sich die SPD, schwer genug, zur Großen Koalition durch-ringt, gibt es alles andere als die Selbstgefälligkeit, es „endlich ge-schafft zu haben“. Wir wissen, daß wir die Zähigkeit und Kraft undNüchternheit brauchen, damit der Schritt der SPD unserem Volknützt und Ihre Sorgen nicht Wirklichkeit werden.

Es wird kein Zudecken von Versäumnissen und Fehlern undkeinen faden politischen Eintopf geben. Die Große Koalition wird zueinem Fehlschlag führen, wenn sie sich nicht deutlich von dem ab-hebt, was in die Regierungskrise geführt hat. Dies ist die begrenzte,heute mögliche Alternative zum bisherigen Trott.

391 Brandt an Grass, 28. Nov. 1966

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Die SPD wird sich messen lassen an ihren bisherigen Forde-rungen. In einer Koalition gleichwertiger Partner wird Politik erstrecht nicht gegen die SPD gemacht werden können. Sorge um daspolitische Profil Willy Brandts sollten Sie sich nicht machen.

Sie, Ihre Freunde und viele der kritischen jungen Menschendürfen sich gerade jetzt nicht in das Abseits der Resignation oder desbloßen Protestes stellen. Die demokratische Linke und unser Landwürden nicht nur ärmer, sondern auch schwächer werden. Das Ge-wissen der Sozialdemokratischen Partei schlägt nicht außerhalb die-ser Partei.

Niemand sollte den Stab brechen, solange wir nicht die Chancegehabt haben, zu beweisen, was jetzt möglich ist. Für uns ist dies einneuer Beginn. Wir werden in das neue Kapitel der deutschen Nach-kriegsgeschichte wesentlich neue Elemente einführen. Dafür werdenwir Verantwortung tragen und gerade das geistige Deutschland nichtenttäuschen.

Ich danke Ihnen für die Offenheit und Verbundenheit, die wiruns erhalten sollten.2

Freundliche GrüßeIhrgez[eichnet] W[illy] B[randt]

Nr. 71Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an die Mitglieder der SPDDezember 19661

AdsD,WBA, A 3, 244.

Liebe Freunde,die Bildung der Regierung Kiesinger-Brandt bedeutet einen wichtigenSchritt für unsere Partei. Der 1. Dezember 1966 bedeutet auch einenEinschnitt in die deutsche Nachkriegsentwicklung. Zum erstenmal

392 Brandt an die Mitglieder der SPD, Dez. 1966

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seit 36 Jahren wird die deutsche Regierung wieder durch unsere Par-tei mitgetragen. Zum erstenmal seit 1949 haben sich die Unions-parteien bereitfinden müssen, die Regierungsverantwortung mit denSozialdemokraten zu teilen.

Wir haben uns die Entscheidung über diesen Schritt nicht leichtgemacht. In langen Beratungen wurde das Für und Wider abge-wogen. Dabei ergab sich:

1. Eine handlungsfähige Bundesregierung konnte nicht mehrohne die SPD gebildet werden.

2. Falls SPD und FDP bei der Kanzlerwahl überhaupt dieMehrheit erreicht hätten, würde eine so gebildete Regierung nichtstabil genug gewesen sein, um die großen Aufgaben nach innen undaußen zu meistern.2

3. Für die große Mehrheit des Parteivorstandes, des Parteiratsund der Bundestagsfraktion stellt es sich deshalb so dar, daß zu ent-scheiden sei zwischen Verbleiben in der Opposition und Mitverant-wortung für eine auf breiter Basis gebildete Regierung. Die Entschei-dung wurde dadurch erleichtert, daß unser Sachprogramm im Mit-telpunkt der Koalitionsgespräche stand und in allen wesentlichenTeilen anerkannt wurde. Das wird sich zeigen, wenn das Programmder neuen Regierung demnächst vorliegt.

Die Regierung Kiesinger-Brandt wird ungewöhnliche Aufgabenzu meistern haben, wenn unser Volk und unser Staat nicht schwerenSchaden leiden sollen. Für die Mitglieder und Freunde unserer Parteiist dies eine ungewohnte Situation. Es ist deshalb durchaus selbst-verständlich, daß es viele besorgte Fragen und kritische Ratschlägegegeben hat.

Ich möchte mich bei allen Mitgliedern und Freunden unsererPartei für das große Interesse bedanken, mit dem sie die Bonner Be-ratungen der vergangenen Wochen begleitet haben.3 Vor allem weißich auch das Vertrauen all jener zu schätzen, die uns ermunterten,den Versuch der Regierungsbildung unter sozialdemokratischerFührung zu machen.

Seien Sie sicher: Nicht Mangel an Mut hat uns von diesem Ver-such abgehalten. Ein kalkulierbares Risiko wäre zu rechtfertigen ge-

393 Brandt an die Mitglieder der SPD, Dez. 1966

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wesen, aber ein Abenteuer durften wir weder unserer Partei nochunserem Volk zumuten.

Keine der anderen Parteien war bereit, den Weg zu Neuwahlenfreizumachen. Wir aber konnten nicht im November 1966 ohneNeuwahlen die Bundestagswahlen vom September 1965 nachträglichgewinnen. Also mußten wir das politische Gewicht, das sich aus demWählerauftrag ergibt, für die jetzt mögliche und sachlich geboteneLösung einsetzen.

Wir sind nicht in eine CDU-Regierung eingetreten, sondern wirhaben eine neue Regierung gebildet. Wir haben uns nicht der CDU-Politik angepaßt, sondern wir haben unsere Voraussetzungen füreine neue Politik formuliert. Die Bildung der neuen Regierung aufder breiten Grundlage von CDU/CSU und SPD bedeutet keine Ver-brüderung, kein Verwischen der Gegensätze, schon gar nicht einVermischen von Grundüberzeugungen.

Worum es sich handelt, ist eine Partnerschaft, um einige großeAufgaben für die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam anzu-packen. Jeder der politischen Partner trägt die Verantwortung fürdas, was er sachlich und personell in die Regierungsarbeit ein-bringt. Jede der Parteien hat sich personell und sachlich zu be-währen.

Um diese Bewährung geht es jetzt. Dabei brauchen wir geradejetzt eine aktive, lebendige Sozialdemokratische Partei.

Repräsentanten unserer Partei haben in der neuen Regierung dieVerantwortung für wichtige Arbeitsgebiete übernommen.

Darüber hinaus haben wir die Gesamtpolitik der Regierung mit-zubestimmen. Unsere Fraktion im Bundestag wird dafür sorgen, daßes an parlamentarischer Kontrolle und Lebendigkeit nicht fehlt.

Wir werden alles tun, um die Sicherheit der Arbeitsplätze unddas wirtschaftliche Wachstum zu sichern, die Gesundung der Staats-finanzen und die Reform des Verhältnisses zwischen Bund, Ländernund Gemeinden zu erreichen, die Gefahr außenpolitischer Isolierungabzuwenden und Handlungsfähigkeit für die Bundesrepublik wie-derzuerlangen und nicht zuletzt: vernünftige, wirklichkeitsnahe Ak-tivität in die gesamtdeutsche Politik einzuführen.

394 Brandt an die Mitglieder der SPD, Dez. 1966

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Liebe Freunde! Wir haben uns nicht aussuchen können, wannwir in die Regierungsverantwortung eintreten würden. Jetzt kommtes darauf an, daß wir uns nicht durcheinander bringen lassen, son-dern in Vertrauen und Einsatzbereitschaft zusammenstehen.

Meiner Überzeugung nach wird die Demokratie in Deutschlandjetzt nicht schwächer, sondern stärker werden. Die Chance für eineneue deutsche Politik durfte und darf nicht vertan werden. Für un-sere Sozialdemokratische Partei bedeutet dies eine große Anstren-gung, aber auch die große Möglichkeit, auf dem Wege des Godesber-ger Programms voranzukommen.Mit herzlichen GrüßenEuer<Willy Brandt>4

Nr. 72Broschüre über den Vorsitzenden der SPD, BrandtSeptember 19671

Vorstand der SPD (Hrsg.): Warum bin ich Sozialdemokrat, Bonn 1967.

Warum. . . bin ich Sozialdemokrat

Willy Brandt

wurde am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren. Dort hat er die Schulebesucht und sein Abitur abgelegt. Der SPD gehört er seit 1930 an.

Während der Jahre des NS-Regimes lebte Willy Brandt in Skandina-vien. Er studierte an der Universität Oslo und war vor allem journalistischtätig. Ende 1946 kam er nach Berlin. Dieser Stadt hat er über zwei Jahr-zehnte gedient: als Vertreter der SPD, als Mitglied des Bundestages, alsPräsident des Abgeordnetenhauses und seit 1957 als Regierender Bürger-meister.

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Ehrendoktorwürden und andere Auszeichnungen wurden ihm im In-und Ausland zuteil. Seit Januar 1964 ist Willy Brandt Vorsitzender derSPD, seit Dezember 1966 Bundesminister des Auswärtigen und Vize-kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Für mich war der Weg in die SPD leicht. Fast kann ich sagen, daß ichin sie hineingeboren wurde. Ich war noch sehr jung, als ich der so-zialistischen Jugendbewegung in meiner Heimatstadt Lübeck beitrat.Meine journalistische Laufbahn begann, als ich noch die Schulbankdes Johanneum drückte.

Aber es war dann doch kein einfacher Weg, den ich vor mirhatte. Nicht ohne Irrungen und Enttäuschungen habe ich mir deneigenen politischen Standort suchen müssen.

Gerade 19 Jahre alt, mußte ich erleben, wie das „TausendjährigeReich“ über Deutschland kam. Die Geschehnisse des Jahres 1933 sindmir gut im Gedächtnis geblieben. Ich habe für immer daraus dieLehre gezogen: Niemals wieder darf sich unser Volk entmündigenund verführen lassen. Ich weiß, daß heute viele dieser Erkenntniszustimmen, die damals die Dinge anders gesehen haben.

Die Jahre 1933 bis 1945 habe ich, durch das damalige Regime ausder Heimat vertrieben, überwiegend in Norwegen und Schwedenverbracht. Dadurch mußte ich auf manche Erfahrung verzichten, dieman nur in der Heimat selbst hat machen können. Andererseits wa-ren für mich die Jahre im Ausland wertvoll und lehrreich. Vor allemhabe ich in Skandinavien miterlebt, was Sozialdemokraten leistenkönnen, wenn das Volk sie in die volle politische Verantwortungruft. Beispielhaftes ist dort geleistet worden – für den sozialen Aus-gleich, die wirtschaftliche und kulturelle Entfaltung und eine be-wußte Vertiefung des demokratischen Lebens.

Über meine Lehr- und Wanderjahre sind unsinnige und bös-willige Gerüchte in Umlauf gebracht worden. Die Tatsachen wurdenvor deutschen Gerichten eindeutig geklärt, die Verleumder verurteilt.Ich habe immer auf seiten des wahren Deutschland gestanden, gegendas sich die braunen Gewalthaber so frevelhaft vergingen. Wer will,kann sich davon überzeugen.

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Titelblatt der SPD-Broschüre „Warum bin ich Sozialdemokrat?“

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Als ich in die Heimat zurückkehrte und in Berlin politischeAufgaben übernahm, waren Deutschland und seine Hauptstadt eingroßes Trümmerfeld. Die Sorge um das tägliche Brot überschattetealle unsere Gedanken Es war mein großes Glück, daß ich damals mitErnst Reuter zusammenarbeiten durfte. Er und seine sozialdemokra-tischen Freunde haben alle Herausforderungen der kommunisti-schen Machthaber zurückgewiesen und eine Trümmerwüste mitneuem Leben erfüllt.

Meine Arbeit in und für Berlin habe ich immer gesehen als einenBeitrag für die Sicherung des Friedens und für die Wiederherstellungunserer staatlichen Einheit. Diesem Ziel bleibe ich auch in meinerneuen Verantwortung als Außenminister und Stellvertreter des Bun-deskanzlers verpflichtet. In der Bundesregierung arbeite ich mitdaran, daß Wirtschaft und Finanzen wieder in Ordnung kommenund daß wir in der Außenpolitik Fortschritte machen.

Die Sozialdemokratische Partei wird sich gerade in der Regie-rungsverantwortung als die unverbrauchte und vorwärtsdrängendeKraft unseres politischen Lebens erweisen. Sie steht seit mehr als100 Jahren ein für Werte und Ideale, auf die kein Volk verzichtenkann. Und zu denen ich mich bekenne.

Nichts ist vollkommen. Auch nicht die SPD. Aber sie hat sichselbst in den dunklen Tagen der deutschen Geschichte nicht von ih-rem Weg abbringen lassen.Wir haben Irrtümer korrigieren, aber unskeiner Gesinnungslumperei schämen müssen.

Von dem ursprünglichen Auftrag der Sozialdemokratie bleibtviel zu erfüllen. Das Wort Gerechtigkeit wird noch zu klein ge-schrieben. Breite Schichten unseres Volkes fühlen sich noch vomstaatlichen Geschehen ausgeschlossen. Wir arbeiten daran, dies zuändern.

Die Politik stellt täglich neue Aufgaben. Der demokratische undsoziale Rechtsstaat ist ein dauernder Auftrag. Sozialdemokraten wer-den sich als letzte mit dem zufriedengeben, was man heute odermorgen gerade erreicht haben mag.

Es gibt für uns kein selbstgenügsames Ausruhen. Deshalb binich vor mehr als 35 Jahren Sozialdemokrat geworden. Und deshalb

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bin ich stolz, heute als Vorsitzender dieser größten deutschen Parteisprechen zu dürfen.Ihr<Willy Brandt>2

Nr. 73Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für das Mittagsmagazin des WDR15. November 19671

AdsD,WBA, A 3, 263.

Frage (Langer):Herr Minister, als eine Orientierung in der ungewohnten Landschaftder Regierungsmitverantwortung hat Herbert Wehner am Anfangdiese Bundeskonferenz bezeichnet. Sie wissen, das Echo auf dieseMitarbeit in der Regierung, also auf diesen ungewohnten Besuch inder ungewohnten Landschaft war zwiespältig,2 sowohl in den eige-nen Reihen als auch in der Öffentlichkeit, in der Wählerschaft. Mankann da wieder einmal die Wahlergebnisse in den Landes-parlamenten heranziehen.3 Nun haben Sie zum erstenmal eigentlichseit Beginn der Großen Koalition Gelegenheit gehabt, das Echo in deneigenen Reihen auf dieser bundesweiten Ebene zu testen. Wir hattenja keinen Parteitag zwischendurch. Wie ist dieses Echo Ihrer Mei-nung nach zu bezeichnen?Antwort:Es hat eine sehr sachliche Tagung hier gegeben, eine große Bereit-schaft zuzuhören und mitzudenken. An sich ist ja ganz verständlich,daß eine Partei, die lange Jahre nicht in einer Reichs- oder Bundesre-gierung beteiligt war, sich in dieser von Ihnen erwähnten und vonWehner erwähnten ungewohnten Landschaft zurechtfinden muß.Das gilt übrigens für andere auch, die sich daran gewöhnt hatten, al-

399 Interview für das WDR-Mittagsmagazin, 15. Nov. 1967

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lein zu regieren oder mit einem ganz kleinen Partner auskommen zumüssen. Ob die Landtagswahlen, die Sie auch erwähnten, soviel mitder Bundespolitik zu tun hatten, wie man häufig angenommen hat,das kann mit Sicherheit keiner sagen. Es hat hier und da auch ebenstarke landesbetonte Faktoren gegeben. Aber ich habe selbst in mei-nem Einleitungsreferat gesagt, ich gehe davon aus, daß die Mitarbeitder SPD in der Regierung der Großen Koalition bisher von den Wäh-lern nicht honoriert worden ist.4 Auf der Konferenz hat es eigentlichkeine Diskussion mehr darüber gegeben, ob es vernünftig ist, in einersolchen Regierung mitzuwirken, sondern die Diskussion hat sichganz darauf konzentriert, wie sich diese Mitarbeit gestaltet, was siebedeutet, was man tun kann und wie man die Tagespolitik einordnetin den größeren Zusammenhang sozialdemokratischer Politik.Frage:Ja, Herr Minister, in diesem Zusammenhang ist gleich der Blick in dieZukunft getan worden. Man hat schon von 1969 natürlich gespro-chen. Sie haben sich wie Herbert Wehner, wie die anderen Kollegenbereit erklärt, daß nach [19]69 möglicherweise die Große Koalition,wenn es der Wählerwille ist, fortbesteht. Was hieße ,Wählerwille‘bzw. diese Ihre Äußerung setzt eine Konstellation voraus ge-wissermaßen? Daß Sie Mitverantwortung weiter tragen wollen, istklar. Das ist eigentlich das Ziel jeder Partei. Aber was soll es genausagen? Was bringen Sie damit eigentlich indirekt zum Ausdruck,wenn sie mit der CDU möglicherweise weitermachen wollen?Antwort:Also erstmal ist das ja noch weit weg. Jetzt ist eine Menge Arbeit zutun. Dann kommt irgendwann auch einmal die Vorbereitung desWahlkampfes für 1969. Und da wird die SPD natürlich gestützt aufihre Leistung und gestützt auf das, was ihrer Meinung nach not-wendig ist, sich darum bemühen, soviel Zustimmung in der Wähler-schaft zu bekommen, daß sie die Führung übernehmen kann, daß siedie Politik eindeutiger nicht nur mitbestimmen kann. Ich habe ge-sagt, und dabei bleibe ich, es wäre unklug und im Grunde auch un-politisch, irgendeine Lösung auszuschließen, über die man sich eingenaueres Bild erst machen kann, wenn man a) weiß, wie sieht das

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Wahlergebnis aus, wie sind die Kräfteverhältnisse im neuen Bundes-tag, und wenn man b) weiß, welche Aufgaben stehen dann an, wievielist bis dahin erledigt worden, wieviel bleibt übrig und wieviel neueProbleme könnten im Innern und nach außen anstehen. Ich habe aberebenso deutlich gesagt, daß ich es für verhängnisvoll hielte, im Sinneder Demokratie verhängnisvoll, wenn der Eindruck aufkäme, imGrund wurde die Fortführung einer Großen Koalition abgesprochen,so daß die Wähler den Eindruck hätten, sie hätten es mit einem abge-karteten Spiel zu tun. Die nächste Entscheidung liegt dann wirklichbei den Wählern. Und gestützt auf ihr Votum, auf die Kräftever-hältnisse im Parlament und die Analyse der Aufgaben kann dann erstbefunden werden über die Bildung einer neuen Bundesregierung.Frage:Mit anderen Worten: Ein Wähler, der der SPD seine Stimme gibt, darfzunächst davon ausgehen, daß die SPD um die Alleinverantwortungkämpft, daß sie aber bereit ist, im Falle beispielsweise eines ähnli-chen Wahlausganges wie beim letzten Mal mit der CDU wieder zukoalieren.Antwort:Ich sage, man schließt vernünftigerweise kein Bündnis zwischen de-mokratischen Parteien aus, wenn es nützlich ist, um Aufgaben er-ledigt zu bekommen, oder wenn es, wie im letzten Winter, not-wendig ist, damit das Land überhaupt eine Regierung hat. Das war jadie Lage im letzten Winter.5

Frage:Herr Minister, eine letzte Frage zu einem ganz anderen Thema. DieJugend in der Demokratie, das ist angesprochen worden auch vonHerbert Wehner.6 Und er hat bemerkenswerterweise gesagt, daß sienatürlich das Recht hat, ihre Meinung laut zu äußern, daß aber be-reits die Provokation sehr nachdenklich stimmen muß, das mobi-lisiere ja eigentlich nur die radikalen Kräfte. Eigentlich eine Absagean so manches, was sich in der Jugend heutzutage tut.Antwort:Ja, jedenfalls ein deutlicher Hinweis darauf, wo wir Grenzen sehenund selbst auch Grenzen ziehen.Wir sind offen für all das, was sich in

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der jungen Generation regt. Wir sind bereit und, ich hoffe, fähig hin-zuhören. Wir möchten sprechen auch über Auffassungen, die weitvon unseren eigenen abweichen mögen. Aber wir meinen, daß einsolches Gespräch nur einen wirklichen Sinn hat, wenn es rationalgeführt wird. Und wir können uns also wenig versprechen von tu-multartigen Auseinandersetzungen um die Weiterentwicklung desStaates und der Gesellschaft. Ich glaube übrigens, daß der über-wiegende Teil der jungen Generation das nicht sehr viel anders sieht.

Nr. 74Ausführungen des Vorsitzenden der SPD, Brandt,in der Tagesschau des Ersten Deutschen Fernsehens5. Januar 19681

SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 12/68 vom 5. Januar 1968.

Hier und da ist der Eindruck entstanden, als ob die SPD dabei sei, sichein neues Programm, ein neues Aktionsprogramm zu geben, oder einsolches als Gegenstück zu dem in Diskussion befindlichen Aktions-programm einer anderen Partei auszuarbeiten. Davon kann keineRede sein. Die SPD hat ein Programm, sie braucht sich jetzt nicht einneues zu geben. Es geht um etwas anderes. Um den Parteitag der So-zialdemokraten in Nürnberg im März2 gut vorzubereiten, wird derVorstand dieser Partei in den nächsten Tagen eine ausführliche Dis-kussionsgrundlage unterbreiten. Diese Diskussionsgrundlage wirdhandeln von den sozialdemokratischen Perspektiven im Übergang zuden siebziger Jahren.3 Es wird sich also weniger darum handeln, indiesem Dokument zu tagespolitischen Fragen Stellung zu nehmen,sondern zu dem, was die Welt in den nächsten zehn, fünfzehn Jahrenbeschäftigen wird und was auf unser eigenes Volk einwirkt. Dabeigeht es um unsere Friedenspolitik, es geht aber vor allem anderen umdie großen gesellschaftspolitischen Aufgaben im Innern, was eigent-

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lich erforderlich ist für Bildung und Ausbildung, für Forschung undWissenschaft, für die Stellung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, inBezug auf die Vermögensbildung, die Raumordnung, die Struktur-politik in der Bundesrepublik, die Modernisierungsaufgaben fürStaat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft. Das sind die Themen,die zur Diskussion gestellt werden. Und dann wird, nachdem ein paarMonate diskutiert worden ist, das Ganze noch einmal neu über-arbeitet und auf dem Parteitag in Nürnberg zur Diskussion und Ent-scheidung unterbreitet werden.

Nr. 75Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für Der Spiegel25. März 1968

Der Spiegel, Nr. 13 vom 25. März 1968.

Eine Partei ist kein Mädchenpensionat

SPIEGEL: Der Vorstand Ihrer Partei hat darauf bestanden, von diesemParteitag1 eine nachträgliche Billigung des Eintritts in die GroßeKoalition zu erhalten. Bekommen hat er den Beweis, daß die SPD indieser Frage in zwei annähernd gleich große Teile gespalten ist.BRANDT: Wenn man die Abstimmungsergebnisse analysiert, siehtman, daß es sich nicht um zwei in etwa gleich starke Strömungenhandelt, sondern eine eindeutige Mehrheit die Bildung der GroßenKoalition nachträglich gutgeheißen hat, und zwar mit 173 gegen129 Stimmen. Den sozialdemokratischen Ministern und der Bundes-tagsfraktion wurde anschließend mit 259 gegen 17 Stimmen bestä-tigt, eine Politik der „Sicherung der Arbeitsplätze, der Währung unddes wirtschaftlichen Wachstums, der Wiedergewinnung außenpoli-tischer Handlungsfähigkeit“ betrieben zu haben. Es gab freilich einUnbehagen, sich zur Großen Koalition noch einmal äußern zu sollen

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oder gar festlegen zu lassen. Der harte Kern, der den gegenwärtigenKurs generell ablehnt, besteht nach meiner Einschätzung aus etwa60 Delegierten.SPIEGEL: Also etwa die 69 Gegenstimmen bei der Wahl von HelmutSchmidt zum stellvertretenden Parteivorsitzenden?BRANDT: Zum Beispiel, ja. Das ist eine ernst zu nehmende Gruppie-rung.SPIEGEL: Ein größerer Block als auf allen bisherigen Parteitagen.Welche Konsequenzen wird das haben?BRANDT: Es ist nicht ein festgefügter Block. Das habe ich gewußt,bevor ich auf den Parteitag ging. Die Meinungsverschiedenheiten aufwichtigen Gebieten, vor allem der Innenpolitik, sind nicht einfacherledigt durch einen Parteitag.

Die Diskussionen werden weitergehen.SPIEGEL: Bei der Kampfabstimmung am Montag um Mitternachtmachte der Parteivorstand keine gute Figur.2 Warum suchte er dieseKonfrontation? Hat er die Lage falsch eingeschätzt, etwa aus Mangelan Kontakten zum Parteivolk?BRANDT: Nein, darunter leiden wir nicht. Wir waren der Meinung,daß es richtig sei, einen so wichtigen Vorgang seit dem letzten Par-teitag wie die Bildung der Großen Koalition nicht unter den Tischfallen zu lassen, trotz des Risikos, das in einer solchen Abstimmungsteckt. Zu dieser Billigung hätte man allerdings auch noch auf eineandere Weise kommen können. Ich gebe zu, der Vorstand hat sichdas nicht gut genug überlegt gehabt. Ohne sich etwas zu vergeben,hätte er auf den guten Willen der Delegierten eingehen können, diesehr weit gehen wollten. Das zeigt, daß auch Vorstände nicht dieWeisheit mit Löffeln gegessen haben.SPIEGEL: Früher hielt Herbert Wehner die Verbindung nach unten.Ist dieser Kontakt abgerissen?BRANDT: Sie rühren an ein wichtiges Thema. Es wird unmittelbar imAnschluß an den Nürnberger Parteitag Vorschläge des Vorstandesgeben, wie die Aufgaben der Regierungsführung und der Parteilei-tung besser wahrgenommen werden können als in letzter Zeit.SPIEGEL: Wie soll das gehen?

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BRANDT: Einige meinen, wir sollten einen Bundesgeschäftsführereinsetzen. Hier in Nürnberg haben wir noch im alten Präsidium da-rüber gesprochen. In den nächsten Wochen werden wir im Partei-vorstand außerdem erwägen, ob für einige wichtige Aufgabengebieteeine besonderer Planungsstab gebildet werden soll, so für die länger-fristige Planung der SPD. Ein zweites Gebiet wären Werbung undÖffentlichkeitsarbeit, ein drittes wirtschaftliche und finanzielle An-gelegenheiten, für die es zwar einen Schatzmeister gibt, der aber, daer zugleich Geschäftsführendes Präsidialmitglied ist, einer Entlas-tung bedarf.SPIEGEL: Auch während des Parteitags war die Unruhe unverkenn-bar, die in der SPD herrscht. Liegt die tiefere Ursache für diese Un-ruhe in der Partei nicht einfach darin, daß immer mehr Mitglieder dieSPD-Chancen für die nächsten Bundestagswahlen 1969 durch denRegierungsbund mit den Christdemokraten gefährdet sehen?BRANDT: Es mag Mitglieder geben, die das so sehen. Die übersehendabei, daß eine Veränderung im Bild der deutschen Wahlergebnisseeingetreten war schon vor der Bildung der Großen Koalition. Die fürdie SPD nicht so günstig verlaufenen Landtagswahlen in Bayern undHessen3 fanden bekanntlich vor der Bildung der Großen Koalitionstatt, zum Zeitpunkt der tiefsten Krise der Union. Man kann rück-schauend feststellen, daß die SPD in ihrer damaligen Opposition un-mittelbar fast nichts hat hinzugewinnen können aus dieser Krise derCDU.SPIEGEL: Aus der Regierungsbeteiligung hat Ihre Partei aber auchnoch nichts gewinnen können.BRANDT: Ich weiß nicht, ob man nach so kurzer Zeit schon Zwi-schenbilanz machen soll. Es gibt Anzeichen dafür, daß zwar einer-seits einige Protestwähler es schwer haben, der SPD zu folgen, undeinige Stammwähler es schon schwer gehabt haben, den Übergang indie Regierungsverantwortung zu verstehen und zu billigen. Anderer-seits ist festzustellen, daß große Wählergruppen, die früher der SPDnicht zutrauten, sie könne die Wirtschafts- und Außenpolitik diesesLandes leiten, jetzt anders denken. Durch die Regierungsbeteiligunggelang der Nachweis, daß die SPD sehr wohl dazu in der Lage ist.

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Diese Veränderung braucht jedoch Zeit, ehe sie sich numerisch beiWahlen bemerkbar macht. Sie kann sich aber nach einem weiterenJahr schon stärker ausgewirkt haben als jetzt.SPIEGEL: Wird dieser Prozeß nicht behindert oder gar gestopptdurch den deutlichen Linksruck, der sich auf diesem Parteitag gezeigthat?BRANDT: Ich weiß nicht, was links ist heutzutage. Ich selbst werde,wie die Wahlergebnisse zeigen, weder mit dem einen noch mit demanderen Etikett bedacht.SPIEGEL: Nun, Sie stehen über den Parteiungen in der Partei. Aberwie ist denn die Forderung nach erweiterter Mitbestimmung sonst zuverstehen?BRANDT: Da hat der Parteitag nur seine Absicht gesagt. Die Delegier-ten wissen natürlich auch, daß es in diesem Bundestag dafür keineMehrheit gibt. Helmut Schmidt hat deutlich darauf hingewiesen, daßbei allen freundschaftlichen Kontakten zwischen SPD und dem Deut-schen Gewerkschaftsbund weder die Partei noch die Bundestags-fraktion unbesehen Entwürfe des DGB im Bundestag einbringen.SPIEGEL: Kann es sich die SPD-Spitze nach diesem knappen Votumdes Parteitages 1969 noch einmal leisten, als Junior-Partner in eineRegierung mit der CDU zu gehen?BRANDT: Es ist völlig legitim, diese Frage zu stellen. Es ist aber auchlegitim, sie nicht zu beantworten.SPIEGEL: Werten Sie den Verlauf des Parteitages als Auftrag, sichdem von Kanzler Kiesinger kürzlich erneuerten Führungsanspruchder CDU in dieser Koalition zu widersetzen?BRANDT: Die Partei will sich ja, ebenso wie ihre Mitglieder in derBundesregierung, nicht unterbuttern lassen. Es ist gar nicht schäd-lich, wenn der Partner weiß, daß es hier eine demokratische Führunggibt, die ihre Anhängerschaft erst überzeugen muß und nicht über sieverfügen kann.SPIEGEL: Gefährdet die hektische Reaktion der CDU auf ihre „Aner-kennung oder Respektierung der Oder-Neiße-Linie“ bis zu einer frie-densvertraglichen Regelung nicht künftig die Zusammenarbeit in derKoalition?

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BRANDT: Ich sehe nicht, daß es deswegen zu einer Zerreißprobekommen muß in der Regierung der Großen Koalition. Ich gebe aller-dings zu, daß der Parteitag Gegengewichte setzen wollte gegen dieVersuche anderer, diese vereinbarte Außenpolitik der gegenwärtigenRegierung zu verwässern, Abstriche zu machen. Die SPD wird daraufbestehen, das vereinbarte Regierungsprogramm auch durchzufüh-ren.Wenn andere das nicht wollen oder nicht können, werden sie dasdeutlich machen müssen.SPIEGEL: Aber haben Sie nicht auch den Eindruck, daß ein ständigwachsender Flügel Ihrer Partei darauf dringt, die SPD solle den Bruchvollziehen? Wird es darüber künftig zu Richtungskämpfen in derPartei kommen?BRANDT: Ich selber habe schon scherzhaft von der Sehnsucht nachder Großen Opposition gesprochen. In der Geschichte der SPD hat esimmer wieder Perioden heftiger Meinungskämpfe gegeben. Gegen-wärtig ist das allerdings weniger aus der Tradition der SPD als ausdem Zustand der Gesellschaft zu erklären. Manche Umbruchs- undUnruheerscheinung in der Gesamtgesellschaft findet ihre Entspre-chung in einer Partei wie der SPD. Das gilt für das Reagieren auf au-ßenpolitische Vorgänge, auf soziologische Vorgänge, auch für densich andeutenden Generationswechsel.SPIEGEL: Gilt das auch für die rüden Umgangsformen, die sich in denBeziehungen der Parteiflügel während der Nürnberger Tage gele-gentlich gezeigt haben? 4 Fanden Sie das nicht alarmierend?BRANDT: Man sollte das nicht übertreiben. Wir erleben in der Ge-sellschaft eine Tendenz zu Aggressionen, nicht nur bei jungen Men-schen. Wir erleben das in vielen Bereichen.SPIEGEL: Nun auch in der SPD?BRANDT: Eine große Partei besteht nicht aus Leuten, die nun ein-ander alle als persönliche Freunde verbunden sind. Parteizugehörig-keit ist keine Art von Liebesverhältnis. Man findet sich zusammen,um politische Aufgaben in einer Gemeinschaft anzugehen. UndMenschen sind das auch alles. Müde sind sie auch manchmal, ärgerndürfen sie sich manchmal. Wir sollten da nicht zimperlich sein. EinePartei ist kein Mädchenpensionat.

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Nr. 76Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Schütz16. April 19681

AdsD, SPD-Parteivorstand, 6826.

Lieber Freund Schütz,in der Anlage darf ich Dir die Stellungnahme des Präsidiums der SPDüber die Ereignisse der letzten Tage übermitteln.2

Zusätzlich erwartet das Präsidium, daß die zuständigen Behör-den dafür Sorge tragen, daß Recht und Gesetz geachtet werden. Diesist in erster Linie die Aufgabe der Polizeibehörden, die vor außer-ordentlich schwierigen Aufgaben stehen und die natürlich bei denorganisierten, rücksichtslosen Angriffen auch immer wieder Gefahrlaufen, hart zu reagieren. Die Beamten müssen in diesen schwerenTagen das Gefühl haben, daß die politisch verantwortlichen Männerihre Leistungen schätzen, daß sie es aber genauso erwarten, daß sichdie Beamten nicht provozieren lassen, sondern besonnen und um-sichtig ihre Pflicht erfüllen.

Besonders wichtig ist, daß die Justizbehörden eng mit der Polizeizusammenarbeiten. Es kann nicht angehen, daß z. B. führende SDS-Funktionäre tagelang unbehelligt zu Gewalttätigkeiten aufrufen undöffentliche Vorbereitungen für eindeutig rechtsbrecherische Aktivi-täten treffen.3 Hier müssen Polizei und Justiz schon im Stadium derVorbereitungen tätig werden. Wer die Rädelsführer in Ruhe ihreVorbereitungen durchführen läßt, muß sich darüber im klaren sein,daß er die Chance versäumt, Gewalttätigkeiten im Keim zu ersticken.

Wir sind gewiß, daß allen unseren Freunden bewußt ist, welchebesondere Verantwortung wir als Sozialdemokraten in diesen Tagenzu tragen haben.Mit besten GrüßenWilly Brandt

408 Brandt an Schütz, 16. April 1968

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Nr. 76AAnlage: Pressemitteilung des Präsidiums der SPD16. April 19681

AdsD,WBA, A 11, ungeordnet.

Das Präsidium der SPD billigt die Erklärungen, die das Geschäfts-führende Präsidiumsmitglied Alfred N a u am 12. und 13. April[1968] abgegeben hat2 und stellt fest:

Die SPD lehnt mit aller Entschiedenheit Terror und Gewalttä-tigkeit ab. Wir Sozialdemokraten haben erlebt, wohin politischerMord schon in der Weimarer Republik und insbesondere im natio-nalsozialistischen Unrechtsstaat geführt hat. Wir verabscheuen dasverbrecherische Attentat auf Rudi Dutschke. Das Attentat hat mitRecht Empörung und tiefe Beunruhigung ausgelöst.

Eine kleine Gruppe radikaler Studenten, die sich vor allem imSDS organisiert hat, ist schon seit langem bestrebt, das Grund-gesetz der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen und die frei-heitlich-demokratische Grundordnung zu zerstören. Sie hat dasAttentat zum Anlaß rechtswidriger Aktionen benutzt und dabeiauch andere, die die Ziele des SDS nicht teilen, zur Mitwirkungverführt. Diesen Letzteren rufen wir nachdrücklich ins Bewußt-sein, daß jeder, der sich zu Gewalttaten der Verwüstung, dergemeinschaftlichen Sachbeschädigung, der Brandstiftung und zumLandesfriedensbruch hinreißen läßt, nicht nur die Rechtsordnungverletzt, sondern auch der Sache der Demokratie großen Schadenzufügt, der er angeblich nutzen will. Was immer Anlaß zu Unruheoder Unmut sein mag, kann nur in fairer Diskussion geklärt wer-den.3

Die SPD ist nach wie vor zum Gespräch mit jedem bereit, derzum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht und dieRechtsordnung unverletzt gewahrt wissen will.

Uns in diesem Grundgesetz zusammenzufinden und seine Aus-sagen als Lebensform zu verwirklichen, ist die gemeinsame Aufgabe.

409 Anlage 1: Pressemitteilung des SPD-Präsidiums, 16. April 1968

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Wir sind bereit, Kritik anzuhören und uns ihr zu stellen, aber wirhaben auch selbst Fragen zu stellen.

Millionen von Gewerkschaftern, Kriegsopfern, Heimkehrern,Bergleuten, Taxifahrern, Bauern oder Studenten haben in den letztenJahren ihr Recht auf friedliche Demonstrationen wahrgenommen,um damit nachhaltig für ihre Auffassung zu wirken. Die SPD wirdnicht zulassen, daß dieses Grundrecht angetastet wird. Sie wendetsich aber mit aller Entschiedenheit gegen die flagranten, teilweisevorsätzlich organisierten Rechtsverletzungen, die es gerade in denletzten Tagen in großer Zahl gegeben hat. Das Recht auf Demonstra-tion findet seine Grenze an der Verletzung von Freiheit und Rechtenanderer.

Es darf keinen Zweifel geben: Die Autorität des Rechtes und dieAutorität des Gesetzes muß mit großer Besonnenheit, aber ebensoauch mit großer Energie gewahrt werden. Die Polizei hat in den letz-ten Tagen und Nächten die Freiheit und die Rechte der Bürger nachbesten Kräften geschützt. Die Aufgabe der Polizei ist in solchen Fällenbesonders schwierig. Die SPD erwartet, daß auch in Zukunft dieFreiheit und die Rechte aller Bürger geschützt werden, daß die Straf-verfolgung von Rädelsführern und Gewalttätern zügig durchgeführtwird und daß bei Ankündigung gesetzeswidriger Handlungen bereitsvor deren Ausführung zu ihrer Verhinderung eingeschritten wird.

Wir appellieren an alle demokratisch gesonnenen Bürger un-seres Landes, den Feinden der Demokratie von links und rechts ent-schlossen entgegenzutreten. Das gilt für die NPD genauso wie für dieLinksradikalen.

Wir müssen daran erinnern, daß die Vorgänge der letzten Tagebedenkliche Erscheinungen in anderen politischen Bereichen über-schattet haben.

Es besteht die Gefahr, daß solche Vorgänge gegen die Bun-desrepublik Deutschland ausgenutzt werden. Die neuerliche Be-schränkung des freien Zugangs nach Berlin sollte Mahnung an allesein,4 zur Selbstbeherrschung zurückzufinden. Die BundesrepublikDeutschland muß auch nach außen handlungsfähig und in ihremAnsehen unbeschädigt bleiben.

410 Anlage 1: Pressemitteilung des SPD-Präsidiums, 16. April 1968

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Nr. 77Aus der Rede des Vorsitzenden der SPD, Brandt,auf der Bundesfrauenkonferenz der SPD in Saarbrücken9. Juni 1968

AdsD,WBA, A 3, 279.

Demokratie in der Bewährung

I.

Die SPD geht durch eine kritische Phase. In der fortdauernden Dis-kussion, die für eine große demokratische Partei selbstverständlichist, gibt es Zuspitzungen, die zugleich den Reifegrad des Problemsanzeigen. Man muß diskutieren, man muß sich auch entscheidenkönnen. Und wir haben uns entschieden!

Wir haben nach Sinn und Nutzen der Regierungsbeteiligung aufBundesebene gefragt. Die Antwort lautet: Wir stehen zu der Ent-scheidung, die Ende 1966 getroffen und auf dem Nürnberger Partei-tag gutgeheißen wurde.1 Wir stehen zu den Aufgaben, die wir uns imRegierungsbündnis der Großen Koalition vorgenommen haben. Esist bekannt, daß ich gesagt habe, und dazu stehe ich: Die Aufgabenmüssen zügig angepackt werden. Dies ist der Hinweis auf etwas,worum sich alle Beteiligten kümmern müssen. Aber ich sage ebensodeutlich: Wir werden selbst bestimmen, was wir für notwendig hal-ten, und wir werden uns nicht daran hindern lassen, sozialdemo-kratische Initiativen innerhalb oder außerhalb der Koalition zu ent-wickeln und zu erklären.

In einer lebendigen Diskussion haben wir den Standort unsererPartei überprüft. Das Ergebnis lautet: Wir sind und bleiben eine so-zialdemokratische Volkspartei, die es nicht nötig hat, sich mit be-sonderen Vorzeichen zu versehen. Wir müssen immer wieder denKurs überprüfen, um mit den Wandlungen der Zeit und den An-forderungen des Tages Schritt zu halten, aber die Grundrichtung istund bleibt das Godesberger Programm.

411 Rede auf der SPD-Bundesfrauenkonferenz, 9. Juni 1968

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In der Führung der Partei haben wir uns gefragt, welche organi-satorischen Verbesserungen getroffen werden können, um die Ak-tionsfähigkeit dieser politischen Willensgemeinschaft zu verstärken.Die Berufung eines Bundesgeschäftsführers und andere Maßnahmenzur Straffung und Durchblutung der Organisation sprechen für sichselbst.2 Eine gute, eine richtige Politik spricht im Grunde für sichselbst. Wir wissen aber auch, daß sie sich in einer Zeit des ver-schärften Wettbewerbs noch nicht von selbst verkauft. Unsere bestenWerbeträger sind – um im Bilde zu bleiben – unsere Vertrauensleute,unsere Mitglieder. Sie müssen verstehen, was gewollt wird, sie müs-sen von dem durchdrungen sein, was diese große Bewegung in derpraktischen Politik will und was sie über das nüchterne Tagesge-schäft hinaus trägt.

Es geht auch um den ununterbrochenen Prozeß der demokrati-schen Willensbildung. Eine große Partei drückt durch die, die mit ihrgehen und hinter ihr stehen, einen Teil des Volkswillens aus. Sie hörtauf die Stimme des Volkes, aber sie läuft nicht unter Verleugnungihrer Grundsätze und Pläne hinter dem Wähler her. Das wäre ver-antwortungsloser Opportunismus. Ich sage das, weil wir uns nichtirremachen lassen dürfen durch falsche Ratschläge, eine kurzsichtigeLagebeurteilung oder gar durch Panikmache.3

Die Verantwortung, die eine staatstragende Partei für das Ganzehat, ist in einer parlamentarischen Demokratie nicht im Grundsatzdavon abhängig, ob sie in der Regierungsverantwortung steht oder inder Opposition. Unsere Beteiligung an der Bundesregierung kannauch nicht nach dem unmittelbaren Nutzen bemessen werden, wie ersich in Zwischenwahlergebnissen ausdrückt. Die staatspolitischeNotwendigkeit des zeitweiligen Bündnisses der beiden großen Par-teien hat noch niemand total verneint. Die Frage ist, was wir darausmachen. Nun, wir haben gezeigt, und wir werden es noch deutlichermachen, daß die Sozialdemokraten das dynamische, vorwärtsdrän-gende Element dieser Koalition sind. Wir haben mit unserer Regie-rungsmannschaft tüchtig gearbeitet und werden sichtbar machen,daß wir uns von dem vereinbarten Arbeitsprogramm nichts ab-handeln lassen.

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Und wenn sonst alles nichts gewesen wäre, bleiben doch diebeiden großen Pluspunkte: Der sozialdemokratische Wirtschafts-minister [Karl Schiller] hat die Arbeitsplätze gesichert und eine neuePolitik des Aufschwungs eingeleitet, und zum anderen haben wireine Außenpolitik begründet, die wirklichkeitsnah ist und sich ein-deutig an der Sicherung des Friedens orientiert.

Hinter die Debatte über das Für und Wider hat der NürnbergerParteitag den Schlußpunkt gesetzt.4 Wir können es nicht zulassen,daß alles, was an Problemen auf uns zukommt, immer wieder aufdiesen Punkt zurückgeführt wird: So, als wäre die Bonner Regie-rungsbeteiligung ein unauslöschlicher Sündenfall gewesen. DieFlucht vor der Verantwortung ist nicht viel besser als die Methodevon Extremisten, die den Kampf um die Macht nur als taktischesSpiel betreiben.

Wenn ich mich umsehe in Deutschland, in Europa und in derWelt, finde ich viele Anzeichen für große Umwälzungen. Es ist einZeichen der Gesundheit dieser Partei, daß sie wie ein Seismograph diesich ankündigenden Erschütterungen registriert. Das belebt sie auch,selbst wenn es zunächst scheint, als werde sie unsicher. Und es stärktsie, weil sie besser als andere Formationen gewappnet sein wird.Nicht die Große Koalition hat die Dinge in Bewegung gebracht, son-dern die Notwendigkeit ihrer Bildung war bereits der Ausdruck einerneuen Entwicklung. Was mit den Parteien vorgeht, ist auch der Nie-derschlag gesellschaftlicher Wandlungen. Wo sonst sollten sich Ver-änderungen im Denken der Menschen äußern? In diesem Sinnekönnen wir sogar stolz auf die Unruhe sein, die unsere Reihen erfülltund die uns, wie ich vermute, auch so bald nicht verlassen wird.

Wir müssen nur darauf achten, daß unser Kampfeswille nichtgelähmt, unser Selbstvertrauen nicht erschüttert, unsere Zielvor-stellungen nicht zerredet werden. Und da gibt es, um ganz offen zusein, einige Gefahren. Man darf die Freude am Theoretisieren nichtzu weit treiben, die Beschäftigung mit der Analyse nicht in eine ArtMasochismus ausarten lassen.5 Sonst kann die Bevölkerung leichtden Eindruck von Verwirrung und innerer Zerrissenheit gewinnen.Und wenn wir uns fatalistisch nicht mehr die Chancen ausrechnen,

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die wir tatsächlich haben, wird natürlich unsere Regierungsfähigkeitin Zweifel gezogen. Eine Partei wie die SPD ist aber nicht nur dazu da,Theorien zu entwickeln; sie ist vor allem dazu da, politisch zu han-deln, zu bewegen, zu verändern.

Wie könnten wir vor der jungen Generation bestehen, wenn wirkeine überzeugenden Antworten auf die großen Fragen dieser Zeitfänden? Was würde diese Jugend von uns halten müssen, wenn sieernsthaft daran zu zweifeln hätte, daß diese Partei willens und in derLage ist, die Dinge zu ändern, die geändert werden müssen? DieseJugend, die aus dem Gehege einer satt erscheinenden Gesellschaftausgebrochen ist und die sich auflehnt gegen die vermuteten oderauch tatsächlichen Manipulationen dieser technisierten Epoche,muß wissen:

Die Sozialdemokraten sind zwar nicht die Partei des gewalt-samen Umsturzes, wohl aber der radikalen Reformen. Die SPD ist inihrem Wesen und ihrer Bestimmung nach ein ständiger Appell analle Kräfte, die davon durchdrungen sind, daß etwas geändert werdenkann und daß etwas geändert werden muß, um das Gemeinwesen aufder Höhe der Zeit zu halten.

Wir verteidigen diesen Staat, aber nicht, weil wir ihn für voll-kommen halten, sondern weil wir ihn verbessern und nach unserenVorstellungen mitgestalten wollen. Wir sind im Bunde mit allen, diegrundlegende Reformen anstreben. Wir wissen die Werte, auch diemateriellen Güter einer Zivilisation zu schätzen, die das Leben er-leichtern und angenehm machen. Aber wir sind keine Wohlstands-sklaven. Wir lassen uns nicht durch Lack und Chrom korrumpieren.Wir halten Boulevard-Blätter nicht für Volkserzieher.Wir glauben andie Kraft der Ideen und unterwerfen uns dem Gebot der Vernunft.

Das allgemeine politische Interesse, das vor allem die akademi-sche Jugend auch hierzulande gezeigt hat, ist im Grunde zu begrüßenund muß fruchtbar gemacht werden. Aber der Schritt vom morali-schen Protest zum politischen Widerstand hat manche in die Irregeführt.6 Viele erkennen, daß man damit nicht weiterkommt. TotaleNegation führt in die totale Isolierung, und dann entweder in dieSelbstaufgabe oder in das gewaltsame Abenteuer. Mit beiden ist we-

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der dieser Jugend noch diesem Volk und seinem Staat gedient. So istder Augenblick gekommen, an diese Jugend zu appellieren und ihrzuzurufen, der Vernunft mehr Raum zu geben.

Wir brauchen sie, wir brauchen ihre Mitarbeit, besonders in un-serer Partei, um die Erneuerung der gesellschaftlichen Strukturenund die Modernisierung des Staates anzupacken. Die SPD ist niemalsdie Partei der Restauration gewesen.Wir haben auch keine Hypothekder Unterdrückung und Ausbeutung abzutragen. Wohl aber habendie Sozialdemokraten – und das ist ihr politischer Kern – die Fragenach der Vereinbarkeit von Sozialismus und Freiheit schlüssig be-antwortet.7

Aber ich weiß: Wer sich hochkämpfen muß, trägt Wunden da-von. Wir haben viele Narben, und wenn wir auch immer gewußt ha-ben, daß wir für eine gerechte Sache eintraten – das Verhältnis zudenen, die es uns sehr schwer machten, politisches und gesellschaft-liches Selbstbewußtsein zu erlangen, war auch dann noch gestört, alswir das meiste geschafft hatten. Der Staat – das waren zu lange „dieanderen“.8 Ich will auf dem Thema nicht verweilen, wir solltenchristlicher sein als manche, die sich nur so nennen, und akzeptieren,daß diese Dinge nun der Vergangenheit, der Geschichte angehören.

Jedenfalls, ohne die Sozialdemokraten wäre dieser Staat nicht,was er heute ist. Es ist zwar jetzt gerade Mode, alles an ihm schlechtzu machen, aber er bietet seinen Bürgern doch persönliche Freiheit,er sichert sie gegen Notfälle, und er gibt uns ein größeres Maß an so-zialer Sicherheit, als man es zu Beginn dieses Jahrhunderts zu träu-men gewagt hätte. Ich habe schon gesagt: Viele der großen Reformen,durch die die Gesellschaft anpassungsfähig an ihre technische, wirt-schaftliche und kulturelle Entwicklung gemacht werden muß, ste-hen noch aus. Aber ich halte die konstitutionelle Basis, die wir mitgeschaffen haben, für so stabil und entwicklungsfähig, daß man da-rauf weiterbauen kann – mit uns Sozialdemokraten.

Wir warten nicht, daß die Dinge auf uns zukommen, um dannnur zu reagieren. In dem Wunsch und Willen, zu einer gerechterenund gleichzeitig freiheitlichen Gesellschaftsordnung voranzuschrei-ten, sind wir uns in dieser Partei alle einig.

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Wir haben eine lange Tradition auch des harten innerpartei-lichen Ringens der Meinungen, und wir werden auch diesmal ge-stärkt daraus hervorgehen. Aber diesmal, nach der Regierungsbetei-ligung im Bund, war einiges doch schwieriger.

Einige grundlegende Dinge waren bei uns wohl doch nicht aus-reichend geklärt. Manche Sozialdemokraten hatten den Staat, den siemitgestaltet haben, doch noch nicht als den ihren akzeptiert. Die oftschäbige Behandlung von seiten solcher, die sich für die Erbpächterder politischen Macht in Deutschland hielten, hatte diesen Prozeßbehindert. Das ist verständlich, und das hat sich ausgewirkt. Hinzukommt etwas anderes: In unserer Gesellschaft haben die Bürger nichtnur lesen und schreiben gelernt, sondern viele sind auch besser in-formiert als zuvor. Größer als zuvor ist die Zahl derer, die man gernals „mündige Bürger“ zu bezeichnen pflegt: Leute mit politischemInteresse und Verantwortungsgefühl, die ernstgenommen werdenwollen und müssen, die ihr Vertrauen nicht verschenken, ehe mansie nicht überzeugt hat. Die Zahl dieser Bürger ist durch bessereChancen in Erziehung und Ausbildung noch zu steigern. Mit ihnenhaben wir in steigendem Maße zu tun, auf sie haben wir die Formenunserer politischen Arbeit einzustellen. Das kostet mehr Anstren-gung, aber nur so erreichen wir die einer freiheitlichen Demokratieauch in Zukunft gemäße Arbeitsform. Morgen wird nicht alles an-ders, aber es wird vieles anders sein. Je klarer wir uns über den Cha-rakter der Veränderungen, die Bedingungen des Wandels sind, destobesser kann unsere Politik sein.[. . .]9

III.

Es war richtig, die zukünftige Entwicklung von Gesellschaft undStaat in den Mittelpunkt der Betrachtungen dieser Konferenz zustellen. Erst aus dieser Sicht wird ganz deutlich, daß und warum dieZeit vorbei sein muß, in der man glaubte, die Hälfte eines Volkes ausder politischen Verantwortung ganz oder weitgehend ausklammernzu können. Die politische Gestaltung der modernen Gesellschaft be-

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darf der Beteiligung aller dazu fähigen Menschen, Männer undFrauen. Es geht nicht nur um Produktionsraten, sondern vor allemdarum, auch den kommenden Generationen eine menschenwürdigeLebensform zu ermöglichen.

Was der rasante Fortschritt in Wissenschaft und Technik unsbringen wird, was es da alles für gute und gefährliche Möglichkeitengibt, ist nun wieder etwas klarer geworden. Aber die Vielfalt dessen,was da auf uns zukommt, was unser Leben beeinflussen und verän-dern wird, die Masse von Informationen ist für den einzelnen auchverwirrend, ja beängstigend. Auf sich gestellt kann er heute und inZukunft nicht bewältigen, was ihm da alles an Verantwortung auf-geladen wird. Und das kann nur bedeuten, daß politische Verant-wortung – die man in früheren, weniger komplizierten Gesell-schaften einzelnen übertragen konnte – heute Sache von vielen seinmuß. Das heißt eigentlich: Demokratie.

Es zeigt sich, daß uns hier und dort zur Bewältigung unsererAufgaben nicht genügend Menschen zur Verfügung stehen, die selb-ständig aber in ständiger Beratung und im Einvernehmen mit an-deren handeln können. Dem müssen wir rasch und zielbewußt durcheine Reform unseres Bildungswesens begegnen, an deren Anfängenwir erst stehen. Das hat sich ja nun wohl herumgesprochen, auch beidenen, die sich nur langsam an die Veränderung lieb und vertrautgewordener Verhältnisse gewöhnen können. Wir müssen aktivieren,was an Kräften vorhanden ist. Wir brauchen, weil vorausschauende,vorsorgende politische Arbeit das Gebot der Stunde ist, alle ver-fügbaren Talente, also gerade auch die Frauen.10

Nun ist das, wie wir alle wissen, leichter gesagt als getan. Hier istja nicht ohne Grund gesagt worden, daß schöne Worte, Lippenbe-kenntnisse, denen keine Änderung in der inneren Einstellung folgt,nicht genügen. Gedanken sind schneller als Taten. Nicht nur in un-serem Volk, überall in der Welt finden wir, daß Frauen im öffentli-chen Leben nur langsam Fuß fassen, aus dem sie durch Erziehungund Konvention verbannt worden waren. Man gewöhnt sich nichtvon heute auf morgen daran, alte Denkgewohnheiten und Ver-haltensschablonen aufzugeben und etwas Neues an ihre Stelle zu

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setzen. Die Frauen selbst, bis auf den heutigen Tag in Elternhaus undSchulen zu Tugenden erzogen, die nicht gerade ihr Selbstbewußtseinund Durchsetzungsvermögen in Beruf und Öffentlichkeit fördern,wissen, wie schwer es ist.

So haben wir nach einem Jahrhundert der Emanzipations-bewegung immer noch zu beklagen, daß man im Zweifel die Fraueneben doch als das dümmere Geschlecht abwertet, ihre geistige Ent-wicklung nicht für überaus förderungswürdig hält und das Feld derGestaltung unserer Gesellschaft eigentlich den Männern vorbehaltenmöchte. Ich kann die Zahl der hervorragenden Frauen aus der Frau-enbewegung, auch der kirchlichen, und aus den Parteien, die durchihre eigenen Leistungen längst solche Vorstellungen absurd gemachthaben, gar nicht aufzählen. Ich brauche auch nicht auf diejenigenhinzuweisen, die wir mit Selbstverständlichkeit an der Arbeit sehen.Hier unter uns sind wir ja einig, aber draußen ist es oft anders. Unddarum würde ich es für wichtig halten, daß man einmal – statt immernur auf die Mängel in der derzeitigen Situation der Frauen in derBundesrepublik Deutschland hinzuweisen – der großen Öffentlich-keit klarer als bisher vor Augen führt, was Frauen alles leisten.

Auch unsere eigene Partei gehört zu der Öffentlichkeit, die mannoch darüber informieren muß. Die sechs Regionalkonferenzen un-serer Partei über das Verhältnis von SPD und Frauen haben sowohldie positiven wie die negativen Seiten dieses Verhältnisses deutlichgemacht.11

Die SPD hat 1919 dafür gesorgt, daß die Frauen in alle politischenRechte des Staatsbürgers eingesetzt wurden.12 1949 ist unsere Parteies gewesen, die den Grundsatz der Gleichberechtigung verfochtenund im Grundgesetz verankert hat.13 Sozialdemokratische Initiativehat die notwendige Untersuchung über den tatsächlichen Rang derFrauen in Familie, Beruf und Öffentlichkeit in Gang gebracht, undSozialdemokraten werden an vorderster Stelle mit dafür sorgen, daßdie großen Lücken in der von uns geforderten Frauenenquete aus-gefüllt werden.

Nur dürfen wir nicht über all diesen Verdiensten, die wir unsunstreitig für die Frauen in unserem Volk erworben haben, in

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Selbstgerechtigkeit erstarren und meinen, das Nötige sei getan. Ichsage noch einmal: Vom Gedanken zur Tat ist es weit, und vom Satzauf dem Papier ist es ein langer Weg bis zur gesellschaftlichenWirklichkeit. Ich meine, gerade die Sozialdemokratische Partei istheute verpflichtet, weitere organisatorische und institutionelle Hil-fen dafür zu geben, daß Frauen, weil sie politisches Talent haben, ander Arbeit beteiligt werden, die uns aufgegeben ist. Für mich handeltes sich hier um eine gesellschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges,nämlich die Partnerschaft von Mann und Frau in allen wesentlichenBereichen des Lebens.

Angesichts der zunehmenden politischen Aktivität, des zuneh-menden Willens der Frauen, sich am öffentlichen Leben noch mehrals bisher zu beteiligen, muß es beklagt werden, daß ausgerechnetjetzt die Zahl der weiblichen Mandatsträger in Bund, Ländern undGemeinden zurückgeht.14 Ich werde alles tun, um als Vorsitzenderder Sozialdemokratischen Partei Deutschlands dieser Entwicklungentgegenzuwirken. Zum anderen bin ich der Meinung, daß sozial-demokratische Mandatsträger in ihrem Einflußbereich dafür sorgenmüssen, daß Frauen mit den selben Ausbildungsvoraussetzungenauch dieselben Aufstiegschancen haben wie ihre männlichen Kolle-gen. Für die Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens ist esvon entscheidender Bedeutung, daß alle verfügbaren Talente unseresVolkes sie mittragen, und es ist für die Zukunft unser Sozial-demokratischen Partei von entscheidender Bedeutung, daß sie ihrenEinsatz für die soziale Gerechtigkeit und für die Erweiterung der De-mokratie gerade auch in Bezug auf die Frauen versteht.

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Nr. 78Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an die Mitglieder der SPDOktober 19681

AdsD,WBA, A 3, 287.

Liebe Freunde,in den letzten Wochen hatte ich Gelegenheit, mit vielen Mitgliedernunserer Partei zu sprechen. Und ich bin froh, daß ich feststellenkonnte: Überall zeigt sich neue Aktivität. Eine gewisse Unsicherheithat neuer Zuversicht Platz gemacht. Innerparteiliche Schwierig-keiten sind in den Hintergrund getreten oder bereits überwunden.

Die Auseinandersetzungen über den Wert der Großen Koalitionsind beendet. Die sozialdemokratischen Leistungen in der Regierungsind für jedermann sichtbar.

Es war legitim, daß um die Bildung der Großen Koalition ge-stritten wurde. Ungut waren solche Diskussionen, die in der Öffent-lichkeit ein falsches Bild unserer Partei entstehen lassen konnten.Daraus sollten wir lernen.

Die Notstandsdiskussion liegt hinter uns.2 Das Verhältnis zu denGewerkschaften hat sich verbessert.Viele Intellektuelle und auch einTeil der kritischen Jugend gewinnen eine neue Beziehung zur Partei.3

Wir sollten alle zur Mitarbeit auffordern, deren kritisches Engage-ment mit unserer Zielsetzung zu vereinbaren ist. Für die kommendenAufgaben brauchen wir viel Kraft und viele Ideen.

Ideen und Initiative sind notwendig, wenn wir unsere Vor-stellungen und Ziele durchsetzen, wenn wir die Bundestagswahlendes Jahres 1969 gründlich vorbereiten und erfolgreich bestreitenwollen.

1965 hatten wir den Wählern deutlich gesagt, wie unser Regie-rungsprogramm aussehen würde. Wir haben viele Stimmen ge-wonnen, aber wir wurden nicht stärkste Partei.4 In einem Acht-Punkte-Programm haben wir im November 1966 unsere Forderungen

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für die Politik einer neuen Bundesregierung genannt.5 Sie wurdenvon unserem späteren Koalitionspartner im wesentlichen akzeptiert,weil die Krise auf andere Weise nicht mehr zu lösen war.

Diese Krise haben wir abgewendet, obgleich die offenenRechnungen der Regierung Erhard/Mende bezahlt werden mußten –zum Teil mit Maßnahmen, die verständliche Kritik herausfor-derten.

Zu einer guten Politik gehören zwei Dinge: die anstehendenAufgaben erfolgreich zu lösen und diese Erfolge den Wählern über-zeugend darzustellen. Die beste Politik ist nur halb soviel wert, wennsie nicht zu Ende geführt werden kann. Und darüber entscheidet derWähler.

Mit unseren Leistungen können wir uns sehen lassen. Das Er-reichte bestätigt auch, was unser Eintritt in die Bundesregierung be-deutet hat. Es war einfach notwendig, die Rezession zu überwinden,die Arbeitsplätze zu sichern, die Finanzen in Ordnung zu bringenund die Gefahr außenpolitischer Isolierung abzuwenden.

Niemand kann leugnen, daß die Erfolge der Großen Koalitionzum wesentlichen Teil in der Arbeit der sozialdemokratischenMinister und der Aktivität der sozialdemokratischen Bundestags-fraktion begründet sind.

Wir haben vieles erreicht. Aber wir haben manches, das auchnotwendig war, nicht erreichen können. Denn wir verfügen im Bun-destag nicht über die Mehrheit.

Die sozialdemokratischen Minister und die Bundestagsfraktionunserer Partei sind entschlossen, darauf zu drängen, daß das für dieseLegislaturperiode vereinbarte Regierungsprogramm durchgeführtwird.

Darüber hinaus werden wir eigene gesellschaftspolitische In-itiativen ergreifen. Wir werden für den Ausbau des Betriebsverfas-sungs- und Personalvertretungsgesetzes eintreten und für die Ver-besserung der Mitbestimmung konkrete Vorschläge unterbreiten.Außerdem wird unsere Partei sich darum bemühen, im Laufe desnächsten Jahres die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle auch denArbeitern zu sichern.

421 Brandt an die Mitglieder der SPD, Okt. 1968

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Bei den nächsten Wahlen wird nicht nur über die Stärke der einenoder anderen Partei entschieden. Bei den nächsten Wahlen wird vorallem entschieden, in welcher Richtung unser Volk weitergehen, inwelche Richtung sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln soll.

Für die Diskussion über die gesellschaftspolitischen Ziele derSozialdemokratischen Partei Deutschlands sind auf dem NürnbergerParteitag die „Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren“vorgelegt worden.6 Wir haben darin gesagt, was noch getan werdenmuß. Jetzt gilt es, die in den „Perspektiven“ erarbeiteten Leit-gedanken weiterzuentwickeln und in konkrete Vorschläge um-zusetzen. Alle Mitglieder sind aufgefordert, an der Diskussion teilzu-nehmen. Schickt uns bitte Eure Vorschläge und Anregungen bis zum15. Januar des kommenden Jahres.

Wir wollen unsere Vorstellungen aber nicht nur weiterent-wickeln, wir wollen sie verwirklichen. Hier sind wir auf die Unter-stützung aller angewiesen, die sich zu unserer Partei bekennen. Wirsollten alle zur Mitarbeit auffordern: die Kolleginnen und Kollegen,die Nachbarinnen und Nachbarn, die kritische Jugend, die Frauen,denen viele noch immer das Recht und die Befähigung zu politischerArbeit bestreiten, alle Kreise der Bevölkerung, die zum politischenEngagement bereit sind.

Es gibt vielerorts eine Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit. Daszeigen die guten Erfolge, die in diesen Wochen bei der Werbungneuer Mitglieder zu verzeichnen sind.

Unsere Stärke und unsere Chance wird auch in Zukunft darinliegen: alle, die positiv mitwirken wollen, zur Mitarbeit heranzu-ziehen; die Kraft derer zu aktivieren, die zum Engagement bereitsind; die Ideen derjenigen auszuschöpfen, die sich kritisch undernsthaft mit unserer augenblicklichen Lage und mit unserem zu-künftigen Weg auseinandersetzen. Wenn wir zum Beitritt einladen,dann gehört zur Kritikbereitschaft auch die Übereinstimmung mitden Grundsätzen der Partei.

Das wird uns helfen, unsere Chancen zu nutzen und den Wahl-kampf so zu gestalten, daß die SPD als führende Kraft der deutschenPolitik aus den Bundestagswahlen 1969 hervorgeht.

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Liebe Freunde, alle unsere Bemühungen – das sollten wir bei al-ledem nicht vergessen – werden sinnlos, wenn es nicht gelingt, denFrieden zu erhalten. Alle unsere Vorstellungen, Wünsche und Forde-rungen sind nicht das Stück Papier wert, auf dem sie geschriebensind, wenn nicht – illusionslos und konsequent – daran gearbeitetwird, vom Gleichgewicht des Schreckens zu einer Friedensordnungzu kommen, in der alle Völker ohne Mißtrauen und Angst lebenkönnen.

Wir Deutschen allein haben nicht die Kraft, dieses Ziel zu errei-chen. Wir können nur dazu beitragen, daß in unserem überschau-baren Bereich der Frieden bewahrt und die Spannungen abgebautwerden.

Die Friedenspolitik der Bundesregierung hat durch den Überfallder Warschauer-Pakt-Staaten auf die CSSR einen Rückschlag erlitten.7

Solche Rückschläge können die europäische Normalisierungvorübergehend stoppen, endgültig aufhalten dürfen sie die Entwick-lung nicht. Es gibt keine Alternative zu der von uns geforderten undpraktizierten Friedenspolitik.

Gerade die Ereignisse in der CSSR sollten ein Anlaß für uns So-zialdemokraten sein, der Überzeugungskraft unserer Ideen nochmehr zu vertrauen. Natürlich sind Dubcek und seine politischenFreunde nicht plötzlich Sozialdemokraten geworden. Was aberstimmt, ist dieses: Sie wollten ihre Ordnung verbinden mit Freiheit,Humanismus, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Das aber sinddie Grundlagen der Sozialdemokratischen Partei seit jeher. DieseForderungen werden sich allen Widerständen zum Trotz durch-setzen. Das Wissen um die Stärke unserer Grundüberzeugungensollte uns Sozialdemokraten noch selbstbewußter machen.

Neuen Mut brauchen wir, um die vor uns liegenden Aufgaben zulösen. Wir brauchen Eure Mitarbeit, um die Partei noch stärker zumachen. Die an Mitgliedern größte deutsche Partei soll für die Wah-len 1969 noch besser gerüstet sein.

Wir brauchen Eure Unterstützung bei der Vorbereitung desWahlkampfes. Wenn wir erfolgreich sein wollen, sind wir auf EuerSelbstbewußtsein und Engagement, auf Eure Überzeugungskraft und

423 Brandt an die Mitglieder der SPD, Okt. 1968

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Einsatzbereitschaft angewiesen. Wir haben allen Grund, zuversicht-lich an die großen Aufgaben der kommenden Jahre heranzugehen.In freundschaftlicher Verbundenheit<Willy Brandt>8

Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Nr. 79Vermerk des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für den Bundesgeschäftsführer der SPD, Wischnewski6. Januar 19691

AdsD,WBA, A 11.3, 15.

Lieber Hans-Jürgen,über die Feiertage haben sich bei mir einige Fragen ergeben, die ich inForm eines Sprechzettels festhalten möchte:

1. Über Folgerungen aus den infratest-Berichten2 müßte in derZ[entralen]W[ahlkampf]L[eitung] gesprochen werden. Wenn irgendmöglich, müßten wir, obwohl Alfred [Nau] abwesend ist, hierfürnoch vor meiner Asien-Reise einen Termin finden.

2. Für wichtig halte ich u. a. die These 20 von infratest, „daß dieSPD sowohl regional als auch überregional im Bereich des kultu-rellen und wirtschaftlichen Lebens durch akzeptierte Meinungs-führer vertreten ist“. Dies sollte auch im Zusammenhang mit demgesehen werden, was in bezug auf „Leitbilder“ für weibliche Jung-wähler ausgeführt wird.

Es sollte ein Plan ausgearbeitet werden, wie die geeigneten„Meinungsführer“ ins Bild gebracht werden können.

In diesem Zusammenhang sollte auch meiner früheren Fragenachgegangen werden, ob wir eine führende „Gruppe der Jüngeren“herausstellen wollen.

424 Vermerk für Wischnewski, 6. Jan. 1969

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3. Es bedarf eines Antriebs für den Gewerkschaftsrat oder füreine kleinere Gruppe der dafür besonders in Betracht kommendenGewerkschaftsführer, wie wir die Aktivitäten im nächsten halbenJahr möglichst gut aufeinander abstimmen. Es könnte sich emp-fehlen, hierfür eine besondere Arbeitsgruppe einzusetzen.

Auch das Problem der Frauen von Arbeitnehmern sollte ineinem solchen Kreis durchgesprochen werden.

Zur Vermögenspolitik sollten wir nicht nur Schiller ins Bildbringen, sondern auch Leber ermutigen, sein Interesse auf diesemGebiet neu zu entwickeln.

4. 1965 hatten wir eine kleine Arbeitsgruppe unter Leitungvon Klaus Schütz, die sich besonders mit dem Thema der Wahl-beteiligung befaßte. Ich gebe zu erwägen, ob auch diesmal etwasähnliches eingeleitet werden sollte.

5. Zu den außenpolitischen Fragen, die im infratest-Berichtaufgeworfen wurden, werde ich selbst noch Stellung nehmen.3

6. Auch noch in Verbindung mit infratest: Wir müssen unsereVertriebenen-Plattform möglichst rasch abklären. (Gerhard Jahnwolltemir etwas für eine Sitzung im Vertriebenen-Ausschuß vorbereiten.)

Die Frage der Kandidatur von Reinhold Rehs muß in diesem Zu-sammenhang auch bald geklärt werden.

7. Während meiner Abwesenheit aus Bonn ist mir von Bun-deswehr-Offizieren, die Mitglied der Partei sind, gesagt worden, daßHeinemann beim überwiegenden Teil der Bundeswehr auf starkeAblehnung stoße. Es muß überlegt werden, ob und wie er sich äu-ßern könnte.

8. Ich bitte zu prüfen, ob eine kleine Arbeitsgruppe sich fort-laufend damit befaßt, wie man gehässig-gegnerische Angriffe be-handelt.

9. Leo Bauer hatte sich am 6. Dezember [1968] wegen der Zu-sammenkünfte mit befreundeten Journalisten geäußert. Ich denke,daß man diesem Gedanken positiv nachgehen sollte, und zwar nochbevor Jochen Schulz seine Tätigkeit aufnimmt.

10. Carl-Heinz Evers hat mir am 22. Dezember [1968] in Berlinberichtet, daß er für bildungspolitische Gespräche – da er jetzt Präsi-

425 Vermerk für Wischnewski, 6. Jan. 1969

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dent der Kultusministerkonferenz ist – jeweils zum Wochenende imParteihaus zur Verfügung stehe und daß er sich hierüber bereits mitDir abgesprochen hat.

Ich unterstelle, daß dies im Einvernehmen mit Johannes Raugeschieht und begrüße es sehr, wenn diese „Flanke“ für die kom-menden Monate freigehalten wird.

11. Ich bitte zu überlegen, ob und wie wir in Bayern eine Ge-genfigur zu Strauß bzw. zur CSU ins Bild bringen können. Es ist nichtangemessen, daß wir auf jede von dort kommende Rüpelei zentralantworten. Wir sollten uns unseren Gegen-Rüpel halten.

12. Ich weiß nicht, ob beachtet worden ist, daß Anfang August100 Jahre seit dem Eisenacher Parteitag4 vergangen sein werden. Diesist in Wirklichkeit – mehr als der Nürnberger Kongreß von 18685 –die Gründung der Bebelschen Partei gewesen. Die Frage ist also, obwir unbeschadet der Sommerpause durch geeignete Veröffent-lichungen die „100 Jahre“ kurz vor dem Wahlkampf noch einmalaktualisieren wollen.Willy Brandt

Nr. 80Schreiben des Chefredakteurs von Die Neue Gesellschaft, Bauer,an den Vorsitzenden der SPD, Brandt6. Januar 19691

AdsD,WBA, Leo Bauer, 1.

Lieber Willy,am 4. und 5. Januar [1969] haben die Freunde der sozialdemokrati-schen Wählerinitiative2 getagt – diesmal ohne Günter Grass, dernoch im Tessin weilt. Es wurde insbesondere über die zu veröffentli-chende Zeitung und über die Erweiterung des Kreises gesprochen.Man legte den Namen der Zeitung fest. Nach langem Hin und Her

426 Bauer an Brandt, 6. Jan. 1969

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wurde man sich einig, die Zeitung „DAFÜR“ zu nennen.3 Es wurdeauch eine große Liste von Namen festgelegt, die sowohl für die Zei-tung als auch für die Mitarbeit im Rahmen der sozialdemokratischenWählerinitiative kontaktiert werden sollen. Das soll dadurch ge-schehen, daß die führenden Leute des Kreises die ihnen bekanntenPersönlichkeiten direkt anschreiben oder ansprechen.

Bei einer Reihe von Persönlichkeiten (Liste s. Anlage)4 war derKreis der Meinung, daß es günstig wäre, wenn Du als Vorsitzenderder SPD einen Einführungsbrief schreibst, der Dir einerseits dieMöglichkeit gibt, Dich vom Kreis genügend zu distanzieren, der aberandererseits auch die Unabhängigkeit des Kreises gegenüber der SPDerkennen läßt. Man hielt diesen Brief für gut, um auf die Eitelkeitverschiedener Leute Rücksicht zu nehmen.

Günter Gaus hat einen Briefentwurf formuliert (s. Anlage), erwurde vom Kreis einstimmig gutgeheißen. Ich wurde gebeten, Dirden Wunsch des Kreises zu übermitteln und Dich wiederum zu bit-ten, diesen Brief zu schreiben, wobei dieser natürlich verändert wer-den kann, wenn Du es für richtig hältst und besonders, wenn Du denAdressaten schon besonders gut kennst.5

Ich wäre für eine baldige Stellungnahme dankbar. Für den Fall,daß Du einverstanden bist, würde ich Dich um Durchschläge DeinerBriefe bitten, damit die Freunde des Kreises die betreffenden Persön-lichkeiten kontaktieren können.Mit herzlichen GrüßenDein<Leo>6

(Leo Bauer)

427 Bauer an Brandt, 6. Jan. 1969

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Nr. 81Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Mitscherlich14. Januar 19691

AdsD,WBA, A 11.1, 6/7.

Sehr geehrter Herr Professor Mitscherlich,meine Aufgabe in diesem Brief ist nicht ganz einfach. Ich will Sieüber ein Vorhaben informieren, in das ich – als Vorsitzender derSPD – nur indirekt einbezogen bin, von dem ich jedoch meine, daß esFörderung verdient.

Ein Kreis von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Journalistenhat sich vorgenommen, im Jahre 1969 der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands zu helfen.2 Ihm gehören u. a. an die Herren Günter Gaus,Günter Grass, Prof. Dr. Kurt Sontheimer, Klaus Harpprecht. EinigeMitglieder des Kreises sind Sozialdemokraten, andere nicht. Was sieeint, ist die Überzeugung, daß in einer Zeit, in der extreme Kräfte linksund rechts die politische Vernunft in unserem Lande bedrohen, ver-antwortungsvolle Bürger den demokratischen Politikern helfen sollten.

Der Kreis hat mich dahin belehrt, daß er Wert darauf legt, die SPDzu unterstützen, weil er in dieser Partei die ihm am nächsten stehendepolitische Kraft sieht – daß es dem Kreis aber ebenso wichtig ist, seineUnabhängigkeit von der Partei, seinen Anspruch auf abweichendeMeinungen zu wahren. Ich begrüße das, denn unabhängige Köpfe tununserem Land not. Deshalb war ich bereit, diesen Brief zu schreiben. Ersoll es dem Kreis erleichtern, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen, um Sieüber die Absichten dieser Bürger-Initiative zu informieren.

Unter anderem ist die Herausgabe einer Publikation geplant,3 inder parteigebundene und nicht-parteigebundene Berichte und Ana-lysen über die Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft zusammenge-faßt werden sollen. Ein Vertreter der Gruppe wird sich bei Ihnenmelden; er kann näheren Aufschluß geben als ich, dessen Funktioneine Vermittlerrolle war (einem Außenminister ein gewohntes Brot)

428 Brandt an Mitscherlich, 14. Jan. 1969

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und dessen Vertrauen in die Stabilität unserer Demokratie zusätzlichgefestigt wurde durch den auch von diesem Kreis erbrachten Beweis,daß es genug Staatsbürger gibt, die in besonderen Zeiten besonderePflichten zu erfüllen bereit sind.Mit freundlichen Grüßengez[eichnet] W[illy] B[randt]

Nr. 82Aus den Ausführungen des Vorsitzenden der SPD, Brandt,auf der Sitzung des Parteirates der SPD13. Februar 19691

AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle 11/68–3/69.

Willy Brandt: Zunächst noch ein paar Worte zu dem, was Max[Seidel] eben ausgeführt hat,2 damit es dann hinterher keine Unklar-heiten gibt. Der Fraktionsvorstand hatte in der vergangenen Wochedie Anregung gegeben, daß erstens kurzfristig eine gemeinsame Sit-zung [an] Parteivorstand und Fraktionsvorstand zu diesem Gegen-stand durchgeführt werden sollte; und dann anschließend, also heutefrüh, eine Sitzung des Parteirates. Diese Anregung hat sich das Präsi-dium zu eigen gemacht. Ich war selbst nicht dabei. Ich habe ja einekleine Pause machen müssen. Aber ich war damit einverstanden. Fürdiejenigen, die etwa noch – wie im Landesverband Schleswig-Hol-stein – auf die statutenmäßige Seite zu sprechen kommen sollten,muß man zwei Paragraphen des Statuts nebeneinander sehen. Daseine ist der uns wohlbekannte Paragraph, der dem Parteivorstand,nicht dem Präsidium, auferlegt, das Präsidium, den Parteirat ein-zuberufen.3 Aber nach Paragraph 244 ist der geschäftsführende Vor-stand (Präsidium) für die laufenden Geschäfte da und kann in einersolchen Situation auch, ohne daß eine Vorstandssitzung stattge-funden hat, in einer besonderen Situation den Parteirat einberufen.

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Das entspricht bisheriger Praxis. Die Entschließung,5 liebe Genossen,die Euch vorliegt, die ist gestern abend von einer Kommission aus-gearbeitet worden, die die beiden Vorstände eingesetzt hatten. Ichhabe sie ebenso wie alle anderen heute früh auf den Tisch bekommenund kann nicht zu ihrer Begründung im einzelnen sprechen. Das,denke ich, werden Gustav Heinemann und Heinz Kühn tun, die imAnschluß das Wort ergreifen werden. Ich möchte ein paar all-gemeine Erwägungen und auch ein paar spezielle Hinweise voran-schicken. Ohne das, was um uns vor sich geht, über Gebühr dramati-sieren zu wollen, ohne es aber auch auf die leichte Schulter nehmenzu wollen, sage ich, es kommt darauf an, daß überall im Lande dasGefühl vorhanden ist oder verstärkt wieder hergestellt wird, daß mansich auf die SPD verlassen kann, möglichst in ihrer Gesamtheit, wo esum den Schutz der Bürger, um den Schutz der demokratischen Ein-richtungen und um den Schutz der Arbeitsplätze geht. Das ist das er-ste. Diese Partei hat gezeigt und sie muß erneut zeigen, daß sie fürden Schutz der Demokratie unabdingbar einzutreten weiß. Hier darfes keine Unsicherheit geben. So, wie es im Meinungsstreit, im Mei-nungsstreit ein betontes Recht von Minderheiten gibt, so gibt es dort,wo Meinungsstreit umschlägt in Gewalttätigkeit,6 nicht nur primär,sondern überhaupt das Recht der Angegriffenen, im demokratischenStaat. Ich meine also, den um sich greifenden Gewalttätigkeiten mußwirksam und einheitlich begegnet werden. Dabei kann es nichtzweierlei Maß geben. Dabei ist es wichtiger, bestehende Gesetze an-zuwenden, als nach neuen zu rufen. Und vor allem darf mit den Er-scheinungen, an die ich denke und über die ich spreche, nicht – unddabei denke ich nicht nur an das Wahljahr 1969, in dem wir stehen –damit darf die SPD nicht, auch nicht um die Ecke herum, identifiziertwerden können. Das ist der Ausgangspunkt. Dabei muß man dannergänzend wissen, daß die Auseinandersetzung mit Radikalismusund Terrorismus nicht allein eine Sache von Staatsbürgern seinkann. Sondern, daß sie vor allem auch sein muß, diese Auseinander-setzung, eine Sache des moralischen Engagements des Staatsbürgers.Und die SPD müßte sich an die Spitze dieses Engagements stellen.Aber ich sage auf einen möglichen Einwand hin, dabei geht’s auch

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nicht nur um moralisches Engagement. Dort, wo wir, wie in einerAnzahl von Städten, dem systematischen Versuch der Störung vonVersammlungen gegenüberstehen, und zwar in erster Linie gezieltauf Versammlungen der Sozialdemokratischen Partei, da kann dieReaktion darauf überhaupt keine andere sein, als daß diese Partei,wenn sie nicht waschlappig erscheinen will, sich das nicht gefallenläßt. (Beifall) Und dafür sorgt, daß sie ihre Auffassungen vor demBürger so entwickeln kann, wie sie ein Recht darauf hat. Aber laßtmich auch ganz offen sagen, ich denke, unsere Partei – die SPD – istkeine Partei von Klageweibern. Und von Impotenzlern. Ja, aber diesnoch in einer anderen Einsicht als der, an die der Zwischenruferdenkt oder eine <Zwischenruferin.>7 Wir haben zu fragen, was zu tunist, und es dann auch zu tun.Wir haben auch zu fragen, was versäumtwurde und dann, wenn wir die Antwort darauf finden, Abhilfe zuschaffen.Wir haben auch in einer Zeit, wo wir Werte, Einrichtungen,Prozesse der Meinungsbildung schützen müssen, zu fragen, was dasist, was uns an Tendenzen zunehmender Gewalttätigkeit begegnet,woher es kommt. Und so gut es geht, auseinanderzuhalten, das, wasan Terror und manchmal auch an Perversion sich entfaltet. Das, wasauch nicht bequem ist, aber was ganz anderes ist, nämlich ein ex-tremes Infragestellen überkommener Werte und etablierter Ord-nungen. Das ist nicht dasselbe, auch wenn es häufig sich aneinandereinreiht und ineinander fügt. Und drittens: woher kommt das Ge-währenlassen in einigen Gruppen und Schichten mehr als in an-deren? Das heißt, woher kommt ein gewisses Eingebettetsein ex-tremer Erscheinungen? Ich denke, wir müssen uns daran erinnern,daß die SPD für Schutz und Aufbau der Demokratie steht. Für Ord-nung und Freiheit einsteht. Für Stabilität und Fortschritt eintritt.Und deshalb erscheint es mir so wichtig zu sein, daß in unserer Stel-lungnahme zu diesem Komplex auch die Gleichgewichtigkeit zumAusdruck kommt, die in den eben genannten Begriffspaaren ausge-drückt sein soll. Zu einigen Diskussionen der letzten Zeit möchte ichsagen, wir sollten nicht glauben, daß die Zeit allein zum Jammern dasei. Und niemand, der sich in der Welt von heute umschaut, wirdganz leichte Antworten bei der Hand haben. Auf die Fragen, <denen>8

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wir gegenüberstehen. Bekanntlich macht ein Prozeß der Gärung unddes Aufbegehrens auch, wenn man so will, selbst vor den Kirchennicht halt. Alte Autoritäten, das ist schmerzlich für manchen, werdenan vielen Stellen der Welt, nicht nur bei uns in der BundesrepublikDeutschland, in Frage gestellt. Respektlosigkeit – auch Hemmungs-losigkeit – greifen um sich. Man spricht von einem anderen Lebens-gefühl vieler in einer neuen Generation. Nicht nur bei uns, in vielenTeilen der Welt greifen Elemente der Verrohung und der Gewalttä-tigkeit um sich. Ich frage mich selbst, ob nicht mehr, als wir langeangenommen haben, von dem, was hierin steckt, von Vietnam aus-gegangen ist. In der doppelten Hinsicht des nicht Verstehenkönnensund der täglich übermittelten Verrohung, wie es heute durch diemodernen Massenkommunikationsmittel eben sehr leicht, sehrleicht an den Mann gebracht wird. Nun, ich komme gleich noch ein-mal darauf zurück, was meiner Meinung nach zu tun ist. Was ichnicht für richtig halte, ist folgendes: angesichts ärgerlicher, zum Teilempörender Vorgänge uns eine Existenzkrise des Staates einreden zulassen. Das halte ich nicht für richtig und objektiv nicht für gerecht-fertigt. Wer übrigens eine solche Existenzkrise des Staates unter-stellen wollte, der würde noch mehr zugeben müssen, als ich es zu-gebe, daß die Ursachen dessen, womit wir uns befassen, woandersliegen müssen als bei einigen tausend oder einigen zehntausend inden Terrorismus gelegentlich abgleitenden Extremisten. Wenn wirzum Beispiel den Bereich der Universitäten nehmen. Wenn wir esdort beim Abschluß gerade dieses Semesters, an einigen Stellen mehr,an anderen weniger, deutlich mit einer verstockten, in den Terroris-mus abgleitenden Minderheit zu tun haben, mit der ein Gesprächsinnlos geworden ist, dann muß man doch auch eine Erklärung dafürbei der Hand haben, warum sich so relativ viele andere, wenn nichtmit dieser verstockten Minderheit solidarisieren, so doch es schwerhaben, sich zu entsolidarisieren. Und, ohne daß ich dies durchein-anderbringen will mit der Frage des sich nicht nur Absetzens vondem, was verdammenswert ist, will ich doch keinen Hehl machenaus meiner Überzeugung, daß vieles, was diesen Entsolidarisierungs-prozeß hemmt, damit zu tun hat, daß nicht unbedeutenden Gruppen

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in der jungen Generation unsere Gesellschaft nicht wahrhaftig genugerscheint, nicht aufgeschlossen genug erscheint und nicht reform-freudig genug erscheint. Ich frage mich, ob sich hier nicht noch Jahredanach manches von dem Denkfaulen rächt, was in dem Slogan,Keine Experimente‘9 zum Ausdruck kam. Und ich frage mich, ob wirselbst ein ganz bis zuletzt ganz gutes Gewissen dabei haben dürfen.Ob wir selbst ganz Schritt gehalten haben oder – um eine andere Seitezu nehmen, die auch mal gesagt werden muß, weil sie einen relativaktuellen Vorgang betrifft. Wie soll man eigentlich in einer schwie-rigen Situation der jungen Generation oder denen, die zu hören bereitund imstande sind, deutlich machen, daß diese Partei, obwohl sienicht die Mehrheit hat im Parlament, in einem mühseligen Ringenund so, daß einem manchmal die Lust daran vergehen kann, aber daßsie im Vorgriff auf eine hoffentlich stärkere Position darum gerungenhat, nicht nur diesen Staat wieder in Ordnung zu bringen mit seinerWirtschaft und seinen Finanzen, sondern die Voraussetzung zuschaffen für einige bedeutende Reformwerke. Was soll man denn ei-gentlich erwarten? Wenn daraufhin einige, die es besser wissen soll-ten, zum Beispiel an der Spitze großer gewerkschaftlicher Organisa-tionen, nichts anderes als eine globale Vermiesung dieses Bemühensunter die Leute bringen. Das selbstverständlich in der psycho-logischen Landschaft, in der wir uns befinden, ähnlich wie die Not-standskampagne, dann einen Nährboden schafft bei anderen, dieüber weniger Voraussetzungen verfügen für das Verständnis poli-tischer komplizierter, politischer Vorgänge und mühsamer Mei-nungsbildungsprozesse. Aber das ändert alles nichts daran. Wer Re-formen will, der muß nicht nur über Reformen reden wollen, so wiejetzt seit vielen Jahren über die Hochschulreform geredet wird, son-dern der muß verändern wollen. Mit verbalen Beschwichtigungen istes da nicht getan. Und ich möchte hier ein Wort aufgreifen, das ichgestern im Parteivorstand verwendet habe, wir müssen der heim-lichen Koalition, die es an den Universitäten gibt, zwischen denrückständigen und egoistischen Professoren einerseits und terroris-tischen, nicht an Reform[en] interessierten Studentengruppen an-dererseits, wir müssen dieser heimlichen Koalition, die zugleich un-

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heimlich ist, eine Koalition der Reformer gegenüberstellen.10 DiePartei darf nicht müde werden in diesen ihren Bemühen. Überall, wosie für vernünftige Reformwerke Unterstützung finden kann, auchpartiell zu kooperieren. Auch partiell zu kooperieren. Wer sich mitGewalt revolutionär gebärden will, den muß man in diesem An-spruch ernst nehmen und entsprechend hart begegnen. Terror mußgebrochen werden. Da darf man nicht mit sich spielen lassen, undwer uns – wie auch immer motiviert – zum Hauptfeind erklärt, wirdohnehin nicht mit besonderem Langmut rechnen dürfen. Und wersich nur mit solchen Erscheinungen auseinanderzusetzen hat, in derArt von Staat, in dem wir leben, der verdient dafür nicht getadelt zuwerden, sondern der verdient Verständnis. Und die, die zum Beispielda als Polizeibeamte ihren Dienst tun, müssen wissen, daß die So-zialdemokratische Partei hinter ihnen steht. Hinter ihnen steht. Dasschließt gar nicht aus, daß es auch in solchen Bereichen immer malwieder das eine oder das andere zurecht zu rücken gilt, das ist ja auchein ganz verständlicher und nicht neuer Vorgang. Aber wenn es dieseSolidarisierung nicht gibt, dann gibt es statt dessen eine Demorali-sierung im Staat. Und dann wird es Zersetzungserscheinungen geben,die über die aktuellen Vorgänge weit hinausreichen. Wer sich nichtmit konkreter Politik auseinandersetzen will, mag dafür seine Be-gründungen haben. Aber er hat dann im demokratischen Meinungs-austausch nichts zu suchen. Wobei ich übrigens – um auch das offenzu sagen – wobei ich immer noch einigen jungen Leuten eher einenRabatt gewähre auf ihre Erkenntnisse und Entwicklungen in denkommenden Jahren, als mich mit denen zu solidarisieren, die hier amliebsten lebenslängliche Verurteilungen herbeiführen möchten, wiein manchen konservativen Schichten unseres Volkes es geschieht,während sie nicht mehr erinnert werden möchten, wie vor einer Ge-neration nicht nur Steine geworfen worden sind und Fenster-scheiben kaputtgemacht worden sind, was schlimm genug ist, son-dern Millionen Menschen umgebracht worden sind und man esnicht – auch die Regierung hat bisher nicht die Kraft dazu gehabt –für richtig hält, dieses Kapitel bis zu Ende rechtlich auszustehen.11

Das gehört auch zu den Elementen dessen, was nicht zusammenpaßt.

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Und was mit zur inneren Unwahrhaftigkeit des Staates und der Ge-sellschaft führt. Aber auf die Partei selbst bezogen, liebe Genossen.Die Partei – und dies ist ein dringlicher Appell vor allem an alle Be-zirks- und Landesvorsitzenden, mit der Bitte, es in den Vorständen zubesprechen, mit der Bitte, es weiterzugeben in die Unterbezirks-organisationen – die Partei muß jetzt endlich abschütteln, was nichtzu ihr gehört und was fälschlich mit ihr identifiziert wird. (Beifall)Die Partei darf den Mißbrauch ihres Namens nicht hinnehmen.Wo eine Arbeitsgemeinschaft oder eine andere Organisation unterfälschlicher Verwendung des Namens Sozialdemokratisch auf deneben genannten Gebieten eine frontal gegensätzliche Position be-zieht,12 dann muß der Trennungsstrich völlig deutlich gemacht wer-den. Hier müssen wir rasch reagieren, wachsam sein, durchgreifen,wo durchgegriffen werden muß, nicht erst für den Wahlkampf, abernatürlich auch für den Wahlkampf, zusätzliche Vorkehrungen tref-fen, damit Versammlungen geschützt werden können. Nebenbei ge-sagt, nicht nur damit Versammlungen geschützt werden können. Fürden zur Revolution neigenden Teil in der jungen Generation, dernicht ganz identisch ist mit dem auf Gewalttätigkeiten festgelegten,bedarf es auch in der Partei größeren Wissens, größerer geistiger Ka-pazität in der Auseinandersetzung mit den Ideen, abstrus, wie siemanchmal sein mögen. Mit anderen Worten, es gehört für mich mitden zu den Lehren übrigens des Kongresses mit der jungen Genera-tion, den wir neulich hatten,13 daß, obwohl eine ganze Anzahl loyalzur Partei stehende junge Menschen da waren, die Bereitschaft undFähigkeit, sich auseinanderzusetzen, unterentwickelt war[en], offen-sichtlich unterentwickelt war[en]. Wir brauchen eine genügend, einegenügend große Zahl gerade auch von jungen Menschen, die nebenden Fragen der Tagespolitik nicht nur Bescheid wissen über das, <wasman die Tomologie des Kommunismus nennen könnte – Entomo-logie ist bekanntlich Insektenkunde, dann wird klar, was Tomologieheißen soll –>14, sondern die auch sich mit dem Anarchismus aus-einandersetzen können, mit dem sich die Partei ja in ihren frühenJahrzehnten schon lange – nebenbei gesagt, sogar auf Parteitagen –hat auseinandersetzen müssen.15 Liebe Genossen, nicht Kleinmut,

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nicht ein Sicheinengen und Verkrampfen, schon gar nicht Fatalis-mus ist die angemessene Antwort auf die Art von Herausforderung,mit der wir es zu tun haben, sondern ein kämpferisches Selbst-bewußtsein, zu dem auch gehört – und hier auch die Bitte um dasNachdenken, die Bitte vor allem an die Bezirksvorsitzenden – es ge-hört dazu auch, zu zeigen, wie stark wir sind. Die Mehrheit muß zei-gen, wie stark sie ist. Durch ihre Veranstaltung. Das wird es übrigensauch leichter machen. Einen Vorgang abzuwickeln, den wir ohnehinvorgenommen haben. Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt,aber es gehört mit in den Parteirat. Mit denen, die für Funk undFernsehen – vor allen Dingen für das Fernsehen Verantwortung tra-gen – nach den Erfahrungen des letzten Jahres erneut zu sprechen,um den Versuch zu machen, sich darüber zu verständigen, ob dieWertigkeit und Gewichtigkeit von Nachrichten nicht heute anderszu sehen ist als vor einem Jahr und ob nicht der Effekt des Fernsehensals Verständigungsinstrument zwischen den Angehörigen extremerMinderheiten ernster genommen werden muß. Aber ich sage für diePräsentation dessen, was interessant ist in unserem Volk, gehörtauch, daß die SPD nicht erst im Wahlkampf, sondern vorher zeigt,daß sie lebendig und wie stark sie ist. Alle Bemühungen, die alleinpolizeilich und disziplinarisch bestimmt sind, werden meiner Über-zeugung nach scheitern. Wir dürfen uns bei der klaren Abgrenzung,von der ich spreche, von den eigentlichen Aufgaben nicht abbringenlassen, wir dürfen in einer solchen Auseinandersetzung das Bild derReformpartei nicht verdunkeln lassen. Nur so kann ich mir die Füh-rung eines Wahlkampfes vorstellen, nur so – noch genauer gesagt –kann ich ihn mitführen, nicht anders. Dabei bleibt richtig, daß dieExtremisten einander in die Hände arbeiten. Nicht richtig ist es, aufGrund der momentanen besonders herausfordernden, empörenden,zerstörerischen Aktivitäten anarchistischer oder ähnlicher Provo[ka-tionen] den Rechtsradikalismus weniger ernst zu nehmen. Das istübrigens nicht rein schematisch ein Problem NPD. Obwohl ich be-dauere, daß man sich zu einer Zeit, die dafür günstigere Voraus-setzungen schuf, auch rechtlich, als heute, nicht hat entschließenkönnen, die Partei mit den Richtern in Karlsruhe zu konfrontieren.16

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Es ist nicht identisch mit NPD, ich habe darum auf dem NürnbergerParteitag absichtlich von Nazismus gesprochen,17 von dem ich meine,<daß er>18 teils in der NPD und teils außerhalb ihr steht. Und vondem ich genagt habe, er sei Verrat, schlicht Verrat am Land und Volk.Und da ist es für mich gar kein Trost, daß die sich im Moment ma-nierlich benehmen. Die Schreibtischmörder im Dritten Reich habensich auch sozusagen manierlich benommen. Das gilt nun anderer-seits wieder auch für bestimmte Schreibtischtäter, auf die sich mitmehr oder weniger Recht manche Gruppen der extremen Linken be-ziehen. Wir müssen – ohne daß uns das im praktischen sehr hilft,aber die begriffliche Klärung ist ja auch nicht unwichtig – wir müs-sen sehen, daß die Studentenunruhen, die Neigung zu Anarchismus,eine zunehmende Neigung zu Gewalttätigkeiten in gesellschaft-lichen Abläufen eine bedauerliche, aber eine internationale Erschei-nung sind. Deshalb muß man auch immer genau hingucken, waswoanders ist, nicht um sich zu trösten, es sei ja woanders nicht besserals bei uns, sondern um immer noch mal den Versuch zu machen, zuverstehen und Argumente dafür zu kriegen, wie man differenzierenkann. Nazismus gleich Völkermord wird auch in der Welt des Jahres1969 weiterhin primär mit dem Volk identifiziert, in dem wir lebenund für das wir unser Stück Verantwortung tragen. Als auch hierGleichgewichtigkeit der Betrachtung. Ich habe vorgestern vor derFraktion gesagt, damit laßt mich schließen, ich muß sehr herzlichdarum bitten, daß wir der gelegentlichen Neigung zum Fatalismuswiderstehen. Wenn ich allein an die letzten paar Jahre denke, es gabeine solche Neigung in Teilen der Partei nach der Bildung der gegen-wärtigen Regierung. Da konnte man an sich brave Genossen treffen,die sagten, das ist ja nun wohl klar, die Partei wird nicht nur die Wahl1969, sie wird auch die Wahl 1973 verlieren, und dann kann manwieder anfangen zu reden, wie man die Wahl 1977 plant. Das warhier und dort die Meinung. Dann gab es die Reaktion auf bestimmteNPD-Entwicklungen, zumal in Verbindung mit Baden-Württem-berg.19 Und anstatt die Auseinandersetzung zu führen, ging das Ge-rede um, das war nun nicht so sehr bei der SPD, das war anderswonoch mehr, als ob kein Kraut dagegen gewachsen sei, daß die NPD

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mit 10, 12 oder mehr Prozent in den Bundestag einziehen würde.Wasnirgends geschrieben steht. Und bei entsprechendem Verhalten zu-sätzlich zu einer einigermaßen günstigen Konjunktur lassen sie sichsogar sehr viel weiter runterhalten, als viele es vor einem Jahr fürmöglich gehalten haben. Jetzt gibt es eine Neigung hier und da, undder sollten wir nicht erliegen, zu meinen, es sei ein Naturgesetz, daßdas, was man APO nennt, unscharf übrigens begrifflich, sowohl vondort aus gesehen wie in der Betrachtung des Vorgänge, aber wir wis-sen schon, was wir damit meinen, ich meine nun insbesondere denanarchistisch gewalttätigen, terroristischen Bereich, daß dies schonim Vorweg den Erfolg dar CDU/CSU sichere oder – wie ich irgendwogelesen habe – für 20 Jahre die[se] erneut als Staatspartei etablierenwerde. Dem muß man entgegentreten. Daß Gefahren da sind, daßsich das hochschaukelt, das ist klar. Um solche Gefahren abzuwen-den, müssen wir nicht nur die Abgrenzungen vornehmen, von denenich spreche, sondern auch die Schutzmaßnahmen, nach denen wirnicht nur bei anderen rufen sollen, sondern zu denen wir uns selbstentschließen müssen. Aber wir müssen das tun in dem Bewußtsein,daß wir selbst Fehlentwicklungen verändern können. Wir müssen indiesem Sinne auch aus Anlaß dieses Gegenstandes die Partei nichtmit niederdrücken in Zweifeln, sondern sie hochreißen. Nur dannkönnen wir der Bevölkerung, und nur dann kann die Partei der Be-völkerung Vertrauen geben. Ich kann niemandem helfen angesichtsder Tatsache, daß wir in dieser unserer Gesellschaft mit Schwierig-keiten zu leben haben werden. Mit denen hat man zu leben, um denErdball herum. Und denen muß man nachgehen und die muß mandifferenzieren, sage ich noch einmal. So gut man es kann. Da mußman trotz allen Ärgers und trotz berechtigter Empörung immer dabeibleiben, möglichst viel junge Leute [zu] gewinnen, statt den Stabvorzeitig über sie brechen zu wollen. [Das] gehört auch zum Diffe-renzieren. Und da muß man vor allem – auch dort, wo man sich hartauseinanderzusetzen hat – die Demokratie mit so viel Leben und soviel Lebendigkeit erfüllen, daß sie die Anfeindungen, denen sie aus-gesetzt ist, ohne ernste Gefahr überstehen kann. [. . .] Ich danke fürEure Aufmerksamkeit. (Beifall)

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Nr. 83Aus dem Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für die Südwest Presse18. März 19691

SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 86/69 vom 17. März 1969.

Frage: Die Mitteilung des Präsidiums der SPD, Sie seien auch 1969 derKanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei,2 hat Über-raschung ausgelöst. Schließlich hatten Sie 1965 auf eine erneuteKandidatur praktisch verzichtet.3 Gibt es für diese Änderung IhresEntschlusses besondere Gründe?Antwort: Das Präsidium der SPD hat mich nicht als „Kanzlerkandi-dat[en]“ benannt, sondern es hat den zuständigen Gremien der Parteiempfohlen, mich „als Kanzler einer sozialdemokratisch geführtenBundesregierung“ zu nominieren.

Sie weisen zu Recht darauf hin, daß ich 1965 erklärt habe, ichwürde mich nicht erneut um die Führung der Bundesregierung be-werben, das habe ich auch nicht getan. Das Präsidium meiner Parteihat vielmehr empfohlen, der jetzige Außenminister und Vizekanzlersollte die Führung der Regierung übernehmen, wenn der Wahlaus-gang dies möglich macht.Frage: Ist es richtig, daß eine Gruppe in Ihrer Partei lieber Bundes-wirtschaftsminister Professor Schiller als Kanzlerkandidaten der SPDsähe?Antwort: Ich glaube, hier geht es mehr darum, Gruppen innerhalbmeiner Partei zu konstruieren. Karl Schiller und ich denken nichtdaran, uns gegeneinander ausspielen zu lassen. Im übrigen ist es gut,wenn eine Partei mehrere Personen hat, denen man zutraut, daß siewichtige und wichtigste Führungsaufgaben erfüllen können.Frage: Wer soll Ihrem Schattenkabinett angehören und wann wird esoffiziell vorgestellt?Antwort: „Schattenkabinett“ ist etwas für die Opposition, die SPD istin der Regierung. Wir haben eine Regierungsmannschaft, die sich

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bewährt hat. Wir haben eine Fraktionsführung im Bundestag, diesich gleichfalls bewährt hat. Wir haben außerdem keinen Mangel annachrückenden jungen Führungskräften. Auf dem SPD-Parteitag inBad Godesberg im April wird zu diesem Thema Näheres mitgeteiltwerden.4

Frage: Schließt Ihr Entschluß zur Kanzlerkandidatur die Möglichkeiteiner Koalition SPD/FDP nach den Bundestagswahlen ein?Antwort: Die CDU hat erklärt, daß sie lieber mit der FDP als mit derSPD koalieren möchte. Die SPD will stark genug werden, um anhandder zu lösenden Sachfragen selbst zu entscheiden, wie die kommendeBundesregierung zusammengesetzt sein soll.Frage: Wird Ihr relativ früh bekundeter Anspruch auf die politischeFührung nach den Wahlen das Klima in der Großen Koalition jetztzusätzlich belasten?Antwort: Durchaus nicht. SPD und CDU haben beide erklärt, daß siedie politische Führung haben wollen. Der Wähler wird darüber ent-scheiden müssen. Inzwischen ist noch viel sachliche Arbeit zu leis-ten. Ich halte nichts von der „Opposition in der Koalition“, wie sie inzunehmendem Maße durch den Bundesfinanzminister in dessen Ei-genschaft als CSU-Vorsitzender betont wird.Frage: Stimmt es, daß eine Reform unseres Wahlrechts von IhrerPartei ad acta gelegt worden ist,5 nachdem die FDP, der eine Wahl-rechtsänderung zuerst schaden würde, die Wahl des SPD-KandidatenGustav Heinemann zum Bundespräsidenten ermöglicht hat?6

Antwort: Mit der FDP sind vor der Wahl Gustav Heinemanns zumBundespräsidenten seitens der SPD keinerlei Absprachen getroffenworden, auch nicht zum Wahlrecht. Was die SPD 1969 zum Wahl-recht zu sagen hat, wird man auf dem Godesberger Parteitag7 er-fahren können.>8

[. . .]

440 Interview für die Südwest Presse, 18. März 1969

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Nr. 84Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Wehneran den Vorsitzenden der SPD, Brandt24. September 19691

AdsD,WBA, A 11.3, 15.

Lieber Willy!So, wie es aussieht, wirst Du wohl keine Gelegenheit haben, mit mirvor der Wahlnacht zu sprechen. Ich kenne nicht die Gespräche, diemit anderen über denkbare oder wünschbare Regierungskombina-tionen nach der Wahl geführt worden sind. Es ist andererseits nichtmeine Absicht, mit eigenen Gesprächen solche Kombinationen zukonstruieren oder von Dir und Deinen Freunden ins Auge gefaßteKombinationen zu durchkreuzen. So, wie die Dinge laufen, erscheintes mir aber erlaubt und ratsam, Dir eine knappe Übersicht zu geben,die ich heute niedergeschrieben habe, um mir selbst und möglicher-weise auch Dir vor Augen zu führen, was bedacht werden muß odersoll.2

Über jede Überlegung läßt sich naturgemäß diskutieren. Es istnicht zu vermeiden, daß die unter A, B und C niedergeschriebenenÜberlegungen miteinander in Beziehung gebracht werden müssen,das heißt, Abwägen erforderlich ist. Vielleicht kann meine kleine Ta-belle zum Abwägen beitragen.

Wenn ich unter A 1 und unter C 1 jeweils der Großen Koalitiondie Priorität gegeben, aber die Koalition SPD-FDP nicht ausgeschlos-sen, sondern sie als nächste Wahl notiert habe, so möchte ich dazuerläuternd hinzufügen, daß dies bei A 1 bedeutet, das Gewicht derSPD im Kabinett zu erhöhen, während es bei C 1 die Annahme derWahrscheinlichkeit ausdrückt, mit der CDU werde sich in dieser Be-ziehung konkreter über die in Frage kommenden Schwerpunkte eineVerständigung erzielen lassen als mit der FDP. Daß sich von diesenZahlen her bei jedem der beiden denkbaren Partner ein Sachzwangergeben könnte, möchte ich nicht unerwähnt lassen.

441 Wehner an Brandt, 24. Sept. 1969

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Wahlplakat 1969

442 Wehner an Brandt, 24. Sept. 1969

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Schließlich muß dabei stets bedacht werden, daß es unter ge-wissen Umständen bei bestimmten Fragen die heimliche kapitalis-tische Koalition von CDU und FDP geben kann und wird (siehe dieAbstimmungen in den Ausschüssen bei Gesetzen wie dem über dieLohnfortzahlung oder bei städtebau- und mietpreispolitischenStreitfragen).

Falls meine persönlichen Wünsche Dich interessieren, somöchte ich nur kurz bemerken, daß ich am liebsten nicht ein zweitesMal in einer Regierung, die so geführt wird wie die jetzige, tätig seinmöchte. Andererseits kann es Umstände geben, die das unvermeid-lich machen können. In jedem Fall bedarf es gründlichster und all-seitiger Überlegungen, falls wir uns genötigt sehen sollten, die Auf-gabe der Opposition zu übernehmen. Dabei dürfen wir uns nicht vonnoch so verständlichen Stimmungen mitschwemmen lassen, vor al-lem nicht von eigenen.

Was meine eigene Position in der gegenwärtigen Regierung be-trifft und die Denkbarkeit ihrer Fortsetzung oder Erneuerung, sobitte ich unter allen Umständen, mir Gelegenheit zu geben, meineeigenen Ansichten darüber in Ruhe vortragen zu können.3 Wenn esauch nur die mindeste Chance geben sollte, die Position, die ich ge-genwärtig halte, durch einen Sozialdemokraten zu besetzen, dernicht in dem Rufe steht, in dem ich stehe, so soll diese Chance wahr-genommen werden. Allerdings unter der Voraussetzung, dabei keineIllusionen zu haben oder zu nähren. Auch ein gefälligerer Mann alsich wird es immer wieder mit Zementmauern zu tun bekommen, dievon der anderen Seite errichtet, befestigt und gehalten werden.Mit guten Wünschen und herzlichem GrußDein<Herbert Wehner>4

443 Wehner an Brandt, 24. Sept. 1969

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Nr. 84AAnlage: Ausarbeitung des stellvertretenden Vorsitzenden derSPD Wehner über mögliche Regierungskombinationen

A: Vom Wahlresultat her:1. Bei gleichzeitiger Mandatszunahme der SPD

und gleichzeitiger – Abnahme der CDU . . . . . Gr[oße] Koalition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SPD – FDP

2. Bei Stimmenrückgang und Mandatsverlust der SPDund gleichzeitiger Zunahme der CDU . . . . . . . . . . . . . Opposition

3. Bei absoluter Mehrheit der CDU-Mandate. . . . . . . . . . Opposition4. Bei Anwesenheit der NPD, verstärkter SPD und

geschwächter CDU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SPD-FDPGr[oße] Koalition

5. Bei Anwesenheit, der NPD, geschwächter SPDund verstärkter CDU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opposition

B: Von den politischen Notwendigkeiten her1. Ablösung der CDU/CSU durch eine von der SPD geführte Koali-

tion2. Dezimierung einer in den Bundestag eingezogenen NPD durch

eine von der SPD geführte Koalition oder in zweiter Wahl durchGr[oße] K[oalition]

3. Opposition durch SPD gegen absolute Mehrheit der CDU (ob siedann allein oder mit der FDP regiert)

C: Von den politischen Neigungen der denkbaren Partner und denNotwendigkeiten der SPD her

1. Wirtschafts- und Finanzpolitik aus einem Guß als Grundlage fürdie sozialen und kulturellen Erfordernisse ist schwierig in Kom-bination CDU-SPD und in Kombination SPD-FDP. Bei Schwer-punkt-Verständigung und unter Berücksichtigung der unter Aangeführten Kriterien wahrscheinlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gr[oße] Koalition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SPD-FDP

444 Ausarbeitung Wehners über mögliche Regierungskombinationen

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2. Auswärtige, Sicherheits- und Deutschlandpolitik (Friedens-Si-cherheit) ist schwierig mit CDU infolge der Haltung der CSU undwird schwierig in Kombination mit der FDP sowohl wegen derenNeigung zum Spekulativen nach der anderen Richtung als auchwegen der nationalistischen Opposition der CDU/CSU, insofernderen Zahl ins Gewicht fallen würde . . . . . . . . . . . . . . . . SPD-FDP

Gr[oße] Koalition

Nr. 85Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an die stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Wehner undSchmidt,den Schatzmeister der SPD, Nau,und den Bundesgeschäftsführer der SPD, Wischnewski22. Dezember 19691

AdsD,WBA, A 11.3, 15.

Liebe Freunde,da die Besprechung am vergangenen Mittwoch ausfallen mußte,möchte ich in Stichworten die Punkte festhalten, die ich – neben ei-nigen Personalien – gern erörtert hätte. Wir müssen versuchen,möglichst bald nach dem 10. Januar [1970] zu einem Termin zukommen.

1. Es bleibt nicht viel Zeit, um dem Parteivorstand am 24. Ja-nuar [1970] die Tagesordnung für den Parteitag zu unterbreiten.

Wichtig sein wird, ob die Arbeitsgruppe zu dem Ergebniskommt, daß sich eine erste „quantifizierende“ Präsentation unsererGesellschaftspolitik so rasch darstellen läßt. Und, wenn ja, wer derRedner sein soll.2

2. Ich stimme dem Vorschlag von Helmut [Schmidt] zu, fürden Parteivorstand ein Arbeitsprogramm aufzustellen, das es möglich

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macht, im Laufe des Jahres – neben der laufenden Arbeit – einigewichtige Themen vorklären und diskutieren zu lassen.3

3. Zu erwägen gebe ich, ob Parteivorstandssitzungen – jeden-falls 1970 – nicht doch wieder häufiger außerhalb Bonns durch-geführt werden sollten.4 Das ginge nur in parlamentsfreien Wochen,und es dürfte sich nicht um bloße „Solidaritäts“-Sitzungen in Ver-bindung mit Wahlen handeln. – In den ersten Nachkriegsjahrenwurden die PV-Sitzungen sicherlich auch deshalb vielfach außerhalbvon Hannover abgehalten, weil man sich davon eine integrierendeWirkung versprach. Vielleicht haben wir das, unter veränderten Be-dingungen, wieder nötig.

4. Meines Wissens haben Alfred [Nau] und Hans-Jürgen[Wischnewski] überlegt, wie die Arbeitsverteilung innerhalb desPräsidiums neu geregelt werden könnte.5 Vielleicht sollte man da-mit aber, von Einzelfragen abgesehen, bis nach dem Parteitag war-ten.

Unabhängig davon sollten wir das kürzlich begonnene Gesprächdarüber fortsetzen, wie wir die auf unseren engen Kreis bezogeneArbeit möglichst gut zuordnen.

5. Die Zusammenarbeit zwischen einigen Regierungsmit-gliedern droht schwieriger zu werden, als ich es vermutet hatte. Ichdenke dabei nicht daran, daß man aus einem Kabinett von heute aufmorgen ein Team machen könnte; hier werden sich ohnehin nurAnnäherungswerte erreichen lassen. Viel gefährlicher sind die, zu-nehmend auch bedenklicher in die Öffentlichkeit dringenden, nichtaufeinander abgestimmten Äußerungen zu wirtschaftspolitischenund damit verbundenen Fragen. Hinzu kommt, daß manche Sozial-demokraten in Ländern, Gewerkschaften etc. schon zu diesem frühenZeitpunkt nicht mehr zu bedenken scheinen, was auf dem Spielsteht. Ende vergangener Woche haben wir an einunddemselben Tagerlebt, daß unterschiedliche Meinungen zu Grundfragen der Wirt-schafts- und Finanzpolitik durch Pressekontakte hochgespielt wur-den; daß der ÖTV-Vorsitzende [Heinz Kluncker] eine Einigung beiden Tarifverhandlungen ablehnte, obwohl wir bis an die Grenze desjetzt Vertretbaren (nach Schillers, Lebers und anderer Meinung: über

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diese Grenze hinaus) gegangen waren; daß die Kriegsopfervorlage imBundesrat unter Mitwirkung unserer Stuttgarter Freunde gestopptwurde; daß die Steuervorlagen der Bundesregierung (hinter die ichfreilich, was den zeitlichen Ablauf angeht, in der letzten Parteirats-sitzung selbst ein Fragezeichen gesetzt hatte) von Sozialdemokratenaus den Ländern behandelt wurden, als hätten sie zum ersten Maldavon gehört und wüßten nicht, daß Beschlüsse vor und nach derWahl vorlagen.

Eine der wichtigsten Aufgaben im Januar wird es sein, daß wirnicht nur zentral zu den notwendigen Klärungen kommen, sondernauch unsere Freunde „außerhalb von Bonn“ mit den neuen Not-wendigkeiten vertraut machen. Um das, was das Kabinett angeht,muß ich mich selbst kümmern; aber auch dabei brauche ich EureUnterstützung. Für das übrige brauchen wir den Parteivorstand, denGewerkschaftsrat, vielleicht auch eine Zusammenkunft mit denLandes- und Bezirksvorsitzenden.

Die zunächst für heute vorgesehene Kabinettssitzung habe ichabgesagt. Karl Schiller wäre wohl ohnehin nicht dabei gewesen. Ichhabe ihn gebeten, seinen Urlaub nicht zu verschieben; es wird daraufankommen, daß wir ihm bei seiner schwieriger gewordenen Aufgabehelfen, so gut wie wir können. Alex Möller entlastet die Lage sehrdurch seine Erklärungen zu den Empfehlungen des Finanzkabinetts.Aber der Januar wird harte interne Diskussionen bringen. Es kommtdarauf an, sachliche und persönliche Brüche zu vermeiden und derBevölkerung eine plausible Deutung der zu erwartenden Entwick-lung zu geben.

6. Außenpolitisch zeigt sich, daß manche unserer Freunde Il-lusionen gehabt haben und immer noch haben. Die Opposition liegtdabei nicht weniger schief, aber sie wird alles versuchen, unsereDeutschlandpolitik als gescheitert hinzustellen. Die Ostlage ist diffe-renzierter als die Illusionisten und die Negativisten verstehen, aberdie Differenziertheit der Lage und die Schwierigkeit der Aufgabe sindnicht immer leicht darstellbar. Wir werden uns um viel Behutsam-keit bemühen müssen. Mein Bestreben wird es deshalb beim „Berichtzur Lage der Nation“ sein,6 in diesem Augenblick nicht mehr Kon-

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troversen auszulösen, als wegen der Absichten der Gegenseite ohne-hin vermeidlich ist.Besten Grußgez[eichnet] W[illy] B[randt]

Nr. 86Aus der Rede des Vorsitzenden der SPD, Brandt,auf dem Bundeskongress der Jungsozialisten in Bremen11. Dezember 19701

SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 473/70 vom 11. Dezember1970

[. . .]Friedenspolitik und innere Reformen gehören zusammen.Wir habenbegonnen, Versäumtes aufzuholen, Überfälliges anzupacken, neueElemente der Demokratie in der Bundesrepublik zu entwickeln.

Wir stehen erst am Anfang eines Weges, der lang und müh-sam sein wird. Eines Weges, der uns erst in vielen Einzelschrittendem gesetzten Ziel näherbringen wird. Er birgt Chance und He-rausforderung zugleich. Die Chance, sich den gesellschaftlichenProblemen zu stellen und selbst gestaltend an den Lösungen mit-zuarbeiten, unsere gesellschaftliche Zukunft wesentlich mit zuprägen. Die Herausforderung, aktiv im Wettstreit der Ideen undAuffassungen der politischen Kräfte unseres Landes einen von derMehrheit bejahten Weg der Reformen zu finden und durch-zusetzen.

Es ist in diesem Zusammenhang notwendig, dass wir über denInhalt sprechen, den wir unserer Reformpolitik geben wollen, aberauch darüber, wie die einzelnen Vorhaben zu realisieren sind. Hierzumöchte ich an eine Diskussion erinnern, die nach meiner Meinungzu den Höhepunkten des Saarbrücker Parteitages gehörte.

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Hans Eichel, Mitglied des Bundesvorstandes der Jungsozialisten,hatte im Rahmen der Diskussion über mein Referat das Problem derReformen unter dem Gesichtspunkt der systemüberwindenden Wir-kung behandelt. Die Jungsozialisten wollen, so sagte er, Reformen,die auch zugleich mehr Demokratie in diese Gesellschaftsordnunghereinbringen. Einschränkend fügte er hinzu, dass die innenpoliti-sche Realität der Bundesrepublik nicht verkannt würde.2 HerbertWehner hat zu den Ausführungen von Hans Eichel ausführlich Stel-lung genommen. Und Norbert Gansel erklärte anschliessend, dass dieJungsozialisten diese Ausführungen kritisch und selbstkritisch über-arbeiten würden.3

Herbert Wehner sagte damals, er rate dazu, Reformen nicht zuklassifizieren in solche, die als systemüberwindend, und in andere,die als nur systemgerecht bezeichnet würden. Er wolle damit nichtbehaupten, dass es keinen Unterschied zwischen dem Karatgehaltvon Reformen gäbe, aber er wolle davor warnen, sich in eine Be-griffsauslegung zu verstricken. Nun zitiere ich wörtlich:

„Alle Reformen erfordern Augenmass und Leistungsfähigkeit,Augenmass für das, was nach unserem Verständnis der Wirklichkeitnotwendig ist, und Augenmass dafür, in welchem Grade unter dengegebenen Verhältnissen das, was für notwendig gehalten und alsnotwendig erkannt wird, zu verwirklichen ist. Dazu bedarf es desAugenmasses auch für die Gegenkräfte, die durch bestimmte Refor-men herausgefordert, herausgelockt werden oder vielleicht zeitweiligsogar unsere eigenen Kräfte in Bedrängnis bringen könnten. Zwei-tens bedarf es der Leistungsfähigkeit. Dazu gehört erstens die Kraft,die dafür sicher ist, ferner diejenige, die zusätzlich durch bestimmteReformen aufgebracht werden kann, auch wenn es sich nur umpunktuelle Reformen handelt. Dazu gehört aber auch – das ist etwas,worüber man leidenschaftslos sprechen muss, auch wenn es in derPraxis sehr schwierig zu lösen ist – die finanzielle Leistungsfähigkeit,und zwar sowohl die direkte, die eine Reform oder eine Reihe vonReformen zur Voraussetzung haben, als auch die indirekte, nämlichdie Auswirkungen auf andere, auf den Anreizeffekt und was dabeinoch zu bedenken ist.“4

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Wehner sagte weiter, es gehe nicht um einen theoretischenStreit, um die Begriffe Reform oder Revolution, sondern „vielmehrum ein Ringen darum, die Basis für solche Reformen zu halten und zuverbreitern, die dem konkreten Menschen helfen und dadurch un-sere eigene Basis für immer weitergehende Reformen vergrössern.Das ist ein Prozess, das ist auch ein dialektisch zu verstehender Pro-zess.“5 Wirtschaftliche Macht dürfe nicht die Grundrechte zugunstender Konservierung von Privilegien schmälern. Er kenne wohl denUnterschied zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit.Aber wir dürfen uns und andere nicht in Konflikt mit dem Verfas-sungstext bringen lassen, während dieser uns in Wirklichkeit helfenkönne, die Verfassungswirklichkeit konformer zu machen in dem,was die Menschen brauchen.

Herbert Wehner hat von einem Prozess des Ringens gesprochen,das Grundgesetz und das Godesberger Programm in diesen Prozesshineingestellt, sich auf Gustav Heinemanns Vision der Freiheit füralle berufen und gefragt, was wichtiger ist: sich über Veränderungenzerstreiten oder Veränderungen durchführen. Wer die Flagge zeigenwolle, brauche dafür auch den Boden, damit sie stehen und weiter-getragen werden kann. Ich meine, dies ist eine gute Grundlage fürdiesen Teil der Diskussion.

Und ich meine: Obwohl wir nicht die Mehrheit im Bundestaghaben und die Regierungsverantwortung in loyaler Weise gemein-sam mit den Freien Demokraten tragen, haben wir im Innern einePolitik eingeleitet, mit der wir bestehen können.

Zuerst einmal eine Feststellung: im jetzt zu Ende gehenden Jahrkonnten die Arbeitnehmer ihre Reallohnposition stärker als in jedemJahr zuvor verbessern. Die Lohnquote, die langfristig zwar ein un-sicheres Mass, von Jahr zu Jahr jedoch ein deutliches Zeichen derVeränderung ist, hat sich zugunsten der Arbeitnehmer verschoben:von 65,4 Prozent im Jahre 1969 auf 67,4 Prozent im Jahre 1970.

Von den Gesetzen, die im ersten Jahr der laufenden Legis-laturperiode eingebracht oder verabschiedet wurden, möchte ichnur einige wenige nennen, die besonders die Arbeitnehmer be-treffen:

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1. Auf dem Gebiet der sozialen Sicherung ist das zweite Kran-kenversicherungsänderungsgesetz – nicht nur wegen des Arbeit-geberanteils für die Angestellten – von ganz grosser Bedeutung. Diesgilt auch für die Dynamisierung der Kriegsopferrenten.

Die Leistungen des Kindergeldgesetzes konnten im Rahmen derfinanziellen Möglichkeiten verbessert werden. Die Ausschüsse be-raten ausserdem das von der Bundesregierung im August einge-brachte Gesetz zur Einbeziehung der Schüler und Studenten in diegesetzliche Unfallversicherung.

2. Auf dem Gebiet der verbesserten Sparförderung sind Lö-sungen zugunsten der schwächeren Gruppen gefunden worden.Durch das neue Gesetz ist die Zahl der Arbeitnehmer, die an ent-sprechenden tarifvertraglichen Leistungen partizipieren, bereits aufrund sieben Millionen angestiegen.

Die hier bereits sichtbar gewordene Konzeption wird ihre Er-gänzung in der Steuerreform finden, und sie wird Pate stehen bei den

Willy Brandt auf dem Juso-Bundeskongress im Dezember 1970

451 Rede auf dem Juso-Bundeskongress, 11. Dez. 1970

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weiteren Überlegungen, die die Bundesregierung in ihrem Vermö-gensbildungsbericht darlegen wird.

3. Auf dem Gebiet der Mitbestimmung hat das Kabinett denEntwurf eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes vorgelegt. Mit die-sem Gesetzentwurf erhält die – betriebliche – Mitbestimmung einenentscheidenden neuen Impuls:– Die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers wie des Betriebsrates

werden wesentlich verbessert;– die Präsenz der Gewerkschaft im Betrieb wird anerkannt;– Rechte und Aufgaben der Jugendvertretung wurden neu gefasst

und erweitert, um nur einige entscheidende Punkte zu nennen.Diese Zwischenbilanz könnte leicht verlängert werden. Es wäre

gut, wenn sich viele mit den wirklichen Unterlagen befassten. Esgeht eben nicht nur um reformerische Lippenbekenntnisse. Es wirdgehandelt. Dabei geht es den einen zu rasch, den anderen zu langsam.

Die Partei hat sich für die Regierungsverantwortung entschie-den. Jetzt muss sie daraus das Bestmögliche machen. Und ich denkenicht daran, mich hinter den Freien Demokraten zu verstecken. Wirwerden 1973 gut dastehen, wenn wir das durchgeführt haben, woraufwir uns im Oktober 1969 mit der FDP verständigt haben.

Ich muss auch auf die Beschränkungen hinweisen, die jeder re-formerischen Politik in der Bundesrepublik entgegenstehen und dienur geduldig überwunden werden können.

1. An einer durch lange Jahre konservativer Politik geprägtenöffentlichen Meinung kommen wir nicht durch Kraftakte vorbei. Esgilt Vertrauen zu gewinnen, nicht Vorurteile zu mobilisieren.

2. Das Tempo der Reformen hängt entscheidend ab von denwirtschaftlichen Ressourcen, die freigemacht werden können. Wennwir nicht für wirtschaftliche Stabilität und für finanzpolitische Soli-dität sorgen, dann wird man uns nicht folgen. Hinzu kommt, dass diebisherige Konzentration auf den privaten Konsumstandard es zu-sätzlich schwer macht, Mittel zugunsten öffentlicher Leistungenumzuschichten. Wir wissen, dass der Kampf gegen die öffentlicheArmut wichtig ist, weil öffentliche Armut zu allererst die Armut derArmen ist.

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3. Die Verfilzungen der politischen und wirtschaftlichen In-teressen sind natürlich nicht mit dem 28. September 1969 ver-schwunden. Ich will nicht moralisieren, sondern – beispielsweise mitdem Blick auf die Umweltprobleme – sagen: Wir brauchen einescharfe Analyse und gute Öffentlichkeitsarbeit.

4. Wir gehen schrittweise vor, weil die Komplexität und Viel-falt unserer Gesellschaft uns keine andere Möglichkeit lässt. Werheute die Gesellschaft verändern will, der muss an einzelnen Miss-ständen ansetzen, diese beseitigen und Neues schaffen und zwarNeues, das besser ist.

Es wäre also gut, wenn uns die Jungsozialisten dabei hülfen,realistische Reformvorschläge zu entwickeln, das Bewusstsein derMitbürger auf die neuen Notwendigkeiten einzustellen und – natür-lich – auch Wahlen zu gewinnen.

Wir haben die Möglichkeit gewonnen, politisch führend fürdieses Land zu wirken. Wir sollten diesen Weg nicht unnötig er-schweren. Der Jargon der „geschlossenen Gesellschaft“ wird leichtzum Jargon der Verhinderung. Beträchtliche Teile unserer Bevölke-rung haben die Notwendigkeit zu Reformen erkannt. Aber viele ha-ben trotzdem eine unbestimmte Angst vor unübersehbaren Verän-derungen. Und die Jungsozialisten werden zum Buhmann gemacht,um die Angst zu schüren. Lasst Euch nicht zum Buhmann machen!Initiativen zur Reform und die Phantasie im Ausdenken von Al-ternativen gesellschaftlicher Wirklichkeit liegen manchmal ganznahe beim Missbrauchtwerden zur Verhinderung jeglicher Verände-rungen. Es ist auch nicht hilfreich, wenn man abstrakt und pole-misch behauptet, bestimmte Reformen müssten abgelehnt werden,weil sie den Leistungscharakter der Gesellschaft stärken würden.Glaubt jemand ernsthaft, wir könnten die Gesellschaft reformieren,wenn wir nicht gleichzeitig die Leistungen steigern! Ein modernesfortschrittliches Deutschland kostet Geld, viel Geld!

Die Sozialdemokratische Partei als ganzes muss den Weg finden,der zugleich die Phantasie für eine bessere Gesellschaft und das Ge-winnen von Wahlen zulässt. Es ist nicht leicht, diesen Weg im ein-zelnen abzustecken, aber der Kurs ist im Godesberger Programm

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festgelegt, und die Partei wird sich von diesem Kurs nicht abbringenlassen. Ich möchte die Jungsozialisten bitten, die Anstrengung aufdiesem Weg der schrittweisen Veränderung zu verstärken und dasGewinnen des Vertrauens der Mehrheit unseres Volkes in seinervollen Bedeutung zu erkennen.

Es gibt einige Gruppen in der Bundesrepublik, die Herrn Scheelund mich an die Wand stellen möchten. Die unsere Demokratie has-sen und nicht zögern würden, Deutschland in ein neues Unglück zustürzen. Das wird ihnen nicht gelingen. Trotzdem brauchen wir ge-gen diese Provokationen alle freiheitlichen Kräfte. Ich bin sicher,darin sind wir einig. Das beeinträchtigt auch natürlich nicht die in-nerparteiliche Diskussion.

Die Delegierten, die Partei, aber auch andere erwarten, dass ichmich hier zum Verhältnis zwischen der SPD und der Arbeitsgemein-schaft der Jungsozialisten äussere. Ich bin nicht hierher gekommen,um den Schulmeister zu spielen, sondern um meine Meinung zu sa-gen und zu diskutieren. Ernsthafte Diskussionen sollten nicht untertaktischen Gesichtspunkten geführt werden, sonst haben sie keinenSinn.

Als Vorsitzender unserer Partei habe ich hier die Meinung derPartei zu vertreten, wie sie sich aus dem Programm, aus den Be-schlüssen der Parteitage und der vom Parteitag gewählten Gremienergibt. Dies ist für mich keine Pflichtübung, sondern eine Frage derRedlichkeit und des eigenen Engagements.

Die Aufgabe der Arbeitsgemeinschaften ist von der Partei nachzwei Richtungen, nach aussen und nach innen, folgendermassendefiniert worden: „Die Arbeitsgemeinschaften haben bestimmteAufgaben der Partei in der Öffentlichkeit wahrzunehmen, um stär-keren Einfluss auf einzelne Gesellschaftsgruppen auszuüben. Siestellen Beratungsgremien für die verantwortlichen Körperschaftender Partei dar.“6 Nun weiss ich sehr wohl, dass es im Bereich derArbeitsgemeinschaften von der Sache her gewiss Differenzierungengibt. Aber zweierlei muss klar sein: Es kann keine Partei in derPartei geben, und man kann auch nicht in zwei Parteien zugleichsein.

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Aufgrund meiner eigenen Erfahrung möchte ich ausserdem zubedenken geben, ob nicht eine Arbeitsgemeinschaft, wenn sie sichals Richtungsorganisation missversteht, den immer notwendigenProzess der Meinungsbildung in der Gesamtpartei eher belastetdenn fördert. Politische Stellungnahmen, die als Beschluss einerArbeitsgemeinschaft veröffentlicht und den Gremien und Mit-gliedern der Partei aus der Presse bekannt gemacht werden, müssenfast zwangsläufig Widerstände oder auch organisatorische Konfliktehervorrufen, die die erforderliche sachliche Diskussion erschwerenoder gar verhindern. Auf die Dauer führen Arbeitsgemeinschaften,die als selbständige Organisationen auftreten, mindestens zur Bil-dung von gleichfalls selbständig auftretenden Gegenorganisationen.Das kann nicht im Interesse der Partei liegen, und das kann sienicht zulassen. Es gibt sozialdemokratische Parteien in anderenLändern, deren Fehlentwicklungen uns ein warnendes Beispiel seinsollten.

Ich muss auch ernste Bedenken gegenüber der Vorstellung an-melden, man könne Richtungsfragen generationsmässig fixieren.Wenn die Arbeitsgemeinschaften der Jungsozialisten die Organisa-tion der jüngeren Sozialdemokraten und zugleich Richtungsorgani-sation sein wollten, würden sie fast zwangsläufig ihren unmittel-baren Auftrag, ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigen. Wenn ichmir einen Teil der diesem Kongress vorliegenden Anträge und einigeandere Veröffentlichungen ansehe, dann wird darin praktisch nurgegen Mehrheitsmeinungen der Partei,7 gegen die politische Aktionder SPD in dieser spezifischen Situation polemisiert, und man erfährtwenig darüber, was die Jungsozialisten für die Partei, für die von derPartei beschlossene Politik tun wollen – vor allem im Hinblick aufdie Vertretung sozialdemokratischer Auffassungen und Forderungeninnerhalb der jungen Generation.

Meiner Meinung nach muss in aller Klarheit festgehalten wer-den: Es kann nach dem Charakter der deutschen Sozialdemokratieweder eine „Einzelstrategie“ noch eine „Doppelstrategie“ gegenüberder eigenen Partei geben.8 Das gilt für Jungsozialisten ebenso wie fürandere, die sich zur SPD bekennen und in ihr tätig sind. Es kann nur

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eine Politik und eine Strategie der SPD geben, und die werden vomParteitag, von den dort gewählten Gremien und von der Bundestags-fraktion bestimmt. Der Vorsitzende dieser Partei hat dafür zu sorgen,dass für alle Mitglieder der SPD – ob jung, ob alt und aus welchenMotiven auch immer der einzelne zu dieser Partei gestossen ist – diegleichen Regeln für den Umgang miteinander gelten und gleicher-massen von allen die Beschlüsse der Partei beachtet werden. Jeder hatdas Recht, auf dem Boden des Programms und der Satzung um poli-tische oder auch personelle Alternativen zu ringen. Aber bei derAusübung dieses demokratischen, innerparteilichen Rechts kannniemand für sich Sonderrechte in Anspruch nehmen, die anderennicht zukommen. Deshalb sage ich noch einmal: Die SPD kann nichtzulassen, dass irgendeine, wenn auch noch so wichtige Arbeits-gemeinschaft sich als Partei in der Partei etabliert. Das wäre schädlichfür die Meinungsbildung in der Partei und für ihre wirksame politi-sche Arbeit, und dazu gehört auch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit.

Ich wünsche mir eine grosse, lebendige, permanent vorwärts-strebende Partei. Diesem Anspruch kann die SPD natürlich nur ge-recht werden, wenn in ihr auf allen Ebenen, nicht nur in den Füh-rungsgremien, die sachliche politische Diskussion auch brisanterThemen geführt wird. Ich weiss, daran hapert es manchmal. Insofernist meine Mahnung an mehr als eine Adresse gerichtet. Für die in-nerparteiliche Diskussion gilt meines Erachtens immer noch einWort August Bebels auf dem Parteitag 1891: „Der Parteitag erklärtausdrücklich, dass die Kritik an den Handlungen oder Unter-lassungen der Parteiorgane und der parlamentarischen Vertreter derPartei“ – Regierungsmitglieder gab es ja damals noch nicht – „eineinem jeden Parteigenossen zustehendes selbstverständliches Rechtist. Er verlangt aber, dass diese Kritik in Formen <geführt wird>9, dieeine sachliche Auseinandersetzung . . . ermöglichen. Er“ – der Partei-tag – „fordert insbesondere, dass kein Parteigenosse persönliche An-schuldigungen oder Anklagen öffentlich erhebt, bevor er sich nichtvon der Richtigkeit . . . überzeugt und alle ihm nach der Organisationzustehenden Mittel erschöpft hat, um Abhilfe zu schaffen . . . Alsehrlicher Mann soll ich dem Gegner immer nur das sagen, was ich in

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ehrlicher Weise vertreten kann. Wieviel mehr ist ein solches Ver-fahren den Genossen gegenüber Pflicht.“10 – Soweit Bebel.

Dieses Wort von vor nahezu achtzig Jahren müsste auch heutein unserer Partei eine Selbstverständlichkeit sein. Und diese Parteimuss wachhalten, was sie über viele Jahre der Bedrängnis hinwegunbesiegbar gemacht hat: die Solidarität.

Es erscheint mir auch sehr wichtig, dass wir in der innerpartei-lichen Diskussion einander keine falschen Motive unterstellen.Wenn etwa in dem Berliner Beschluss des Bundesausschusses derJungsozialisten den verantwortlichen Parteigremien unterstellt wird,die ideologische Abgrenzung der Sozialdemokratie zum Kom-munismus solle dazu gebraucht werden, „die sozialistischen Kräfte inder SPD zurückzudrängen“11, und der Vorwurf erhoben wird, diePartei habe damit den primitiven Anti-Kommunismus neu belebt,dann werden Absichten unterstellt, die neben der Sache liegen unddem Gegenstand einfach nicht gerecht werden.

Unsere praktische Politik beweist, dass wir frei sind von pri-mitivem Anti-Kommunismus. Aber wo kommen wir hin, wenn wirnicht – neben der Bereitschaft zur Entspannung und zur Verständi-gung der Völker – auch in aller Deutlichkeit sagen, welches die ge-gensätzlichen Positionen und Überzeugungen sind! Die Kommunis-ten tun es, wir tun es. Jeder soll wissen, was er praktisch-politisch undgrundsätzlich von anderen zu halten hat.

Das eigentliche Motiv der Münchner Entschliessung der Partei-gremien war es,12 den sich in letzter Zeit häufenden Versuchen derDKP entgegenzuwirken, ihre schmale Basis durch Aktionsgemein-schaften mit Mitgliedern der SPD zu erweitern und ihr nahestehendePublikationsorgane durch Garnierung mit Namen von SPD-Poli-tikern aufzuwerten. Das machen wir nicht mit. Wir sind verant-wortlich für eine starke und integre deutsche Sozialdemokratie.

Zur Glaubwürdigkeit der SPD gehört, dass die prinzipiellen Ge-gensätze gegenüber dem Kommunismus nicht verkleistert werden.Dies ist besonders nötig in einer Zeit, in der wir die Beziehung zu denkommunistisch regierten Staaten normalisieren. Im Dokument „So-zialdemokratie und Kommunismus“ heisst es: „Friedenspolitik und

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Sicherung der Freiheit gehören für die deutsche Sozialdemokratieuntrennbar zusammen.“13 Für die SPD bleibt es dabei, dass Sozialis-mus und Demokratie unlösbar zusammenhängen.

Natürlich wissen wir, dass die internationale kommunistischeBewegung längst kein monolithischer Block mehr ist. Aber wir ha-ben uns in diesen Prozess nicht einzumischen. Wir müssen unsereneigenen Weg bestimmen. Für uns gibt es keine Aktionsgemeinschaftmit kommunistischen Organisationen. Und erst recht nicht solltenwir uns als Blutspender hergeben für Sekten aller möglichen Schat-tierungen, die sich teils durch Spaltung fortpflanzen, teils aber auchdurch ihre unkontrollierten Äusserungen und exhibitionistischenAktionen willkommene, wenn auch nicht bewusste Helfer unsererGegner sind.

In die Münchner Beschlüsse der Parteigremien ist manches hin-eindiskutiert worden, was nicht drinsteht.

Wo Kommunisten beispielsweise in Betriebsräte, Gewerk-schaftsleitungen oder Gemeinderäte gewählt wurden, werden Sozial-demokraten selbstverständlich nicht das Feld räumen, sondern ihreeigenen politischen Positionen vertreten und um mehr Zustimmungder Kollegen und Wähler ringen. Die Abgrenzung, um die es hiergeht, ist weder ein blindes Anti, noch soll sie die geistige Ausein-andersetzung verhindern. Im übrigen, die Behauptung von der Un-möglichkeit der ideologischen Koexistenz haben nicht wir erfunden.Wir sind und bleiben bereit zur geistig-politischen Auseinander-setzung. Das erfordert aber eine unmissverständliche Haltung un-sererseits. Mit anderen Worten: Wir müssen uns einig sein, dass wirdie Auseinandersetzung als Sozialdemokraten führen.

Wir müssen uns klar werden, was uns in den nächsten Monatenund Jahren bevorsteht. Im negativen: Unsere Gegner werden alleverfügbaren Mittel im Kampf gegen uns anwenden. Was sich in denletzten Wochen und Monaten abzeichnete, war ein Vorgeschmackdessen, was auf uns zukommen wird. Denn je deutlicher unsere po-litischen Gegner erkennen, dass wir mit unserer Politik der Frie-denssicherung und der inneren Reformen Erfolg haben, desto unge-hemmter werden manche von ihnen um sich schlagen.

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Ich möchte hier in aller Deutlichkeit feststellen: Die deutschenSozialdemokraten haben aus den Erfahrungen der Vergangenheitgelernt. Sie werden nicht dulden, dass durch nationalistische Hetzeund reaktionäre Phrasen die Demokratie in unserem Lande gefährdetwird. Wir werden diese Demokratie schützen, weil sie die Grundlageunserer Arbeit ist und weil wir sie ausbauen wollen. Aber dann istauch erforderlich, dass unser Verhältnis zum Grundgesetz und zumdemokratischen Staat nicht in Zweifel gezogen werden kann.

Im positiven: Vielerorts in der Welt setzt man auf uns deutscheSozialdemokraten Hoffnungen, die zeigen, dass man uns mehr zu-traut, als wir beim besten Willen zu leisten vermögen. Dennochsollten wir uns verpflichtet fühlen, europäisch und international zuleisten, was in unseren Kräften liegt.

Zuhause erleben wir, dass die Aufgeschlossenheit für Reformennicht abnimmt, sondern zunimmt. Unser relativer Erfolg in diesemJahr sollte uns jedoch nicht vergessen lassen, dass es noch nicht ge-lungen ist, eine solide Mehrheit von der Richtigkeit unserer Politikzu überzeugen. Unsere innenpolitischen Gegner werden sich be-mühen – und das kann man ihnen nicht gut zum Vorwurf machen –,unsere Schwächen auszunützen. Ein der CDU nahestehendes Blattmeinte kürzlich, die Chancen der Union würden durch unsere Aus-einandersetzung mit den Jusos grösser werden, und sie könnten nochgrösser sein, wenn die CDU das aus den Wahlkämpfen über-nommene konservative Erscheinungsbild bald wieder durch dyna-misches Vorwärtsdenken ablösen könnte. Nun, zum Letzteren kannich nur viel Erfolg wünschen. Und zum Ersten: Wir müssen so ein-deutig miteinander auf dem Boden der Partei stehen, dass für Spe-kulationen der anderen kein oder möglichst wenig Raum bleibt.

Wir können uns, trotz mancher objektiver Schwierigkeiten,voller Zuversicht den grossen Aufgaben in der Innen-, Gesellschafts-und Aussenpolitik stellen, wenn wir als Partei miteinander wissen,was wir wollen. Das geht nur, wenn wir uns als handelnde politischePartei und nicht als Debattierclub abstrakter Ideen verstehen. Ichhabe viel Sinn für die Frage nach der „konkreten Utopie“. Aber alsPartei brauchen wir das Augenmass für das Mögliche und das Not-

459 Rede auf dem Juso-Bundeskongress, 11. Dez. 1970

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wendige. Wir müssen wissen, wo wir neue Verbündete für unsereBemühungen finden können. Wir haben, weil uns die Mehrzahl derMitbürger die Fähigkeit zur demokratischen Fortentwicklung zu-traut, grosse Chancen. Daran ändern auch nichts die Resultate derLandtagswahlen in diesem Jahr, die im übrigen, vergleicht man dieZiffern der Koalitionspartner und die der Opposition, das Ergebnisder Bundestagswahlen 1969 bestätigen, allerdings mit leichten Ver-schiebungen zugunsten der FDP, was die Koalition angeht, und zu-gunsten der CDU/CSU, was das Aufsaugen des extrem-rechten Stim-menreservoirs angeht.14

Wir müssen uns klar sein: Es kann nicht genügen, 1973 ebensoviel Prozent der Stimmen für uns zu gewinnen wie bei den Bundes-tagswahlen 1969. Der FDP kann es nicht genügen, auf zufällige Fluk-tuationen angewiesen zu sein. Die Kontinuität unserer Politik über1973 hinaus lässt sich nur sichern, wenn es gelingt, die politisch in-teressierten und informierten Wähler einer mittleren Schicht – unddazu gehören heute Angestellte und Beamte genauso wie Fachar-beiter –, die 1969 – schon mit halbem Herzen – noch einmal die CDU/CSU wählten, über unsere Ziele und Leistungen zu informieren undsie für uns zu gewinnen. Die CDU/CSU mag sagen, was sie will: DieLandtagswahlen 1970 haben die Voraussetzungen geschaffen, in dennächsten Jahren die in der Regierungserklärung vom 28. Oktober1969 festgelegte Politik fortzusetzen. – Dabei will ich übrigens aus-drücklich Dank sagen für den starken Einsatz, mit dem viele Jung-sozialisten an den Wahlkämpfen mitgewirkt haben. Nur ist nichts sogut, als dass es nicht noch besser sein könnte.

Wessen „Genosse“ aber der berühmte Trend ist, wird von dertäglichen politischen Arbeit abhängen, von der Klarheit unserer po-litischen Aussagen und von der Geschlossenheit unserer Partei. Wirmüssen in den nächsten Monaten und Jahren neue Wählerinnen undWähler und insbesondere die Jugend für uns gewinnen. Wir dürfennicht ermüden in dem Bestreben, die junge Generation, der wir dieMöglichkeit gegeben haben, bereits mit 18 Jahren zu wählen, von derNotwendigkeit der aktiven Unterstützung unserer Politik zu über-zeugen. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Partei. Aber ich glaube,

460 Rede auf dem Juso-Bundeskongress, 11. Dez. 1970

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ich habe das Recht, die Jungsozialisten zu bitten, dieser Aufgabe– entscheidend für unsere ganze Zukunft – durch konstruktive Ar-beit besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Viele schauen auf diesen Kongress. Das darf nicht dazu führen,dass hier nicht alles gesagt wird, was zu sagen ist. Aber diejenigensollten Lügen gestraft werden, die darauf hoffen, dass wir uns hierschwächen. Bremen muss zum Ausgangspunkt einer neuen, grossen,gemeinsamen sozialdemokratischen Anstrengung werden.

Nr. 87Hs. Schreiben des Vorsitzenden der SPD, Brandt,an den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Schmidt22. Dezember 1970

Archiv Helmut Schmidt, Innenpolitik A–Z, Bd. 2 1970.

Lieber Helmut,zunächst möchte ich Dir zu Deinem morgigen Geburtstag alle gutenWünsche sagen.

Gleichzeitig sagen Rut und ich Dir und den Deinen herzlicheGrüsse zum Fest und zum Jahreswechsel.

Sodann möchte ich mich bedanken für die Freundlichkeiten, dieDu mir anlässlich meines Geburtstages erwiesen hast. Sage bitte auchDeinem „Kollegium“ meinen Dank, wenn Ihr wieder beisammenseid. Auch für das ebenso elegante wie praktische Geschenk.

Es ist ein schwieriges Jahr, das zu Ende geht, und das kommendewird mit Sicherheit nicht einfacher werden. Wir sollten miteinanderdafür sorgen, dass es nicht noch schwerer wird, als es sich ohnehinabzeichnet und nur bedingt zu beeinflussen ist.

Du hast natürlich Recht gehabt mit der Voraussage, dass „Bre-men“1 Blasen ziehen würde – (wobei die internen Berichte übrigenszeigen, dass die DKP unzufrieden ist). Die Frage ist, wie wir im Januar

461 Brandt an H. Schmidt, 22. Dez. 1970

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[1971] weitermachen. Es wäre gut, wenn es zu einem Vieraugen-gespräch zwischen Herbert und Dir käme. Sollte das nicht gehen,müssen wir trotzdem eine sachliche Basis finden. Die Partei verträgtnicht, dass die führende Gruppe in einen länger andauernden Streitgerät.2

Dein gutgemeinter, freundschaftlicher Rat, ich sollte deutlichersagen, wo die Reise lang geht, hilft auch nicht viel weiter. Erstenskann keiner von uns mehr aus seiner Haut – aus seinem Stil heraus.Zweitens liegt die Lösung der meisten unserer Probleme wirklich in„kollektiven“ Antworten.

Im übrigen solltest Du wirklich nicht einen zu strengen Maßstabanlegen, wenn andere nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Dutust es auch nicht. Auch Du würdest einen Teil Deiner Ausstrah-lungskraft aufgeben, wenn Du über Gebühr darauf verzichtest, DirFesseln anzulegen.

Du müsstest wissen, wieviel ich von Dir halte. Aber Du musst,bitte, auch verstehen, dass ich nicht einseitig entscheiden kann, esauch nicht will.3 Wir müssen uns, mit anderen Worten, wieder zu-sammenraufen. Das wird auch gelingen.

Ich bin ab 28. Dezember [1970] weit weg von Deinem italieni-schen Urlaubsort. Wenn du es, unbeschadet der grossen Distanz, fürmöglich hältst, im Anschluss an Deinen kürzeren, mich in meinemetwas längeren Urlaub aufzustöbern, bist Du jederzeit willkommen.

Sonst müssen wir Mitte Januar weitermachen.Sei inzwischen herzlichst gegrüsst, ruh’ Dich etwas aus und

sammle Kräfte für das, was vor uns liegt.DeinW[illy] B[randt]

462 Brandt an H. Schmidt, 22. Dez. 1970

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Nr. 88Hs. Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden der SPDSchmidt an den Vorsitzenden der SPD, Brandt30. Dezember 1970/4. Januar 19711

AdsD,WBA, A 8, 18.

Lieber Willy,meine guten Wünsche zum neuen Jahre werden längst in DeinenHänden sein, wenn dieser Brief bei Dir eintrifft. Daß ich die langeReise von und nach Nairobi nicht mehr in meinen Kalender hinein-zwängen konnte, hat mir sehr leid getan; ich habe mich aber be-lehren lassen müssen.

Deshalb hier nun der Versuch einer Antwort auf Deinen langenfreundschaftlichen Brief vom 22. Dez[ember 1970].2 Du schriebst, diemeisten unserer Probleme verlangten nach „kollektiven“ Antworten;d. h. wohl: nach gemeinsam erarbeiteten Antworten. Ich akzeptieredies aus Überzeugung und Erfahrung (wobei ich später nochmal kurzdarauf zurückkomme, daß auch ein politisches Spitzenteam biswei-len der Zähmung durch einen bedarf)3.

Gemeinsame Antworten – ich wiederhole mich und bitte umVergebung dafür – setzen in aller Regel das Gespräch voraus. Schonvor Bremen4 habe ich das Bedürfnis nach häufigerem gemeinsamenGespräch manchesmal sehr eindringlich empfunden.

Ich verstehe gut, daß Du einige ständige Gesprächspartner inDeiner unmittelbaren Nähe brauchst und Dir herangezogen hast.Ich bitte nur herzlich darum, Herbert Wehner und mich nicht aufdie Diskussionen im Gesamtpräsidium oder Gesamt-Kabinett zubeschränken; denn diese beiden Gremien umfassen neben den Ge-nossen von Substanz offensichtlich auch solche taktlosen, die no-torisch gegenüber Leuten aus Presse und Informationsdienstenbruchstückweise, bisweilen verfälscht sogar – ob mit oder ohneAbsicht – Diskussionsbestandteile preisgeben. Dies wäre durchauszu ertragen – wenn die eigentlichen Führungspersonen einiger-

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maßen einheitlich auftreten. Dazu bedürfen sie des persönlichenKontaktes.

Wenn dieser zu selten stattfindet, werden sie verführt, in offi-ziellen Sitzungen jedenfalls ihre etwa voneinander abweichendenMeinungen solange wie möglich zu verschweigen. Irgendwann trittaber dann ein Punkt ein, an dem man glaubt, nicht mehr längerschweigen zu können oder zu sollen – an solchen Punkten entstehtdann leicht Schärfe coram publico5 und – reziprok dazu – Verbitte-rung. Wenn Herbert z. B. je die Gelegenheit gehabt hätte, uns ohneBeisein von einem Dutzend weiterer Genossen zu sagen, was ihm anunserer Politik mißfiel, und Dich und mich zur Stellungnahme zubewegen, so hätte es seinen bitter anmutenden Akt der öffentlichenDesavouierung in Bremen vielleicht nicht gegeben.6

Dies Beispiel führt mich zu Deiner Anregung eines Vier-Augen-Gespräches zwischen Herbert [Wehner] und mir. Ich bin nicht dage-gen – aber ich kann mir davon eine Ausräumung der offenbar ge-wordenen politischen Differenzen nicht versprechen. Es handelt sichaber doch bei mir nicht um ein persönliches Beleidigt-Sein, sondernvielmehr um die deutlich empfundene Besorgnis, Herberts Verhalten– sowohl z. B. während der Münchener Parteiratssitzung7 als auch inBremen – deuteten für seine Person eine Veränderung des politischenKurses an.

Falls dies letztere richtig sein sollte, so hätte ich jedenfalls nichtdie Absicht, dies ohne Auseinandersetzung in den zuständigen Gre-mien der Partei zu akzeptieren. Persönliche Empfindlichkeit dagegenspielt bei mir höchstens eine sehr untergeordnete Rolle – wobei ichdie Bremer Äußerung noch eher hingehen lassen könnte als daszweimalige Verschweigen auf die in internem Kreise gestellte Frage,was denn eigentlich der Anlaß zu seiner Verurteilung sei.

Wohin die Aufspaltung einer sozialdemokratischen Partei inFlügelkämpfe führen kann, bekommt man hier in Italien sehr deut-lich vor Augen geführt. Ich hoffe sehr, daß uns dies erspart wird. Wirkönnen es uns freilich nicht dadurch ersparen, daß wir Schweigenakzeptieren, wenn einzelne Führungspersonen ohne Absprache mitden übrigen öffentlich hör- und sichtbar die Akzente verschieben.

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Meine Besorgnis gilt übrigens nicht nur unserem Verhalten ge-genüber sich selbst für links haltendem Wortradikalismus, sondernauch für unsere Berlin-Politik, bei der mich manche Berliner Äuße-rungen der letzten Wochen ein wenig beunruhigt haben: Was „be-friedigend“ genannt werden kann, darf nicht im Vorwege alle paarWochen öffentlich anders definiert werden. In den Fragen unseresVerhältnisses zu Kommunisten wie linken Schwärmern, in derB[er]l[i]n-Frage, in den Fragen der parlamentarischen Behandlung derOpposition nützen m. E. Zwiegespräche Wehner-Schmidt nicht viel– sie bedürfen vielmehr gemeinsamer Erörterung im Kollegium –mindestens aber in Sechs-Augen-Gesprächen.8

Vielleicht gehen wir tatsächlich einem der schwierigsten Jahrefür unsere Partei entgegen. Du gehörst zu denjenigen, denen die Fä-higkeit zum menschlichen Ausgleich gegeben ist. Du hast oft genugmit gutem Erfolg Gebrauch davon gemacht. Du wirst dies, so hoffeich, auch in dem schwierigen Jahr 1971 tun – hierzu aber eine Bitte:Laß’ uns aufpassen, daß wir ernste politische Meinungsverschieden-heiten nicht durch Zudecken oder Überpinseln (vorübergehend) ausder Welt zu schaffen meinen; sie könnten sonst bei späterer Gele-genheit um so stärker erneut aufbrechen.

In diesem Zusammenhang ein Wort über das „Führen durchein Team“. Ich habe am Ende meines letzten Buches9 aus meinerdreijährigen Erfahrung als Fraktionsvorsitzender dazu einiges ge-sagt; die Essenz: Derjenige, der nach außen die Hauptverantwor-tung trägt, muß innerhalb des Führungsteams notfalls (nach Dis-kussion versteht sich) die Entscheidung treffen. Hierin bleibe ichbei meiner Meinung – trotz Deiner sehr deutlichen Skepsis undtrotz Deiner Bemerkung über Deinen Stil – und bleibe auch beider Überzeugung, daß einschließlich Herberts und meiner in sol-chen Fällen sich eine erdrückende Mehrheit in unseren Füh-rungsteams der alternativen oder der Kompromißentscheidungdurch den B[undes]K[anzler] und Parteivorsitzenden anheimgebenwird. Nicht anders habe ich übrigens neulich Alex’ [Möller] Redeim Präsidium verstanden: zweifellos wollte er Dir sagen, daß keinanderer als Du selbst über die personelle Zusammensetzung des

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Führungsteams entscheiden solltest (dies allerdings geht Dir be-stimmt zu weit . . .).

Man hat mir nach Ischia eine Menge an Zeitungen etc. geschickt;ich lese dabei wiederum in obskuren Pressediensten – vom BPA ver-vielfältigt – über angebliche Zusammenstöße und Meinungsver-schiedenheiten (Ost- und Westpolitik betreffend) zwischen Dir undmir. Ich frage mich (immer wieder vergeblich), wer eigentlich der-gleichen erfindet und immer wieder als glaubwürdig in die Welt set-zen kann. Die Couloir-Gespräche10 der politischen, beamteten undjournalistischen Höflinge können im Spiegel bis zum Meißner- oderMießbach-Dienst und im Stern bis zur Welt oder [zum] Bayern-Kurierendlos die Gazetten zur Brunnenvergiftung mißbrauchen. Der stetigeVersuch, die Führungsfiguren der Sozialdemokratie gegeneinanderauszuspielen, ist evident. Er kann aber – auch in seiner Öffentlich-keitsgewichtung! – zur Erfolglosigkeit verurteilt werden, wenn jedersieht, daß wir uns durch die als Zwischenträgereien aufgemachtenBosheiten nicht darin beirren lassen, zueinander zu stehen. Ichzweifle nicht daran, daß wir dies können, wenn wir häufiger im ver-trauten Kreise miteinander sprechen. Die Unterhaltung im Erker-zimmer11 Deiner Wohnung war doch ein gutes Beispiel dafür (ob-gleich ich ein wenig bestürzt war, zu erkennen, Du hättest bis dahineine substantielle Meinungsverschiedenheit in der Außenpolitikzwischen Dir und mir als möglicherweise bestehend angesehen).

Ischia, 4. Januar [1971]Lieber Willy, dies ist ein allzulanger Brief geworden. Aber Du wirstden Beweggrund für die Ausführlichkeit verstehen: mir lag sehrdaran, von Dir verstanden zu sein. Im übrigen und insgesamt – soglaube ich – kannst Du Dich nicht nur auf mein Pflichtbewußtseinverlassen, sondern auch auf meine Freundschaft.Mit allen guten Wünschen – und herzlichen Grüßen an RutStets DeinH[elmut] S[chmidt]

466 H. Schmidt an Brandt, 30. Dez. 1970/4. Jan. 1971

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Nr. 89Rundschreiben des Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD,Brandtohne Datum 19711

AdsD,WBA, A 8, ungeordnet.

Ich erinnere mich gern, daß Sie im Wahlkampf 1969 die Sozial-demokraten mit einem Testimonial unterstützt haben.2 Ihr persön-liches Eintreten hat damals mitgeholfen, die jetzige Regierung unddie sie tragende Koalition zustande zu bringen.

Nun arbeiten wir auf dieser Basis seit beinahe zwei Jahren. Diesscheint mir die rechte Zeit, die Diskussion mit Ihnen zu suchen undeinmal zu besprechen, was nach einer kritischen Beobachtung derersten beiden Jahre für die zweite Hälfte bis 1973 wichtig seinkönnte.

Diese Diskussion würde ich gern mit Ihnen im Kreis von Damenund Herren führen, die sich 1969 mit einem Testimonial für eineneue Politik ausgesprochen haben.

Ich lade Sie sehr herzlich für den 5. Oktober [1971] zu einem Ge-spräch mit mir und einigen meiner Mitarbeiter nach Bonn ein.3

Ich würde mich sehr freuen, wenn es Ihnen möglich wäre, zukommen.Mit freundlichen Grüßen

467 Rundschreiben Brandts, ohne Datum 1971

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Nr. 90Notizen des Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt,für ein Gespräch mit Testimonials5. Oktober 19711

AdsD,WBA, A 8, ungeordnet.

Nochmaligen Dank für die Hilfe ’69:Gemeinsame Überlegungen zur <Halbzeit2>:– mehr erledigt, als viele meinen– vieles mit Aussicht auf Erfolg auf dem Weg– fast alles aus der Regierungserklärung wird bis ’73 abgehakt

werden können.– <Manche: zuviel erwartet. Einige: nur angekündigt> 3

Einige Erfahrungen, die sich zugleich auf wichtige Probleme unsererparlamentarischen Demokratie beziehen:

1. Propaganda und öffentliche Meinungsmache vermögenweit mehr, als wir dachten, die Wirklichkeit zu überlagern. Das ha-ben wir in den zwei vergangenen Jahren laufend gespürt. Wir spürenes jetzt, wenn wir Bilanz der ersten Hälfte ziehen.

Unsere eigene Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit istnicht so schlecht, wie manche unserer Freunde sie empfinden. <Ma-terial, von dem nicht Gebrauch gemacht wird>4.

Aber, von anderem abgesehen, sind wir offensichtlich behindertdurch eigene Gefühle und Vorstellungen.

Wer die Diskussion um die Friedenspolitik, um das Eherecht,um law and order5 und um die sogenannte Inflation verfolgt hat, derwird festgestellt haben, daß untergründig Stereotypen, Fehlhal-tungen und Ängste unseres Volkes mobilisiert werden, die Sorge be-reiten.

Wir scheuen uns davor, dies mitzumachen, wohl wissend, daßwir es manchmal müßten, um uns für 1973 einen großen Anteil amWählerpotential zu sichern.

<Jedenfalls: inn[ere] Sicherheit nicht vernachlässigen!>6

468 Notizen für ein Gespräch mit Testimonials, 5. Okt. 1971

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Wir befinden uns auf einer Gratwanderung:– auf der einen Seite die Gefahr, daß uns Wähler verlorengehen,– auf der anderen Seite die Gefahr, daß wir im Konkurrenzkampf

mit der Opposition vorgefundene Vorurteile weiter verstärken,statt sie abzubauen.2. Trotz allem: In einigen Bereichen ist es gelungen, die Ein-

stellungen unserer Mitbürger zu wichtigen Fragen unseres Landes zumehr Realismus hin zu beeinflussen.– Das gilt für die Außen- und Deutschlandpolitik, wo Tabus und

Illusionen überwunden werden.– Das gilt für die Bereitschaft unserer Mitbürger, öffentliche Pla-

nung in wichtigen Lebensbereichen zu akzeptieren(Umweltschutz, Bildungspolitik, auch Wirtschaftspolitik)<Staat = alle kein Selbstbedienungsladen, ohne zu zahlen Wi[rt-

schafts]po[litik] entscheidend Stab[ilität]/Reformen>7.

Willy Brandt und Rut Brandt im Gespräch mit Günter Grass beim Som-merfest des Bundeskanzlers am 27. Juni 1970

469 Notizen für ein Gespräch mit Testimonials, 5. Okt. 1971

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3. Der Wechsel in der Regierung war ein Wechsel in den Spit-zen. Die Effizienz und die Tiefenwirkung dieses Wechsels wurde da-durch beeinträchtigt, daß sich in zwanzig Jahren im Verwaltungs-apparat eine Struktur verfestigt hat, die zu modernisieren viel Zeiterfordern wird.

Diese Republik wird nicht allein vom Bundeskanzler und seinenMinistern regiert. Die Bürokratie regiert auch mit oder auch nicht.Das verringert die Effizienz. Das Ergebnis: Die wenigen, die neu inden Regierungsapparat hineingekommen sind, sind überlastet. Nochnie sei in einer Regierung so viel gearbeitet worden wie heute, sagenKenner der Bonner Szene.

Ich sage das nicht, um unseren Arbeitseifer und den Fleiß un-serer Mitarbeiter zu rühmen. Ich sage es, weil mir dies ein schwie-riges Problem unseres politischen Systems zu sein scheint.

Eines kann man rückblickend sagen: Der Regierungswechselkam jedenfalls nicht zu früh. Und unserem Land wäre es zu wün-schen, daß die 73er Entscheidung die sozialen und liberalen Kräftenicht nur bestätigt, sondern zum Teil erst wirklich freisetzt.

4. Die Auseinandersetzungen in den nächsten zwei Jahrenwerden wohl einen wenig schönen Charakter haben. Das darf unsnicht schrecken. Mich ermutigt:– daß neben den praktisch-politischen Fragen auch die Grundsätze

deutlicher werden– daß die Jüngeren uns überdurchschnittlich verstehen

<(allerdings: Wahlbeteiligung)>8

– daß die Gewerkschaften die politischen Zusammenhänge zu-nehmend gut verstehen <(Metall)>9

– und daß die Intellektuellen uns nicht im Stich lassen.

470 Notizen für ein Gespräch mit Testimonials, 5. Okt. 1971

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Nr. 91Artikel des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für Die Neue Gesellschaft8. November 19711

SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 403/71 vom 8. November1971.

Der außerordentliche Parteitag der SPD – vom 18. bis 20. November[1971] in Bonn – wird wichtige Sachentscheidungen zu treffen haben.Der vorjährige ordentliche Parteitag in Saarbrücken hatte ihm dieAnträge zu drei Themen – Steuerreform, Massenmedien, Organisa-tion der Partei – überwiesen, damit darüber ohne Zeitdruck ent-schieden werden könnte.

Die Öffentlichkeit ist natürlich nicht nur an den Einzelthemeninteressiert. Sie wird ablesen wollen,

1. wie sich die SPD nach der Halbzeit zu ihrer Regie-rungsverantwortung verhält,

2. wie konzentriert die SPD ihre Arbeit in der zweiten Hälfteder Wahlperiode angeht und

3. wie die SPD das natürliche Spannungsverhältnis zwischenlangfristigen Zielen und konkreten Möglichkeiten der Verwirkli-chung bewältigt.

Gerade auf diesem Parteitag wird deutlich werden müssen, wel-che Aufgaben die Partei, ihre Bundestagsfraktion und ihre Mitgliederin der Bundesregierung im wechselseitigen Zusammenwirken wahr-zunehmen haben. Über vieles andere hinaus bleibt es die selbstver-ständliche Aufgabe der Partei, ihre Zielvorstellungen zu formulieren.Aufgabe der Regierung ist es zu sagen, was sie unter den gegebenenBedingungen machen kann und machen wird. Die Bundestags-fraktion wird, wie in den letzten Jahren, immer wieder prüfen, was siedurch ihre eigenen Anstrengungen verbessern und bewegen kann.

Hinzu kommt die Notwendigkeit, die vertrauensvolle Zusam-menarbeit mit dem Koalitionspartner nicht Schaden leiden zu las-

471 Artikel für Die Neue Gesellschaft, 8. Nov. 1971

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sen. Man muß voneinander wissen, was man miteinander tragenkann. Auf die Steuerreform bezogen: Eine Sache sind die Be-schlüsse, die sich auf das Arbeitsprogramm der sozial-liberalenKoalition stützen. Eine weiterreichende Sache sind die sozial-demokratischen Leitlinien, die – je nach dem Wahlausgang – ineiner kommenden Regierungserklärung ihren Niederschlag findenwerden.

Der Bonner außerordentliche Parteitag ist mit neuen Arbeits-methoden vorbereitet worden. Für die Hauptthemen haben Kom-missionen, denen Vertreter aller Bezirke angehören, Beschlußent-würfe ausgearbeitet.2 Diese sind seit Wochen in der Mitgliedschaft,auf Unterbezirks- und Bezirksparteitagen diskutiert worden. Diesich daraus ergebenden zusätzlichen Anträge werden – ebenfallszum ersten Mal – von einer Antragskommission aufbereitet, dieihre Arbeit schon vier Wochen vor dem Parteitag aufgenommenhat.

Der Parteitag wird auch daran gemessen werden, wie er sich mitdem innenpolitischen Gegner auseinandersetzt. Ich bin sicher, daßdie Delegierten den Verfechtern der totalen Konfrontation nicht aufden Leim gehen werden. Die Sozialdemokraten in dieser Bundes-republik werden es nicht schwer haben, den „Neinsagern um jedenPreis“ die gebührende Abfuhr zu erteilen. Noch wichtiger ist es, diePolitik der praktischen Vernunft mit Nachdruck zu vertreten undmit Augenmaß und Sachkunde weiterzuentwickeln. Hierzu bedarf esder Solidarität aller, die auf der Grundlage des Godesberger Pro-gramms politisch wirken.

Kritische Diskussionen sind notwendig, wenn man sich überWeg und Ziel verständigen will. Ebenso notwendig ist es, die Men-schen in unserem Lande – nicht nur durch einzelne Anstrengungen,sondern im permanenten großen Gespräch – von der Richtigkeit undMachbarkeit sozialdemokratischer Politik zu überzeugen.

Wir werden das Regierungsprogramm vom Oktober 1969 in al-len wesentlichen Punkten verwirklichen und müssen es in der poli-tischen Alltagsarbeit voll zur Wirkung bringen, denn Leistungen undihre Darstellung sind zwei Seiten derselben Medaille.

472 Artikel für Die Neue Gesellschaft, 8. Nov. 1971

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Die Beratungen des außerordentlichen und des im nächsten Jahrfolgenden ordentlichen Parteitages müssen einmünden in eine Platt-form für die nächste Wahlperiode. Daraus ergibt sich die Grundlagefür einen sachlichen und selbstbewußten Wahlkampf.

Außerdem, und nicht zuletzt, werden wir uns darum bemühen,die Diskussion von Grundsatzfragen stärker zu fördern und nachMöglichkeit zu vertiefen. Dies wird das Selbstverständnis der deut-schen Sozialdemokraten festigen und dazu beitragen, daß die Grenz-linien gegenüber anderen nicht verwischt werden.

Durch den außerordentlichen Parteitag wird noch einmal deut-lich werden: Sozialdemokratische Politik orientiert sich weder anprivilegierten Gruppen noch an anonymen Apparaten; sie orientiertsich an der immer erneut zu stellenden Frage, was im Interesse derMenschen in unserem Lande geboten ist.

Nr. 92Schreiben des Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD,Brandt, an den Vizepräsidenten des Deutschen BundestagesSchmitt-Vockenhausen23. November 1971

AdsD,WBA, Verbindungen mit der SPD-Fraktion, 1971 (N–Z).

Lieber Hermann Schmitt-Vockenhausen,hab’ Dank für Deinen Brief vom 22. November [1971].1 Es war selbst-verständlich, dass angesichts einiger sich entwickelnder Legendenallen Vermutungen eines „Kurswechsels“ entgegengetreten werdenmusste. Es entspricht übrigens meiner Beurteilung, dass die Partei inihrer eindeutigen Mehrheit nicht bereit ist, den Boden des Godesber-ger Programms zu verlassen.

Sicher hat man darauf zu achten, dass die Differenz zwischenParteitagsbeschlüssen und dem, was eine sozialdemokratisch ge-

473 Brandt an Schmitt-Vockenhausen, 23. Nov. 1971

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führte Bundesregierung in absehbarer Zeit verwirklichen kann, nichtallzu gross ist, denn das würde vermutlich nur anderen nützen. Ge-rüchte über Pläne, wie jene, von denen Du berichtest, scheinen miraber nicht der wirklichen Lage zu entsprechen.2

Mit bestem Dank und freundlichen Grüssen<Br[andt]> 3

<gez[eichnet]: Brandt>4

Nr. 93Interview des Vorsitzenden der SPD, Brandt,für die Deutsche Presse-Agentur10. April 1972

SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 129/72 vom10. April 1972.

Frage: Wie beurteilen Sie die im Augenblick vielberedete innerpar-teiliche Situation der SPD? Gewinnen in der Partei – wie ihre Kritikerglauben machen wollen – radikale Kräfte die Oberhand? 1

Antwort: Davon kann keine Rede sein. Die SPD ist und bleibt auchin Zukunft die große soziale und demokratische Volkspartei. Rich-tig ist, daß in der Partei eine intensive Diskussion darüber stattfin-det, auf welchen Wegen, mit welchen Mitteln wir die drängendenProbleme dieses Staates und seiner Bürger am ehesten lösen kön-nen. Die Erfüllung der großen Gemeinschaftsaufgaben, die Fragedes Verhältnisses von öffentlichen Leistungen und privatem Kon-sumangebot, die Zukunft unserer Städte, die Mitbestimmungsmög-lichkeiten des einzelnen in seinem Lebensbereich – all diese ge-sellschaftlichen Fragen grundlegender Bedeutung werden vor allemin der SPD – auch in der FDP, kaum jedoch in CDU und CSU –diskutiert, und das halte ich für kennzeichnend. Unsere Partei istes auch, die sich der Herausforderung der Jugend stellen muß, für

474 Interview für dpa, 10. April 1972

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deren politisch interessierten, kritischen Teil die überwiegendkonservativen Unions-Parteien kaum attraktiv sind. Entscheidendist, daß diese Auseinandersetzung der Ideen und der Generationenin der Haltung solidarisch und fair und in der Sache auf dem Bo-den des Grundgesetzes und des Godesberger Programms geführtwird; daß es eine Auseinandersetzung unter Sozialdemokratenbleibt, orientiert an dem gemeinsamen Ziel: der Schaffung einermenschenwürdigen, gerechten und freien Gesellschaft auf demfriedlichen und kontinuierlichen Wege der Reformen.Frage: Gibt es nicht doch die Gefahr, daß hier und da die Grundlagensozialdemokratischer Prinzipien mißachtet werden?Antwort: Ich habe kürzlich unmißverständlich vor dem Parteirat derSPD dargelegt: wer unseren Charakter als Sozialdemokratische Parteiverändern wolle, der dürfe nicht damit rechnen, daß wir ihn dabeigewähren ließen; wer eine grundsätzlich andere Partei wolle als diedes Godesberger Programms, der müsse darauf hingewiesen werden,daß er bei uns fehl am Platze ist. 2

Anderen Parteien und den sie begleitenden Presseorganen, diesich der SPD scheinbar mit besonderer Fürsorge annehmen, emp-fehle ich, doch auf ihren eigenen demokratischen Weg zu achten. Siekönnen da von uns Sozialdemokraten und aus unserer Geschichteeiniges lernen.

475 Interview für dpa, 10. April 1972

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Nr. 94Aus den hs. Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt18./19. August 19721

AdsD,WBA, A 1, 18/23.

Freitag, den 18. August– im Nachtzug von Bayern nach Bonn

Probefahrt, Vorgeschmack oder wie auch immer – in diesemSonderzug der Bundesbahn werde ich bald wieder für Wochen zuHause sein.2 Gestern und heute war ich nur auf einer Informations-reise unterwegs: Zentren des Fremdenverkehrs und Einrichtungendes Gesundheitswesens. Ich fahre gern mit der Bundesbahn. Mankann unterwegs arbeiten, sich unterhalten, anständig essen. Allewichtigen – auch unwichtigen – Nachrichten kommen rasch überFernschreiber. Die abendlichen Journalistengespräche werden, wiesich gerade bestätigt hat, wieder nützlich sein.

Ich führe [eigentlich] kein Tagebuch, mache nur manchmal No-tizen über Gespräche. Wozu also dies? Nun, ich denke, was in dennächsten Wochen auf mich zukommt, könnte hinterher noch man-chen interessieren – auch wenn ich bei dem, was ich aufschreibe(oder wieder wegstreiche) natürlich an die Grenzen denken muss, diesich aus meinem Amt ergeben. Auf den Gedanken, bis zur Wahl oderbis zur Regierungsbildung tägliche Niederschriften zu machen, binich während des Urlaubs gekommen, aus dem wir vor vierzehn Ta-gen zurück gekommen sind.

Wir hatten sonnige, sehr erholsame Wochen in Norwegen. Zwi-schendurch waren Rut [Brandt] und ich mit Peter [Brandt], Lars[Brandt] und Matthias [Brandt] bei Ninja [Frahm] und Jarle3 in Melhus– selten, dass wir einmal alle beisammen sind. Bei uns, das heisst inRuts [Brandt] gar nicht so kleinem Reich bei Hamar, hatte ich mich –Herbert Wehner war aus Schweden herüber gekommen – auf dieWahlplattform vorbereitet. Auch auf eine wichtige Rede, die über-

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morgen zu halten ist.4 Die engeren Mitarbeiter, im Kanzleramt undim Ollenhauer-Haus, sind sich nicht im Unklaren darüber, was sie,uns in den nächsten Wochen erwartet. In der öffentlichen Dis-kussion wird noch kaum klar, dass wir auf jeden Fall Neuwahlenbrauchen.

Dabei hatten Walter Scheel und ich vor der Sommerpause kei-nen Zweifel daran gelassen.Wenn es nach mir gegangen wäre, hättenwir sogar noch zu Beginn des Sommers gewählt. Dies konntenNichteingeweihte nur vermuten. Aber gemeinsam mit Scheel hatteich Ende Juni in Berlin sogar den wahrscheinlichen Zeitpunkt ge-nannt. Viele haben das nun schon wieder vergessen.

Nun könnte es passieren – dieses ist unser Risiko –, dass vielesich auch schon nicht mehr an das erinnern, was uns im Frühjahreine klare Mehrheit gebracht haben würde, und daran, was unver-mindert auf dem Spiel.

Willy Brandt im Wahlkampf 1972

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Im April war der Versuch, mich im Bundestag abzuwählen, ge-scheitert.5 Der Versuch, eine neue Mehrheit durch Mandatsüber-träger zu erlangen, löste im Lande eine ungewöhnlich starke undstimulierende Welle der Solidarität aus. Die zunächst negative, dannschwankende Haltung der Opposition zur Entspannungspolitikbrachte uns zusätzliche Sympathien ein. Trotzdem steht nirgendsgeschrieben, dass wir es bei Neuwahlen schaffen werden. Wir habenviel gegen uns, objektiv (nicht nur die Preise) und subjektiv (nichtnur die Treulosigkeit).

Aber viel wird davon abhängen, wie wir aus der Begegnung mitden Wählern herauskommen. Für den Weg uns[erer] B[undes]repu-blik ist es entscheidend, dass die Ablösung der Unionsparteien – undunser Bündnis mit den Freidemokraten – nicht nur eine Episodebleibt. Ohne Übertreibung: Wenn wir es nicht schafften, würde esauch sehr schlecht sein für die Ost-West-Beziehungen und für dieHauptelemente der europäischen Politik.[. . .]

Sonnabend, den 19. August– in Bonn

Fast den ganzen Tag – wie am vergangenen Sonntag – Arbeit an derRede, die ich morgen zum 20. Jahrestag Kurt Schumachers zu haltenhabe. (Karl Anders und Herbert Ehrenberg hatten mir noch in Nor-wegen gute Hinweise gegeben. Egon-Erwin Müller, der sich auch fürden Wahlkampf zur Verfügung gestellt hat, hilft bei der Redaktion.Ausserdem bewährt sich die Methode, dass ich eine Reihe vonFreunden – in diesem Fall: <. . .>6 – bitte, ihre Anmerkungen zumEntwurf zu machen, bevor ich an die Schlussfassung gehe.) Von an-derem abgesehen: mir kommt es bei dieser Rede darauf an, noch vordem eigentlichen Wahlkampf klarzumachen, dass wir uns nicht in„Sozialdemokraten“ und „demokratische Sozialisten“ auseinander-dividieren lassen. Dies wird positiv auch in Anzeigen behandelt, dievon dem handeln, was der demokratische Sozialismus in mehr alshundert Jahren bewirkt hat. Man sollte es dem Gegner nach Mög-

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lichkeit nie erlauben, die Themen der Auseinandersetzung zu be-stimmen. Man sollte nicht zulassen, dass er Pappkameraden aufbautund in Angstpropaganda macht. Gerade wenn ein Terrain besondersschwierig ist oder schwierig erscheint, darf man es nicht dem Gegnerüberlassen; man muss es selbst besetzen.7

Die „Informationsreise“ der vergangenen beiden Tage hatteDonnerstagvormittag im Hochsauerland begonnen. In Winterbergwaren die hauptamtlichen Mitarbeiter des Landes zu einem west-fälischen Frühstück versammelt. Von diesen Freunden, mit HeinzKühn und Werner Figgen an der Spitze, wird wieder viel abhängen.Aber es ist noch nicht zu erkennen, wie sie die Chancen einschätzen.Hinterher, auf einer Veranstaltung für Rentner, die die Arbeiter-wohlfahrt zusammengebracht hat, zeigt sich eine rührende Anhäng-lichkeit. Eine etwas zittrige, aber dabei resolute ältere Dame über-rascht mich nach der Rede mit dem Appell: „Herr Bundeskanzler, Siestehen bei 1848, Sie müssen radikaler werden!“ Was immer sie damitmeint: Zu denken gibt einem ein solcher Zuruf. Und er zeigt ja auch,dass es nicht nur junge „Jusos“ gibt.[. . .]

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Nr. 95Rede des Vorsitzenden der SPD, Brandt,anlässlich des 20. Todestages des ersten Nachkriegsvorsitzendender SPD, Schumacher20. August 19721

Sonderdruck aus Schumacher, Kurt/Ollenhauer, Erich/Brandt, Willy:Der Auftrag des demokratischen Sozialismus, Bonn 1972.

Der Auftrag des demokratischen Sozialismus

Zum 20. Todestag von Kurt Schumacher

I.

Der zwanzigste Todestag von Kurt Schumacher verlangt mehr alseine Gedenkrede im herkömmlichen Sinne. Der Neubegründer derSozialdemokratischen Partei Deutschlands hat nicht nur einen festenPlatz in der Geschichte unseres Volkes. Sein Denken, sein Wirken,sein kämpferisches Leben sind lebendige Wirklichkeit, wo es um denAuftrag des demokratischen Sozialismus geht.

Was besagt dieser Auftrag? Er besagt nicht, daß wir glaubten, dieWahrheit gepachtet zu haben, oder daß wir meinten, einen politi-schen Ausschließlichkeitsanspruch stellen zu können. Wohl aberbedeutet er die Kontinuität sowohl des Kampfes gegen die Verge-waltigung des Menschen und seiner Freiheit als auch des Ringens umGerechtigkeit und Solidarität in den zwischenmenschlichen Bezie-hungen. Und neben diesem aus Protest geborenen Kampf lebt imfreiheitlichen, im demokratischen Sozialismus über wechselndeZeitläufte hinweg die Zuversicht in die Möglichkeit einer gesell-schaftlichen Ordnung, die jedem Menschen die gleiche Chance gibt,sein Leben in Würde frei zu gestalten.

Wenn wir zurückschauen auf die bald 110 Jahre, in denen dieSozialdemokratie als politische Partei in unserem Land gewirkt hat,dann können wir ohne Selbstgefälligkeit guten Gewissens sagen:Diese deutsche Sozialdemokratie hat den entscheidenden Anteil

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daran, daß für Millionen Untertanen die staatsbürgerlichen Frei-heitsrechte erkämpft wurden. Diese deutsche Sozialdemokratie hatwesentlich daran mitgewirkt, daß sich die Lebensbedingungen derbreiten Schichten unseres Volkes entscheidend verbessert haben.Und diese deutsche Sozialdemokratie hat nie Krieg und Knechtschaftüber unser Volk gebracht.

Demokratischer Sozialismus ist – im Geiste Kurt Schumachersund nach dem Wortlaut des Godesberger Programms – „eine dau-ernde Aufgabe – Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu be-wahren und sich in ihnen zu bewähren“.2

Der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky hat auf demVillacher Parteitag der SPÖ vor einigen Monaten überzeugend dar-gelegt, daß es sich bei der Verwirklichung des demokratischen So-zialismus und bei der Verwirklichung der sozialen Demokratie umein und dieselbe Sache handelt. Sozialismus sei uneingeschränktepolitische, wirtschaftliche und soziale Demokratie, „vollendete De-mokratie“ – dies aber nicht nur als Zielvorstellung, die weit in dieZukunft hineinreicht, sondern gleichzeitig als „praktische Richt-schnur unseres politischen Handelns in der Gegenwart“3.

Ich kann dies nur unterstreichen, zumal die damit verbundeneVorstellung vom historischen Prozeß, in den unser Wirken einge-bettet ist. Niemand mutet unseren Gegnern zu, sich diese Orientie-rung zu eigen machen.

Aber niemand darf sich andererseits wundern, daß wir sehrdeutlich werden, wenn man uns eine bis zur Verlogenheit reichendeVerzerrung dessen zumutet, was die Grundfragen unseres Engage-ments betrifft. Worum geht es?

Der CDU-Vorsitzende Barzel verkündet seit Monaten, Deutsch-land und Europa müßten vor dem „Sozialismus“ bewahrt werden,und dabei versucht er, eine Verbindung zwischen deutscherSozialdemokratie und kommunistischer Ideologie und Machtaus-übung zu suggerieren. Der CSU-Vorsitzende Strauß will die Regie-rung der sozial-liberalen Koalition als moskauhörig hinstellen, undfür den von ihm verständlicherweise befürchteten Fall einesWahlsieges der jetzigen Koalition sagt er das Ende der Demokratie

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voraus. Andere faseln von Sozialisierung und möchten uns Sozial-demokraten andichten, wir hätten das Godesberger Programm auf-gegeben.

Bei den bevorstehenden Bundestagswahlen dürfen nicht die Bil-dungslücken, die Scheuklappen oder die Charakterschwächen dererentscheiden, die gegen die SPD und gegen das sozial-liberale Regie-rungsbündnis Schreckgespenster aufmarschieren lassen. Der Wäh-lerauftrag, um den wir ringen werden, gilt der zielstrebigen Fort-setzung unserer freiheitlichen, reformbewußten, sozialverpflichtetenPolitik. Wenn es den rückwärtsgewandten Kräften gelänge, diese Po-litik zu blockieren, dann würde unserer konstruktiven Friedens-politik der Boden entzogen, würde neugewonnenes Vertrauen in derWelt verspielt werden. Und weiter: Unser Land wäre von gesell-schaftspolitischer Stagnation bedroht, es könnte gefährlichen sozia-len Spannungen anheimfallen.

Diese Gefahren gilt es abzuwenden. Wenn die Alternative lautet:Fortschritt oder Rückschritt, dann kann die Entscheidung nichtschwerfallen, dann muß es eine solide Mehrheit geben, um denRückschritt zu verhindern und den Fortschritt zu sichern.

Das rückschrittliche Lager versucht sich in dreierlei: Einmalmöchte man durch die Verbreitung von Angstgefühlen – eine auschristlichem Verständnis besonders verwerfliche Methode – derAuseinandersetzung um die tatsächlich vorhandenen Probleme undAufgaben ausweichen. Zum anderen möchte man die sozialeDemokratie und die Ideen des demokratischen Sozialismus da-durch verdächtigen, daß man sie in die Nähe der sich „sozia-listisch“ nennenden, kommunistisch regierten Staaten rückt. DiePolitik, die darauf abzielt, das gute Verhältnis zum Westen durchverbesserte Beziehungen auch zum Osten zu ergänzen, soll gleich-zeitig als kommunistisch infiziert verdächtigt werden. Drittensmöchte man vergessen machen, daß unser Godesberger Programmden demokratischen Sozialismus zur Grundlage hat, um unter die-ser falschen Voraussetzung leichter einen Gegensatz zwischenSozialdemokraten und demokratischen Sozialisten konstruieren zukönnen.

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Hierauf antworte ich wie Herbert Wehner auf dem letztenHamburger Landesparteitag: „Wir Sozialdemokraten haben nie ge-leugnet, daß wir Sozialisten sind.“4 Aber Wehner warnte auch zuRecht: „Wir müssen aufpassen, daß man uns nicht in einen Gegen-satz – und wäre es auch nur der mit verbalen Kunststücken her-beigeführte Gegensatz – bringt zwischen Sozialismus . . . und Grund-gesetz und sozialer Marktwirtschaft.“

Im übrigen ist dies ja wieder einmal eine Situation, in der diedeutschen Sozialdemokraten von Kommunisten und Rechtskreisengleichzeitig und gleichermaßen heftig angegriffen werden. Denn diesist doch die Lage: Die Führung der SED proklamiert erneut – ähnlichwie schon zur Zeit Schumachers – den Kampf gegen das, was sie So-zialdemokratismus nennt. Und die Führung der Unionsparteien in-szeniert einen agitatorischen Rummel gegen ein von ihr geschaffenesZerrbild des demokratischen Sozialismus.

Mitglieder unserer Partei haben zu Tausenden, unter mehr alseiner Diktatur, ihrer Überzeugung wegen Leib und Leben riskiert.Diese Partei verbittet sich dümmliche oder anmaßende Belehrungenin Sachen Demokratie und Sozialismus. Unerträglich ist es, wennsolche Belehrung gar von Leuten kommt, die – um es vorsichtig aus-zudrücken – nichts gegen das Wort Sozialismus einzuwenden hatten,als es noch „national“ maskiert und mit N.S. abgekürzt wurde, dieaber seitdem eine ganz besondere Aversion gegen dieses Wort ent-wickelt haben. Aber objektiv wichtiger sind die anderen, die sich ih-ren Buhmann-„Sozialismus“ einfach nur zusammenbasteln, weil siemeinen, dies helfe ihnen bei der Vertretung ihrer Interessen und beider Verteidigung von Privilegien.

Das muß man klarstellen. Das dürfen wir nicht durchgehen las-sen. Allerdings sollten wir wohl auch die Feststellung jenes Beob-achters nicht überhören, der da meinte: Die stiernackige und grob-schlächtige Polemik zeuge nicht von Zuversicht und Selbstsicherheitihrer Urheber. Dies gilt auch für die andere, die scheinheilige Va-riante der giftigen Polemik.

Dabei rate ich unseren Freunden, sich nicht in Selbstmitleid zuergehen. Ich rate zu gesundem Selbstbewußtsein, zu dem freilich

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auch Selbstkritik gehört. Ich bitte zugleich um Mithilfe bei der Ab-wehr jener gegnerischen Propaganda, die individuelle Schwächenund partielle Pannen zu einer „Parteikrise“ ummünzen möchte. Woetwas nicht in Ordnung ist, muß und wird es in Ordnung gebrachtwerden. Extratouren auf Kosten einer politischen Gemeinschaft darfman nicht durchgehen lassen. Und ich füge hinzu: Kein Mitglied derSozialdemokratischen Partei, ob jung oder alt, kann von anderen dieSolidarität erwarten, die es selbst vermissen läßt.

Alle Mitglieder und Freunde der Sozialdemokratischen Parteisind aufgefordert, hier und da zutage getretene Unzulänglichkeitenüberwinden zu helfen und dabei einzelne, die den Erfolg des Ganzengefährden könnten, zur Ordnung zu rufen.

Was wir weiterhin – auch über die Zeit des Wahlkampfes hi-naus – brauchen, das sind die Freiheit der Meinungsbildung und dieEntschlossenheit in der Abwehr gegnerischen Einwirkens. Grund-sätze, die in der alten wie in der von Kurt Schumacher neube-gründeten SPD gegolten haben.

Auf dem ersten Nachkriegsparteitag, in Hannover im Mai 1946,hat Kurt Schumacher gesagt: „Es gibt kein Primat der Taktik. Mankann nicht mit kleinen Manövern und Schlauheiten die Gesellschaftändern. Man muß begeistert sein, um große Taten zu vollbringen.“5

Er fuhr fort: „Wir sind eine Partei wie alle anderen, haben keinetotalitären Machtansprüche, aber eine große Konzeption von Sozia-lismus und Demokratie in Deutschland und in der Welt, und dieseKonzeption und die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, die sind es, dieuns in unserem Lande und in der Welt Vertrauen schaffen.“ Undweiter: „Wir wollen nicht die Macht um der Macht willen, sondernwir wollen endlich einmal in diesem Lande dem Recht Macht geben.“

II.

Ich habe bewußt diesen Tag gewählt, um noch vor dem Wahlkampfeiniges zurechtzurücken, was zurechtgerückt werden muß. EinigenWahlkampfstrategen der anderen Seite sei dies ins Stammbuch ge-schrieben:

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Kurt Schumacher – damals von derselben CDU bekämpft, dieihn heute gelegentlich als Kronzeugen in Sachen Antikommunismusin Anspruch nimmt – war einer der großen Männer des demokrati-schen Sozialismus: Er wollte – wie die Generation August Bebels undwie wir heute – Freiheit und Gerechtigkeit, Einzelinteresse undGemeinschaftsinteresse im Geiste der Solidarität miteinander ver-binden.

Auf Kurt Schumacher sollte sich nicht berufen, wer all das giftigbekämpft, wofür er gelitten und gekämpft hat.

Zu meiner Freude spreche ich hier in Gegenwart alter MitstreiterKurt Schumachers. Ihnen und allen anderen, in deren Schuld wirstehen, möchte ich aufrichtigen Dank sagen für ihr Beispiel, ihre invielen Fällen opfervolle Leistung, ihren weiterwirkenden Rat. Dabeiwill ich das Wort Mitstreiter durchaus nicht im Sinne von „Gefolgs-mann“ verstanden wissen. Auch damals hat es Auseinandersetzun-gen, hat es ein Ringen eigenständiger Meinungen gegeben.Was zählt,ist die Summe gemeinsamer Leistungen und Erfahrungen.

Was weiterwirken sollte, ist aber auch die Maxime, die Schu-macher auf dem zweiten Nachkriegsparteitag 1947 in Nürnberg ent-wickelte und die nicht nur innerstaatlich, sondern auch innerpartei-lich nachdenkenswert bleibt: „Die Demokratie beruht auf dem Prin-zip der Gegenseitigkeit und der Ehrlichkeit. Die Demokratie kannnur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zurObjektivität haben. Aber die technokratische und geradezu kriegs-wissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Ge-genteil.“6

Auf demselben Parteitag sagte unser unvergessener ErichOllenhauer: „Die neue deutsche Demokratie gehört in die Hände vonüberzeugten und kämpferischen Demokraten. Die Freiheiten undRechte der Demokratie dürfen nicht wieder von denen gebrauchtund mißbraucht werden, die die Demokratie mit den Mitteln derDemokratie vernichten wollen, ganz gleich unter welcher Flagge siedas Volk irreführen wollen.“7

Ich bin sicher, daß die erfahrenen Partei-Senioren mir zu-stimmen, wenn ich erkläre:

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Erstens: Wir Sozialdemokraten haben die politische Ausein-andersetzung gerade jetzt offensiv zu führen.

Zweitens: Gerade jetzt geht es darum, daß sich die aktuelle Poli-tik an den Grundsätzen einer menschenwürdigen Gesellschaft ori-entiert.

Drittens: Wenn Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die dau-ernde Aufgabe des demokratischen Sozialismus sind, dann ist es seinkonkreter Auftrag, sich um die schrittweise Verwirklichung dieserGrundwerte beharrlich zu bemühen.

Als wir im Jahre vor den letzten Bundestagswahlen unsere „Per-spektiven im Übergang zu den siebziger Jahren“8 formulierten und zurDiskussion stellten, da habe ich erklärt, den großen Zielen der Vertie-fung der Demokratie, der Humanisierung der Gesellschaft und derStärkung der Freiheit des einzelnen sei die SPD „genauso verpflichtetwie in ihrer Geburtsstunde“.9 Gestützt auf diese Tradition und unterausdrücklicher Berufung auf Kurt Schumacher, sage ich hier:

Demokratisch-sozialistisches Denken und Handeln sind un-trennbar verbunden

mit Demokratie in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft,mit Rechtsstaatlichkeit, persönlicher und geistiger Freiheit,mit Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Solidarität.Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wo dieser Zu-

sammenhang fehlt, kann nicht von dem die Rede sein, was im Sinnedes Godesberger Programms als Sozialismus zu verstehen ist.

Im Godesberger Programm ist – stärker als in früheren sozial-demokratischen Programmen – deutlich gemacht worden, daß dieGrundüberzeugungen, die Grundwerte unserer Partei sich nicht aufeine einzige Quelle zurückführen lassen. Ich habe im Januar 1970 ineinem Beitrag für „Die Neue Gesellschaft“ auf den hier bestehendenengen Zusammenhang mit der Überzeugung gerade Kurt Schu-machers hingewiesen.10 Dies erschien mir und erscheint mir heutenicht zuletzt deshalb wichtig, weil mancherorts noch immer ge-glaubt wird, „Godesberg“ sei nicht nur über Schumacher hinaus-gegangen, sondern habe sich in gewisser Hinsicht fast gegen ihnentwickelt.

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Von Schumacher aber stammt ja doch das Wort, daß in der nachdem Zweiten Weltkrieg neubegründeten – er sagte ausdrücklichneubegründeten – Sozialdemokratischen Partei nicht mehr danachgefragt werden solle, woher einer die letzten Impulse seines politi-schen Wirkens bezieht. Das heißt, es sei in diesem Zusammenhangnicht von Belang, ob der einzelne von der Bergpredigt oder von Kantoder von Marxschen Theorien ausgeht; ob er aus der Religion, derPhilosophie oder der Gesellschaftswissenschaft schöpft. Gefragt wer-den solle statt dessen, ob er bereit ist und wie er bereit ist, mitzu-wirken an einer vernünftigen, modernen, gerechten, menschen-würdigen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Ich möchte hier noch einmal betonen: Es gehört zur Grund-konzeption Schumachers und des Godesberger Programms, eine po-litische Partei nicht als Religionsersatz aufzufassen; nicht zu glauben,eine Partei könne Weltanschauung verordnen; andererseits in derSozialdemokratischen Partei aber auch nicht einen bloßen Zusam-menschluß zur Regelung politischer Tagesgeschäfte zu sehen. Geradedann, wenn sie sich abgrenzt gegen Vorstellungen vom Kirchen-ersatz oder vom Weltanschauungsbund, bleibt die Sozialdemokra-tische Partei nach ihrem modernen Selbstverständnis eine Willens-gemeinschaft und eine Ideengemeinschaft, die sich orientiert an ethi-schen Grundwerten, an Vorstellungen davon, wie die Menschen inihren engeren Lebensbereichen, im Staat und in der Welt würdigmiteinander leben können.

Für Kurt Schumacher gab es eine eindeutige Rangordnung derWerte. Er war leidenschaftlicher Patriot, kämpferischer sozialer De-mokrat, unbeugsamer Kämpfer für die Freiheit. In dem folgendenSatz steht insoweit der ganze Mann vor uns: „Es gibt wohl die Tat-sache, daß man kämpft, mit großer Leidenschaft und Hingabekämpft für soziale Vorteile – zu sterben bereit ist man nur für diegroße Idee der Freiheit.“

Wenn wir heute zurückdenken und die andere, aus den erstenNachkriegsjahren besonders herausragende Persönlichkeit unsererBewegung – Ernst Reuter – neben Kurt Schumacher stellen, dannwird uns bewußt, wie sehr beide, bei allen Unterschieden der Tem-

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peramente und der spezifischen Erfahrungen, auf den eben genann-ten Gebieten übereinstimmten. Auf dem Berliner Landesparteitag1947 sagte Ernst Reuter, unser Ziel sei nicht – was inmitten der Rui-nen und des Hungers zu sagen, wohl gar nicht so einfach war – „dergut gekleidete, gut ernährte, in einer guten Wohnung lebende undvon ersten Ärzten betreute Roboter“, sondern das Ziel sei „der freieMensch im Bewußtsein seiner Würde und seines Rechts“.11

Eine „sozialistische Lösung“ bedeutete für Reuter, „demokrati-schen Lebensformen“ auch in der Wirtschaft Geltung zu verschaffen;und die Formulierung, die Demokratie müsse zur „allgemeinenStaats- und Lebensordnung“ werden, hat ja dann auch in unseremGrundsatzprogramm ihren Niederschlag gefunden. Schumacher be-tonte, die Organisationsformen der Wirtschaft seien kein Selbst-zweck, aber sie seien wichtig, um unverzichtbare Menschenrechtedurchzusetzen. Die Sachwertbesitzer dürften von der „Übernahmeder Lasten“ nicht ausgenommen werden. Auch frage es sich, ob dasSozialprodukt ausreiche, „um uns den Luxus einer planlosen Unter-nehmerprofitwirtschaft zu leisten“. Jedenfalls bedürfe es der wirt-schaftlichen Mitbestimmung; sie sei für den sozialen Fortschritt„nicht weniger wichtig als das gleiche, geheime und freie Wahlrechtin den Tagen Ferdinand Lassalles“.12

Wir werden darauf gleich zurückkommen. Nur soviel sei gleichangemerkt:

Demokratisch-sozialistisches Denken weiß von jeher – und füruns Heutige gilt das verstärkt – um das elementare Spannungs-verhältnis, welches sich daraus ergibt, daß Freiheit teils in der Ge-meinschaft, teils gegen die Gemeinschaft gesucht wird und gefundenwerden muß. Ein Die-Dinge-sich-selbst-überlassen in Wirtschaft undGesellschaft – das, was man Laissez-faire nennt – hat die Auflösungdieses Konflikts, die solidarische Verbindung zwischen Einzelinte-resse und Gemeinschaftsinteresse, nie zustande gebracht. Immermußte für den Ausgleich vermittelt, mußte in den Wirtschaftsablaufinterveniert werden. Und immer wieder haben die Stärkeren, diePrivilegierten es als „gefährlichen Sozialismus“ bezeichnet, wenn zu-gunsten der vielen, der Schwächeren interveniert wurde.

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Kurt Schumacher war davon überzeugt, daß die politischeMacht die ökonomische kontrollieren kann, daß aber auch derjenige,der die Autorität des demokratisch legitimierten Gesetzes zerstört,das wichtigste Instrument des gesellschaftlichen Fortschritts zer-bricht. Die Verdrossenen, die einer neuen staatlichen Ordnung skep-tisch gegenüberstanden, fragte er: „Was heißt denn staatliche Ord-nung? Daß Arbeiterschutzgesetze nicht verletzt werden dürfen, daßNahrungsmittel nicht verfälscht werden dürfen, daß Eltern ihre Kin-der nicht mißhandeln und sie zur Schule schicken müssen, daß Mie-ter nicht betrogen werden dürfen . . .“

Für ihn bedeutete die staatliche Ordnung in der Demokratie vorallem Schutz der Schwachen; für ihn sollte praktische Politik derimmerwährende Versuch sein, denen zu helfen, die, nur auf sich ge-stellt, hilflos sind und bleiben.

Man hat Kurt Schumacher die Verkörperung „des von Hitlerunbesiegten Deutschlands“ genannt, das den Neuaufbau als politi-sche und moralische Verpflichtung ansah.

Was Georg Brandes über Lassalle schrieb, trifft auch auf ihn zu,der ganz in seiner Idee aufging und das einmal als richtig Erkanntestreitbar verfocht: „Er steht in der Geschichte als ein Willensdenkmalda.“13 Vor allem hatte er sich diese Aufgabe gestellt: die Sozial-demokratische Partei, die von Hitler zerschlagen worden war, als einevon den Besatzungsmächten unabhängige, nicht zu korrumpierendePartei auf dem Boden bestätigter grundsätzlicher Positionen so auf-zubauen, daß sie zur politisch gestaltenden Kraft werden könnte.Dazu ist sie zunehmend geworden.

Die Zukunft – so erklärte Schumacher in seiner ersten Rede un-mittelbar nach der Befreiung am 6. Mai 1945 vor sozialdemokrati-schen Funktionären in Hannover – habe im System der Parteien nurfür eine Partei demokratischer Sozialisten Platz. Wörtlich sagte er:„Wir bejahen die Demokratie als große tragende Idee unserer Ver-gangenheit und der Zukunft.“14 Und weiter: „Wir sind demokratischeSozialisten, das heißt, wir kämpfen für den Sozialismus mit den Mit-teln der Demokratie.“15 Die geschichtliche Entwicklung erlaube dieFeststellung, „daß die Sozialdemokratie die einzige Partei in

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Deutschland gewesen ist, die an der durch den Ablauf der Ereignisseals richtig erwiesenen Linie von Demokratie und Frieden unver-rückbar festgehalten hat.“16

Er hielt nichts von denen, die stets ganz genau zu wissen glau-ben, was „das Volk“ will. Für ihn ließ sich eine Mehrheit in der De-mokratie nicht anders als über die Wahlurne ermitteln. Das be-deutete, um diese Mehrheit zu ringen und ein Programm zu ent-wickeln, das in diesem Ringen zum Erfolg führen sollte. Anzuklagensei einfach, aber es reiche nicht aus. Konkrete Abhilfe zu schaffen,das verlange dauernde Auseinandersetzung mit der Realität. Es ver-lange, positive Forderungen auszuarbeiten, die politisch, wirtschaft-lich und psychologisch durchsetzbar sind.

1946 bezeichnete er den demokratischen Sozialismus als „dasProgramm für Arbeiter, Angestellte, Bauern, Gewerbetreibende undgeistige Berufe“.17 Aus seiner Sicht war es notwendig, „die traditio-nelle Fassade des Klassenkampfes abzubauen, anstatt den Klassen-begriff sinnentstellend umzuformen“. Er verzichtete nicht darauf,den „Klassenkampf von oben“ zu geißeln, hielt es aber für richtig,den alten Klassen-Terminus aus dem politischen Sprachschatz derSPD zu entfernen, und entschied sich selbst für den Begriff des „poli-tischen ,Kampfes‘ aller Schaffenden“.18

Es ergibt sich im Grunde schon aus dem, was wir ausgeführthaben, daß für einen Mann wie Schumacher Demokratie mehr warund mehr sein mußte als der Rahmen staatlicher Machtausübung.Demokratie bedeutete für ihn eben das, was unser Grundsatz-programm eine „Lebensform“ nennt, die das ganze gesellschaftliche,wirtschaftliche und kulturelle Leben zu durchdringen habe. Demo-kratie, das hieß nach seinen eigenen Worten, die „Lebensverhält-nisse nicht einfach aus der Hand der Machthaber entgegenzuneh-men, sondern mit zu gestalten“. Eben das haben wir in Godesberg zueinem Kernstück unserer programmatischen Aussagen gemacht.

Siebenundzwanzig Jahre sind seit Kriegsende, zwanzig Jahre seitKurt Schumachers Tod ins Land gegangen. Wäre er noch unter uns,sein politischer Realismus hätte nicht nur die tiefgreifenden Verän-derungen um uns herum verarbeitet, er hätte gewiß auch die eigenen

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Vorstellungen weiterentwickelt. In einer Hinsicht aber hätte er zu-sammen mit uns festgestellt, daß sich wenig verändert hat:

Die Anti-Sozialismus-Kampagnen der Privilegierten und derRückwärtsgewandten haben sich fortgesetzt – vom Kaiserreich überdie Weimarer Republik bis in unsere Tage. Allerdings: die – wenn ichso sagen darf – soliden konservativen Kräfte haben sich im Laufe derEntwicklung, mit Verspätung, durchaus manche der Vorstellungenund Tatsachen zu eigen gemacht, die sie zunächst starr ablehnten.Auch dies darf man also nicht übersehen: ein nicht geringer Teil derzunächst hart umstrittenen sozialdemokratischen Forderungen undVorstellungen ist kaum noch kontrovers, sondern findet inzwischenbreite Unterstützung oder wird gar als selbstverständlich betrachtet.An die Ursprünge erinnern sich die meisten kaum noch, manchemöchten daran auch nicht erinnert werden.

Wer wagte heute noch, wie die damaligen Widersacher des So-zialismus, die staatliche Kranken- und Rentenversicherung, das Ver-bot der Kinderarbeit, den Mutterschutz, den Achtstundentag, das Be-triebsrätegesetz, die Erwerbslosenversicherung als „sozialistisch“ ab-zulehnen und zu bekämpfen!

Aber wenn es um Krankenhäuser und Schulen geht, um mo-derne Städte und ein zeitgemäßes Bodenrecht, um Umweltschutzund Lebensqualität für alle, dann tauchen – fast wie zur Zeit desSozialistengesetzes19 – die Warnungen vor „gemeingefährlichemSozialismus“ wieder auf, die doch längst der Historie angehörensollten.

Otto von Bismarck, bedeutend wie er war, ist bekanntlich allesandere als ein Freund der aufstrebenden Sozialdemokratie gewesen.Aber in gewisser Hinsicht war er weiter als manche der heutigenRechtskreise. Es war 1884, als Bismarck im Reichstag die staatlicheUnfallversicherung durchsetzen wollte. Die damaligen Rückschritt-ler protestierten heftig und malten den Sozialismus in düsterstenFarben.

Der Reichskanzler hielt ihnen entgegen, es gebe Zwecke, die nurder Staat in seiner Gesamtheit erfüllen könne. Und dann wörtlich:„Wenn man mir dagegen sagt, das ist Sozialismus, so scheue ich das

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gar nicht . . . Ich habe schon vorhin vorweg genommen, daß . . . derStaat ohne einen gewissen Sozialismus <nicht>20 bestehen kann.“21 –Diesen Satz des großen Widersachers von August Bebel sollte mansich genau merken.

III.

In seiner Gedenkrede für den verstorbenen Freund und Kampfge-fährten sagte Erich Ollenhauer am 23. August 1952 im DeutschenBundestag: „In unserem Volke ist über alle Gegensätze und Mei-nungsverschiedenheiten hinweg das Gefühl für echtes Kämpfertumund echtes Menschentum stark und lebendig. Alle, die an eine Ge-meinschaft der Menschen in Freiheit und Würde glauben, könnenneue Hoffnung schöpfen. Wir danken Dir, Kurt Schumacher!“22

Seine Verdienste um unser Volk und unseren Staat sind ohneZweifel von historischer Bedeutung. Ohne ihn und seine Mitstreitersähe die politische Landschaft in der Bundesrepublik und in Europaheute völlig anders aus.

Als deutscher Patriot und demokratischer Sozialist hatte er dienationalsozialistische Diktatur leidenschaftlich bekämpft. An seinerÜberzeugung hatte er auch dann unbeirrt festgehalten, als man ihnzehn Jahre lang in den Konzentrationslagern quälte und zu brechensuchte.

Mit der Autorität des vorgelebten Widerstandes machte er 1945Front gegen die neue Diktatur, die vom Osten kam, ebenso wie gegeneine negative, rückwärtsgewandte Auslegung der westlichen Kriegs-ziele.

Es war Kurt Schumacher, der energisch der These von der Kol-lektivschuld unseres ganzen Volkes entgegentrat, der aber auch diedeutsche Schande nicht verschwieg, an unser Verantwortungsgefühlappellierte und der vor allem der deutschen Jugend den Weg nachvorn wies und ihr diesen Weg ebnete.

Kurz vor seinem Tode hat er unseren historischen Auftrag for-muliert, als er im Vorwort zum Dortmunder Aktionsprogrammschrieb: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist nach 1945

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von der Idee ausgegangen, ein Deutschland zu schaffen, das die Wie-derholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließt.“23

1946 hatte er festgestellt: „Wir treiben keine amerikanische,keine britische, keine französische und erst recht keine sowjetische,sondern deutsche Politik.“24 Und dies hieß eben, daß er mit allen po-litischen und geistigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, an-ging gegen die kommunistische Politik in der sowjetischen Besat-zungszone und gegen den darüber hinausgehenden Versuch, diewiedererstandene Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie zur Auf-gabe ihrer geistigen, politischen und organisatorischen Unabhängig-keit zu zwingen.

So, wie sich die Kräfteverhältnisse gestalteten und wie die Ein-sichten und Energien auf die politischen Machtzentren verteilt wa-ren, mußte diesem Widerstand im unmittelbaren kommunistischenEinflußbereich der Erfolg versagt bleiben. Unzählige Deutsche, nichtnur Sozialdemokraten, haben darunter leiden müssen, bis auf denheutigen Tag. Im Bereich der damaligen Westzonen und in West-Berlin konnten die kommunistische Durchdringung und Gleich-schaltung abgewehrt werden. Diese historische Leistung ist mit denNamen Schumacher und Reuter untrennbar verbunden.

Und manche, die heute den Mund nicht weit genug aufbe-kommen können, scheinen gar kein Gespür dafür zu haben, daß ih-nen das nur möglich ist, weil Sozialdemokraten damals ihren Buckelhingehalten haben. In der Bundeswehr, und nicht nur dort, weißman zudem, daß Schumacher sehr früh nach Begründung der Bun-desrepublik auch sein Ja zur Landesverteidigung ausgesprochen hat.– Von einem gewiß unverdächtigen Zeugen, dem damaligen ame-rikanischen Hochkommissar John McCloy, stammt das Wort:„Deutschland und der Westen stehen in Kurt Schumachers Schuld,weil er seine große Partei wie ein Staatsmann in die Freiheit geführthat.“

Für die Propagandisten der CSU/CDU, die heute das Volksfront-Gespenst „von links“ an die Wand malen, ist es bezeichnend, daß sie,die die jüngste deutsche Geschichte ebenso gut kennen wie wir, hierganz bewußt auf die Vergeßlichkeit der Menschen spekulieren. Sie

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mobilisieren Schreckgespenster, und ihre Meinungsmacher versu-chen, einen Gegensatz zu konstruieren zwischen unserer Verständi-gungspolitik und der Haltung der deutschen Sozialdemokratie unterder Führung Kurt Schumachers.

Dabei ist evident, daß wir als Regierungspartei bei unserem Rin-gen um den Frieden durchaus in der Tradition Kurt Schumachersstehen. Hier, im „Archiv der Sozialen Demokratie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, in dem diese Gedenkstunde stattfindet, darf ich ausdem stenographischen Protokoll der Internationalen SozialistischenKonferenz vom 8. Juni 1947 in Zürich zitieren. Auf die Frage, ob dieWeigerung der SPD, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten,gleichbedeutend sei mit der Ablehnung einer Verständigungspolitikmit Rußland, antwortete Kurt Schumacher damals: Die kommunis-tischen Parteien beruhten auf besonderen intellektuellen und orga-nisatorischen Grundsätzen. Es seien Grundsätze des Totalitarismus.Dann fuhr er fort: „Aber ich hüte mich, die kommunistische Parteieines Landes mit der Realität der Sowjetunion gleichzusetzen. DieSowjetunion ist ein Faktor, mit dem wir zu einem Modus vivendikommen müssen. Ich bin der Überzeugung – und diese Idee wird vonder ganzen SPD geteilt –, daß zwischen Rußland und Europa eineVerständigung möglich ist. Was hingegen das Zusammenwirken mitden Kommunisten betrifft, so geben wir uns darüber keinen Illusio-nen hin.“25

Das gilt auch heute für die Sozialdemokratische Partei Deutsch-lands.

Im übrigen kann ich nur bekräftigen, was ich in den westlichenHauptstädten ebenso wie in Moskau, Warschau und Erfurt, imDeutschen Bundestag und bei allen mir wichtig erscheinenden An-lässen erklärt habe: Bei Verträgen mit kommunistisch regiertenStaaten handelt es sich nicht um eine Einebnung von Weltan-schauungen und Gesellschaftssystemen; dies gilt ganz allgemein fürunsere auswärtigen Beziehungen. Normale Beziehungen sind eineSache, eine andere Sache sind die einander entgegenstehendenGrundsätze staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung. Es werdenalso durch unsere Friedenspolitik nicht die grundsätzlichen Unter-

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schiede verwischt, die Sozialdemokraten und Kommunisten von-einander trennen.

Gerade in dieser Phase der erfreulicherweise zunehmenden Ko-operation von Staaten ganz unterschiedlicher Systeme werden wir un-sere freiheitliche Ordnung zu stärken und sie sozial auszubauen haben,denn dies ist und bleibt unsere Basis für den Wettbewerb der Systeme.

Für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gibt es dabeikeinen ideologischen Mischmasch mit kommunistischen Parteienoder Gruppen, keine Volksfrontpolitik, keine sogenannte Aktions-einheit. Alles das kann es nicht geben. Was es gibt und geben muß,sind die Bereitschaft und die Fähigkeit zur politischen, zur geistigenAuseinandersetzung. Sie fürchten wir nicht, sondern wir suchen sie.

Warum sollte ich bei dieser Gelegenheit nicht auch in aller Of-fenheit sagen, daß viele bei uns beispielsweise von großer Sorge erfülltsind, wenn sie die Prozesse in der Tschechoslowakei – vier Jahre nachdem August 196826 – mit den Hoffnungen eines auf kommunistischemBoden wachsenden „humanen Sozialismus“ vergleichen!

Warum sollte ich nicht in allem Freimut darauf hinweisen, daßdas Interesse deutscher Demokraten an der Beachtung der Men-schenrechte nicht geographisch begrenzt werden kann!

Schumacher und Reuter – die ich hier bewußt noch einmal ineine Parallelität zueinander stelle – waren, anders als es die Legendewill, durchaus nicht antirussisch. Erst recht nicht waren sie, wie einanderes Klischee es wahrhaben möchte, gegen die europäische Ein-heit. Mit gewissen taktischen Unterschieden, die sich wohl am ehes-ten aus der unterschiedlichen Erfahrung in den Jahren bis 1945 er-klären lassen, setzten sich beide für ein vereintes Europa als eine Ge-meinschaft von Gleichberechtigten ein – übrigens schon damals soverstanden, daß Großbritannien dabei sein müßte.

Ich möchte dies doch noch etwas ergänzen. Es war Schumacher,der schrieb, die Sozialdemokratie könne sich ein neues Deutschlandnicht isoliert und nationalistisch vorstellen, sondern „überhaupt nurals einen Bestandteil Europas“.27 Noch vor dem Schuman-Plan28 regteer einen deutschen Versuch an, „unter Betonung der europäischenKooperation und in streng europäischem Rahmen im Geiste der Ge-

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meinsamkeit auf das Ziel einer größtmöglichen wirtschaftlichenVereinigung Europas loszugehen“. Als Führer der Opposition imBundestag redete er auch Verhandlungen mit Frankreich das Wort,„die einen französisch-deutschen Freundschaftsvertrag bringen“.

Bei dieser Gelegenheit will ich noch einmal daran erinnern, daßdeutsche Sozialdemokraten schon im vorigen Jahrhundert die Visionvon den Vereinigten Staaten von Europa verbreitet haben und daßdaraus schon nach dem Ersten Weltkrieg eine Forderung im Partei-programm der SPD wurde.29 Auch hier gilt: Manches von dem, wasfrüher als „sozialistisch“ bekämpft wurde, wird heute von den Kon-servativen bejaht oder gar als eigene Erfindung ausgegeben.

Dann ist da trotzdem noch die Legende vom „Nationalisten“Schumacher. Daß er kantig war, soll gar nicht bestritten werden;auch nicht, daß er ein Kind seiner Zeit war und die Folgen vor Augenhatte, die sich aus Fehlentwicklungen nach dem Ersten Weltkriegergeben hatten. Aber was will man eigentlich daran aussetzen, wieder junge Schumacher in den frühen zwanziger Jahren den Begriffdes Patriotismus definierte? Echter Patriotismus, so sagte er, seiDienst an einem armen und geschlagenen Vaterland, das nichts an-zubieten habe und noch die Opferbereitschaft der ganzen Nationverlange.

Nach 1945 war es geboten, hart um die deutsche Einheit zu rin-gen, und niemand kann beweisen, daß nicht doch etwas zu erreichengewesen wäre, wenn man den damaligen Empfehlungen der SPD ge-folgt wäre. Das Ringen um die Nation ist ja auch nicht vorbei, selbstwenn wir heute von zwei deutschen Staaten auszugehen haben,nachdem mit dem „Großdeutschen“ Hitler-Reich auch das „klein-deutsche“ Bismarcksche Reich und selbst das Deutsche Reich in demeingeschränkten territorialen Rahmen des Versailler Vertrages zer-brochen ist. Was jedenfalls bleibt – und was bei Schumacher immermitgeschwungen hat –, ist das, was August Bebel seinen Gesin-nungsfreunden als „Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit“ anem-pfohlen hat. Ich habe dies mit in Erinnerung gehabt, als ich zuBeginn meiner Kanzlerschaft darum bat, wir Deutsche in der Bun-desrepublik möchten uns als ein Volk der guten Nachbarn bewähren

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– im Innern und nach außen.30 Damit wäre auch unserem Staats-bewußtsein gut gedient.

Im Begriff der Nation sind für uns wie für Kurt Schumacher ge-schichtliche Wirklichkeit und politischer Wille vereint. Aber, ge-messen am Frieden, kann die Nation heute für uns nicht mehr dashöchste aller Güter sein. Unser Patriotismus hat sich zugleich als eu-ropäische und weltpolitische Verantwortung zu verstehen.

Dies kann für uns nicht bedeuten, die deutsche Nation anderenzu überlassen, die mit diesem Begriff noch immer etwas meinen, waswiederholt gescheitert ist und gewiß nicht die Zukunft für sich hat.Wir dürfen die deutsche Nation – als Idee, als schwierige Realität undals künftige Möglichkeit – nicht ausspielen lassen gegen jene, die alseuropäisch und international verantwortliche demokratische Sozia-listen dieser Nation eine Zukunft in guter Nachbarschaft zu anderensichern wollen. Hier gibt es eine Parallele zu unserem Staatsver-ständnis. Denn dabei geht es ja auch darum, daß wir den demokrati-schen Staat nicht denjenigen überlassen – und daß wir ihn nicht ge-gen die Sozialdemokraten durch diejenigen ausspielen lassen –, de-nen es im Kern um die Erhaltung von Vorrechten geht und die imGrunde davon leben, daß der Staat den Interessen von Inhabern undNutznießern großer wirtschaftlicher Macht untergeordnet wird.

Erinnern möchte ich aber auch noch einmal an folgendes: Diepolitische Hartnäckigkeit Kurt Schumachers hat 1948/49 jene Fehl-entwicklung verhindert, die das Entstehen eines kleindeutschenStaatenbundes bedeutet hätte.31 Gegen die Kurzsichtigkeit der Mili-tärregierungen und gegen manchen Kleinmut im eigenen Landesetzte er durch, daß diese Bundesrepublik zu einem – nehmt alles inallem – effektiven Bundesstaat werden konnte. Vom Krankenlageraus hat er seinen ganzen Einfluß geltend gemacht, daß das Grund-gesetz angenommen würde – weil es, wie er sagte, die Handhabe bie-ten werde, alle in die Pflicht zu nehmen, um einen demokratischenund sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen.

Zu diesem Staat, zur Bundesrepublik Deutschland, die durch So-zialdemokraten entscheidend mitgeschaffen wurde, bekennen wiruns ohne Wenn und Aber!

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Das Grundgesetz wollen wir nicht nur achten, wir wollen es zu-nehmend verwirklichen!

Feinden der Demokratie wollen und dürfen wir uns nicht beu-gen! Für die soziale Demokratie wollen wir uns mit aller Hingabeeinsetzen!

IV.

Kurt Schumacher hat gesagt, man könne dem Leben nicht mit demDogma befehlen; man müsse die Lehren aus dem Leben nehmen.Auch wenn man einen sittlich oder wissenschaftlich noch so fun-dierten Wunsch habe, müsse man sich stets mit den Realitäten aus-einandersetzen.

Politik ist nach seinen Worten etwas völlig anderes als bloßesTheoretisieren oder gar „Gekeife um bloße Schemata“.

Dies hatte gewiß schon damals, kurz nach dem Krieg, mehr alseine Adresse. Heute erst recht muß man sich wundern, was gewisselinksradikale Gruppen mit beträchtlicher Überheblichkeit und ih-rem „Geheimjargon“ – wie Schumacher es nannte – glauben, errei-chen zu können. Vieles davon stiftet nur Verwirrung und nährt Vor-urteile gegenüber dem, was notwendig und möglich ist, nämlich demgraduellen, schrittweisen gesellschaftlichen Fortschritt.

Wenn man von den realen Kräfteverhältnissen ausgeht, ist je-doch der Dogmatismus der Rechten bei uns in der Bundesrepublikdas eigentliche Hindernis für einen breiten Konsensus über die an-gemessene Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Ich meine dieje-nigen in Politik und Publizistik, die die gegenwärtig bestehendenwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände mehr oder wenigerfestschreiben möchten – mit der Behauptung, genau diese machtendie freiheitlich-demokratische Grundordnung aus.

Wir sagen demgegenüber: Die freiheitlich-demokratischeGrundordnung liegt in den fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes,also zum Beispiel in der Unantastbarkeit der Grundrechte, der freienMeinungsäußerung, dem Machtwechsel durch demokratische Wah-len, dem Minderheitenschutz, dem sozialstaatlichen Schutz der

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Schwachen, der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit des Eigen-tums.

Um das konkrete Umsetzen dieser Prinzipien in praktische Poli-tik gibt es natürlich – gerade bei uns – ein fortdauerndes Ringen derMeinungen. Dies ist notwendig und kann weder Herrn Strauß undHerrn Barzel zuliebe unterbleiben noch deswegen, weil man in einpaar Presse-Konzernen32 von „Gefahren der Sozialisierung“ phanta-siert.

Selbstverständlich gibt es Probleme für eine Partei, in der – wiebei uns – auf dem Boden gemeinsamer Grundüberzeugungen um denjeweils richtigen Weg gerungen wird und auf die viele aktive jungeMenschen erfreulicherweise ihr Interesse konzentrieren. Wievielschlechter wäre es um unseren Staat bestellt, wenn nicht die Regie-rungsparteien, im Gegensatz zur CDU/CSU, in erheblichem Maße zurIntegration der kritischen jungen Generation fähig wären! Dasschafft Unruhe, Arbeit, zwingt zu inhaltlicher Auseinandersetzung,verlangt entschiedene Klärungsprozesse, auch Geduld und Zeit, undmanchmal sind dabei deutliche Abgrenzungen geboten. Mir sind diedamit verbundenen, sicher auch unbequemen Probleme lieber alsdie, die sich dann ergeben, wenn eine gewisse Partei die Jungen linksliegen läßt oder von ihnen rechts liegengelassen wird. Dann bleibt sienämlich auf ihren Ladenhütern sitzen. Und ein derartig verstaubterLadenhüter ist der primitive Anti-Sozialismus, der auch als Bürger-schreck bald ausgedient haben müßte.

Die Sozialdemokratische Partei braucht immer wieder das Rin-gen um den besten Weg. Was sie nicht brauchen kann, sind kalt-schnäuziges Managertum und Intellektualismus ohne Herz. Diesegroße Volkspartei muß immer wieder mit Beharrlichkeit klarma-chen, welche konkreten Verbesserungen und Veränderungen sie willund wofür sie bei der kommenden Wahlentscheidung und für diekommenden Legislaturperioden das Vertrauen der Mitbürger zu er-ringen sucht. Gleichzeitig möchte ich sagen: Es wäre ein Selbst-betrug, wenn wir die Erschütterungen im Tatsächlichen und im Ge-danklichen, die sich allenthalben ereignen, nicht registrierten undnach Möglichkeit verarbeiteten.

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Die Unruhe in der katholischen Welt reicht beispielsweise weitüber das hinaus, was die meisten jungen und älteren Sozial-demokraten heute beschäftigt. Die Herren Strauß und Barzel schei-nen nur keine Antenne zu haben, mit der sie diese Bewegungen auf-nehmen könnten. Oder es fehlt ihnen an der inneren Bereitschaft,ihre vermeintlich heile Welt in Frage stellen zu lassen. Aber es wirdandere geben, die verstanden haben, was ein Mann wie Walter Dirkskürzlich in den „Frankfurter Heften“ geschrieben hat und wie be-drückend seine Voraussagen für den Fall sind, daß das Wahlergebniseine Führung Barzel/Strauß bringen sollte.

Wir selbst müssen, was die gesellschaftlichen Notwendigkeitenangeht, stets auf der Hut sein, daß wir nicht in erstarrten Positionenstecken bleiben. Wer sich ohne Scheuklappen bewegt, wird wissen,wie groß und schwierig die Probleme sind, die vor uns liegen. Ichnenne nur:– die Gefährdung der menschlichen Würde durch die Ansprüche

der arbeitsteiligen Gesellschaft– die gesellschaftliche Integration der Generationen, vor allem der

älteren Mitbürger– die beängstigende Bedrohung unserer Umwelt– den Stadt-Land-Konflikt– und nicht zuletzt die zunehmenden Spannungen zwischen den

hochentwickelten Industriestaaten und den Ländern der DrittenWelt.

Die Rechtskonservativen und andere Rückwärtsgewandte habennicht viel mehr zu bieten als eine Verschleierung und Verniedli-chung der schwierigen Probleme. Das ist die zwingende Schlußfol-gerung aus einer langen Erfahrung. Denn so haben sie es gemachtmit dem Bildungsproblem, mit dem Umweltproblem, mit dem Stadt-Land-Problem und mit vielem mehr. Wir sagen nicht, daß wir einenPatentschlüssel zur Lösung aller Probleme besäßen. Wir behauptenauch nicht, daß wir uns nie geirrt hätten oder uns niemals irrenkönnten. Aber wer sich umschaut und sich der jüngsten euro-päischen Geschichte erinnert, der muß feststellen: Für das Volk, fürdie Völker haben die Fehler der Rückwärtsgewandten, der Rechts-

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konservativen immer viel schwerer gewogen als die Irrtümer vonSozialdemokraten.

Bei dem bevorstehenden Wahlkampf muß die Einsicht siegen,daß Freiheit für die Vielen verwirklicht werden muß und zu ver-wirklichen ist; andernfalls würde die Gesellschaft an einem kriti-schen Punkt wieder vorrangig den Interessen des Eigennutzes aus-geliefert werden, den Interessen derer, die zuerst an sich denken unddanach lange an nichts anderes.

Auch in der Außenpolitik gibt es immer neue Probleme, zumalsolche, die über die alten Ost-West-Fragestellungen weit hinaus-reichen. Aber zunächst geht es doch noch ganz wesentlich darum, dieausgewogenen Bemühungen weiterzuführen, die wir gemeinsam mitden Freien Demokraten und in fugenloser Abstimmung mit unserenwestlichen Bündnispartnern entwickelt haben.

Dieses Feld kann man nicht denen überlassen, die die Bundes-republik in die Isolierung manövriert hätten; die sich, obwohl sie voneiner Lebensfrage sprachen, in eine peinliche Stimmenthaltungflüchteten; und denen danach nichts anderes eingefallen ist, als sichin Sachen China und Albanien interessant zu machen.

Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch muß man den Wählernzunächst einmal, und zwar nachdrücklicher als bisher, die Hohlheitder CDU/CSU-Propaganda – frisch aus Portugal: „Rettet die Nation“ –bewußt machen. Die Führung der Unionsparteien versucht denMenschen in der Bundesrepublik einzureden, wie schlecht es ihnengehe. Es geht ihnen aber nicht schlechter, sondern besser als 1969und wesentlich besser als den Menschen in fast allen vergleichbarenLändern. Das stereotype Gerede von der Finanz- und Wirtschaftskriseist sachlich falsch und verantwortungslos; es wird außerdem lang-weilig.

Ungeachtet alles dessen, was leider noch nicht so ist, wie es seinsollte, und was an Aufgaben vor uns liegt, sei hier festgestellt: Unseremarktwirtschaftliche, sozialgebundene Ordnung ist mit den Pro-blemen des Hungers, des Mangels, der Arbeitslosigkeit gut fertigge-worden. Der allgemeine Lebensstandard ist beträchtlich gestiegen.Die soziale Gesetzgebung wurde wesentlich ausgebaut, und wir ha-

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ben damit beginnen können, uns einigen der notwendigen gesell-schaftspolitischen Reformen zuzuwenden. Dabei stellt sich nun zu-nehmend die Frage, welche Mittel und Methoden einzusetzen sind,um einmal besser für die bedrohten „Randgruppen“ der Gesellschaftzu sorgen und zum anderen die allzu lange vernachlässigten, aber anBedeutung dauernd zunehmenden öffentlichen Aufgaben und Ein-richtungen angemessen zu fördern.

Anders ausgedrückt: welcher finanziellen und organisatorischenSteuerung es bedarf, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die nur nochgemeinschaftlich, das heißt durch öffentliche Leistungen, befriedigtwerden können.

Dies fällt in eine Zeit, in der die Wirtschafts- und Sozialwissen-schaften sich neuen Fragestellungen zuwenden. Professor ArthurSchlesinger, der zum Kennedy-Team gehörte, hat kürzlich von denProblemen geschrieben, „die der immer schneller um sich greifendeFortschritt allen Staaten mit einer hochentwickelten Technologieauferlegen wird, völlig unabhängig von den Eigentumsverhältnissenoder dem ideologischen System“.

Nun darf ich gerade an dieser Stelle auf Kurt Schumacher zu-rückgreifen, denn es ist ja unbestreitbar, daß sich unsere ökonomi-schen Vorstellungen schon von Schumacher bis Godesberg – unddann auch seit Godesberg – weiterentwickelt haben. Schumacherwar kein Sozialisierungs-Fanatiker, aber sein Denken war doch – ver-ständlicherweise – recht stark durch überkommene sozialdemokra-tische Auffassungen geprägt. Zudem hat er sich zur Frage der Sozia-lisierung in einer Zeit geäußert, als die Fabriken in Trümmern lagen;er wandte sich dagegen, daß die Arbeiter mit ihrer großen Aufbau-leistung nur einigen hundert Großeigentümern wieder zu ihremalten Besitzstand verhelfen sollten. Zudem befürchtete er, Weimarkönne sich wiederholen, eine deutsche Demokratie könne noch ein-mal an ihren sozialen Gegensätzen zerbrechen.

Dabei muß man dann auch dies mit im Auge behalten: DiejenigePartei, die heute jegliches Gemeineigentum lauthals verteufelt, hat1947 ein Ahlener Programm beschlossen,33 dessen kürzlich – fünf-undzwanzig Jahre danach – in betonter Stille gedacht wurde.

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Die führenden Abgeordneten der CDU hatten nichts dagegen,den Gedanken der Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien in denLänderverfassungen zu verankern, und schließlich wurde ja auch1948/49 jener Artikel 15 in das Grundgesetz aufgenommen, der vor-sieht, wie bei Vergesellschaftungen zu verfahren ist. 34

Auf einen so bedeutenden CDU-Politiker wie Jakob Kaiser – unddarauf muß nicht nur gegenüber Herrn Barzel, sondern auch gegen-über Herrn Katzer hingewiesen werden – sollte man sich nicht nurberufen, sondern man sollte seine Reden und Schriften aufmerksamnachlesen. In neuester Zeit hat Norbert Blüm, Hauptgeschäftsführerder Sozialausschüsse der CDU, auch daran erinnert, daß es in den„Frankfurter Leitsätzen“ seiner Partei nach dem Krieg hieß: „Wir be-kennen uns zu einem wirtschaftlichen Sozialismus auf demo-kratischer Grundlage.“35

Ich möchte, da ich Ahlen erwähnt habe, doch ein paar Sätze ausdem damaligen CDU-Programm zitieren. Da heißt es, das kapi-talistische Wirtschaftssystem sei den staatlichen und sozialen Le-bensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nachdem furchtbaren Zusammenbruch könne nur eine Neuordnung vonGrund aus erfolgen. Dann wörtlich: „Inhalt und Ziel <dieser wirt-schaftlichen>36 Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistischeGewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseresVolkes sein.“ Und weiter: „Durch eine gemeinwirtschaftliche Ord-nung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassungerhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht,dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und deninneren und äußeren Frieden sichert.“37

Rechte Unionspolitiker, denen man nicht die Quelle nennt,würden dies wahrscheinlich für „Marxismus“ halten. Da diesesSchlagwort gefallen ist, will ich gleich eine – auf Schumacher be-zogen – wesentliche Bemerkung hinzufügen. In seinen Texten findenwir nicht selten eine unbefangene Bezugnahme auf Marxsche Ge-danken. Für ihn war Marx der große Anreger, unerbittlich in dieTiefen zu fragen, unerbittlich hinter die Fassaden der Ideologien zuleuchten, unerbittlich die gesellschaftlichen Fundamente bloßzu-

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Aus dem Entwurf des Redemanuskriptes „Der Auftrag des demokratischenSozialismus“, August 1972

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legen. Aber dogmatischer Marxismus, das erschien ihm – und das ist –ein Widerspruch in sich.

Kurt Schumacher sagte, für ihn bestehe die bedrückende Realitätdarin, daß die Idee des Sozialismus, so, wie man sie im Osten zur„formelhaften Staatsreligion“ gemacht habe, „entdemokratisiert undentmenschlicht“ worden sei. Das ändere für ihn aber nichts an denUngerechtigkeiten und Schwächen des kapitalistischen Systems. Al-lerdings wies er zugleich darauf hin, daß man es bei den Wirt-schaftsordnungen der westlichen Demokratien nicht mehr mit demKapitalismus alter Prägung zu tun habe. Diese Ordnungen befändensich auf Grund staatlicher und sozialer Einwirkungen in einem Pro-zeß ständiger Veränderung.

Überlegungen hinsichtlich einer Vergesellschaftung von Pro-duktionsmitteln sollten nach Schumachers Ansicht frei sein „von fa-natischer Hingabe und Ideologien“. Jene, die seiner Meinung nach inden Debatten über eine zweckmäßige Vergesellschaftung Mittel undZweck verwechselten, warnte er vor der Verabsolutierung der Mittel,denn es gehe schließlich „um das konkrete, persönliche, menschlicheLeben“. Er wollte keine zentralistische und detaillierte Kommando-wirtschaft, keine Verstaatlichung und Bürokratisierung, keine Aus-schaltung des Wettbewerbs. Eine Organisationsform, die schöp-ferische Unternehmerinitiative unmöglich machen würde, lehnte erentschieden ab.

Die anzustrebende Wirtschaftspolitik sollte sich – nach der fürnotwendig gehaltenen Neugestaltung der Eigentumsverhältnisse inbezug auf die großen Produktionsmittel – möglichst markt-konformer Mittel bedienen. Als Richtschnur für das politische Han-deln empfahl er: Nur wenn der private Besitz von Produktionsmittelnmit den Interessen der Allgemeinheit in Konflikt gerate, sollten Än-derungen vorgenommen werden. Und damit sind wir dann schonganz nahe bei der Wirtschaftspolitik des Godesberger Programms.

Schumacher machte sich auch, nach den langen Jahren der Iso-lierung, rasch mit den Gedanken vertraut, die die sozialdemokrati-schen Parteien in den fünf skandinavischen – besser gesagt: nordi-schen – Ländern für die Nachkriegszeit in einem gemeinsamen

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Manifest zusammenfaßten. Und er wies seine Partei frühzeitig auf dieNotwendigkeit einer Eigentumspolitik hin. – Der Prozeß ständigerVeränderung, von dem er sprach, hat sich vor unseren Augen und je-denfalls teilweise durch unser eigenes Wirken vollzogen. Aber dieDeutung dieses Prozesses und seiner ablesbaren Ergebnisse ist höchstwidersprüchlich. Gewisse Zeitungen suggerieren ihren Lesern, wirstünden in der Bundesrepublik kurz vor dem Ende des privaten Ei-gentums. Dagegen steht die Auffassung anderer, die sich für be-sonders progressiv halten und schlicht behaupten, bei uns herrscheder finsterste und erbarmungsloseste Kapitalismus. Diese Spann-weite der öffentlichen Meinung beweist zunächst nichts anderes, alsdaß in unserem Lande über alles diskutiert wird und jede Ansichtvertreten werden kann.

Mit den Realitäten in der Bundesrepublik haben die extremenMeinungen wenig zu tun. Natürlich kann man niemanden daranhindern, überkommene Begriffe und Vorurteile so zu vertreten, wieer es für richtig hält. Aber statt Pappkameraden aufzubauen, sollteman lieber den eigentlichen, realitätsbezogenen Problemen nach-gehen.

Die intellektuelle Sauberkeit gebietet jedoch, die damals neueSicht des Godesberger Programms in bezug auf die Probleme der So-zialisierung und des Eigentums hier noch einmal ganz deutlich zumachen. Anders als es traditionell sozialdemokratischen Vorstellun-gen entsprach, sagen wir sinngemäß in unserem Programm: DieFrage der Sozialisierung ist für uns nicht mehr in erster Linie davonabhängig, ob man die Macht hat, private Produktionsmittel zu ver-gesellschaften. Sondern sie ist davon abhängig, wieweit privatesGroßeigentum und private Verfügungsgewalt über große Produk-tionsmittel den Grundwerten – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität –im Wege stehen.

Helmut Schmidt hat nach seiner Amtsübernahme als Wirt-schafts- und Finanzminister folgende Erklärung abgegeben, diedarum besondere Bedeutung hatte, weil in das Ausscheiden seinesVorgängers unsinnigerweise hineingeheimnist worden war, wirwollten marktwirtschaftliche Grundsätze weniger wichtig nehmen

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als bisher: „Die Bundesrepublik hat sich nach der Währungsreformfür den Weg der Markt-, das heißt der wettbewerbsgesteuerten Wirt-schaft entschieden. Und dieser Weg hat zu bedeutenden Erfolgen ge-führt. Wir haben keinerlei prinzipielle Erfahrung gemacht, und wirsehen auch keine beeindruckenden Beispiele im Ausland, die unsangeraten erscheinen könnten, den Weg zu verlassen.“38 Er hatebenso deutlich hinzugefügt: Gegenüber einer Wirtschaft, in der injedem größeren Unternehmen investitions- und marktstrategischePlanungen stattfinden, könnten sich der Staat und die politischeVerantwortung tragenden Parteien „aus ideologischer Verklemmungnicht etwa planungsabstinent verhalten“.

Ich meine, dies ist deutlich genug. Wir sind nicht eigentums-feindlich, sondern wir wollen im Gegenteil, daß die Vermögens-bildung der breiten Schichten unseres Volkes raschere Fortschrittemacht. Wir sind Gegner der Zwangswirtschaft, aber Anhänger einersinnvollen Planung.Wir wollen nicht, daß der Leistungsgedanke ver-worfen wird, sondern wir sind dafür, daß sich die Leistung stärker demzuwenden kann, was gesamtgesellschaftlich geboten ist. Wir sind füreinen freien internationalen Kapitalverkehr, aber nicht dafür, daßman uns als währungspolitische Masochisten betrachtet.Wir sind fürein schöpferisches Unternehmertum, aber auch für die Sozialbindung,der nach dem Grundgesetz besonders der Großbesitz unterliegt.

Dies alles steht in keinem Widerspruch zum wirtschafts-politischen Teil des Godesberger Programms, den ich nicht abge-wertet sehen möchte. Das gilt aber nicht nur für die bekannte For-mel: „Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig“,sondern es gilt auch für die Grundforderungen einer auf Menschen-würde, Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit basierenden Gesell-schaft. „Staat und Gesellschaft dürfen nicht zur Beute mächtiger In-teressengruppen werden“,39 heißt es im Grundsatzprogramm.

Im übrigen möchte ich auf keinen Fall unerwähnt lassen, daß sichfür uns – ich ließ es durch das Schlesinger-Zitat schon anklingen –wichtige neue Fragen ergeben aus den Auswirkungen der indus-triellen Technologie auf die Umwelt und auf die natürlichen Ressour-cen. Man braucht nicht alles für bare Münze zu nehmen, was über

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„Grenzen des Wachstums“ verbreitet wird. Aber sicher ist, daß mit denproduktiven auch die zerstörerischen Kräfte gewachsen sind. Hierausergibt sich das Problem, wie man die destruktiven Auswirkungen desungezügelten Wachstums in den Griff bekommen kann.

Dies ist also eine andere Problematik als die der „Freisetzung“von durch das kapitalistische Eigentum gehemmten Produktiv-kräften.

Richard Löwenthal, der sich mit diesem Thema vor einigen Mo-naten auf einer Tagung in Japan beschäftigte,40 weist überzeugenddarauf hin, daß die Zusammenhänge zwischen materiellem Fort-schritt und menschlichen Werten neu zu durchdenken sind. WilliEichler, der an unserer programmatischen Arbeit einen so wesent-lichen Anteil gehabt hat, schrieb mir noch kurz vor seinem Tode, wirmöchten bedenken, daß die besinnungslose Maximierung des So-zialprodukts als „Leistung“ weniger wert sei als die „Maximierungder menschlichen Rücksichten und gegenseitigen Hilfen“.

Ich will gleich ein Stück der Konklusion hinzufügen, zu derErhard Eppler gelangte, als er auf der Oberhausener Tagung der IGMetall über „Die Qualität des Lebens“ sprach. Er sagte, wenn dasLaissez-faire ökologisch zu teuer werde, bedeute das noch nicht dasEnde der Marktwirtschaft. Wenn uns Menschen die Endlichkeit un-serer gemeinsamen Ressourcen voll zum Bewußtsein komme, sofolge daraus noch nicht das Ende privaten Eigentums. Nun wörtlich:„Aber wenn Lebensqualität nur noch durch politisches Handeln zuverwirklichen ist, wenn Sozialismus das Handeln im Gesamt-interesse der Gesellschaft meint, wenn schließlich die Qualität desLebens in ihrem Kern gefährdet ist, wo Entscheidungen nicht mehraus freier Diskussion entstehen, dann wird dies eine Epoche des frei-heitlich-demokratischen Sozialismus sein müssen.“41

V.

Dies sind alles überaus wichtige Fragen, und man darf ihnen nichtausweichen, will man politisch nicht von der Hand in den Mundleben. Unsere Aufgabe kann jedoch nicht sein, unseren Mitbürgern

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– den Wahlbürgern der Bundesrepublik Deutschland – mehr abzu-verlangen, als ihnen billigerweise abzuverlangen ist.

Das heißt: Wir sagen allen, die sich dafür interessieren, auf wel-chen Grundwerten und Grundsätzen unser politisches Handeln be-ruht; aber wir bitten nicht um pauschale Zustimmung zu einemGrundsatzprogramm: wir bitten um die Unterstützung einer prakti-schen Politik in einem für alle überschaubaren Zeitraum.

Statt über sozialistische Theorie zu diskutieren, was an dafür ge-eigneter Stelle wichtig genug ist, gilt es, von den Notwendigkeiten zusprechen, denen wir wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitischgegenüberstehen. Und da drängen sich mir einige Fragen an unsereGegner auf, Fragen, die im großen Gespräch mit den Mitbürgern inden vor uns liegenden Wochen und Monaten nicht zu kurz kommensollten.

Erste Frage: Wie halten sie es mit der im Grundgesetz veran-kerten Sozialbindung des Eigentums?

Wir wissen alle: Unsere Verfassung – und das Godesberger Pro-gramm knüpft daran an – gibt dem Privateigentum an Produktions-mitteln Schutz und Förderung, sie schränkt aber seinen Gebrauchgleichzeitig zum Wohle der Allgemeinheit ein. Diese Sozialbindungdes Eigentums soll seine Nutzung im einseitig kapitalistischen Sinneverhindern und gibt dem Gesetzgeber ein breites Feld für die not-wendigen „Nutzungseinschränkungen“. Das Städtebauförderungs-gesetz, die Mieterschutzgesetzgebung und die fällige Reform des Bo-denrechts – für die unsere Partei ein praktikables Modell erarbeitethat – bieten hier anschauliche Beispiele. Andere Beispiele ergebensich, wenn man daran geht, umweltfreundliche Produkte anders zubehandeln als umweltfeindliche.

Zweite Frage an die Konservativen: Bejahen sie den Wettbewerbauch dort, wo ihm starke privatwirtschaftliche Interessen im Wegestehen; und stimmen sie zu, daß Machtmißbrauch und markt-beherrschende Konzentration gerade im Interesse einer freiheitli-chen Wirtschaftsordnung bekämpft werden müssen?

Unsere wirtschaftliche Wirklichkeit – und von ihr geht das Go-desberger Programm aus – räumt bereits den vielfältigen Formen ge-

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meinwirtschaftlicher Unternehmungen einen bedeutsamen Platzein. Sie stehen neben den privaten Produktions- und Dienstleis-tungsunternehmen, und alle stehen im Wettbewerb miteinander. Esist eines der Hauptmerkmale dieser marktwirtschaftlichen, aber so-zialgebundenen Wirtschaftsordnung, den Wettbewerb zu inten-sivieren und notfalls zu erzwingen. Bedauerlich ist nur, daß geradejene Kräfte, die der SPD Mangel an marktwirtschaftlichem Denkenvorwerfen, sich nicht für, sondern gegen die Verschärfung der Kar-tellgesetzgebung eingesetzt haben. Wir jedenfalls sehen in der Inten-sivierung und Förderung des Wettbewerbs – auch des internationa-len Wettbewerbs – ein wesentliches Element der freiheitlichenWirtschaftsordnung.

Dritte Frage an die vereinigte Rechte: Wie steht es mit der Mit-bestimmung in ihren vielfältigen Formen als Mittel zum Ausbau derDemokratie und zum friedlichen Austragen gesamtgesellschaftlicherKonflikte?

Die klassisch-kapitalistische Wirtschaftsordnung sieht vor, daßdie Verfügungsgewalt über Produktionsmittel – und über die daranbeschäftigten Menschen – allein von den Eigentumsrechten an diesenProduktionsmitteln ausgeht. In der Wirtschaftsordnung unsererBundesrepublik, auf die die Befürworter der sozialen Demokratie Ein-fluß gewonnen haben, werden diese Verfügungsrechte durch eine ge-zielte Arbeitsschutzgesetzgebung sowie eine breite und in den letztenJahren merklich verbesserte soziale Sicherung eingeschränkt; Er-gänzungen zum Schutz allgemein-menschlicher Interessen werden,wie u. a. die Umwelt-Problematik deutlich macht, unerläßlich sein.

Hinzu kommt als Kontrollinstrument die Mitbestimmung derArbeitnehmer, die durch das neue Betriebsverfassungsgesetz einStück weitergebracht worden ist. Der Ausbau der paritätischen Mit-bestimmung in den Unternehmen bleibt Ziel sozialdemokratischerPolitik, um auch bei den Unternehmensentscheidungen zu einemGleichgewicht der Kräfte zwischen Arbeitnehmern und Kapitaleig-nern zu kommen.

Vierte Frage an die Herren der Opposition: Sind sie für die not-wendigen öffentlichen Investitionen und beispielsweise nicht nur in

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allgemeinen Wendungen dafür, daß durch vorbeugende Gesund-heitspolitik und effektiven Umweltschutz die Lebensqualität für alleverbessert wird?

Man muß wissen: In jeder Industriegesellschaft – unabhängigdavon, ob die Produktionsmittel sich ganz oder teilweise in Privat-eigentum befinden oder ob sie „vergesellschaftet“ sind – findet eineAuseinandersetzung um die Verteilung des Volkseinkommens statt.Das ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung darüber, wieviel vomVolkseinkommen investiert bzw. konsumiert werden kann und aufwelche Weise es konsumiert werden kann. Neben dieser Grundent-scheidung muß über den Anteil zwischen privaten und öffentlichenInvestitionen – mit deren Folgekosten – befunden werden. Bishergibt es in keiner Wirtschaftsform unanfechtbare Maßstäbe, nach de-nen man die Verteilung vornehmen könnte. Es bedarf letztlich im-mer wieder neuer Entscheidungen der Marktpartner, der Tarif-parteien und ebenso des Gesetzgebers. Für unsere Bundesrepublikhat die SPD in dem Entwurf ihres „Orientierungsrahmens bis 1985“42

Perspektiven für einen zunehmenden Anteil der öffentlichen Leis-tungen am Sozialprodukt aufgezeigt. Diese Perspektiven – das istsorgfältig geprüft worden – lassen sich in unserem marktwirtschaft-lichen, aber sozialgebundenen System erfüllen.

Fünfte Frage: Wie hält man es mit dem Bürgerrecht auf Bildung;und ist man bereit, die Anstrengungen zu unternehmen, ohne diedieses Bürgerrecht nicht verwirklicht werden kann?

Die Bildungsmisere, die wir „geerbt“ haben, ist natürlich nichtsystemimmanent, wie gelegentlich behauptet wird, sondern sie istschlicht das Ergebnis politischer Versäumnisse und der Tatsache, daßKonsum vor Leistung rangierte. In den letzten drei Jahren haben wir,im schwierigen Zusammenwirken mit den Ländern, begonnen, dieseVersäumnisse aufzuarbeiten. Der Bildungsgesamtplan mit seinerGleichrangigkeit von Allgemeinbildung und Berufsbildung öffnetden Weg zur Verbesserung der individuellen Lebenschancen, zurEntfaltung aller in unserem Volke vorhandenen Begabungen unddamit auch – das ist die ökonomische Variante der „List der Idee“, diesich auch in der Bildungspolitik durchsetzt – über höhere Qualifika-

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tionen des arbeitenden Menschen zur besseren Qualität des wach-senden Sozialprodukts zu gelangen.

Sechste Frage an unsere Gegner: Sind sie bereit, unseren Mit-bürgern zu sagen, daß aus dem insgesamt wachsenden „Kuchen“ eingrößeres Stück für die Lebensfürsorge, die bessere Lebensqualitätverwendet werden muß – oder wollen sie den Selbstbetrug fordern,größere Leistungen könnten mit geringeren Mitteln erbracht wer-den?

Es wird in der letzten Zeit vielfach so getan, als wollte der Staatdem Bürger in die Tasche greifen, um ihn ärmer zu machen. Manunterschlägt dabei bewußt die Tatsache, daß die privaten Ein-kommen und der Lebensstandard aller Bürger weiterhin steigenwerden, wie sie durch unsere Politik bisher gestiegen sind. Derwachsende Wohlstand muß zum Teil dazu beitragen, daß nicht einanonymer Staat, wohl aber seine Bürger mehr und bessere Kranken-häuser, Verkehrsmittel und Straßen, Schulen und öffentliche Ein-richtungen erhalten.

Dazu bedarf es auch steuerlicher Leistungen, im Zusammenhangmit mehr Gerechtigkeit, durch die in der nächsten Legislaturperiodezu beschließende Steuerreform.

Mut zu einer gerechten Steuergesetzgebung, Entschlossenheitbeim Kartellrecht und bei der Verhinderung der Bodenspekulation –diese und andere Maßnahmen können gleichzeitig ein höheres So-zialprodukt und bessere Verteilungsquoten zwischen öffentlichenLeistungen und privatem Reichtum bringen. Und, was das wichtigsteist: bei dieser Politik bleiben Freiheit und Sicherheit erhalten, werdensie gefestigt.

VI.

Gerade vor dem Hintergrund des eben Gesagten sei nun noch einmalfestgestellt: Demokratischer Sozialismus ist kein Dogma und keineHeilslehre. Aber vor zwanzig Jahren sagte Carlo Schmid am Grabe destoten Parteiführers Kurt Schumacher zu Recht, es sei dessen Über-zeugung gewesen, daß als Fundament politischer Konstruktion nur

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taugen könne, was in seiner Statik so durchgerechnet sei, „daß esauch die Belastungen mit den Forderungen der Moral zu tragen“ ver-möge.

Ich kann und will niemanden daran hindern, über gesellschaft-liche Veränderungen nachzudenken, die über unsere erklärte Politikhinausreichen. Aber niemand, der für die SPD spricht, darf einenZweifel daran aufkommen lassen, daß unsere Politik darauf abzielt,im Sinne des Grundgesetzes den demokratischen und sozialen Bun-desstaat so auszubauen, wie dies im Godesberger Programm ent-wickelt worden ist. Ob Staat oder Wirtschaft, Kultur oder Gesell-schaft: sozialdemokratische Politik kann nie etwas Abstraktes sein.Wir haben mit unserer Reformpolitik bei den Alltagsproblemen an-gesetzt, bei dem, was die Bürger unmittelbar angeht.

Allen Unkenrufen der Opposition zum Trotz haben wir Schrittfür Schritt in die Tat umgesetzt, was wir in der Regierungserklärunggemeinsam mit der FDP angekündigt hatten. Das sehen alle auf demFelde der sozialen Sicherung, und nicht nur dort. Große Vorhaben,von denen die CDU nur redete, haben wir verwirklicht: Städtebau-förderungsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz, das Programm für denUmweltschutz, den Bildungsgesamtplan.

Die Ergebnisse des langen Marsches der Reformen, auf den wiruns begeben haben, dienen der Sicherheit dieses Landes und seinerBürger. Sicherheit in sich friedlich erneuernder Gesellschaft ist nurmöglich, wenn unsere behutsame und kontinuierliche Reformpolitikkonsequent weitergeführt wird. Es hat sich mittlerweile herumge-sprochen: Wer morgen sicher leben will, muß heute um Reformenkämpfen.

An dieser Stelle muß ich noch ein Wort über Europa sagen, undzwar in seiner doppelten Dimension, also der westeuropäischen In-tegration und der gesamteuropäischen Zusammenarbeit und Frie-denssicherung.Wenn es auf der zweiten Ebene Erfolge gibt, dann gibtes sie als Ergebnis unserer Politik des Ausgleichs und der Verständi-gung. Auf der ersten Ebene jedoch bedarf es – und ich sage dies auchmit dem Blick auf die bevorstehende Gipfelkonferenz der Zehn –einer betonten und bewußten Förderung der sozialen Komponente,

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und dazu kommt es nicht ohne eine maßgebliche Förderung durchdie Bundesrepublik Deutschland. Es bedarf aber auch einer größerenEhrlichkeit jener Patent-Europäer, die bisher den Eindruck erweckthaben, als könnte man die Wirtschafts- und Währungsunion ver-wirklichen und trotzdem mit nationalen Mitteln unsere Idealvor-stellungen von Stabilität verwirklichen. Die Angelsachsen nennendies: den Kuchen essen und ihn gleichzeitig behalten wollen.

Die politische Richtlinie für die Sozialdemokratische Partei– heute und im weiteren Verlauf der siebziger Jahre – ist die zu-nehmende Verwirklichung der sozialen Demokratie. Ohne Demo-kratie in Staat und Gesellschaft, ohne Mitbestimmung in allen gro-ßen Bereichen wird es auf die Dauer keinen stabilen demokratischenStaat, keine ausgewogene freiheitliche Gesellschaft, keine mündigeNation geben. Dabei stehen wir an der Seite der älteren Mitbürger,die nicht an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden dürfen. Undwir haben eine „Antenne“ für jene jungen Menschen, denen Solida-rität mehr bedeutet als Geschäfte, und die gegenüber Krieg und Un-terdrückung nicht gleichgültig sein wollen.

Es liegt auf der Hand, daß die Freien Demokraten manches an-ders sehen, zumal dort, wo es um gewisse grundsätzliche Motivatio-nen unserer gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen geht. Ebensoklar scheint mir jedoch zu sein, daß es zwischen modernen Sozial-demokraten und modernen Liberalen zahlreiche Berührungspunktegibt – jedenfalls in ausreichender Zahl, um ein erfolgreiches Regie-rungsbündnis über mehr als eine Legislaturperiode zu schließen.Man könnte es auch so sehen, daß wir etwas nachholen, das, wäre esschon zwischen Friedrich Naumann und August Bebel zum Tragengekommen, viel Unheil von Deutschland abgewendet hätte.

Dies gilt auf andere Weise auch für gedankliche und praktisch-politische Berührungspunkte mit den Nachkommen der alten ka-tholischen Arbeiterbewegung und anderen Verfechtern der christli-chen Soziallehren. Soweit sie in den Unionsparteien angesiedelt sind,haben sie allerdings ihre politische Handlungsfreiheit weithin ein-gebüßt. Von denen, die dies öffentlich mit Empörung zurückweisenwerden, wird mir der eine und der andere im Stillen doch zustimmen.

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Nur ist damit zunächst wenig geholfen, und nichts kann unsdeshalb daran hindern, uns um die Wähler besonders zu bemühen,die als Arbeitnehmer bei der CSU und bei der CDU schlecht aufge-hoben wären und schlecht aufgehoben sind.

Von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird in denkommenden Jahren sehr viel erwartet; wahrscheinlich mehr, als siegeben kann. Besonders die vor uns liegenden Monate verlangen Au-genmaß, erhöhte Mitarbeit, selbstsicheres Reagieren auf gegnerischeStöraktionen und die Entschlossenheit, überall im großen Gesprächmit der Bevölkerung die Friedens- und Reformpolitik, die Leistungender sozial-liberalen Regierung und die Ziele der Sozialdemokrati-schen Partei offensiv zu vertreten.Von jedem, gleichgültig in welcherVerantwortung er für unsere Partei steht, wird hohe Pflichterfüllungerwartet – gegenüber seinem Volk, seinen Wählern und der ihn tra-genden politischen Gemeinschaft.

Motiv und Quelle unserer Arbeit, unserer Kraft sind die Grund-werte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Sie haben uns zum Handelnzusammengeführt, und diese Grundwerte bestimmen morgen wieheute unsere Politik des Friedens, des Fortschritts, der Mensch-lichkeit.

Dies ist der Auftrag. Jeder Schritt unseres täglichen Handelns sollder humanen Aufgabe dienen, der wir uns verschrieben haben.

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Nr. 96Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt21./22. August 19721

AdsD,WBA, A 1, 18/23.

Montag, den 21. August– in Bonn

Starkes Echo auf meine gestrige Rede.2

[. . .]Terrence Prittie ist aus London da und befragt mich für seine Brandt-Biographie.3 Zu den ersten Kapiteln habe ich schon während des Ur-laubs meine kritischen Anmerkungen gemacht. Aber dies wird keine„autorisierte“ Biographie; es ist allein Pritties Sache, darüber zu ent-scheiden, was er aufnehmen und wie er es darstellen wird. Das Buchsoll erst nächstes Jahr herauskommen. Rut [Brandt] meint ohnehin,es erscheint zuviel über mich oder von mir.[. . .]Von Karl Schiller kam heute der erwartete Brief, mit dem er seineZugehörigkeit zum Vorstand der SPD beendet.4 Gestern nachmittagwar er zu einem dreistündigen ruhigen – wenn auch gewiss nichtmehr freundschaftlichen – Gespräch auf dem Venusberg. Seit ichAnfang Juli [1972] seinen Rücktritt annahm,5 (allerdings auch schonvorher) hat er uns viel Kummer bereitet. Inzwischen hatte er, ineinem Brief an Heinz Kühn, auch auf eine Kandidatur zum nächstenBundestag verzichtet.6

[. . .]

22. August

[. . .]Günter Grass schreibt mir: „1. der Wahlkampf der Solidarisierungwird stattfinden; 2. diesmal müssen wir eine Kopf-an-Kopf-Pro-

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paganda nicht fürchten, sondern eher fördern; 3. die Situation scheintfür Dich gemacht zu sein, denn früh und rechtzeitig beginnst Du,locker, gelöst und bestimmt zu kämpfen . . .“7 <Hoffentlich hat errecht.>8

Im Urlaub habe ich Grass’ Schneckenbuch noch anhand einesVorwegexemplars gelesen.9 <Es wird wohl nicht zu einem ganz gros-sen Erfolg werden, aber ich meine, es ist ein bedeutendes Werk.>10

Was er im übrigen mit seiner Wählerinitiative wieder vorhat, ist be-eindruckend.[. . .]

Nr. 97Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt24./25. August 1972

AdsD,WBA, A 1, 18/23.

<Donnerstag, den 24. August– in Bonn>1

Fast der ganze Tag ist mit Parteisitzungen ausgefüllt.In einer Vorsitzendenbesprechung schlage ich vor, anstelle von

Schiller Hans-Jochen Vogel ins Präsidium zu wählen.2 Der Vorstandfolgt einstimmig diesem Vorschlag. (Alex Möller wird neuer Vor-sitzender des wirtschaftspolitischen Ausschusses.) Im politischenBericht stelle ich fest:

1. Für die SPD und für die Regierung bleibt es dabei, daß Neu-wahlen zum Bundestag nicht später als am 3. Dezember 1972 stattfin-den sollen. Dieselbe Opposition, die vor der Sommerpause jede kon-krete Festlegung auf Neuwahlen abgelehnt hat, möchte jetzt den Ein-druck erwecken, als sei von ihr eine Initiative hierzu ausgegangen. –Entgegen falschen Behauptungen muß klargestellt werden: Neu-

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wahlen sind wegen der Mandatsüberträger notwendig geworden.Durch das Vertrauen der Wahlbevölkerung zur SPD und zur sozial-liberalen Koalition müssen klare Verhältnisse geschaffen werden.[. . .]

4. Die Wahlplattform der SPD, die der Parteivorstand imnächsten Monat verabschieden und die dann dem AußerordentlichenParteitag zu unterbreiten sein wird, soll konkret darlegen, was in dennächsten vier Jahren zu geschehen hat für den Frieden im Innern undnach außen, für wirtschaftlichen Fortschritt, für mehr Gerechtigkeitund eine bessere Qualität der Lebensbedingungen.

5. Ich unterstreiche meinen Appell vom vergangenen Sonn-tag:3 Alle Mitglieder und Freunde der Sozialdemokratischen Parteisind aufgerufen, im Wahlkampf und in der weiteren Arbeit ge-schlossen aufzutreten und die Auseinandersetzungen mit dem in-nenpolitischen Gegner offensiv zu führen.

<Im Kreis der Landes- und Bezirksvorsitzenden wird über dieWahlvorbereitungen berichtet und beraten. Am 9. [August 1972]hatte ich mit Nau und Börner die Vorarbeiten von Albrecht Müller –der im Parteihaus für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich zeich-net – durchgesprochen. Am 12. [August 1972] Beratung über dieWahlkampfplattform mit Ehmke, Eppler, Wienand, A. Müller. Porz-ner soll noch hinzukommen. Wischnewski war schon beteiligt. DieVorsitzenden>4 sind natürlich stark am Meinungstrend interessiert.Die mir vorliegenden Ziffern (Infas, Emnid) sind sicher zu günstig.Albrecht Müller gibt eine nüchterne Einschätzung (gestützt auf In-fratest), nach der wir zwei Punkte hinter der CDU/CSU liegen. Ge-meinsam mit sechs (wie ich meine: sieben oder acht) Prozent für dieFDP müßte es reichen. Aber es ist klar, daß es dazu nicht ohne vielArbeit kommt.[. . .]

518 Tagebuchaufzeichnungen, 24./25. Aug. 1972

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Freitag, den 25. August<– in Bonn>5

Nach den erforderlichen Stunden im Amt: Einzelgespräche imParteihaus mit Wehner, Börner, Nau, Müller. Auch mit WolfgangRoth, dem Vorsitzenden der Jungsozialisten: Wir sind uns einig, daßMobilisierung der Jungwähler wichtig [ist]. Ich weise darauf hin, daßes sich jedoch nicht um [einen] eigenen Wahlkampf der Jusos han-deln kann, sondern daß es sich um deren Beitrag zum Wahlkampfder Partei handeln muß. Außerdem wirkten sie überzeugender, wennsie nicht den Eindruck erweckten, daß sie glaubten, in allem recht zuhaben.

Der eigene Verein scheint im übrigen auf Trab zu kommen. [. . .]

Nr. 98Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt4. September 1972

AdsD,WBA, A 1, 18/23.

Im Parteipräsidium Abstimmung über die nächsten politischenSchritte:1

– vernünftige Überleitung von den „heiteren“ Spielen in München2

zur vermeintlich harten– Auseinandersetzung zwischen den Parteien.– Fairness bei sachlicher Härte. Deshalb – ohne Illusionen auch

Wahlkampfabkommen mit– anderen Parteien.– Initiative der SPD-Fraktion zur Offenlegung von Nebenein-

künften der Abgeordneten. [. . .]

519 Tagebuchaufzeichnungen, 4. Sept. 1972

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Nachmittags interviewen mich Heli Ihlefeld und Eva Windmöller fürden „Stern“:3 Fragen der gesellschaftlichen Gleichstellung der Frau.Daß wir auch auf diesem Gebiet einiges geleistet haben, weist der imJuli veröffentlichte „Frauenbericht“ der Bundesregierung aus.4 Aberich weiß wohl, daß rechtliche Maßnahmen allein nicht ausreichen.

Aus dem Präsidium ist noch nachzutragen, daß es gegenüber denAktivitäten, die der Bundesvorstand der Jusos für den Wahlkampfplant, erhebliche Bedenken gibt. Am Donnerstag soll unter dem Vor-sitz von Herbert Wehner mit den Beteiligten weiterberaten werden.

Es ist verständlich, daß manche Vorhaben der Jungsozialisten– und vor allem der fraktionellen Tätigkeit ihrer Führung – in derPartei auf Widerstand stoßen. [. . .]

Nr. 99Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt11. September 1972

AdsD,WBA, A 1, 18/23.

Im Kreis der Landes- und Bezirksvorsitzenden – gemeinsam mit Mit-gliederndesGewerkschaftsrates–beratenwir sachlichundergiebigüberdie Wahlplattform. Vogel, Eppler und Wischnewski sollen den Vor-entwurf überarbeiten. Der Wirtschaftsteil soll von Hans-Jürgen Jung-hans verbessert und dann mit Helmut Schmidt abgestimmt werden.

In der Mittagspause sprechen Wehner, Börner und ich erst mitden Vorsitzenden von Rheinland-Pfalz und dem Saarland, dann mitdenen aus Nordrhein-Westfalen. Thema: Landeslisten. Es ist seit lan-gem erkennbar, daß der Einfluß der „Zentrale“ auf die Kandidaten-aufstellung weiter abnimmt. Ich habe mich trotzdem – wohl nichtganz ohne Erfolg – in einer Mehrzahl von Gesprächen dafür einge-setzt, daß Vertreter aus Betrieben und Gewerkschaften nicht zu kurz

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kommen. Weiter, daß die Frauen nicht völlig beiseite geschobenwerden. Wir werden einige neue, tüchtige Kolleginnen in den Bun-destag bekommen, aber doch in viel zu geringer Zahl. Eines meinerSonderpetiten: daß Carlo Schmid wieder in den Bundestag kommt,obwohl er eigentlich nicht mehr wollte und deshalb auch in Mann-heim als Direktkandidat abgelöst wird.1 Es ist noch nicht sicher, daßmeinem Wunsch entsprochen wird, aber ich meine, eine große Parteisollte nicht auf einen großen alten Mann verzichten.

Strauß hat wieder mal einen Rappel. Auf einer Pressekonferenzin München, gemeinsam mit Barzel, greift er mich an, weil ich dieVertrauensfrage angeblich schriftlich stellen wolle und er dies füreinen möglichen Verstoß gegen das Grundgesetz hält. Außerdem po-lemisiert er, was ernster ist, mit wahltaktischen Argumenten gegendie westeuropäische Konferenz im Oktober [1972].2 Ein Lichtblick:weder Strauß noch Barzel scheinen etwas dagegen zu haben, daß dieWahlen früher als am 3. Dezember [1972] stattfinden.[. . .]

Nr. 100Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt5. November 1972

AdsD,WBA, A 1, 18/23.

[. . .]Die Dreck-Phase des Wahlkampfes hat begonnen. Sie zeugt nicht vonSelbstsicherheit derer, die sie in Gang gesetzt haben:

Offizielle und – vor allem – camouflierte Anzeigen der Unionschlagen einen immer rüderen Ton an. Sie sollen, wie Börner er-fahren hat, in den letzten vierzehn Tagen um Zweidrittel gesteigertwerden.

521 Tagebuchaufzeichnungen, 5. Nov. 1972

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Im Zusammenhang mit dem Wahlkongreß der CSU erscheintein „Rotbuch“ als Schmähschrift gegen Wehner und mich.1 Wie ge-habt, mit gefälschten und aus dem Zusammenhang gerissenen Zi-taten. Auch sonst mit mancherlei Quatsch: Rut [Brandt] sei in dernorwegischen KP gewesen,2 ich hätte kein Abitur gemacht etc.Strauß nennt mich „der Partisan von Norwegen“3.[. . .]

(Was unter anderem noch kam: Strauß verglich uns mit Goeb-bels und sprach vom „roten Faschismus“.

Adenauer-Anzeigen über „Untergang Deutschlands“.Anzeigen, daß man Israels und der Juden wegen CDU/CSU wäh-

len müsse,4

Barzel über SPD/SED und „Wählen Sie sich frei“.)[. . .]

Nr. 101Artikel des Vorsitzenden der SPD und Bundeskanzlers, Brandt,für den SPD-Pressedienst17. November 1972

SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 601/72 vom 17. November1972.

Einer der intensivsten Bundestagswahlkämpfe in der Geschichte derBundesrepublik steht vor seinem Ende. Er hat nicht nur die Kräftederer in Anspruch genommen, die sich um Vertrauen bewarben. Erhat auch denjenigen viel zugemutet, die sich am Sonntag [19. No-vember 1972] entscheiden sollen.

Sicher war nicht alles in den vergangenen Wochen ebenso er-freulich wie die Tatsache, daß die Wählerinnen und Wähler in un-serem Land wohl noch nie zuvor ein derartig waches Interesse und

522 Artikel für den SPD-Pressedienst, 17. Nov. 1972

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ein so hohes Bemühen um Informationen bewiesen haben, wenn inden Wahlveranstaltungen um ihre Zustimmung geworben wurde.

Die Opposition hat sich übernommen, und sie hat am aufge-klärten Wähler vorbeigeredet. Ihren Versuch, mündigen Frauen undMännern einzureden, die Bundesrepublik sei ein von Krisen ge-schütteltes Land, betrachte ich als gescheitert. Die Tatsachen spre-chen zu deutlich eine andere Sprache. Information und Argumenta-tion waren gewichtiger als Angstpropaganda und Schreckgespenster.

Die CDU – insbesondere aber die CSU – haben auch da versucht,sich gegenüber den Koalitionsparteien zu profilieren, wo sie in ihrerMehrheit insgeheim die Politik dieser Regierung längst als richtigerkannt haben. Das Verschweigen dieser Einsicht mag im Wahl-kampf verständlich sein, verantwortungsbewußtes Handeln aberwird mit anderer Elle gemessen.

Nicht über alles, was in der Schlußphase des Wahlkampfes anGemeinheiten und an finanziellem Großeinsatz zutage getreten ist,1

wird einfach zur Tagesordnung übergegangen werden können.Trotzdem müssen bald, nachdem die Wähler klare Verhältnisse ge-schaffen haben, ruhige und sachliche Gespräche zwischen Regierungund Opposition geführt werden.

Die Verantwortung, die beide Seiten in unserem Staat für dasGanze zu tragen haben, muß das politische Handeln entscheidendbestimmen. Die Unionsparteien daran zu erinnern, ist auch deshalbwichtig, weil am Mittwoch – drei Tage nach der Wahl – in Helsinkidie Vorkonferenz zur KSZE beginnt,2 deren Ergebnis die künftigeEntwicklung der Entspannungspolitik wesentlich bestimmen wird.Für die Bundesregierung wäre es leichter, die Interessen unseresLandes dort und bei anderen Gelegenheiten – so bei den Ende Januar[1973] beginnenden Gesprächen über Möglichkeiten eines beidersei-tigen Truppenabbaus3 – wirksam zu vertreten, wenn unzweifelhaftklargemacht wird, daß alle Parteien im Bundestag bereit sind, ihrenBeitrag zur Entspannung zu leisten. Parteiinteressen dürfen die ge-meinsamen Anliegen nicht ins Zwielicht geraten lassen. Regierungund Opposition werden in den nächsten vier Jahren in jedem Einzel-fall prüfen müssen, welche Mittel jeweils erforderlich sind, um das

523 Artikel für den SPD-Pressedienst, 17. Nov. 1972

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Bestmögliche durchzusetzen. Die Bürgerinnen und Bürger unseresLandes würden zu recht kein Verständnis dafür aufbringen können,wenn Opposition weiterhin als sture Negation mißverstandenwürde.

An meiner Bereitschaft, Brücken der Sachlichkeit zu schlagen,soll es nicht fehlen. Die SPD wird die Aufgaben, die ihr die Wählerzuweisen, in vollem Bewußtsein ihrer staatspolitischen Verant-wortung wahrnehmen.

Nr. 102Aus den Tagebuchaufzeichnungendes Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD, Brandt19. November 19721

AdsD,WBA, A 1, 23.

Wir wählen [um] 10.30 Uhr in der Evangelischen Volksschule, vielBildpresse. Anschließend fahre ich zu Professor Becker. Er bestehtdarauf, daß ich am Sonnabend in die Klinik komme. Dies bedeutet,daß ich mich um die Koalitionsgespräche leider nicht genügendwerde kümmern können. Aber was sein muß, muß sein.

Mittags ist Bahr auf dem [Venus-]Berg. Anders als im September[19]69 können wir diesmal sehr wenig vorweg abstimmen. HorstEhmke soll ein eigenes Ressort übernehmen, aber ich habe im übri-gen – leider – kein klares Konzept für die personelle Besetzung desKanzleramtes.

Nachmittags sind wir mit Scheels im Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. In „Dornröschen“ spielt Matthias [Brandt] den König,Cornelia Scheel die Prinzessin, Sibylle Ahlers den Bäckerjungen. Esgibt wohl nicht oft Kindervorstellungen mit so viel Bildpresse.

Kurz nach 19.00 Uhr haben wir Präsidiumssitzung im Erich-Ollenhauer-Haus. Das Ergebnis ist klar und überrascht eigentlich nur

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dadurch, daß die FDP noch etwas besser abschneidet als man zuletztallgemein angenommen hatte.2 Für uns ist es gut zu wissen, daß wirim neuen Bundestag stärker sein werden als CSU und CDU zusam-men. [. . .]

Als ich in den Bungalow komme – ist dort – trotz aller Ab-schirmungsversuche – großer Betrieb. Auch ausländische Besucher,unter ihnen Edward Kennedy, haben sich eingefunden. Telefonatevon außerhalb kommen nur in wenigen Fällen durch. Olof Palmesagt, er habe sich über meinen Erfolg mehr gefreut, als wenn es seineigener gewesen wäre.

Ich gebe noch keine Erklärungen ab. Walter Scheel und ich be-stätigen in meinem Amtszimmer die weitere Zusammenarbeit. Dannbegrüßen wir kurz die Jugendlichen, die in einem Fackelzug zumPalais Schaumburg gekommen sind. [. . .]

Der Tag klingt aus mit einem Gespräch im kleinen Kreis auf demVenusberg: Eva Windmöller mit ihrem Mann, Klaus Harpprecht,Hans-Jürgen Wischnewski.[. . .]

Der Erfolg wird umso eindrucksvoller, wenn man sich klarmacht, bei wie hoher Wahlbeteiligung er errungen wurde (über 91Prozent) und daß die NPD-Stimmen überwiegend von der CDU/CSUabsorbiert wurden. Der Erfolg wurde gegen Überläufertum, Treu-losigkeit und Kleinmut errungen. Auch gegen das große Geld, dassich für Barzel und Strauß engagierte (5 zu 1 bei den Annoncen).

Hier wird doch allerlei politische Reife erkennbar, und das Wortvon der neuen Mitte ist wohl nicht übertrieben.[. . .]

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Nr. 103Erklärung des Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD,Brandt, zum Ausgang der Bundestagswahl19. November 1972

SPD-Pressedienst vom 20. November 1972.

Ich bin in dieser Stunde allen Wählerinnen und Wählern Dankschuldig, die mit ihrer Stimme ihr Vertrauen in meine Partei unddamit auch ihr Vertrauen zu mir bewiesen haben.1 Das ist für michkein Augenblick der Triumphes, wohl aber ist es ein bewegenderAugenblick der Genugtuung und des Stolzes und zugleich der Be-scheidung; denn wir fühlen uns durch diesen Sieg unserer Sache indie Pflicht genommen. Ich erkenne in dem Wahlergebnis den Auf-trag, zusammen mit Herrn Scheel und seinen Freunden die Arbeitfortzusetzen, die wir in den vergangenen drei Jahren gemeinsam mitErfolg eingeleitet haben.

Die Mehrheit hat uns bestätigt, daß wir auf dem rechten Kurssind. Nicht nur die Bevölkerung der großen Städte hat ihre kritischenSympathien uns demonstriert. Meine Partei begegnete draußen imLand einer zunehmenden Aufgeschlossenheit,2 und ich beobachte mitbesonderer Freude den Geist wachsender Offenheit unter unseren ka-tholischen Landsleuten. Den Freien Demokraten gratuliere ich zu ih-ren Gewinnen. Ich stelle fest, daß das Regierungsbündnis für beideSeiten gut anschlägt. Mein Respekt und meine Wünsche geltenselbstverständlich auch allen, die ich zu achten habe. Wir können ineiner Demokratie nicht alle einer Meinung sein, und die Regierung istund bleibt dem Ganzen des Volkes, dem Wohl des Ganzen verpflichtet.

Der Wahlkampf ist hart geführt worden, und nun wollen wirwieder zur guten Nachbarschaft zurückfinden. Freilich werden wirkaum vergessen können, daß wir auch gegen unlautere Formen, un-lautere Methoden der Werbung, gegen Unsachlichkeit, gegen Treu-losigkeit und gegen die inflationäre Schwemme von Geldern zukämpfen hatten.

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Unsere Demokratie darf an solchen düsteren Praktiken nichtSchaden nehmen. Zum anderen sind vor allem von den Jungen be-wundernswerte Energien für die Aufklärung der Bevölkerung mobi-lisiert worden. Und die echten Wählerinitiativen haben bewiesen,daß sie vielerorts ein neues bürgerliches, mitbürgerliches Selbst-bewußtsein repräsentieren.

Der Zustrom des guten Willens wird uns helfen, unverzüglichmit der Arbeit zu beginnen, die wir zu leisten haben. Es gilt mit derVerbesserung der Qualität des Lebens hier und jetzt anzufangen.Ohne Fortschritt gibt es keine Stabilität.Wir werden uns mit großemErnst, freilich ohne Ängstlichkeit, um das Problem der Preise küm-mern. Mit unserer Reformarbeit wollen wir ein gutes Haus bestellen,dessen Firste gewiß nicht in die Wolken der Utopie ragen. DieStimme unseres Landes – und ich sage dies besonders gern in diesemAugenblick zusammen mit Walter Scheel –, die Stimme unseresLandes in der Welt hat an Gewicht gewonnen. Die Gefahr einer Iso-lierung der Bundesrepublik zwischen Ost und West ist gebannt. Wirwerden im weltweiten Prozeß der Entspannung, der zugleich vollerSpannungen ist, mit großer Intensität teilnehmen, und wir werdenjede Chance nutzen, um die Einigung Europas vorwärts zu bewegen.Im kommenden Jahr sollen die beiden Staaten Deutschlands Mit-glieder der Vereinten Nationen werden.3 Auch dies stellt uns neueAufgaben, vor allem was die Beziehungen mit der DDR angeht, dieden Menschen hüben und drüben helfen sollen. Wir wollen, was anuns liegt, zu einer neuen Norm der Humanität finden. Ich bin bereit,den Grundvertrag noch vor Weihnachten zu unterzeichnen.4

Für den großen Auftrag, den wir gradlinig fortführen, suchen wirdie Gemeinsamkeit der Verantwortlichen – bei meinen Freundenund bei dem fairen Partner der vergangenen drei Jahre. Ich suche sieaber auch bei der Opposition. Und ich hoffe, daß sie sich nun dazuentschließen wird, sich nicht länger in erster Linie als eine Interes-sengemeinschaft für den Regierungssturz zu betrachten. Für beide,für Regierung und Opposition, geht es um die Glaubwürdigkeit; dennvon ihr lebt der Geist der Demokratie, von dem wir sagen können,daß er eine gesicherte Heimat in Deutschland gefunden hat. Diese

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Wahl hat die neue politische Mitte gestärkt. Ich werde das Not-wendige tun, damit sie sich in den kommenden vier Jahren als diegroße, die bindende Kraft unsere Volkes bestätigen wird. Nun gehenwir gelassen, doch mit Freude an die Arbeit für unsere Bundes-republik Deutschland, für den Frieden, dem Wort verpflichtet, mitdem wir uns im Herbst 1969 auf den Weg machten: „Wir wollen einVolk der guten Nachbarn sein im Inneren und nach außen.“

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Anmerkungen

Einleitung1 So lautete der Titel der Rede, dieBrandt anlässlich des 100-jährigen Be-stehens der SPD während einer Feierstundein Düsseldorf am 31. Mai 1963 gehalten hat;vgl. Nr. 49.2 Nr. 103.3 Vgl. dazu Berliner Ausgabe, Bd. 2.4 Die Frage, ob es sich bei der Gründungder SPD nach 1945 um eine Neu- oder Wie-dergründung bzw. um eine Mischform ausbeidem handelte, wird in der Forschungkontrovers diskutiert, was an dieser Stellenur angedeutet werden kann. Der Bezugs-punkt ist dabei immer die Frage nach orga-nisatorischen, personellen und program-matischen Brüchen oder Kontinuitäten zurWeimarer Sozialdemokratie. Schumacherhatte immer wieder betont, dass er einenNeubau der Partei verfolge. Dieses Ziel er-reichte er nicht. Besonders in Fragen derOrganisation sind die Kontinuitäten zurWeimarer Republik feststellbar, ebenso aufpersonellem Gebiet. Dennoch scheint esnicht angemessen, von einer reinen Wie-dergründung der SPD zu sprechen, sonderneher von einem Sowohl-als-auch. So warenz. B. auf tagespolitischem und programma-tischem Gebiet die neuen Ansätze in derSPD gleich nach 1945 unübersehbar. Vgl.dazu u. a. Grebing, Helga: „Neubau“ statt„Wiederaufbau“ der SPD – die Lehren ausder Weimarer Republik, in: Dowe, Dieter(Hrsg.): Kurt Schumacher und der „Neubau“der deutschen Sozialdemokratie nach 1945,Bonn 1996 [b], S. 73–89.5 Ab Ende Januar 1946 hieß das Büro of-fiziell „Büro der Westzonen“.6 Vgl. dazu ausführlich Klotzbach, Kurt:Der Weg zur Staatspartei. Programmatik,praktische Politik und Organisation der

deutschen Sozialdemokratie 1945–1965,Bonn 1996 (Nachdruck), S. 43 ff.7 Vgl. dazu u. a. Malycha, Andreas: Aufdem Weg zur SED. Die Sozialdemokratieund die Bildung einer Einheitspartei in denLändern der SBZ, Bonn 1995; Grebing, Helga:Probleme einer Neubestimmung demo-kratisch-sozialistischer Politik nach 1945, in:Faulenbach, Bernd/Potthoff, Heinrich (Hrsg.):Sozialdemokraten und Kommunisten nachNationalsozialismus und Krieg. Zur histori-schen Einordnung der Zwangsvereinigung,Essen 1998, S. 55–68, hier S. 62 ff.8 Vgl. Bouvier, Beatrix W.: Ausgeschaltet.Sozialdemokraten in der Sowjetischen Be-satzungszone und in der DDR 1945–1953,Bonn 1996, S. 28 ff.9 Im August 1945 verschickte Schu-macher die erste schriftliche Ausarbeitungseiner Vorstellungen unter dem Titel „Poli-tische Richtlinien für die SPD in ihrem Ver-hältnis zu anderen politischen Faktoren“.Dieses Papier enthielt eine umfassendepolitische Standort- und Aufgabenbestim-mung. Vgl. Albrecht, Willy (Hrsg.): KurtSchumacher. Reden – Schriften – Korres-pondenzen, Berlin-Bonn 1985, S. 256–286.10 Vgl. Brandt,Willy: Links und frei. MeinWeg 1930–1950, Hamburg 1982, S. 413.11 Zu den Schwerpunkten der Schu-macher-Rede vgl. u. a. Heimann, Siegfried: DieSozialdemokratische Partei Deutschlands,in: Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Hand-buch. Die Parteien der BundesrepublikDeutschland 1945–1980, Bd. 2, Opladen1984, S. 2025–2216, hier S. 2048 f.12 Vgl. dazu ausführlich Grebing, Helga:Ideengeschichte des Sozialismus in Deutsch-land II (1933–1989), in: Dies. (Hrsg.): Ge-schichte der sozialen Ideen in Deutschland,Essen 2000.13 Vgl. Heimann 1984, S. 2140 ff. DieGrundlage der Parteiorganisation bildeteder Bezirk (zunächst 23 Bezirke), der sich in

529 Anmerkungen S. 19 bis 22

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Ortsvereine, Kreisorganisationen und Un-terbezirke gliederte. Das höchste Gremiumwar der Parteitag, der über eingegangeneAnträge sowie alle die Parteiorganisationund das Parteileben berührende Fragen be-fand. Der Parteivorstand, der aus besoldetenund unbesoldeten Mitgliedern bestand,führte die Geschäfte der Partei.14 Brandt, Willy: Mein Weg nach Berlin.Aufgezeichnet von Leo Lania, München1960, S. 227 f.15 Vgl. Nr. 1.16 Vgl. Nr. 2. Für Brandt selbst ist diesesSchreiben ein wichtiges Schlüsseldoku-ment für seinen aktiven Wiedereintritt indie deutsche Politik nach 1945. Vgl. u. a.Brandt 1982, S. 429 f.; 1960, S. 229 ff.17 Diese Aufgabe nahm Brandt bis zurAuflösung der Vertretung im Herbst desJahres 1949 wahr.18 Brandt wurde am 1. Juli 1948 offiziellwieder deutscher Staatsbürger. Zu dem Ent-schluss, nach dem Krieg – zunächst als nor-wegischer Presseattaché – wieder nachDeutschland zurückzukehren, vgl. aus-führlich Berliner Ausgabe, Bd. 2.19 Brandt 1982, S. 428.20 Ein großer Teil der von Brandt wäh-rend seiner Tätigkeit als Vertreter des SPD-Parteivorstandes in Berlin verfassten Be-richte über die aktuelle Lage in der Stadt istim Willy-Brandt-Archiv überliefert; vgl.AdsD, WBA, A 3, 55/56 (alt).21 Vgl. u. a. Albrecht, Willy (Hrsg.): DieSPD unter Kurt Schumacher und ErichOllenhauer 1946 bis 1963. Sitzungs-protokolle der Spitzengremien, Bd. 1: 1946bis 1948, Bonn 1999, S. XXIV.22 Vgl. u. a. die unter maßgeblicher Be-teiligung Brandts während des ZweitenWeltkrieges entstandenen Schriften „Frie-densziele der demokratischen Sozialisten“sowie „Zur Nachkriegspolitik der deutschenSozialisten“.

23 Nr. 3.24 Vgl. Protokoll der Verhandlungen desParteitages der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands vom 11. bis 14. September1948 in Düsseldorf, Hamburg o. J., S. 58 f.25 Vgl. dazu Nrn. 8 und 9. Der Europaratwurde 1949 in London zur „Wahrung deseuropäischen Erbes und des sozialen Fort-schritts“ gegründet.26 Kaisen befand sich während des Par-teitages in den USA, hatte sich aber im Vor-feld öffentlich mehrfach für einen Beitrittzum Europarat ausgesprochen. Auf demParteitag wurde er dann, auf BetreibenSchumachers, nicht wieder in den Partei-vorstand gewählt; vgl. Klotzbach 1996,S. 201 ff.27 Vgl. Grebing, Helga: Kurt Schumacherals Parteivorsitzender und seine Kontra-henten, in: Haus der Geschichte der Bundes-republik Deutschland (Hrsg.): Kurt Schu-macher und seine Politik, Berlin 1996 [a],S. 13–28, hier S. 20 ff.28 Das Saargebiet hatte sich durch eineeigene Verfassung vom 15. Juni 1947 poli-tisch von Deutschland unabhängig undwirtschaftlich zu Frankreich zugehörig er-klärt.29 Vgl. Albrecht 1985, S. 157 ff.; Winkler,Heinrich August: Kurt Schumacher und dienationale Frage, in: Haus der Geschichte derBundesrepublik Deutschland (Hrsg.): KurtSchumacher und seine Politik, Berlin 1996,S. 41–52, hier S. 47.30 Vgl. Brandt 1960, S. 199.31 Vgl. Brandt, Willy: Erinnerungen, Ber-lin/Frankfurt am Main 1994 (erw. Aufl.),S. 26 u. 39.32 Brandt 1982, S. 417.33 Nr. 10.34 Vgl. dazu Grebing 1996 [a], S. 16 ff.35 Zu den Wahlergebnissen vgl. Anhang.36 Die SPD reklamierte für sich die Be-setzung des Amtes des Wirtschaftsdirektors

530 Anmerkungen S. 22 bis 25

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als Voraussetzung für eine Koalition mitder CDU. Diese verlangte im Gegenzug dieAbtretung von drei Landwirtschaftsminis-terien. Die Sozialdemokraten lehnten dieseForderung ab, und Adenauer setzte miteiner bürgerlichen Koalition aus CDU/CSU,FDP und DP einen eigenen Kandidatendurch.37 Carlo Schmid befürwortete mit einigenanderen Sozialdemokraten nach der Wahl1949 die Bildung einer Großen Koalition; vgl.Weber, Petra: Carlo Schmid 1896–1979. EineBiographie, München 1996, S. 401 f.38 Knoeringen äußerte sich zwar bereitsEnde der vierziger Jahre kritisch gegenüberdem Traditionalismus in der SPD, trat dannjedoch mit seiner Kritik in den Hintergrundund profilierte sich vor allem seit Mitte derfünfziger Jahre auf dem Gebiet der Bil-dungsreform und der kulturellen Erweite-rung der Perspektiven der SPD auf demWeg zur Volkspartei.39 Vgl. Klotzbach 1996 S. 293 ff.40 Vgl. Soell, Hartmut: Fritz Erler – Einepolitische Biographie, Bd. 1, Bonn 1976,S. 245 ff.41 Brandt 1982, S. 441.42 Die Situation innerhalb der BerlinerSPD wird in dem vorliegenden Band nur amRande berücksichtigt; sie wird ausführlichim Band 3 der Berliner Ausgabe dargelegt.Allgemein dazu vgl. Ashkenasi, Abraham:Reformpartei und Außenpolitik. Die Au-ßenpolitik der SPD Berlin-Bonn, Köln-Op-laden 1968.43 Vgl. Lorenz, Einhart: Willy Brandt inNorwegen. Die Jahre des Exils 1933 bis 1940,Kiel 1989.44 Brandt 1982 S. 433.45 Diese politische Entwicklung mach-ten neben Brandt auch die meisten anderenMitglieder der SAP-Gruppen im Exil durch;vgl. u. a. Berliner Ausgabe, Bd. 2.46 Brandt 1982, S. 7 f.

47 Zu dieser relativ heterogen zusam-mengesetzten Gruppe gehörten u. a. auchBruno Kreisky, Stefan Szende, Alva undGunnar Myrdal.Vgl. Brandt,Willy: Draußen.Schriften während der Emigration, hrsg.von Struve, Günter, München 1966, S. 291.48 Wirtschaftspolitisch strebte man einekontrollierte Planwirtschaft an. Allerdingsverstand Brandt darunter keinen „totalenKollektivismus“ sowjetischer Prägung, son-dern eine „demokratische Planwirtschaft“„unter Aufrechterhaltung der Freiheit desIndividuums“. Vgl. Grebing, Helga: WillyBrandt – Ein Leben für Freiheit und Sozia-lismus, Berlin 1999, S. 15 f.49 Vgl. Nr. 5.50 Grebing 1999, S. 15.51 Brandt 1994, S. 24 f.52 Nr. 5.53 Brandt, Willy: Über den Tag hinaus.Eine Zwischenbilanz, Hamburg 1974,S. 110.54 Vgl. u. a. Nr. 14.55 Vgl. Nr. 95.56 Zum Godesberger Programm vgl.Nr. 26.57 Brandt 1976, S. 573.58 In diesem Zusammenhang geriet FritzHeine als „Presse- und Propagandachef“ derPartei besonders ins Kreuzfeuer der Kritik.Er hatte wieder einen hauptsächlich aufNegativaussagen basierenden Wahlkampfgeführt. Zwar versuchte er, sich zunehmendmoderner Werbemittel zu bedienen, än-derte aber an den Formen der Wahlkampf-führung nichts. Der Stil der Heine’schenSPD-Wahlkämpfe gehörte in die zwanzigerJahre und war nicht mehr zeitgemäß. Vgl.dazu ausführlich Appelius, Stefan: Heine. DieSPD und der lange Weg zur Macht, Essen1999, S. 289 ff.59 Vgl. Klotzbach 1996, S. 405 ff. ErwinSchoettle und Wilhelm Mellies wurdenEnde Oktober 1957 nicht wieder in den

531 Anmerkungen S. 25 bis 32

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Fraktionsvorstand gewählt. An ihre Stelletraten Fritz Erler, Herbert Wehner undCarlo Schmid. Vgl. dazu auch Nr. 19 undNr. 20.60 Nau hielt dort ein Referat mit dem Titel„Aufbau der Parteiorganisation“; vgl. Pro-tokoll der Verhandlungen des Parteitagesder Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands vom 18. bis 23. Mai 1958 in Stuttgart,Bonn o. J, S. 285–305. Zur Organisationsre-form des Jahres 1958 vgl. ausführlich Lösche,Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei-Volkspartei-Quotenpartei, Darmstadt 1992,S. 184 ff.61 Zu den organisatorischen Neuerungenim Detail vgl. Klotzbach 1996, S. 421 ff.62 Dem Parteirat gehörten an: die Vor-sitzenden der Bezirke und weitere je nachMitgliederstärke von den Bezirksvorstän-den zu wählende Vertreter, die Vorsitzen-den der Landesausschüsse bzw. -vorstände,die Vorsitzenden der Landtagsfraktionenund die Ministerpräsidenten bzw. stellver-tretenden Ministerpräsidenten der Länder.63 Vgl. Nr. 21.64 U. a. wurden auch Helmut Schmidt,Alex Möller und Gustav Heinemann erst-mals in den PV gewählt; vgl. Klotzbach 1996,S. 428 f.65 Vgl. Nr. 5.66 Vgl. Nr. 14.67 Zu den Aktionsprogrammen vgl.Klotzbach 1996, S. 122 ff., 181 ff., 255 ff.,319 ff.; Grebing 2000.68 Brandt 1976, S. 46.69 Vgl. Nrn. 24 und 25.70 Brandt 1982, S. 348.71 Vgl. dazu auch Nr. 21.72 Vgl. dazu ausführlich Weber 1996,S. 631 ff.73 PV-Protokoll vom 5. Juli 1959, in: AdsD,SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle 1959 TeilI. Das Protokoll gibt die Aussagen der jewei-ligen Personen in indirekter Rede wieder.

74 Vgl. Nr. 23.75 Günter Klein schrieb an Brandt am16. Oktober 1959 „vertraulich“: „Durch ver-schiedene Gespräche verstärkt sich meinEindruck, dass Deine Kandidatur täglichmehr in den Vordergrund kommt“ (AdsD,WBA, A 6, 21 [alt]). Außerdem schreibtKlaus Schütz in seinen Erinnerungen überein Gespräch mit Brandt während einesSonntagsspaziergangs im Herbst des Jahres1959: „An jenem Sonntag sagte ich ihm, daßwir wohl beginnen müssten, uns auf dieBundestagswahl 1965 einzustellen. Dennschließlich sehe es doch so aus, daß allerWahrscheinlichkeit nach Carlo Schmid für1961 der Spitzenkandidat sein würde.Brandt blieb stehen, sah mich an und sagte:,Warum eigentlich 1965?‘ Damit war fürmich jede Unklarheit beseitigt“ (Schütz,Klaus: Logenplatz und Schleudersitz. Erin-nerungen, Berlin/Frankfurt am Main 1992,S. 87 f.).76 Nr. 27.77 Vgl. Brandt 1994, S. 66. In seinen Me-moiren beschreibt Brandt die Situationselbstbewusster: „Meine Berliner Lektion inBewährung und Wahlerfolg wog jedoch zuschwer, als daß mir die Kanzlerkandidatur,so ich sie selbst wollte, ernsthaft streitig ge-macht werden konnte. Allerdings habe ichum gehörige Bedenkzeit gebeten.“78 Vgl. dazu auch Nr. 31.79 Schreiben Wehners an Brandt, 26. De-zember 1960, in: AdsD, WBA, A 6, 24 (alt).80 Brandt 1994, S. 65 f.81 Vgl. dazu allgemein Bouvier, BeatrixW.: Zwischen Godesberg und Großer Koali-tion. Der Weg der SPD in die Regie-rungsverantwortung. Außen-, sicherheits-und deutschlandpolitische Umorientierun-gen und gesellschaftliche Öffnung der SPD1960–1966, Bonn 1990.82 Brandt 1976, S. 44.83 Vgl. Bouvier 1990, S. 58 f.

532 Anmerkungen S. 32 bis 38

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84 Vgl. Wehner, Herbert: Wandel und Be-währung. Ausgewählte Reden und Schrif-ten 1930–1975, hrsg. von Jahn, Gerhard,Berlin/Frankfurt am Main 1976 (erw. Aufl.),S. 232–248.85 Rede Brandts vor der SPD-Bundestags-fraktion am 6. Februar 1961 in Bad Dürk-heim, in: AdsD, WBA, A 3, 113.86 Vgl. Bouvier 1990, S. 62 ff.87 Der Bundestag hatte am 8. April 1960im Verteidigungshaushalt Mittel für die Be-schaffung von Raketen bereitgestellt, diemit atomaren Sprengköpfen ausgerüstetwerden konnten.88 Protokoll der Verhandlungen vomParteitag der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands vom 21. bis 25. November1960 in Hannover, Bonn 1961, S. 658.89 Ebd., S. 665 f.90 Vgl. Nr. 36.91 Ebd.92 Zur Deutschland- und OstpolitikWilly Brandts vgl. u. a. ausführlich Bender,Peter: Die Neue Ostpolitik und ihre Folgen.Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, 4. Aufl.,München 1996; Schöllgen, Gregor: Die Au-ßenpolitik der Bundesrepublik Deutsch-land. Von den Anfängen bis zur Gegenwart,Bonn 1999, S. 87 ff.; Potthoff, Heinrich: ImSchatten der Mauer. Deutschlandpolitik1961 bis 1990, Berlin 1991, S. 31 ff., sowieBerliner Ausgabe, Bd. 6.93 Vgl. u. a. Appelius 1999, S. 275 ff.94 Brandt 1976, S. 48.95 Zur Analyse des Wahlkampfes 1961vgl. Wildenmann, Rudolf/Scheuch, Erwin K.:Der Wahlkampf 1961 im Rückblick, in:Dies.: Zur Soziologie der Wahl, Köln-Op-laden 1965, S. 39–73. Zur Konzeption desWahlkampfes 1961 vgl. u. a. Jahrbuch derSozialdemokratischen Partei Deutschlands1960/61, Hannover-Bonn o. J., S. 288 ff.96 Nach der Wahl 1961 definierte Brandtden „neuen politischen Stil“ neben den Fra-

gen der Öffentlichkeitsarbeit und Werbe-strategien auch inhaltlich: „Erstens: Wirhaben nicht nur zu sagen, an welchenGrundüberzeugungen wir uns orientieren,sondern vor allem auch, was wir in einerjeweils leicht überschaubaren Zeitspanneverwirklichen wollen. Zweitens: Wir müs-sen selber Themen der politischen Ausein-andersetzung bestimmen, und unser Be-mühen hat sich immer wieder auf das zukonzentrieren, was nach unsrer begründe-ten Überzeugung notwendig ist für unserVolk. Drittens: Wir dürfen uns nicht ausdem Staat herausdrängen lassen, sondernmüssen uns im Gegenteil mit der Nation,mit den Gesamtinteressen des Volkes sehrbewußt identifizieren. Viertens: Zu denKennzeichen der modernen Sozialdemo-kratie muß es gehören, daß sie fest in denarbeitenden Schichten verankert bleibt, daßsie aber stärker noch als in der Vergangen-heit darum bemüht ist, die geistigen Kräftedes Volkes zu mobilisieren. Fünftens: Wirmüssen den Gedanken der lebendigen De-mokratie jeder Art von Formaldemokratis-mus entgegenstellen, die im Staatsbürgernur den Stimmbürger sieht“ (Brandt 1974,S. 102).97 Bereits ein Jahr zuvor waren Wahl-kampfbeobachter nach Großbritannienentsandt worden.98 Vgl. Schreiben Schütz an Brandt,28. Oktober 1960, in: AdsD,WBA, A 6, 24 (alt).99 Brandt 1976, S. 48.100 Vgl. u. a. Bouvier 1990, S. 76 f.; Prittie,Terence: Willy Brandt. Biographie, Frank-furt/Main 1973, S. 238 f.101 Vgl. Kempski, Hans Ulrich: Um dieMacht. Sternstunden und sonstige Aben-teuer mit den Bonner Bundeskanzlern 1949bis 1999, Berlin 1999, S. 42 ff.102 Vgl. Jahrbuch 1960/61, S. 306.103 Mit leichten Abwandlungen hieltBrandt während der „Deutschlandreise“

533 Anmerkungen S. 38 bis 42

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meistens die gleiche Rede. Über den „Sinn“seiner Reise, führte er aus (AdsD, WBA, A 3,117): „Ich lerne viel auf diesen Reisen. Jedervon uns muß immer noch hinzulernenkönnen. Das Gespräch mit denen, die in denStädten und Landgemeinden Verantwor-tung tragen, und mit der Bevölkerung selbstvermittelt mir einen lebendigen Eindrucknicht nur von den Leistungen des Wieder-aufbaus, auf den wir stolz sein dürfen [. . .]Er vermittelt mir auch einen nachhaltigenEindruck von den Sorgen und Nöten, dieuns noch umgeben – von den vielen unge-lösten Aufgaben, die vor uns liegen.“104 Der Spiegel 1961, Nr. 37.105 AdsD, WBA, A 6, 49 (alt).106 Vgl. Anhang.107 Vgl. u. a. Münkel, Daniela: ZwischenDiffamierung und Verehrung. Das BildWilly Brandts in der bundesdeutschen Öf-fentlichkeit (bis 1974), in: Tessmer, Carsten(Hrsg.): Das Willy-Brandt-Bild in Deutsch-land und Polen, Berlin 2000, S. 23–40.108 Vgl. u. a. Nr. 2.109 Protokoll der Verhandlungen und An-träge vom Parteitag der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands in Hannover 21.bis 25. November 1960, Bonn 1961, S. 660.110 Vgl. u. a. Nr. 35.111 Vgl. Schreiben Brandts an Huber,2. November 1960, in: AdsD, SPD-Fraktion,3. Wahlperiode, 623.112 Vor allem die rechtsgerichtete Presse,wie die Passauer Neue Presse oder die Deut-sche Zeitung, um nur zwei Beispiele zu nen-nen, tat sich durch massive Angriffe gegenBrandt hervor. Auch hier wurde in der Regeldie Emigration als Aufhänger genutzt. Da-neben wurden gezielt Verleumdungs-schriften lanciert, so z. B. das Buch „DieKandidaten“ oder das unter Pseudonym(Claire Mortensen) erschienene Buch „. . .dawar auch ein Mädchen“, in welchem diverseFrauengeschichten Brandts an die Öffent-

lichkeit gezerrt wurden, darunter besonderseine Beziehung in den frühen fünfzigerJahren zu der Journalistin Susanne Sievers.113 AdsD, WBA, A 6, 28/29 (alt).114 Konrad Adenauer, Wahlrede auf einerGroßkundgebung in Regensburg am 14. Au-gust 1961, in: Adenauer, Konrad: Reden1917–1967. Eine Auswahl, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 413–423,hier S. 417.115 Adenauer rechtfertigte seine Regens-burger Rede in einem Schreiben an Brandtvom 31. August 1961 folgendermaßen: „DieAngriffe, die Sie in Ihren Reden, insbe-sondere – in Kenntnis der Verhandlungender Volkskammer – auch in Nürnberg, ge-gen die Bundesregierung und gegen michpersönlich gerichtet haben, haben mich ge-zwungen, in Regensburg deutlich zu ant-worten und darauf hinzuweisen, daß nichteine Partei für sich allein das Recht des An-griffs in Anspruch nehmen, es einer an-deren Partei aber verweigert werden kann.Ich glaube, wir sollten unter diesen Um-ständen von unmittelbaren Auseinander-setzungen auch sachlicher Art absehen“(AdsD, WBA, A 6, 28/29 [alt]).116 Brandt 1994, S. 66.117 Vgl. Nr. 39.118 Vgl. Klotzbach 1996, S. 516 ff.119 Ausgelöst wurde die Affäre durch eineTitelgeschichte „Bedingt abwehrbereit“ desSpiegel über ein NATO-Manöver. Unter demVorwurf des Landesverrats und der Beste-chung wurden mehrere Mitarbeiter des Spie-gels am 26. Oktober 1962 verhaftet, u. a. derChefredakteur Conrad Ahlers und Heraus-geber Rudolf Augstein. Es folgten massiveProteste gegen diesen rechtlich sehr zwei-felhaften Eingriff in die Pressefreiheit, andem neben Innenminister Hermann Höcherlauch Verteidigungsminister Franz JosefStrauß beteiligt war. Infolge dieser Ereignissekam es zu einer Regierungskrise. Der FDP-

534 Anmerkungen S. 42 bis 44

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Vorsitzende Erich Mende erklärte am 16. No-vember, dass die Koalition mit einem Mini-ster Strauß von Seiten der FDP nicht fortge-setzt würde. Drei Tage später schloss sich dieFDP dem von der SPD in den Bundestag ein-gebrachten AntragaufEntlassungvonStraußals Verteidigungsminister an und zog ihrefünf Minister aus dem Kabinett Adenauerzurück. Um die Bildung einer neuen Regie-rung zu ermöglichen, traten am 27. Novem-ber auch alle CDU/CSU-Minister zurück.120 Vgl. Brandt 1976, S. 56.121 Vgl. Klotzbach 1996, S. 527 ff.122 Vgl. u. a. Nr. 57.123 Vgl. Klotzbach 1996, S. 595.124 Nr. 58.125 Nr. 59126 Vgl. Nr. 59A.127 Vgl. u. a. Nrn. 62 und 63.128 Vgl. u. a. Brandt 1994, S. 263; Brandt1976, S. 168 f.129 Nr. 59.130 Vgl. dazu u. a. Soell, Hartmut: FritzErler. Eine politische Biographie, Bd. 2,Bonn 1976, S. 942 f.131 Vgl. Protokoll der Verhandlungenvom Parteitag der SozialdemokratischenPartei Deutschlands in Köln vom 26. bis30. Mai 1962, Bonn 1962, S. 495.132 Vgl. Klotzbach 1996, S. 573 f.133 Vgl. Nr. 48.134 Diese wurde laut Parteitagsbeschlussvom 19. Juni 1962 eingerichtet; dort hieß es:„Der Vorstand der SPD billigt die Bildungeiner Planungsgruppe, deren Leitung derstellvertretende SPD-Vorsitzende WillyBrandt übernimmt. Diese Planungsgruppesoll dem Parteivorstand als Beratungs-körperschaft zur Verfügung stehen“ (zitiertnach: Jahrbuch der SozialdemokratischenPartei Deutschlands 1962/63, Hannover-Bonn o. J., S. 506).135 Die Planungsgruppe wurde jedochbald wieder aufgelöst.

136 Diese Bedenken wurden u. a. vonErwin Schoettle formuliert; vgl. Klotzbach1996, S. 574.137 Schreiben Wehners an Brandt, 23. De-zember 1963 (AdsD, WBA, A 6, 39/40 [alt]):„Du mußt der Vorsitzende der Partei sein,weil: 1.) Diese Aufgabe schon seit Hannoverdeutlich auf Dich zugekommen ist undkein Bruch oder Knick in der Entwicklungeintreten darf. 2.) Deine Kompetenzen inEinklang mit Deinen Fähigkeiten gebrachtwerden müssen. 3.) Du am besten die Kräfteder SPD auf ein Ziel vereinigen kannst. 4.)Die unter Erichs Leitung untereinander inEinklang gebrachten Personen in der SPD-Führung und in befreundeten Bereichensich durch Dich in Einklang halten (oderbringen) lassen.“138 Vgl. Soell 1976, Bd. 2, S. 936 f.139 Vgl. u. a. Nr. 52.140 Protokoll der Verhandlungen des au-ßerordentlichen Parteitages der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands in BadGodesberg vom 15. bis 16 Februar 1964,Bonn 1964, S. 40 f. Brandt wurde mit nurneun Neinstimmen und einer Enthaltunggewählt.141 Befürchtungen bestanden vor allemdarin, dass durch die Bedingung Brandts,sein Berliner Amt nicht aufgeben zu wol-len, eine Art zweiter Parteiapparat in Ber-lin entstehen könne und es dadurch zuinnerparteilichen Konflikten kommenkönnte; vgl. u. a. Schreiben Möllers anBrandt, 8. Januar 1964, in: AdsD, WBA, A 6,41/42 (alt).142 Vgl. Brandt 1976, S. 303.143 Man denke dabei z. B. an die Entschei-dung Brandts am Wahlabend des 28. Sep-tember 1969, die Bildung einer soziallibe-ralen Koalition anzukündigen.144 Dies tritt ganz besonders in den Kon-troversen Brandt-Wehner nach der Wahldes Jahres 1972 zutage; vgl. dazu u. a. Baring,

535 Anmerkungen S. 44 bis 50

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Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 601 ff.145 Schreiben Schillers an Brandt, 10. Mai1969, in: AdsD, WBA, A 11.3, 14.146 Vgl. dazu auch Berliner Ausgabe, Bd. 5.147 Vgl. z. B. Aussagen in Autobiographienvon Mitstreitern Brandts sowie die münd-liche Auskunft Horst Ehmkes vom 11. Ok-tober 1999 und der ehemaligen BüroleiterBrandts vom 5. November 1998.148 Vgl. Nrn. 65, 66 und 78.149 Auch als Kanzlerkandidat der SPDverschickte Brandt Briefe an die Parteimit-glieder, so z. B. im Juni 1961; vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand, Büro Wehner, 3616.150 Gleiches gilt für die Briefe von Bür-gern an Brandt während seiner Amtszeit alsAußenminister und Bundeskanzler.151 Zu den Ereignissen, die zur Regie-rungskrise führten, und zu deren Verlaufvgl. ausführlich Görtemaker, Manfred: Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland.Von der Gründung bis zur Gegenwart,München 1999, S. 431 ff.152 Vgl. Schönhoven, Klaus: Entscheidungfür die Große Koalition. Die Sozial-demokratie in der Regierungskrise im Spät-herbst 1966, in: Pyta, Wolfram/Richter, Lud-wig (Hrsg.): Gestaltungskraft des Politi-schen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin1998, S. 379–397; Schneider, Andrea H.: DieKunst des Kompromisses. Helmut Schmidtund die Große Koalition 1966–1969, Pader-born u. a. 1999, S. 27 ff.153 Vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand, Präsi-diumsprotokoll, 10. November 1966; Pro-tokoll der Partei- und Fraktionsvorstandssit-zung, 11. November 1966. Noch am gleichenTag schrieb Brandt einen Brief an Erhard, indem er ihn über die Absicht der SPD zu Ver-handlungen informierte (vgl. Nr. 68).154 AdsD, SPD-Parteivorstand, Protokollder Partei- und Fraktionsvorstandssitzung,25. November 1966.

155 Fritz Erler war zu diesem Zeitpunktschon schwer erkrankt und nahm an denSitzungen der Führungsgremien der SPDnicht mehr teil. Er starb am 22. Februar 1967.156 Vgl. Anhang.157 Vgl. Arend, Peter: Die innerparteilicheEntwicklung der SPD 1966–1975, Diss.Köln 1974, S. 78 ff. Zur Problematik derNotstandsgesetze und der Wahlrechtsre-form vgl. auch Berliner Ausgabe, Bd. 7.158 Vgl. Nr. 69.159 Vgl. Nr. 71.160 Brandt führt dort u. a. aus: „Das ersteJahr stellte uns vor die Aufgabe, Schäden zureparieren, die nicht von uns angerichtetwurden, aber unser gesamtes Volk in großeGefahr brachten. Wir haben bei der Über-windung der Vergangenheit Opfer bringenund verlangen müssen, um den Weg in dieZukunft freizuschaufeln. Diese Opfer wer-den nur dann einen Sinn gehabt haben,wenn wir den beschrittenen Weg fortsetzen,bis der neue Aufschwung verwirklicht istund man ohne Zögern von einer gesichertennächsten Zukunft sprechen kann. Dazukommt es nicht gegen und ohne die SPD.Darin liegt unsere große Verantwortung, derwir uns zu stellen haben, heute für morgen“(SPD Pressemitteilungen und Informatio-nen vom 11. November 1967).161 Schreiben Duddas an Brandt, 27. März1968, in: AdsD, WBA, A 11 (Allgemeine Kor-respondenz), 68.162 Schreiben Brandts an Dudda, 21. Mai1968, in: ebd.163 Der Antrag wurde mit 173 gegenüber129 Stimmen angenommen.164 Zur Bildung der sozialliberalen Koali-tion vgl. Baring 1982, S. 166 ff.165 Zur Wahlkampagne der SPD 1969 vgl.Jahrbuch der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands 1968/69, Bonn o. J., S. 26 ff.166 Hans-Jürgen Wischnewski auf einerBesprechung über den Wahlkampf für

536 Anmerkungen S. 50 bis 56

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Willy Brandt am 20. Dezember 1968, in:AdsD, SPD-Parteivorstand, 4184.167 Vgl. dazu allgemein u.a. Löer, Wigbert:Ausflug zur Macht, noch nicht wiederholt.Die Sozialdemokratische Wählerinitiativeund ihre Rudimente im Bundestagswahl-kampf 1998, in: Dürr, Tobias/Walter, Franz(Hrsg.): Solidargemeinschaft und fragmen-tierte Gesellschaft. Parteien, Milieus und Ver-bände im Vergleich, Opladen 1999, S. 379–393; Münkel, Daniela: Intellektuelle für dieSPD. Die sozialdemokratische Wählerinitia-tive, in: Hertfelder, Thomas/Hübinger, Gangolf(Hrsg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle inder deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 222–238; Sontheimer, Kurt: So war Deutschland nie.Anmerkungen zur politischen Kultur derBundesrepublik, München 1999.168 Besonders hervorzuheben ist in die-sem Zusammenhang der von MartinWalser herausgegebene Sammelband, indem sich namhafte linke Schriftsteller undPublizisten äußerten; vgl. Walser, Martin(Hrsg.): Die Alternative oder Brauchen wireine neue Regierung?, Reinbek 1961.169 Vgl. Das Wahlkontor deutscherSchriftsteller in Berlin 1965. Versuch einerParteinahme, Berlin 1990.170 Dies geschah allerdings nicht nur, in-dem er das Wahlprogramm der Partei dar-legte, sondern er versuchte auch eigene po-litische Schwerpunkte zu setzen. So spracher u. a. die Frage des Paragraphen 218 oderdie Problematik der Oder-Neiße-Grenze an.Die eigene kritische Position auch gegen-über der SPD wird von Grass und anderenIntellektuellen immer wieder – auch in dennächsten Jahren – hervorgehoben, was häu-fig zu Kritik innerhalb der SPD führte unddie Frage der Legitimation der besondersvon den „Traditionalisten“ in der Partei un-geliebten „Wahlhelfer“ aufwarf.171 Grass schrieb u. a. am 3. Oktober 1969an Willy Brandt (AdsD, WBA, A 11.7, 52):

„Es fiele mir nicht schwer, in Deinem undEpplers Auftrag außerhalb unserer Landes-grenzen ein Deutschland zu repräsentieren,in dem Heinemann Bundespräsident ist, indem Du als Bundeskanzler die Richtlinienbestimmst. Unnütz zu sagen, daß mir keineBeamtenlaufbahn vorschwebt, wohl aberwäre ich bereit, Dir direkt unterstellt, füreine Entwicklungspolitik zu arbeiten, dieTeil Deiner Friedenspolitik ist. Solche Tä-tigkeit von Anlaß zu Anlaß, würde meineArbeit als Schriftsteller nicht beeinträchti-gen, im Gegenteil: der Schriftsteller könnteErfahrungen gewinnen, die ihm üblicher-weise verwehrt bleiben. Soweit mein Vor-schlag, den ich aus Neigung ausspreche undnicht aus kurzsichtigem Ehrgeiz.“172 Gemeint ist die Rede Brandts „Brauchtdie Politik Schriftsteller?“ auf dem Schrift-stellerkongress am 21. November 1970 inStuttgart; vgl. Brandt, Willy: Braucht die Po-litik Schriftsteller?, in: Die Neue Gesell-schaft 18 (1971) 1, S. 51–53.173 Vgl. Löer 1998, S. 388.174 Vgl. Nr. 86.175 Vgl. Anhang.176 Vgl. Müller, Albrecht: Willy wählen ’72.Siege kann man machen, Annweiler 1997.177 Brandt 1976, S. 165.178 Vgl. Grebing, Helga: Die Parteien, in:Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die Geschichte derBundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Frank-furt am Main 1989, S. 71–150, hier S. 107 ff.;Lösche/Walter 1992, S. 77 ff.; zur Problematikder Volksparteien in den sechziger Jahrenallgemein Rudolph, Karsten: Die sechzigerJahre. Das Jahrzehnt der Volksparteien?, in:Zeitschrift für Parlamentsfragen (1999) 2,S. 362–376.179 Vgl. Nr. 15.180 Vgl. Krause, Werner/Gröf, Wolfgang(Hrsg.): Willy Brandt . . . auf der Zinne derPartei. . . Parteitagsreden 1960 bis 1983, Ber-lin/Bonn 1984.

537 Anmerkungen S. 57 bis 63

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Nr. 11 An wen der Brief im Einzelnen ver-schickt wurde, ist nicht überliefert. DerBrief ist, adressiert an Inge Scheflo, aus-zugsweise veröffentlicht in: Brandt 1966,S. 356 f. Bei dem Rundschreiben handelte essich um eine überarbeitete Version einesSchreibens Brandts an Myrdal vom 8. No-vember 1947, das in den inhaltlichen Aus-sagen – mit Ausnahme einiger persönlicherBemerkungen – dem hier dokumentiertenSchreiben gleicht; vgl. AdsD, WBA, A 6, 2(alt).2 Gemeint ist seine Stellung als Presse-attaché an der norwegischen Militär-mission in Berlin. Vgl. dazu SchreibenBrandts an Lange, 7. November 1947, in:Berliner Ausgabe, Bd. 2, Nr. 29; vgl. Brandt1966, S. 353–356.3 Willy Brandt hatte, nach seiner Aus-bürgerung durch die Nationalsozialistenaus Deutschland am 1. September 1938, am2. August 1940 die norwegische Staats-bürgerschaft erhalten.4 Dieser Abschnitt wurde nicht abge-druckt in: Brandt 1966.5 Dieser Abschnitt wurde nicht abge-druckt in: ebd.6 Dieser Abschnitt wurde nicht abge-druckt in: ebd.

Nr. 21 Das Schreiben ist in Auszügen ver-öffentlicht in: Brandt 1966, S. 359–364. AmTextende vermerkt: „Die Anlagen 3 und 5bitte retournieren“.2 Das Wort fehlt in: Brandt 1966. Ge-meint: Kurt Heinig, der bereits während desKrieges als Vertreter des SPD-Exilvorstandesin Stockholm wiederholt Stimmung gegenBrandt machte; vgl. Berliner Ausgabe, Bd. 2.3 Kurt Schumacher reiste Anfang De-zember 1947 nach Skandinavien.

4 Diese Abschnitte sind nicht abge-druckt in: Brandt 1966.5 Die Anlagen zu dem Schreiben sind alsAnlagen weder im WBA noch im NL Schu-macher überliefert. Es muss sich hierbei umeinen von Brandt eigenhändig verfasstenLebenslauf handeln.6 Brandt bezieht sich auf einen Artikelaus dem Arbeiterbladet vom 2. Dezember1947, in dem positiv über seine Arbeit inNorwegen berichtet wurde. Dort hieß esu. a., dass es während des Krieges „kaumeinen einzelnen Norweger [gab], der eine soeffektive Propagandaarbeit für unsere [Nor-wegens] Sache ausgeführt hat“ wie Brandt.7 Diese Abschnitte sind nicht abge-druckt in: Brandt 1966.8 Vgl. Nr. 1 Anm. 1.9 „Alva und ich haben Deinen Brief vom8. November mit herzlicher und re-spektvoller Sympathie gelesen. Wir kennendie Umstände nicht vollständig, halten esjedoch für richtig, daß Du Dich wieder füreines Deiner beiden Länder engagierst, undzwar für das Ärmere, das Deinen Beistandam meisten benötigt.“ (AdsD, WBA, A 6, 2[alt]).10 Schreiben Brandts an Walcher, 10. Juni1946, in: Berliner Ausgabe, Bd. 2, Nr. 22.11 Dieser Abschnitt ist nicht abgedrucktin: Brandt 1966.12 Gemeint ist Rut Hansen.13 Nicht ermittelt.14 „Die neue deutsche Sozialdemokratiemehrere Grade weiter links als die alte. KurtSchumacher, der neue Vorsitzende, durchzehnjährige Mißhandlung in den Konzen-trationslagern gestählt. Seine Programm-rede auf dem Parteitag in Hannover – eineAbrechnung mit dem Nazismus, aber auchmit der Deutschlandpolitik der Alliierten“,in: Arbeiterbladet vom 20. Mai 1946.15 Diese Abschnitte sind nicht abge-druckt in: Brandt 1966.

538 Anmerkungen S. 80 bis 89

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16 Der Einschub ist nicht abgedruckt in:ebd.17 Diese Abschnitte sind nicht abge-druckt in: ebd.

Nr. 31 Gemeint ist der Parteitag der SPD vom11. bis 14. September 1948 in Düsseldorf.2 Brandt meinte hier wohl seine Veran-kerung in der Führungsspitze der SPD mitSitz in Hannover, im Gegensatz zur BerlinerSPD.3 Auf dem SPD-Parteitag in Düsseldorfäußerte sich Brandt zur Frage der euro-päischen Einheit und der deutschen In-tegration in die demokratische Staatenge-meinschaft; vgl. Protokoll 1948, S. 58 f.4 Vgl. dazu grundsätzlich Einleitung; zurHaltung Willy Brandts vgl. Nrn. 8 und 9.5 Vgl. dazu Nr. 2.

Nr. 41 Bei den Gemeinde-, Kreis-, Landtags-und Bürgerschaftswahlen in den drei West-zonen 1946/47 hatte die SPD in den meistenGebieten nicht die erwarteten Erfolge er-zielt; vgl. Anhang.2 Gemeint ist die Eröffnung des Parla-mentarischen Rates am 1. September 1948in Bonn.3 Auf dem Parteitag der SPD vom 9. bis11. Mai 1946 in Hannover wurde die„Kundgebung der SPD“ verabschiedet; vgl.Protokoll der Verhandlungen des Partei-tages der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands vom 9. bis 11. Mai 1946 inHannover, Hamburg 1947, S. 151. DieKundgebung enthielt folgende wirtschaft-liche und politische Prämissen: Sozialisie-rung von zentralen Wirtschaftsbereichen,ein Lastenausgleich im Zusammenhang miteiner gründlichen Finanz- und Währungs-reform, die unauflösliche Wechselbezie-

hung zwischen Sozialismus und Demo-kratie, die Erhaltung Deutschlands als Ein-heit, eine auf ganz Europa bezogeneInternationalisierung und die IntegrationDeutschlands in eine sozialistische euro-päische Föderation sowie die Betonung,dass Sozialismus kein Fernziel, sondern dieAufgabe des Tages sei.4 Der Titel des Referats von Kurt Schu-macher, der dies wegen Krankheit nichtselbst vortragen konnte, lautete: „Die So-zialdemokratie im Kampf für Freiheit undSozialismus“; vgl. Protokoll 1948, S. 25–45.5 Im Protokoll des Parteitages heißt esdazu (ebd., S. 208): „Der Parteitag beauftragtden Parteivorstand, eine unverzügliche Pro-grammkommission einzusetzen. Der Ent-wurf der Programmkommission für einParteiprogramm ist der Gesamtpartei zurDiskussion zu unterbreiten, bevor er demParteitag zur Beschlußfassung vorgelegtwird.“ Auf die Umsetzung dieses Be-schlusses wurde zunächst verzichtet, vor al-lem Schumacher hielt nach wie vor dieVerabschiedung eines Programms gleich-gültig in welcher Form für unangebracht.Erst ein erneuter Antrag auf dem Parteitagdes Jahres 1950 brachte die Programmdis-kussion in der SPD voran.6 Vgl. dazu die Einleitung.7 Der Titel des Referats von Rudolf Zornlautete: „Soziale Neuordnung als sozia-listische Gegenwartsaufgabe“; vgl. Protokoll1948, S. 138–159. Die Kernaussage Zornswar, dass eine Vergesellschaftung nichtmehr als Allheilmittel für eine bessere Zu-kunft der Gesellschaft zu betrachten sei.Entscheidend zur Neuordnung von Wirt-schaft und Gesellschaft seien allein Planungund Lenkung der Wirtschaft. Dafür sei esaber unerheblich, ob sich ein Unternehmenim Gemein- oder Privateigentum befinde.Zorn fasste sein Modell unter dem Termi-nus der „regulierten Marktwirtschaft“ zu-

539 Anmerkungen S. 89 bis 95

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sammen. Für eine Neuordnung unter die-sen Vorzeichen nannte Zorn vier Kernfor-derungen der Sozialdemokraten (ebd.,S. 143): „1. Die Forderung eines gerechtenLohns und wirtschaftlicher Sicherheit.2. Die Forderung nach demokratischer Teil-nahme an der politischen und wirtschaft-lichen Macht. 3. Die Forderung der gleichenChance für Jedermann. 4. Die Forderungnach Konsumfreiheit.“8 Die Ausführungen Hermann Veitsstanden unter dem Titel „Grundsätze so-zialdemokratischer Wirtschaftspolitik“;vgl. Protokoll 1948, S. 133–138. Er ver-wahrte sich gegen das von Ludwig Erhardfavorisierte Wirtschaftsmodell vom „freienSpiel der Kräfte“. Seine zentrale Forderunglautete (ebd. S. 137): „Der Staat muß zusam-men mit paritätisch aus Arbeitgebern undArbeitnehmern aller Wirtschaftskreise zu-sammengesetzten Körperschaften der Wirt-schaft die Richtung ihrer Tätigkeit durcheine Planung in großen Umrissen weisen.Innerhalb dieses Rahmens soll sich der freiwirtschaftende Mensch entfalten.“ In denfünfziger Jahren wurde Veit zu einem derprominenten sozialdemokratischen Wirt-schaftspolitiker.9 Ebd., S. 211 ff.10 Gemeint ist die Arbeit im so genann-ten „Zweizonen-Wirtschaftsrat“, der sicham 25. Juni 1947 als von den Landtagen der„Bizone“ (die Fusion der amerikanischenund britischen Zone zur „Bizone“ bzw. zum„Vereinigten Wirtschaftsgebiet“ war am1. Januar 1947 erfolgt) gewähltes Parlamentdes Vereinigten Wirtschaftsgebietes inFrankfurt konstituierte.11 SPD und CDU stritten im Wirtschafts-rat über die zukünftige Wirtschaftspolitik:Die SPD konnte sich nicht durchsetzen undentschied sich bereits im Juli 1947, nach-dem sie bei der Besetzung des Wirtschafts-direktorenamtes unterlegen war, für die

Rolle „einer praktischen, konstruktivenOpposition“. Vgl. auch Einleitung.12 Brandt meinte hier die „Berlin-Blo-ckade“. Die Sowjets hatten seit dem 24. Juni1948 (bis zum 12. Mai 1949) eine totaleBlockade über die Zufahrtswege zu Landeund zu Wasser nach Westberlin verhängtund gleichzeitig die Energieversorgung derWestsektoren aus dem Ostteil der Stadt undaus der SBZ eingestellt.13 Die Delegierten verabschiedeten eine„Entschließung des Parteitages zur Lage inder Sowjetzone“ (vgl. Protokoll 1948, S. 214).Sie nahm Bezug auf die Verfolgung vor al-lem ehemaliger Sozialdemokraten, die imZuge der Stalinisierung der SED einenneuen Höhepunkt erreichte.14 Am 6. August 1948 hatte der Landtagvon Nordrhein-Westfalen, auf Initiative derSPD, ein Gesetz zur Enteignung des Kohle-bergbaus verabschiedet, gegen das die briti-sche Militärregierung mit der BegründungEinspruch erhob, dass darüber nur einekünftige deutsche Regierung bzw. ein deut-sches Parlament entscheiden könne. Ge-nauso wurde bei der Ablehnung des hessi-schen Betriebsrätegesetzes vom 25. Mai1948 durch die amerikanische Besatzungs-macht argumentiert.15 Auf der Internationalen Sozialisten-konferenz vom 28. November bis 1. Dezem-ber 1947 in Antwerpen wurde die SPD alsMitglied aufgenommen.16 Arp hatte sich in Düsseldorf u. a. füreine SPD als „Instrument der sozialen de-mokratischen Revolution“ ausgesprochensowie eine Sozialisierung der Wirtschaftund vor allem eine Bodenreform gefordert;vgl. Protokoll 1948, S. 64 ff. und 179 f.17 Bereits im November 1946 hatte derPV der SPD den Parteimitgliedern emp-fohlen, nicht bei der VVN mitzuarbeiten,weil man eine Instrumentalisierung durchdie Kommunisten befürchtete. Am 6. Mai

540 Anmerkungen S. 95 bis 98

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1948 fasste der PV einen Unvereinbarkeits-beschluss zwischen einer Mitgliedschaft inder SPD und in der VVN. Dieser Beschlusswurde vom Parteitag 1948 bestätigt; vgl.ebd., S. 205.18 Gemeint: Herbert Wehner, der amDüsseldorfer Parteitag als Delegierter desBezirks Hamburg-Nordwest teilnahm. Zuseinen Ausführungen zur VVN vgl. ebd.,S. 109 f.19 Vgl. Einleitung.

Nr. 51 Zum Begriff des „demokratischen Sozia-lismus“ und seiner Bedeutung für das politi-sche Handeln Willy Brandts vgl. Einleitung.2 Gemeint sind die Kampagnen derCDU/CSU gegen die Sozialdemokratie.3 Vgl. Protokoll 1946, S. 151 und Nr. 4,Anm. 3.4 Vgl. Einleitung.5 Vgl. Lassalle, Ferdinand: Arbeiter-programm. Über den besonderen Zusam-menhang der gegenwärtigen Geschichts-periode mit der Idee des Arbeiterstandes.Ein Vortrag, gehalten am 12. April 1862 imBerliner Handwerker-Verein der Oranien-burger Vorstadt; in: Jenaczek, Friedrich(Hrsg.): Ferdinand Lassalle. Reden undSchriften. Mit einer Lassalle-Chronik, Mün-chen 1970, S. 27–60.6 In den definitiven Statuten der „Inter-nationalen Arbeiterassoziation“ vom 5. Sep-tember 1866 wurde erklärt, dass „die inter-nationale Assoziation und alle ihr ange-hörigen Gesellschaften und IndividuenWahrheit, Recht und Sitte als die Grundlageihres Betragens untereinander und gegen alleihre Mitmenschen ohne Rücksicht auf Farbe,Bekenntnis und Nationalität anerkennen“(Dowe, Dieter/Klotzbach, Kurt [Hrsg.]: Pro-grammatische Dokumente der deutschen So-zialdemokratie, Berlin-Bonn 1978, S. 157).

7 Inauguraladresse der InternationalenArbeiterassoziation vom 28. September1864, in: ebd., S. 156.8 Richtig: „jede“.9 Programm der SozialdemokratischenPartei Deutschlands, beschlossen auf demParteitag in Heidelberg 1925, in: Dowe/Klotzbach 1978, S. 206.10 Brandt bezog sich hier auf Burnham,James: Das Regime der Manager, Stuttgart1948 (Originalausgabe: Managerial revolu-tion, New York 1941).11 Vgl. Programm der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands, beschlossen aufdem Parteitag in Erfurt 1891, in: Dowe/Klotzbach 1978, S. 175–180, hier S. 176 f.12 Vgl. Programm der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands, beschlossen aufdem Parteitag in Görlitz 1921, in: Dowe/Klotzbach 1978, S. 196–201.13 Vgl. Varga, Eugen: Veränderungen inder kapitalistischen Wirtschaft im Gefolgedes Zweiten Weltkrieges, Moskau 1946.14 Vgl. Kautsky, Karl: Das Erfurter Pro-gramm in seinem grundsätzlichen Teil er-läutert von Karl Kautsky, Stuttgart 1892.15 Vgl. Programm und Statuten der So-zialdemokratischen Arbeiterpartei, be-schlossen auf dem Kongreß in Eisenach1869, in: Dowe/Klotzbach 1978, S. 166–170.16 Vgl. dazu auch Brandt, Willy: Weiter-geführte Demokratie, in: Der Monat 1 (1949)5, S. 29–33.17 Brandt bezog sich hier auf die Jahres-botschaft Präsident Roosevelts an den ame-rikanischen Kongress vom 6. Januar 1942:„Unsere eigenen Ziele sind klar: Das Ziel,den Militarismus zu zerschmettern, den dieKriegsherren ihren versklavten Völkernauferlegt haben – das Ziel, die unterwor-fenen Nationen zu befreien –, das Ziel, inder ganzen Welt Redefreiheit, Religionsfrei-heit, Freiheit von Not und Freiheit vonFurcht zu etablieren und zu sichern“ (Roo-

541 Anmerkungen S. 98 bis 117

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sevelt spricht. Die Kriegsreden des Präsi-denten, Stockholm 1945, S. 228).18 Vgl. Kautsky, Karl: Kommentar zumHeidelberger Programm der Sozial-demokratie, Berlin 1925.19 Im November 1918 wurde vom Rat derVolksbeauftragten eine „Sozialisierungs-kommission“ eingesetzt, die sich zunächstvor allem für die Vergesellschaftung desKohlebergbaus engagierte. Die Vorhabender Kommission scheiterten gänzlich –auch am Einspruch von Mehrheits-sozialdemokratie und Gewerkschaften. Am7. April 1919 trat sie schließlich geschlossenzurück.20 Brandt bezog sich hier auf die ent-sprechenden Passagen im „Ahlener Pro-gramm“ der CDU von 1947.21 Vgl. das Referat von Rudolf Zorn „So-ziale Neuordnung als soziale Gegenwarts-aufgabe“, in: Protokoll 1948, S. 138–159, vgl.auch Nr. 4, Anm. 7.22 Vgl. Sering, Paul: Jenseits des Kapitalis-mus, Lauf b. Nürnberg 1946.23 Um die Jahrhundertwende wurde inder Sozialdemokratie die so genannte „Re-visionismusdebatte“ ausgetragen. Seine Be-gründung erhielt der Revisionismus durchEduard Bernstein. Er wandte sich gegen diemarxistisch begründeten Gesellschafts-prognosen der Sozialdemokratie und be-zweifelte den im Kommunistischen Mani-fest und Erfurter Programm prognosti-zierten Trend zum Zweiklassenschema. DieMittelschichten verschwänden nicht, son-dern änderten ihren Charakter. Auch dieThesen von den sich stetig verschärfendenKrisen des Kapitalismus und von der wach-senden Verelendung der Arbeiterschaft hät-ten sich nicht bewahrheitet. Demgegenüberzeichneten sich gegenläufige Tendenzen ab,die auf einen Wandlungsprozess und einegewisse Zügelung des schrankenlosen Ka-pitalismus hindeuteten. Angesichts dieses

Befundes forderte Bernstein von der Sozial-demokratie, dass sie ihre radikal-revolutio-nären Dogmen revidieren und sich auch inihrer theoretischen Zielsetzung dazu be-kennen müsse, dass sie eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei“ sei. Ausführ-lich zum Revisionismusstreit vgl. Grebing,Helga: Der Revisionismus.Von Bernstein biszum ,Prager Frühling’, München 1977.24 Indien wurde am 15. August 1947 indie Unabhängigkeit entlassen.25 Vgl. Programm der social-demokrati-schen Partei Deutschlands, beschlossen aufder General=Versammlung des All-gemeinen deutschen Arbeiter=Vereins am27. December zu Erfurt, in: Dowe, Dieter(Hrsg.): Protokolle und Materialien des All-gemeinen Deutschen Arbeitervereins (inkl.Splittergruppen). Mit einer Einleitung vonCora Stephan, Berlin-Bonn 1980 (Nach-druck), S. 58–60.26 Richtig: „Interessensolidarität der Völ-ker aller Kontinente“.27 Mit der Unterzeichnung des Atlantik-paktes am 4. April 1949 durch die Au-ßenminister der Vereinigten Staaten vonAmerika, Belgiens, Dänemarks, Frank-reichs, Großbritanniens, Irlands, Italiens,Kanadas, Luxemburgs, der Niederlande,Norwegens und Portugals in Washingtonwurde die NATO gegründet.28 Das Zitat stammt aus dem GörlitzerProgramm von 1921, in: Dowe/Klotzbach1978, S. 200.

Nr. 61 Am Rande des Landesparteitags derBerliner SPD im Mai 1949 (vgl. Nr. 5) hatteErnst Reuter Willy Brandt gefragt, ob er alsVerkehrsdezernent in den Berliner Senateintreten wolle.

542 Anmerkungen S. 120 bis 131

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2 Anspielung auf Brandts Tätigkeit alsSekretär der norwegischen Volkshilfe inden Jahren 1938/39.3 Durch den besonderen Vier-Mächte-Status Berlins galt der Westteil der Stadtnach der Gründung der Bundesrepubliknicht als Bundesland. Die Alliierten ge-standen nur – so kam es auch in den Wahl-gesetzen zum Ausdruck – das Recht zu, dassWest-Berlin durch vom Abgeordnetenhausbestimmte Vertreter ohne volles Stimm-recht im Bundestag repräsentiert war.Brandt war von 1949 bis 1957 einer der Ber-liner Vertreter im Deutschen Bundestag.

Nr. 71 Sitz der SPD-Parteizentrale in Hanno-ver.2 Die Tageszeitung Sozialdemokrat, dasOrgan der Berliner SPD, erschien erstmalsam 3. Juni 1946. Sie wurde 1950 in BerlinerStadtblatt umbenannt; ab 1952 kam sie wö-chentlich unter dem Titel Die BerlinerStimme (BS) heraus.3 Willy Brandt nahm die ihm ange-botene Position des Redaktionsleiters desSozialdemokrat an. Er hatte sie aber nur einknappes Jahr inne.

Nr. 81 Der Parteitag der SPD fand vom 21. bis25. Mai 1950 statt. Brandt sprach am 2. Ver-handlungstag im Anschluss an das Grund-satzreferat Schumachers zum Thema „So-zialdemokratie im Kampf um Deutschlandund Europa“ und den Bericht Ollenhauersüber die Tätigkeit der sozialdemokratischenBundestagsfraktion; vgl. Protokoll 1950,S. 62–98.2 Der Antrag wurde vom Parteitag an-genommen; vgl. ebd., S. 270.3 Gemeint ist hier die Debatte am 4.Ver-handlungstag des Parteitages über das Refe-

rat von Hermann Veit zum Thema „Sozial-demokratische Wirtschaftspolitik – derWeg zur Vollbeschäftigung“; vgl. ebd.,S. 178 ff.4 Vgl. dazu ebd., S. 274 f. Es handelte sichdabei um die Richtlinien des Wirtschafts-politischen Ausschusses „Von der Massen-arbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung“ unddas zusätzliche Material der Landes-organisation Hamburg „Entwurf eines Ak-tionsprogramms zur Beseitigung der Ar-beitslosigkeit in Westdeutschland“. In demVorschlag des Ausschusses wurden nur dieFehlentwicklungen benannt, aber keinekonkreten Alternativen unterbreitet.5 Zur innerparteilichen Auseinander-setzung über die Programmfrage vgl. Ein-leitung.6 Anders als Brandt lehnte Schumachereinen Beitritt der Bundesrepublik zum Eu-roparat prinzipiell ab, wenn dieser auch dasSaarland aufnähme. Der SPD-Vorsitzendewar – unter dem Eindruck der Anfang März1950 verabschiedeten französisch-saarländi-schen Konventionen – der Meinung, dassein Beitritt des Saargebietes, dessen Verfas-sung vom 15. Juni 1947 die politische Un-abhängigkeit von Deutschland und dieökonomische Angliederung an Frankreichfestgeschrieben hatte, als internationaleAnerkennung der Autonomie gelten undmögliche Friedensverhandlungen präjudi-zieren könne. Strömungen in der Sozial-demokratie, aber auch in den Regie-rungsparteien, die die Politik der West-integration skeptisch beurteilten oderablehnten, sahen im Beitritt Westdeutsch-lands zum Europarat zudem ein weiteresHindernis für eine schnelle Überwindungder deutschen Teilung. Die SPD stimmteschließlich im Bundestag gegen die bundes-deutsche Beteiligung im Europarat, ent-sandte aber gleichwohl Delegierte nachStraßburg.

543 Anmerkungen S. 131 bis 136

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7 Die Außenministerkonferenz der dreiWestmächte fand vom 11.–13. Mai 1950in London statt. Sie legte fest, wie die an-gestrebte Revision des Besatzungsstatutsund die weitere Integration der Bundes-republik in die westliche Staatengemein-schaft erfolgen sollte. Allerdings wurdenauch Fragen der WiederbewaffnungDeutschlands in London erörtert, ohnedass jedoch eine abschließende Entschei-dung gefällt wurde.8 Vermutlich gemeint: Schreiben Ade-nauers an die drei Alliierten Hohen Kom-missare, 23. März 1950, in: Europa-Archivvom 20. Juni 1950, S. 3130 f. Der Bundes-kanzler erwähnte allerdings in dem Brief, indem er die Hohen Kommissare um Unter-stützung bei der Realisierung des Beitrittsder Bundesrepublik zum Europarat er-suchte, Berlin mit keinem Wort.9 Am 29. September 1949 billigte derBundestag den Antrag der SPD-Fraktion, dieAlliierten um die Zustimmung zur Einglie-derung Berlins in die Bundesrepublik zubitten.10 Schumacher konnte sich auf demParteitag mit seiner Position bei einerüberwältigenden Mehrheit durchsetzen.Der Parteitag sprach sich mit nur elf Ge-genstimmen gegen den Beitritt der Bun-desrepublik zum Europarat aus; vgl. Pro-tokoll 1950, S. 166. Allerdings waren dieGegner des Antrages bekannte Repräsen-tanten des Reformflügels in der SPD, nebenWilly Brandt u. a. Ernst Reuter, Max Brauerund Paul Löbe. Vgl. dazu ausführlich Ein-leitung.

Nr. 91 Carlo Schmid referierte zum Thema„Die SPD vor der geistigen Situation derZeit“; vgl. Protokoll 1950, S. 225–241.

2 Willy Brandt favorisierte hier, wieauch schon in seinem ersten Statement aufdem Parteitag (vgl. Nr. 8), eindeutig ein Ak-tionsprogramm für die SPD als Grundlagefür den kommenden Wahlkampf; vgl. dazuausführlich Einleitung.3 Dies kann als eine versteckte Kritikam strikten Oppositionskurs der SPD-Par-teiführung, den Brandt ablehnte, interpre-tiert werden.

Nr. 101 Vgl. Nr. 8.2 Daneben gab es vor allem Meinungs-verschiedenheiten zwischen Brandt undSchumacher bezüglich der Situation in derBerliner SPD; vgl. u. a. Brandt 1982, S. 420sowie ausführlich Einleitung.3 Vgl. Nr. 7 Anm. 2.4 Brandt meint hier die wirtschaftlichenSchwierigkeiten in Berlin infolge der mas-siven Kriegszerstörungen und der BerlinerBlockade. Am 14. März 1950 erklärte dieBundesregierung Berlin zum wirtschaft-lichen Notstandsgebiet.

Nr. 111 Gemeint sind die Auseinander-setzungen innerhalb der Berliner SPD zwi-schen dem Reuter- und dem Franz Neu-mann-Flügel, die auch Auswirkungen aufdas Verhältnis der Berliner Sozialdemo-kraten zum Parteivorstand hatten, und dieunterschiedlichen Auffassungen über dieRegierungsbildung mit der CDU in Berlinzwischen Reuter/Brandt einerseits undSchumacher andererseits.2 Brandt spielt hier auf die Differenzenzwischen seinem Vorgänger Brost undSchumacher an. Beide vertraten in einigenSachfragen unterschiedliche Standpunkte.Brost hatte darüber hinaus – nach eigenerAussage – Schwierigkeiten mit dem Füh-

544 Anmerkungen S. 136 bis 144

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rungsstil des Parteivorsitzenden, zumal erversuchte, seine Position als Vertreter desSPD-Parteivorstandes in Berlin dazu zu nut-zen, eigene politische Akzente zu setzen. Ineinem Interview im Jahr 1991 stellte Brostdazu fest: „Ich fühlte mich in Berlin nichtganz wohl, weil ich sehr oft anderer Mei-nung als Kurt Schumacher war. [. . .] MitSchumacher war es unmöglich zusammen-zuarbeiten. Jedenfalls konnte man nichtsselbständig machen. Das widerstrebte mir.[. . .] Ich war zum Beispiel auch der Mei-nung, die erste Regierung hätte nach Mög-lichkeit eine Zwei-Parteien-Regierung vonSPD und CDU sein sollen [. . .]. Aber Schu-macher war ganz dagegen, womit er sichirrte“ (zitiert nach: Andrzejewski, Marek/Rinklake, Hubert: „Man muß doch informiertsein, um leben zu können.“ Erich Brost.Danziger Redakteur, Mann des Wider-standes, Verleger und Chefredakteur derWestdeutschen Allgemeinen Zeitung, Bonn1997, S. 144 f.).3 Zu dieser Aussprache kam es dann am5. April 1951; vgl. AdsD, NL Schumacher,Terminkalender 1951.

Nr. 121 Brandt bezog sich auf ein Schreibenvon Klaus-Peter Schulz vom 26. Mai 1952, indem dieser seinen Parteiaustritt aus der SPDnach 21 Jahren Mitgliedschaft ankündigte.Als Grund nannte Schulz die Reaktionenund das Verhalten der SPD-Führung nachden sowjetischen Noten vom 10. März 1952bzw. 9. April 1952. Er teilte die Haltung derSPD zum Deutschlandvertrag und die For-derung nach einem neutralen wieder-vereinigten Deutschland nicht, zudem mo-nierte er den politischen Stil Kurt Schu-machers: „Wie dem auch immer sei: unterkeinen Umständen lasse ich mir es als So-zialdemokrat gefallen, dass meine Partei of-

fiziell im politischen Kampf zu Methodenund Argumenten übergeht, die dem Arsenaleines Herrn Goebbels oder eines HerrnUlbricht alle Ehre machen würde.“ (AdsD,WBA, A 6, 9 [alt]). Schulz trat erst im Jahr1971 aus der SPD aus.2 Gemeint ist die Politik der West-integration Deutschlands, die durch denDeutschlandvertrag vom 26. Mai 1952 ma-nifestiert wurde. Zeitgenössische Kritikersahen in der Westbindung Deutschlandsein Hindernis für die baldige Wieder-vereinigung.

Nr. 131 Gemeint sind die Ausführungen vonArmin Korn aus Lübeck am Vortag (vgl.Protokoll 1952, S. 58–60) in der Aussprachenach der Rede Ollenhauers zum Thema„Die Einheit Deutschlands und ein lebens-fähiges Europa als vordringlichstes Ziel so-zialdemokratischer Politik“. Korn sprachsich u. a. dafür aus, die Bundesregierung zuVerhandlungen mit den Machthabern inOst-Berlin aufzufordern.2 Die SPD plädierte dafür, dass die VierMächte eine Übereinkunft über freie Wah-len erzielen sollten.3 In ihrem Aktionsprogramm sprachsich die SPD noch einmal eindeutig für dieWiedervereinigung Deutschlands als zen-trales Ziel deutscher Außenpolitik aus. Zudiesem Zweck forderte sie u. a. freie ge-samtdeutsche Wahlen. Sie lehnte jedenVertrag ab, der eine Wiedervereinigung „er-schweren“ würde. Außerdem wurde betont,dass die Abtretung der deutschen Ostge-biete von der SPD nicht anerkannt würde.Vgl. Aktionsprogramm der Sozialdemokra-tischen Partei Deutschlands (1952), in:Dowe/Klotzbach 1978, S. 304 f.4 Brandt bezog sich auf die Feststellungdes Bremer Delegierten Arnold Müller, er

545 Anmerkungen S. 144 bis 148

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vermisse im Aktionsprogramm eine stich-haltige Begründung zur Ablehnung derWiederbewaffnung Deutschlands; vgl. Pro-tokoll 1952, S. 139.5 Vgl. ebd., S. 154–156.6 Brandt führte darin u. a. aus (vgl. ebd.,S. 58): „Unsere Partei wird der ihr aufge-bürdeten Verantwortung nur gerecht wer-den können, wenn sie von einem starkenWillen zu einer grundlegenden Umgestal-tung erfüllt bleibt (sehr richtig) und wennsie durch nimmermüde geistige Regsamkeitihren Erneuerungswillen in das Volk hin-einstrahlen läßt. (Beifall.) Es mag sein, daßsich auch die sozialistische Bewegung nichtvöllig dem leider nicht sehr fortschrittli-chen Gesetz der Epoche entziehen kann.Aber wir werden den Kampf gegen die Res-tauration nur erfolgreich bestehen können,wenn wir selbst jeder Neigung widerstehen,dort einfach weiterzuführen, wo überprüft,verändert und erneuert werden müßte.(Beifall.)“7 Dies ist als Plädoyer für eine Öffnungder SPD für breitere Bevölkerungsschichtenbei gleichzeitigem, moderatem Festhaltenan der Tradition zu verstehen.

Nr. 141 Der XI. Landesparteitag der BerlinerSPD fand am 12. Juni 1954 in der Techni-schen Universität Berlin statt. Willy Brandtkandidierte dort zum zweiten Mal gegenden Landesvorsitzenden Franz Neumannum den Vorsitz des Landesverbandes, un-terlag aber mit nur zwei Stimmen Diffe-renz. Die Hervorhebungen der Vorlagewurden in diesem Fall nicht übernommen,da sie von der Redaktion der Berliner Stimmevorgenommen wurden.2 Zu den Ergebnissen der Bundestags-wahl am 6. September 1953 vgl. Anhang.

3 Die CDU hatte im Wahlkampf 1953mit der suggestiven Behauptung: „AlleWege des Marxismus führen nach Mos-kau!“ geworben. Adenauer selbst scheutesich nicht, in einem Schreiben an den stell-vertretenden SPD-Vorsitzenden Mellies zubehaupten, zwei Solinger SPD-Funktionärehätten 20.000 DM aus der DDR zur Fi-nanzierung ihres Wahlkampfes erhalten.Das Bonner Landgericht stellte später fest,dass diese Behauptung jeder Grundlage ent-behrte, doch zu diesem Zeitpunkt lagen dieWahlen bereits ein halbes Jahr zurück. Vgl.Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Bd. 2: DerStaatsmann 1952–1967, München 1994,S. 98 f.4 Dies ist eine Anspielung auf die FDP,deren Wahlplakate 1953 die Aufschrift „WoOllenhauer pflügt, sät Moskau!“ trugen.Gleichzeitig gaben sich deren führendeVertreter wie Reinhold Maier und KarlGeorg Pfleiderer dialogbereit gen Osten, umdie sowjetische Kompromissbereitschaft zuerkunden.5 Zu den Empfehlungen des Parteivor-standes 1954 vgl. Protokoll der Ver-handlungen des Parteitages der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands vom20. bis 24. Juli 1954 in Berlin, Berlin o. J.,S. 315 ff.6 Willy Brandt war Mitglied der 50-köp-figen Programmkommission unter Leitungvon Willi Eichler.7 Brandt meinte hier die im März 1953gebildete Studienkommission, der u. a.Wolfgang Abendroth, Otto Stammer, OttoSuhr und Gerhard Weisser angehörten. Siehatte sich vom 12. bis 14. April 1954 zu einerKlausurtagung getroffen und Thesen zurprogrammatischen Selbstverständigung desfreiheitlich demokratischen Sozialismusverabschiedet.8 Das Dortmunder Aktionsprogrammder SPD von 1952 wurde auf dem Berliner

546 Anmerkungen S. 149 bis 154

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Parteitag vom 20. bis 24. Juli 1954 ergänztund mit einer Präambel versehen. Zur Dis-kussion um die Präambel und die Pro-grammänderungen; vgl. Protokoll 1954,S. 317 ff. In der Präambel hieß es u. a. (Jahr-buch 1954/55, S. 288): „Die Sozialdemokra-tische Partei Deutschlands vertritt nicht dieSonderinteressen einzelner Gruppen. IhrZiel ist die Neugestaltung der Gesellschaftim Geiste des Sozialismus. Er allein er-möglicht allen Menschen die freie Entfal-tung ihrer Persönlichkeit. Die Sozialistenkämpfen deshalb für die Gleichberechti-gung aller Menschen und für ihre geistige,politische und wirtschaftliche Freiheit, diein der bestehenden Gesellschaft nicht ver-wirklicht werden kann.“9 „An dieser Wende bekennt sich dieSozialdemokratische Partei Deutschlandsentschiedener denn je zu den großen Ideender Demokratie und des Sozialismus – zurBefreiung des Menschen aus unwürdigersozialer Abhängigkeit und geistiger Hörig-keit, zu einer Gesellschaft des Friedens undder Gerechtigkeit“ (ebd.).10 In der verabschiedeten Version hieß esdann: „Der Kampf und die Arbeit der So-zialdemokratie aber liegen im Interesse al-ler, die ohne Rücksicht auf engherzig ge-hütete Vorrechte für soziale Gerechtigkeit,für politische und wirtschaftliche Demo-kratie, für geistige Freiheit und Toleranz,für nationale Einheit und internationaleZusammenarbeit eintreten“ (ebd., S. 289).11 Vgl. „Programmatische Erklärungen“von Kurt Schumacher vom 5. Oktober 1945,in: Albrecht 1985, S. 317.12 In der Präambel hieß es wörtlich(Jahrbuch 1954/55, S. 288): „Die Menschheitsteht am Beginn des Atomzeitalters. Kräftesind entfesselt worden, die der Menschheitzu ungeahnter Entfaltung verhelfen, aberebenso zu erbarmungsloser Zerstörung füh-ren können.“

13 In der DDR fanden am 17. Oktober1954 Wahlen nach der so genannten Ein-heitsliste, die eine wirkliche Auswahl vonParteien und Kandidaten nicht vorsah, statt.14 In Berlin amtierte seit dem Tode ErnstReuters am 29. September 1953 eine Koali-tion aus CDU und FDP. Die Bundesver-sammlung trat am 17. Juli 1954 doch inBerlin zusammen.15 Brandt spielte hier vermutlich auf dieversuchte Infiltration der nordrhein-west-fälischen FDP durch ehemals hochrangigeNationalsozialisten in den Jahren 1952/53an, die durch die britische Besatzungsmachtschließlich verhindert wurde.16 Vgl. Aktionsprogramm der Sozial-demokratischen Partei, beschlossen aufdem Parteitag in Dortmund 1952, in: Jahr-buch der Sozialdemokratischen ParteiDeutschland 1952/53, Bielefeld o. J., S. 261–281, hier S. 264.17 Vom 25. Januar bis 18. Februar 1954konferierten in Berlin die Außenministerder Vier Mächte über Deutschland, ohne al-lerdings ein konkretes Ergebnis zu erzielen.18 Brandt spielt hier vermutlich auf dieschwierige Lage an, in die insbesondere dieSaar- und die Europapolitik des Kanzlersinfolge der Unstimmigkeiten im deutsch-französischen Verhältnis geraten warenund die wenig später im Scheitern der EVGzum Ausdruck kommen sollte.19 Gemeint sind die so genannten West-verträge, die der Bundestag am 5. Dezember1952 und der Bundesrat am 15. Mai 1953verabschiedet hatten.20 Genannt nach dem amerikanischenSenator Joseph R. McCarthy. Unter seinerFederführung erlebte die Verfolgung vonKommunisten und des KommunismusVerdächtigen in den USA nach dem Zwei-ten Weltkrieg (bis 1954) einen Höhepunkt.21 Vgl. Vorwort zum Aktionsprogramm1952, in: Jahrbuch 1952/53, S. 263.

547 Anmerkungen S. 154 bis 169

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22 Vgl. Jahrbuch 1952/53, S. 346 f.23 Vgl. dazu ausführlich Einleitung.

Nr. 151 Korrigiert aus: „Hirschfeldt“.2 Brandt bezog sich hier auf seine ver-gebliche Kandidatur zum Parteivorstandauf dem SPD-Parteitag vom 20. bis 24. Juli1954 in Berlin. Er konnte nur 155 von 366gültigen Stimmen auf sich vereinigen.3 Brandt informierte über das von ihmund Richard Löwenthal gemeinsam be-triebene Buchprojekt über Ernst Reuter; vgl.Brandt, Willy/Löwenthal, Richard: ErnstReuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine po-litische Biographie, München 1957.

Nr. 161 Gemeint ist das so genannte „Deut-sche Manifest“, das auf einer von DGB, SPDund einigen Theologen initiierten Veran-staltung in der Frankfurter Paulskirche am29. Januar 1955 verabschiedet wurde; vgl.Jahrbuch 1954/55, S. 354 f. Die Veranstal-tung und das Manifest richteten sich gegendie Ratifizierung der „Pariser Verträge“, dieam 23. Oktober 1954 von den drei west-lichen Alliierten und der Bundesrepublikunterzeichnet worden waren. Sie regeltendas Ende des Besatzungsregimes in West-deutschland, verhalfen der Bundesrepublikzur Souveränität und banden sie in das at-lantische Bündnissystem ein, zu dessenVerteidigung sie künftig beitragen sollte.Das „Deutsche Manifest“ wies auf die Ge-fahren hin, die der Abschluss der „PariserVerträge“ und die deutsche Remilitarisie-rung mit sich brächten, und sprach sich fürViermächteverhandlungen aus. Mit einersich an das Manifest bundesweit an-schließenden Unterschriftensammlungsollte eine Volksabstimmung über die „Pa-riser Verträge“ erreicht werden.

2 Der Text des Manifestes zu diesemPunkt lautete: „Die Antwort auf die deut-sche Schicksalsfrage der Gegenwart – obunser Volk in Frieden und Freiheit wieder-vereinigt werden kann oder ob es in demunnatürlichen Zustand der staatlichen Auf-spaltung und einer fortschreitendenmenschlichen Entfremdung leben muß –hängt heute in erster Linie von der Ent-scheidung über die Pariser Verträge ab“(ebd., S. 354).3 Die Pariser Verträge wurden am 27. Fe-bruar 1955 vom Bundestag ratifiziert.

Nr. 171 Das Manuskript des Artikels, datiertvom 24. April 1956, ist überliefert in: AdsD,WBA, A 3, 76.2 Anspielung auf die unwahre Behaup-tung Adenauers vom August 1953, SPD-Funktionäre hätten sich ihren Wahlkampfvon der DDR finanzieren lassen; vgl. Nr. 14Anm. 3.3 Hier ist der Bruch mit dem Sta-linismus gemeint, der auf dem XX. Parteitagder KPdSU vom 24. bis 25. Februar 1956 of-fiziell vollzogen wurde.4 Brandt bezog sich auf die Bundestags-wahlen, die am 15. September 1957 statt-fanden. Zu den Ergebnissen vgl. Anhang.5 Gemeint sind die zwölf Jahre natio-nalsozialistischer Herrschaft von 1933 bis1945.6 Gemeint sind hier die Einführung desvolksdemokratischen Modells und dieDurchsetzung kommunistischer Vorherr-schaft nach sowjetischem Vorbild in derSBZ/DDR.7 Mit dem so genannten „Sozialplan fürDeutschland“ (veröffentlicht am 25. Juli1956) versuchte die SPD im Vorfeld derBundestagswahl 1957 eine Gesamtreformder Sozialpolitik anzubieten. Die Themen

548 Anmerkungen S. 173 bis 186

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waren: vorbeugende Gesundheitspolitik,Renten- und Invalidenversicherung, Sozial-arbeit, Sozialhilfe und Wohlfahrtspflege.Die Resonanz des „Sozialplans“ in der Öf-fentlichkeit blieb jedoch begrenzt.8 Vgl. Nr. 16 Anm. 1.

Nr. 181 Der aktuelle Anlass zu dieser Ausein-andersetzung war die am 7. Juli 1956 erfolgteVerabschiedung des Gesetzes zur Ein-führung der allgemeinen Wehrpflicht durchden Bundestag. Die SPD hatte sich gegen dasGesetz ausgesprochen. In Ollenhauers Redeauf dem Parteitag „An der Wende der deut-schen Politik“ spielte die Ablehnung derWehrpflicht durch die SPD eine zentraleRolle; vgl. Protokoll 1956, S. 47–72.2 Zum Wortlaut der „Entschließung zurWehrfrage“ vgl. Jahrbuch der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands 1956/57, Hannover-Bonn o. J., S. 323 f.3 Zeitgenössischer Ausdruck für die Re-gierung der DDR, die im Ost-Berliner BezirkPankow residierte.4 Vizekanzler Blücher hatte sich vom10. bis 21. Januar 1956 zu einem Staats-besuch in Indien aufgehalten.5 Bundesregierung und SPD-Oppositionkonnten sich nicht über den Standort füreinen geplanten Langwellensender einigen.Während die Regierungsparteien mit Un-terstützung der Rundfunkintendanten fürHamburg plädierten, warb Willy Brandtnamens der SPD vehement für Berlin. DasProjekt scheiterte schließlich im Jahr 1957.6 Gemeint ist das Bundeswahlgesetzvom 7. Mai 1956 (BGBl. I, S. 383), das denStatus der Berliner Abgeordneten aber nichtänderte (vgl. Nr. 6 Anm. 3).7 Das „Kuratorium unteilbaresDeutschland“ konstituierte sich am 14. Juni1954 als überparteiliche Vereinigung zur

Förderung der Wiedervereinigung beiderdeutscher Staaten mit Sitz in West-Berlin.

Nr. 191 Ähnlich schrieb Brandt am selben Tagan Carlo Schmid. Auch diesem gegenüberbetonte er die Notwendigkeit einer gutenZusammenarbeit der neu gewählten Frak-tionsspitze: „Es kommt jetzt darauf an, daßIhr euch gut zusammenrauft. Wieviel dabeivon Dir abhängt und wieviel man draußenvon Carlo Schmid erwartet, brauche ich Dirnicht erst noch zu sagen“ (SchreibenBrandts an Schmid, 7. November 1957, in:AdsD, WBA, A6, 17 [alt]). Vgl. auch Nr. 20.2 Wehner hatte am 3. Oktober 1957Brandt telegrafisch zu dessen Wahl zumRegierenden Bürgermeister von Berlin gra-tuliert: „=Dem Regierenden Bürgermeisterund alten Gefaehrten im Kampf um die de-mokratische Einheit Deutschlands undWuensche fuer Kraft und Ausdauer STOP=Herbert Wehner und Familie“ (AdsD, WBA,A 6; 17 [alt]).3 Mellies war nicht wieder zu einem derstellvertretenden Fraktionsvorsitzenden ge-wählt worden. Brandt bat ihn, trotz mögli-cher Enttäuschung nicht zu vergessen, „daßkaum einer der Beteiligten Dich als Personund Menschen hat treffen wollen, sonderndaß Du weitgehend das Opfer von Ent-wicklungen und Erwägungen gewordenbist, die nicht durch Dich ausgelöst wurdenoder auf Dich abzielten. Ich möchte nur ge-rade in diesem Augenblick nicht ver-säumen, Dir zu sagen, wieviel mir Deineverständnisvolle und freundschaftlicheHaltung in den vergangenen Jahren reinpersönlich bedeutet hat, und wie sehr ichaußerdem Deine außergewöhnliche Anteil-nahme an unseren Berliner und gesamt-deutschen Fragen zu schätzen gelernt habe.Und ich hoffe zuversichtlich, daß wir in

549 Anmerkungen S. 187 bis 193

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dieser Hinsicht weiterhin mit Dir rechnendürfen“ (Schreiben Brandts an Mellies,7. November 1957, in: AdsD, WBA, A 6, 17[alt]).4 Die Wahl von Carlo Schmid, FritzErler und Herbert Wehner am 30. Oktober1957 in den Vorstand der Bundestags-fraktion der SPD und die Abwahl Melliesstanden für den beginnenden Personal- undPolitikwechsel in der SPD. Dabei ist aufpersoneller Ebene die Tendenz festzu-stellen, den „überkommenen Funktionärs-typ“ alter Prägung durch politisch bzw.fachlich anerkannte Persönlichkeiten mitAusstrahlung zu ersetzen. Vgl. dazu auchEinleitung.5 Am 14. November 1957 wurden dieWarenlisten für Lieferungen und Dienst-leistungen im Rahmen des Interzonenhan-delsabkommens vom 20. September 1951für die Jahre 1957 und 1958 unterzeichnet.

Nr. 201 Vgl. Nr. 19.

Nr. 211 Seit Ende 1956 wurde in der NATO dieFrage einer Atombewaffnung auch dernichtamerikanischen Bündnismitgliederdiskutiert, durch die die sowjetische Über-legenheit im konventionellen Bereich kom-pensiert werden sollte. Gegen die Stimmenvon SPD und FDP sprach sich die Mehrheitim Bundestag im März 1958 für eine nu-kleare Bewaffnung der Bundeswehr aus.Der Parteitag der Sozialdemokraten unter-strich noch einmal die Ablehnung des Vor-habens der Bundesregierung und verab-schiedete eine „Entschließung zur Wehr-politik“; vgl. Protokoll 1958, S. 485–488.2 Zum Ergebnis der Bundestagswahl1957 vgl. Anhang.

3 Sozialdemokratische Partei Deutsch-lands (Hrsg.): Entwurf zu einem Grundsatz-programm, Bonn (April) 1958, S. 7.4 Gemeint ist die für den folgenden Taganberaumte „Beratung des Entwurfs einesGrundsatzprogramms der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands“; vgl. Protokoll1958, S. 359–456.5 Ollenhauer hatte in der DiskussionStellung zu den Referaten von Alfred Nauund Max Kukil zum Thema „Aufbau derParteiorganisation“ genommen; vgl. ebd.,S. 314–318; S. 285–305. Es ging dabei umdie Frage der besoldeten Parteivorstands-mitglieder (Willi Eichler, Herta Gotthelf,Fritz Heine, Max Kukil, Alfred Nau), ihreStellung sowie ihre Funktion und den Mo-dus der Personenwahl. Nau schlug in sei-nem Referat auf Grundlage der Empfeh-lungen der so genannten „Siebener-Kom-mission“ (vgl. Einleitung), die zur Reformder Parteispitze der SPD eingesetzt wordenwar, vor, die insgesamt 33 Mitglieder desGesamtvorstandes (25 unbesoldete, vier be-soldete, ein Vorsitzender, zwei Stellver-treter, ein Kassierer) in fünf Wahlgängen zuwählen: 1. Vorsitzender, 2. StellvertretendeVorsitzende, 3. Kassierer, 4. Besoldete Mit-glieder, 5. Unbesoldete Mitglieder (vgl. ebd.S. 292). Die Kritik entzündete sich vor allemdaran, dass aus der Mitte der Vorstandsmit-glieder und nicht durch den Parteitag einPräsidium als geschäftsführender Vorstandgewählt werden sollte.6 Ollenhauer hatte u. a. ausgeführt: „Si-cher gibt es Kritik an den bisherigen be-soldeten Vorstandsmitgliedern, angefangenvom Vorsitzenden bis zu den vier Besoldeten.Vielleicht ist sogar der eine oder andere derMeinung, es müsse ein Wechsel eintreten.Aber dann bitte ich darum, daß das hier offengesagt und mit Gegenkandidaten beantwor-tet wird. (Lebhafter Beifall.) Ich weiß, was al-les in den letzten Tagen hier nach meiner

550 Anmerkungen S. 193 bis 196

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Meinung mit zuviel Aufwand an Kraft undZeit über diese Dinge diskutiert worden ist.Da gibt es auch Stimmen, die sagen, wennwir es offen sagen, kommen wir nicht durch;nehmen wir die vier mit zu den 25 oder 29[Vorstandsmitgliedern], dann können wiruns auf indirekte Weise Luft schaffen. Bitte,man kann das tun. Aber dem Geist der Loya-lität und der Aufrichtigkeit und der Sauber-keit entspricht ein solches Vorgehen nicht.(Beifall.)“ (ebd., S. 317).7 Vgl. Anm. 5.8 Vgl. Vorwärts vom 25. April 1958.9 Brandt meinte hier die Mitglieder desParteivorstandes und der Kontrollkom-mission, die neben den Delegierten auf denParteitagen stimmberechtigt waren.10 Kukil führte als Empfehlung der „Sie-bener-Kommission“ zu diesem Punkt aus:„Landesvorstände bzw. Landesausschüssesind keine Gliederungen der Organisation.Die praktischen politischen Erfordernissehaben aber ihre Schaffung und ihren Aus-bau unabdingbar gemacht. Die Kommis-sion empfiehlt dem Parteivorstand, zur bes-seren Koordinierung der landespolitischenAufgaben in einigen Ländern neue Richtli-nien für die Gesamtpartei zu verab-schieden“ (Protokoll 1958, S. 301).

Nr. 221 Die Sitzung fand am 24./25. April 1959in Bonn statt. Am ersten Tag oblag die Sit-zungsleitung Ollenhauer. Das Protokoll gibtdie Wortmeldungen der Teilnehmer nur inindirekter Rede wieder.2 Am 18. März 1959 hatte der Parteivor-stand der SPD den so genannten „Deutsch-landplan“, der unter maßgeblicher Beteili-gung von Herbert Wehner entstanden war,beschlossen. Er enthielt, neben Vorschlägenzur militärischen und politischen Entspan-nung in Europa, einen Drei-Stufen-Plan zur

wirtschaftlichen und politischen Zusam-menführung beider deutscher Staaten. Erkann als letzter offensiver Versuch der SPDzur Lösung des Wiedervereinigungspro-blems eingestuft werden. Die drei geplantenSchritte waren: 1. Bildung einer gesamt-deutschen Konferenz aus Beauftragtenbeider Regierungen auf paritätischerGrundlage; 2. der Zusammentritt des ge-samtdeutschen Parlamentarischen Ratesmit gesetzgeberischer Zuständigkeit und3. die Bildung einer Zoll- und Währungs-union, die Wahl einer verfassungsgebendenNationalversammlung sowie schließlichfreie Wahlen zu einem gesamtdeutschenParlament. Zum Wortlaut des „Deutsch-landplans“ vgl. Jahrbuch der Sozialdemo-kratischen Partei Deutschlands 1958/59,Hannover-Bonn o. J., S. 397–401.3 Am 16. März 1959 waren Schmid undErler im Auftrag der Parteiführung in Mos-kau mit Chruschtschow zu einem längerenGespräch über die sowjetische Deutsch-landpolitik zusammengetroffen. Zur gro-ßen Enttäuschung der beiden Sozial-demokraten hatte der Kreml-Chef in derdeutschen Frage keinerlei Entgegenkom-men gezeigt und die Ernsthaftigkeit seinesBerlin-Ultimatums bekräftigt.4 Es scheint sich hier um Werbeslogansfür den „Deutschlandplan“ zu handeln. DieFormulierungen sind nicht Bestandteil desveröffentlichten Textes.5 Der „Deutschlandplan“ sah vor, dassbis zur endgültigen Regelung der deutschenFrage für Berlin der geltende Rechtsstatusund die militärische Sicherung beibehaltenwerden sollten.

Nr. 231 Fritz Beermann absolvierte in den USAeinen Lehrgang an der amerikanischen Ge-neralstabsschule in Fort Leavenworth.

551 Anmerkungen S. 197 bis 200

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2 Erich Ollenhauer hatte auf der PV-Sit-zung am 5. Juli 1959 offiziell seinen Ver-zicht auf eine weitere Kanzlerkandidaturbekannt gegeben. Die daraufhin eingesetzte„Siebener-Kommission“, deren personelleZusammensetzung Ausdruck einer stärke-ren Position von Landespolitikern in derBundespartei war, sollte sich um die strate-gische Vorbereitung des nächsten Bundes-tagswahlkampfes kümmern. Im Mittel-punkt stand dabei die Vorabnominierungund Präsentation eines neuen Kanzlerkan-didaten. Schmid, der als Kandidat im Ge-spräch war, reagierte zurückhaltend. EineNominierung Brandts zum Kanzlerkandi-daten war zu diesem Zeitpunkt nicht mehrausgeschlossen; vgl. Einleitung.3 Anders als Brandt und Schmid hatteMommer seine nachhaltige Kritik am„Deutschlandplan“ in die Öffentlichkeitgetragen. Er monierte vor allem die Aus-schaltung der Fraktion aus dem Willens-bildungsprozess und die im Plan vorgese-henen Lösungsschritte zur Wiedervereini-gung. Er bezweifelte, ob die UdSSRwirklich noch einer deutschen Wieder-vereinigung zustimmen werde. In diesemZusammenhang kam es im Mai 1959 zueiner Kontroverse zwischen Mommer undneun sozialdemokratischen Journalisten,die in Moskau ein Pressegespräch mitChruschtschow geführt hatten. Mommerkritisierte, dass diese Chruschtschows Kri-tik an Willy Brandt unwidersprochen hin-genommen hatten und sich nicht genü-gend vom Ersten Sekretär des ZK derKPdSU distanziert hätten. Daraufhin for-derten die Journalisten mit UnterstützungWehners ein Disziplinarverfahren. Zur Po-sition Willy Brandts zum „Deutschland-plan“ vgl. Nr. 22.4 Gemeint: die Unsicherheit des Statusvon Berlin und die immer wiederkehrenden„Berlin-Krisen“ infolge des Kalten Krieges.

Nr. 241 Es handelt sich dabei um den nachdem Stuttgarter Parteitag nochmals über-arbeiteten unveröffentlichten Entwurfeines Grundsatzprogramms vom 4. Juli1959, in: AdsD, SPD-PV, Bestand ErichOllenhauer, Mappe 388.2 Vgl. Nr. 14 Anm. 8.3 Im Entwurf hieß es: „Die Sozial-demokratische Partei bekennt sich zur par-lamentarischen Demokratie, in der dieStaatsgewalt vom Volke ausgeht und dieRegierung jederzeit dem Parlament verant-wortlich und sich bewusst ist, dass sie inseinem Auftrage handelt. Demokratie heisstnicht schlechthin Herrschaft der Mehrheit,sondern auch Respektierung der Minder-heit. Im demokratischen Staate tragen Re-gierung und Opposition in gleicher WeiseVerantwortung für das Staatsganze“ (AdsD,SPD-PV, Bestand Erich Ollenhauer, Mappe388).4 Pollak hielt auf dem „6. Kongreß derSozialistischen Internationale“ vom 14. bis17. Juli 1959 ein Referat zum Thema „DieStellung des demokratischen Sozialismusheute“.5 „Auf der anderen Seite steht die kom-munistische Welt. Sie hat die Freiheit ra-dikal unterdrückt, um den Prozess der In-dustrialisierung nachzuholen, der ihr nurum diesen Preis möglich zu sein schien. Ge-gen den Machtapparat, der unter den Be-dingungen des totalen Zwanges in allen Le-bensbereichen aufgebaut wurde und der umseine machtpolitische Selbstbehauptungkämpft, richten sich heute nicht nur viele[Menschen] der nichtkommunistischenWelt, sondern in zunehmenden Masse auchdie Menschen der kommunistisch regiertenLänder selber. Mit der jüngsten Entwicklungin der kommunistischen Welt wächst auchdort das Freiheitsstreben der Menschen, dasauf die Dauer unter keiner Herrschaft nie-

552 Anmerkungen S. 201 bis 203

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dergehalten werden kann. Die kommunisti-schen Machthaber versuchen, ihr Systemdem wachsenden Freiheitsbedürfnis anzu-passen. Aber sie können wirkliche demo-kratische Freiheiten nicht gewähren, ohnesich selber und ihr Wesen aufzugeben. Derdemokratische Sozialismus öffnet den ein-zigen Weg, der zu Freiheit und Friedenführt“ (ebd.).6 Brandt macht im Folgenden noch ei-nige Formulierungsvorschläge zur Ver-besserung des Entwurfs. Da die von ihmkritisierten Passagen in der endgültigenFassung des Godesberger Programms von1959 in den gewählten Formulierungennicht mehr erscheinen, ist ein einzelnerNachweis unerheblich.

Nr. 251 Vgl. Berliner Stimme vom 12. Septem-ber 1959, S. 5 f.2 Der außerordentliche Parteitag derSPD in Bad Godesberg fand vom 13. bis15. November 1959 statt; vgl. auch Nr. 26.3 Vgl. Einleitung und Nr. 5.4 Die Berliner SPD beschloss erst auf ih-rem Landesparteitag am 26. September 1959,grundsätzlich der Vorlage des Bundesvor-standes der SPD für ein neues Grundsatz-programm zuzustimmen. Noch am 23. Mai1959 auf ihrem 16. Landesparteitag hattesich die Mehrheit des Landesverbandes Ber-lin gegen ein Grundsatzprogramm aus-gesprochen. Der entsprechende Beschlusslautete: „Der Parteivorstand wird gebeten,seinen Beschluß, im Herbst 1959 einen au-ßerordentlichen Parteitag in Bad Godesbergzur Verabschiedung des Grundsatzpro-gramms einzuberufen, zu überprüfen. EineVerabschiedung des Grundsatzprogrammserscheint beim Stand der Diskussion nichtmöglich. Die Tagung des Parteitages solltedazu dienen, die Diskussion zu vertiefen und

einen neuen Entwurf durch eine vom Par-teitag bestätigte kleine Programmkommis-sion entwerfen zu lassen.“ (AdsD, SPD-PV,Sekretariat Ollenhauer, KorrespondenzLandesverband Berlin 1952–1961, 2/PV AH000002). Am 14. Juli 1959 ließ das Büro desParteivorsitzenden den Landesverband wis-sen, dass man auf jeden Fall an dem ge-planten Vorgehen festhalten werde (ebd.).5 Vgl. Nr. 24.6 Vgl. Sozialdemokratische ParteiDeutschlands (Hrsg.): Entwurf zu einemGrundsatzprogramm, Bonn im April 1958.

Nr. 261 Vgl. Nrn. 24 und 25.2 Ollenhauer hatte in seinem Referat„Das Grundsatzprogramm der SPD“ (Pro-tokoll 1959, S. 48–68, hier S. 49) u. a. aus-geführt: „Wir haben lange gezögert, dieseAufgabe in Angriff zu nehmen, obwohlschon seit 1946 immer wieder die Schaffungeines neuen Grundsatzprogramms gefordertwurde. Wir sind bei den Vorbereitungensehr behutsam vorgegangen; denn zwischenheute und dem Beschluß des Berliner Partei-tags im Jahre 1954, eine Programmkommis-sion einzusetzen, liegen fünf Jahre. Mankann aber sagen, daß der Verlauf und dieResultate der Parteidiskussion gezeigt ha-ben, daß der Berliner Beschluß, an die Aus-arbeitung eines Grundsatzprogramms zugehen, richtig war. Er hat uns alle veranlaßt,über die Positionen und die Aufgaben desdemokratischen Sozialismus in unserer Zeitgründlicher nachzudenken und Er-kenntnisse und Schlußfolgerungen pro-grammatisch zu formulieren.“

Nr. 271 Vgl. Schreiben Beermanns an Brandt,24. Juli und 29. August 1959, in: AdsD,WBA,A 6, 22 (alt).

553 Anmerkungen S. 203 bis 211

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2 Gemeint ist der so genannte „Appellvon Hannover“, der als eine inhaltlichePlattform des Wahlkampfes und als vor-läufiges Regierungsprogramm gedacht war;vgl. Protokoll 1960, S. 655–657.3 Ein Schreiben mit gleichem Datumund ähnlichem Inhalt schickte Brandt anRichard Löwenthal. Dort hieß es u. a. (AdsD,WBA, A 6, 24 [alt]): „Meine eigenen Pro-bleme sind dadurch nicht geringer ge-worden, daß ohne eigenes Zutun immer dieRede davon ist, mir die ,Führung‘ einer so-zialdemokratischen Mannschaft für dennächstjährigen Wahlkampf anzuvertrauen.Es wird dabei letzten Endes zwischen Carlo[Schmid] und mir zu wählen sein. Selbsthabe ich mir die Entscheidung offen ge-halten und erklärt, daß ich mich von derBerliner Aufgabe nicht trennen lassenwerde.“ Hierzu vgl. auch Nr. 27.

Nr. 281 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/Herrn Klaus Schütz“.2 Beermann hatte Brandt am 29. August1959 u. a. geschrieben: „Je länger der Ab-stand vom Kriege ist, je mehr Soldaten – obzu Recht oder zu Unrecht bleibt dahin ge-stellt – werden als ein die Sicherheit sta-bilisierendes Element empfunden. Die Bun-deswehr von 340 000 Mann ist bei einer Be-völkerung von über 50 Mill[ionen] wederMilitärprotzerei noch militärischer Grös-senwahn. Die Frage der sogenannten Atom-bewaffnung wird ebenfalls von der Parteiunrichtig behandelt. Das Ganze ist kein Be-waffnungs-, sondern ein Munitions-problem. Jedes Jagdflugzeug kann Atom-bomben abwerfen. [. . .] Nach der gegen-wärtigen Parteidoktrin müsste man wohldie Jagdflugzeuge und die schwere Artillerieabschaffen, um damit die ,atomare Bewaff-nung‘ abzuschaffen. In Wirklichkeit drängt

die ganze Entwicklung zu immer klein-kalibrigeren atomaren Sprengmitteln, sodass immer mehr ursprünglich konven-tionelle Waffen in atomare Waffen ver-wandelt werden“ (AdsD, WBA, A 6, 22 [alt]).3 Strategiepapier.4 Vgl. Nr. 27 Anm. 1.5 Der Artikel ist erschienen unter demTitel „Außenpolitische Kontinuität mitneuen Akzenten“ in: Außenpolitik 11 (1960)11, S. 717–723.6 Gemeint ist die Bundestagsdebatte zurAußenpolitik vom 30. Juni 1960, in derWehner eine gemeinsame Außenpolitikvon Bundesregierung und Opposition aufder Grundlage bestehender Vertragsver-pflichtungen befürwortete; vgl. auch Ein-leitung.

Nr. 291 Hs. vermerkt: „Telegr[amm] tele-f[onisch] aufgeg[egeben] 30.6.[19]60, 13.20[Uhr ]“.2 Vgl. Nr. 28 Anm. 6.

Nr. 301 Nicht ermittelt.2 Eine parteiloyale Gruppe im SDS, diesich zum Godesberger Programm bekannte,hatte sich infolge grundsätzlicher Differen-zen zwischen SPD und SDS, vor allem in derFrage der „Ostkontakte“, des politischenUmgangs mit der DDR und dem Kom-munismus sowie mit Blick auf die Formenpolitischer Auseinandersetzung, vom SDSgetrennt und am 8. Mai 1960 den „Sozial-demokratischen Hochschulbund“ (SHB) ge-gründet.3 Bei den genannten „Unterlagen“ han-delt es sich um ein internes Rundschreibendes SDS, das zur gesteuerten Infiltrations-arbeit in der SPD aufrief. Der PV beschlossauf seiner Sitzung am 19. Juli 1960, jede

554 Anmerkungen S. 211 bis 215

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Förderung des SDS sofort einzustellen unddie Beziehung zu der Organisation seitensder SPD abzubrechen. Im November 1961erklärten PV und PR die Mitgliedschaft inSPD und SDS für unvereinbar. In Um-setzung dieser Entscheidung wurden 27Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen.

Nr. 311 Brandt hielt die Rede nach seiner ein-stimmigen Nominierung zum SPD-Kanz-lerkandidaten durch Parteivorstand undParteirat am 24. August 1960 in Bonn.2 Brandt nennt Schmid hier namentlich,weil dieser seine eigene Kandidatur nichtweiter verfolgt hatte, sich aber für die Ar-beit im Wahlkampf-Team zur Verfügungstellte; vgl. Einleitung und Nr. 27.3 Zur „Regierungsmannschaft“ der SPD,die auf dem SPD-Parteitag vom 21. bis25. November 1960 in Hannover offiziellvorgestellt wurde, gehörten neben WillyBrandt: Max Brauer, Heinrich Deist, FritzErler, Wenzel Jaksch, Alex Möller, WilliRichter, Carlo Schmid, Fritz Steinhoff, KäteStrobel und Georg August Zinn.4 Anspielung auf die zahlreichen Ver-suche der politischen Gegner, Brandt wegenseiner unehelichen Geburt und seiner Jahreim Exil zu diffamieren. Vgl. Einleitung undu. a. Nr. 35.5 Gemeint: Ernst Lemmer.6 In den drei folgenden Punkten, dieüber die Rede Wehners vom 30. Juni 1960(vgl. Nr. 28 Anm. 6) hinaus auch innen-politische Themen ansprachen, deutete sichdie auf dem Parteitag im November 1960von Brandt postulierte „Gemeinsamkeits-politik“ bereits an.

Nr. 31A1 Prittie führte 1972 in Vorbereitungeiner Biographie über Willy Brandt meh-

rere Interviews mit dem damaligen Bun-deskanzler und SPD-Vorsitzenden. Es han-delt sich bei dem vorliegenden Ausschnittum eine unkorrigierte Bandabschrift. Diezahlreichen Auslassungen sind in der Regelder besseren Lesbarkeit geschuldet. Die Bio-graphie erschien 1973, vgl. Prittie, Terence:Willy Brandt. Biographie, Frankfurt/Main1973. Die englische Ausgabe kam erst einJahr später auf den Markt; vgl. Prittie,Terence: Willy Brandt. Portrait of a states-man, London 1974.2 Vgl. Einleitung.3 Brandt nennt bemerkenswerterweisenicht Carlo Schmid, der zunächst seingrößter Konkurrent war; vgl. Nrn. 27 und32.4 Vgl. Einleitung.

Nr. 321 Gemeint war der Auftakt zur Kam-pagne für den Bundestagswahlkampf desJahres 1961 durch die Sitzung des Partei-rates am 24. August 1960.2 Vgl. Nr. 31 Anm. 3.3 Vgl. Nr. 31.4 Hs. unterzeichnet.

Nr. 331 Am Textende vermerkt: „Durchschlagan Herrn BAHR zur Kenntnis und mit derBitte um Weitergabe an Herrn Kl[aus]SCHÜTZ.“ und „2 Anlagen“.2 Vgl. dazu Nr. 27 Anm. 2.3 Alex Möller und Klaus Schütz fuhrenzur Beobachtung des Präsidentschaftswahl-kampfes in die USA. Sie sollten prüfen, in-wieweit sich die amerikanischen Wahl-kampagnen auf die Gestaltung des Bundes-tagswahlkampfes der SPD im Jahre 1961übertragen ließen. Vgl. dazu SchreibenSchütz an Brandt, 18. Oktober 1960, in:AdsD, WBA, A 6, 26 (alt). Schütz favorisierte

555 Anmerkungen S. 216 bis 225

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die Kennedy-Wahlkampagne als Vorbildfür den SPD-Bundestagswahlkampf 1961.4 Dies ist ein Begriff aus dem ame-rikanischen Wahlkampfsystem. Dort meinter Veranstaltungen, deren Reinerlös den je-weiligen Parteien zugute kommt. Hier wardamit eine Kampagne gemeint, die Geld-sammlungen im Ausland für Berlin vorsah.Anders schrieb in seinem Antwortbrief anBrandt, dass ein Marktforschungsunter-nehmen prüfen werde, ob solche Geld-sammlungen in den skandinavischen Län-dern, Großbritannien und den USA durch-führbar seien; vgl. Schreiben Anders’ anBrandt, 6. September 1960, in: AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle, August-Sep-tember 1960.5 Strategiepapier.6 Auf der PV-Sitzung am 23. August 1960hatte Deist seine Vorschläge erstmals prä-sentiert. Er regte an, den Kohlebergbau ge-mäß den Entschließungen des StuttgarterParteitages von 1958 in Gemeineigentum zuüberführen (ebd.). Brandt und die Mehrheitder Mitglieder des Parteivorstandes hieltendiese Forderungen für den Wahlkampf, derim Zeichen der Gemeinsamkeitspolitik ste-hen sollte, für ungeeignet. Deist wurde auf-gefordert, seine Vorschläge insgesamt zuüberarbeiten. Er legte am 10. September1960 einen überarbeiteten Entwurf vor, derals Vorlage für den Parteitag dienen sollte.Dort hieß es: dass die „Möglichkeit einergemeinwirtschaftlichen Ordnung der Ener-giewirtschaft im einzelnen zu prüfen“ sei(ebd., Schreiben Deists an das Präsidium derSPD, 10. September 1960). Gleichzeitigmachte er aber auch auf die Probleme auf-merksam: „Wir werden – ob wir wollenoder nicht – im Wahlkampf wieder vor dieGretchen-Frage der ,Sozialisierung‘ gestellt.Wer glaubt, dem durch taktische Manöverentgehen zu können, wird sich genauso ir-ren wie im Jahr 1957. [. . .] Die ent-

scheidende Gegenwirkung gegen den Vor-wurf prinzipieller Eigentumsfeindlichkeitkann nur von eigenen positiven Stellung-nahmen zum Eigentum ausgehen.“ In die-sem Zusammenhang verwies Deist auch aufseine Vorschläge zur Vermögensbildung.Vgl. dazu auch Nr. 36 Anm. 12.7 Beratergruppe von in der Regel „unab-hängigen“ Fachleuten.8 Anders wies in seiner Antwort daraufhin, dass durch ein solches Treffen eine guteAußenwirkung durch die Betonung derLeistungsfähigkeit und des Einflusses so-zialdemokratischer Politiker erzielt werdenkönne.9 Paul Nevermann löste im Dezember1960 Max Brauer als Ersten Bürgermeisterder Freien und Hansestadt Hamburg ab.10 Brandt hatte Anfang 1959 als Regie-render Bürgermeister von Berlin im Auftragder Bundesregierung eine „Weltreise in Sa-chen Berlin“ unternommen.11 Das Ministerium für Staatssicherheithatte bereits 1959 ein in der DDR lebendesMitglied der SAP-Exilgruppe in Oslo, derauch Brandt angehört hatte, verhaftet. Derehemalige Mitstreiter Brandts sollte dazu er-presst werden, den Regierenden Bürger-meister als „Feind der Arbeiterklasse“ undehemaligen „Gestapo-Spitzel“ zu diffamieren.12 Die klassische Farbe der SPD bzw. derArbeiterbewegung „rot“ trat im Zuge derModernisierung der Partei sowie der Ge-meinsamkeitspolitik in den Hintergrund.Mit der Dominanz der Farben Schwarz-Rot-Gold auf dem Parteitag wollte man das Be-kenntnis zum Staat und die eigene Regie-rungsfähigkeit unterstreichen.

Nr. 341 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/ und Vorgang an Klaus Schütz mit

556 Anmerkungen S. 225 bis 227

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der Bitte um Kenntnisnahme und Rück-gabe“.2 Blachstein beschwerte sich in einemSchreiben vom 12. Dezember 1960 anBrandt über die mögliche Gefahr einer Ab-grenzung zwischen SPD und Gewerk-schaften (AdsD,WBA, A 6, 26 [alt]): „Du hastes dort [auf dem Parteitag in Hannover] fürrichtig befunden, Dich von den Gewerk-schaften abzugrenzen. [. . .] Gerade aus [den]skandinavischen Erfahrungen bin ich sobesorgt über Dein frostiges Verhalten zuden Gewerkschaften. Ich kenne keine so-zialdemokratische Partei in der Welt, dieihren Weg an die Macht nicht in einer eng-sten Verbindung mit den Gewerkschaftengegangen wäre. Ich kann mir auch nichtvorstellen, daß wir in unserem Lande eineChance haben, Regierungspartei zu werden,wenn die SPD nicht in engstmöglicher Ver-bindung mit den Gewerkschaften kämpft.“3 Brandt hatte auf dem SPD-Parteitag inHannover u. a. gesagt (Protokoll1960, S. 658–680, hier S. 667): „Bei dieser Gelegenheitmöchte ich erklären, daß wir auch keine Ge-werkschaftspartei sind. Die Gewerkschaftenhaben unbestreitbare Verdienste um denwirtschaftlichen Aufbau und um den sozia-len Status der arbeitenden Menschen. Wirwerden immer bemüht bleiben, mit den Ver-tretungen der Arbeitnehmer loyal undfreundschaftlich zusammenzuarbeiten.“4 Brandt meinte hier die Beschlüsse derIG-Metall auf ihrem 6. Ordentlichen Ge-werkschaftstag vom 17. bis 22. Oktober1960 in Berlin zur Wirtschaftspolitik, dieim Gegensatz zu den Grundsätzen des Go-desberger Programms standen, sowie dieVerlautbarungen, sich gegen alle Pläne zur„Notstandsgesetzgebung“ mit Nachdruck –u. U. auch mit Streiks – zur Wehr zu setzen.Auch in dieser Frage nahm die IG-Metalleine andere Position als die SPD im Zuge derGemeinsamkeitspolitik ein.

Nr. 351 Am Textende vermerkt: „Anlage“.2 Brandt hatte sich schon in einem frü-heren Schreiben an Heuss gewandt, um ihndarauf aufmerksam zu machen, dass dessenFormel von der „Kollektivscham“ der Deut-schen, die dieser bezogen auf den Umgangmit der nationalsozialistischen Vergangen-heit geprägt hatte, von einer Gruppe derJungen Union Saar benutzt wurde, um dieVerteilung eines Brandt diffamierendenFlugblatts (vgl. Anm. 3 ) zu legitimieren.Heuss bat Brandt in seinem Schreiben vom30. Dezember 1960 (Stiftung Bundes-präsident-Theodor-Heuss-Haus, NL Heuss, N1221/63 [=BArch Koblenz]), ihm ein Originaldes entsprechenden Flugblatts zu schicken.Außerdem wies er es von sich, dass sein Be-griff für Verunglimpfungen gegen Brandtmissbraucht werde. Heuss wandte sich am23. Januar 1961 direkt an die Verfasser desFlugblatts, die Geschäftsstelle der JungenUnion Saar, und verwahrte sich mit Nach-druck nicht nur gegen die Benutzung seinesNamens und des Begriffs „Kollektivscham“,sondern auch gegen diese Art partei-politischer Polemik (ebd.). Einen Durch-schlag des Schreibens schickte Heuss anBrandt und an Bundeskanzler Adenauer.Letzterer reagierte allerdings nicht darauf.3 Es handelte sich um ein Flugblatt derJungen Union des Saarlandes mit dem Titel„Fragen an Herrn Bürgermeister Brandtalias Frahm – Wer Brandt kennt, wähltAdenauer!“. In der Flugschrift wurde Brandtwegen seiner Exilzeit diffamiert. Bezogenauf Heuss hieß es: „Daß es in Deutschlandmöglich ist, daß eine derart schillernde Per-sönlichkeit [gemeint ist Willy Brandt] kan-didiert, um an die Spitze eines noch jüngstgeschmähten Volkes zu treten, das kann je-den Anständigen bei Gott dazu bringen,sich, um mit Professor Heuss zu sprechen,kollektiv zu schämen.“

557 Anmerkungen S. 227 bis 228

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4 Vgl. dazu Einleitung.5 Vom 27. bis 29. April 1960 fand inKarlsruhe der 9. Bundesparteitag der CDUstatt.

Nr. 361 Erste Gedanken zu einem Regie-rungsprogramm hatte Brandt bereits im Fe-bruar 1961 schriftlich niedergelegt; vgl.AdsD, WBA, A 3, 115.2 Auf dem Parteitag im November 1960hatte die SPD Grundsätze zu den BereichenAußen-, Wiedervereinigungs- und Sicher-heits-, Wirtschafts-, Sozial- sowie Kultur-politik verabschiedet; vgl. Protokoll 1960,S. 529 ff.3 Der 10. Bundesparteitag der CDU fandvom 24. bis 29. April 1961 in Köln statt.4 Brandt spielte hier auf die am 7. April1959 erklärte Kandidatur Adenauers für dasAmt des Bundespräsidenten an, die er, umLudwig Erhard als Kanzler zu verhindern,schließlich wieder zurückzog.5 Am 13. November 1959 war der Vor-stoß Adenauers, – neben der ARD – einzweites, gewissermaßen „bundeseigenes“Fernsehprogramm mittels des „Bundes-rundfunkgesetzes“ zu installieren, durchden Widerstand der Bundesländer im Bun-desrat gescheitert, da diese die Aushöhlungihrer Rundfunkhoheit befürchteten. Da-raufhin gründete Adenauer am 25. Juli 1960eine privatrechtliche Gesellschaft unterdem Titel „Deutschland-Fernseh-GmbH“.Dagegen legten die sozialdemokratisch re-gierten Bundesländer Hamburg, Hessen,Bremen und Niedersachsen am 19. August1960 Beschwerde beim Bundesverfassungs-gericht ein. Dieses erließ am 17. Dezember1960 eine einstweilige Verfügung gegen denStart des geplanten zweiten Fernseh-programms am 1. Januar 1961. Am 28. Fe-bruar 1961 erklärte das Bundesverfassungs-

gericht die Gründung der „Deutschland-Fernsehen-GmbH“ durch BundeskanzlerAdenauer für verfassungswidrig. Am17. März 1961 beschlossen die Ministerprä-sidenten der Bundesländer ein länder-eigenes zweites Fernsehprogramm durchdie bestehenden Rundfunkanstalten produ-zieren und ausstrahlen zu lassen. DerStaatsvertrag über die Gründung des ZDFwurde am 6. Juni 1961 unterschrieben. Dieersten Sendungen strahlte das ZDF am1. April 1963 aus.6 Nach der erwähnten Entscheidung desBundesverfassungsgerichts gab Bundes-finanzminister Etzel bekannt, dass bereitsProduktionsaufträge im Wert von 120 Mil-lionen DM für das zweite Fernsehen verge-ben worden seien.7 Vgl. Nr. 21 Anm. 1.8 Am 17. September 1961 fanden dieWahlen zum Deutschen Bundestag statt;vgl. Anhang.9 Auf der fünften Jahrestagung derDeutschen Olympischen Gesellschaft(DOG) am 2. Oktober 1959 hatte deren Prä-sident Dr. Georg von Opel von der Bundes-regierung 6,3 Milliarden DM für den Sport-stättenbau in den folgenden 15 Jahren ge-fordert: „Wir fordern die Bundesregierungauf, gemeinsam mit den Ländern eine ge-setzliche Regelung der Planung und Fi-nanzierung von Erholungs- und Spiel-anlagen in Angriff zu nehmen! Ich würdedas einen Goldenen Plan nennen“ (NOK-Report Nr. 10 vom 1. Oktober 1984).10 Die Deutsche Krankenhausgesell-schaft, die ca. 3 600 Krankenhäuser imBundesgebiet vertrat, hatte in den Jahren1960/61 zahlreiche Vorschläge zur Reformdes Krankenhauswesens vorgelegt, u. a.wurde auf dem „Zweiten Deutschen Kran-kenhaustag“ vom 18. bis 20. Mai 1960 inStuttgart gefordert, dass Bund und Länderdirekte finanzielle Unterstützung für die

558 Anmerkungen S. 229 bis 236

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Krankenhäuser leisten müssten. Darüberhinaus schlug man eine grundsätzlicheNeuorganisation des Krankenhauswesensvor. Demnach sollten verstärkt „Schwer-punktkrankenhäuser“ und „Spezialkli-niken“ eingerichtet werden; vgl. u. a. Stutt-garter Zeitung vom 19. Mai 1960.11 Vgl. Einleitung.12 Um das Ziel einer „breiteren Vermö-gensstreuung“ zu erreichen, sollten der„Vermögenszuwachs der Großwirtschaft“sowie Großvermögen und Erbschaften nachden Plänen der SPD „angemessen“ besteuertwerden. Zur Verwaltung dieser Vermögens-abgaben war die Einrichtung einer „Deut-schen Nationalstiftung“ geplant, deren Ver-mögen vor allem aus Wertpapieren be-stehen sollte. Die Stiftung sollte dann, aufGrundlage der von ihr verwalteten Wert-papiere, „Deutsche Volksaktien“ ausgeben,die jedermann – Niedrigverdiener mitNachlass – erwerben können sollte. Vgl.Jahrbuch 1960/61, S. 433 f.13 Am 24. August 1960 hatten PV, PR undKontrollkommission in einer gemeinsamenSitzung „Agrarpolitische Richtlinien derSPD“ beschlossen; vgl. ebd., S. 454 ff.14 Auf dem Bundesparteitag der CDU imApril 1961 wurde das so genannte „KölnerManifest“ verabschiedet, in dem die außen-und innenpolitischen Ziele der Union fürdie weitere Legislaturperiode formuliertwurden. Das Manifest bot wenig Neues undwar ganz auf die Sicherung des Status quoabgestellt.15 Der Wissenschaftsrat hatte am 25. No-vember 1960 seine Empfehlungen zumAusbau der wissenschaftlichen Hoch-schulen vorgelegt. Darin wurden u. a. dieGründung neuer Hochschulen, die Steige-rung der Studentenzahlen sowie die Er-höhung des wissenschaftlichen Personalsgefordert.16 Vgl. Nr. 21 Anm. 1.

17 Hier deutete sich schon die Ziel-setzung der späteren Ostpolitik der SPD an.18 Adenauer weigerte sich beharrlich, ge-meinsam mit Brandt an einem Fernsehduellteilzunehmen.19 Adenauer hatte sich lange Zeit massivgegen Ludwig Erhard als seinen Nachfolgerim Amt des Bundeskanzlers gewehrt. Er fa-vorisierte Franz Etzel.

Nr. 371 Gemeint sind hier die Diffamierungs-kampagnen gegen Brandt seitens der CDU/CSU und der rechtsgerichteten Presse; vgl.dazu auch Nr. 35.2 Datum der Bundestagswahl.3 Brandt hatte die in der CDU geübtePraxis der Ämterbesetzung nach einemfestgelegten Konfessionsproporz im Auge.4 Vgl. Nr. 36.5 Vgl. Nr. 36 Anm. 14.6 Dabei handelte es sich um einen Auf-ruf der CSU zur Bundestagswahl 1961, indem u. a. der Wohlfahrtsstaat abgelehntwurde. Es hieß, dass in einem sozialenRechtsstaat die bisherige Eigentumspolitikmit dem Schwergewicht Wohnungseigen-tum fortgeführt werden solle, „Umvertei-lungs-Experimente“ würden jedoch abge-lehnt.7 Richtig: Franz Josef.

Nr. 381 Dokumentiert wird der Wortlaut, wieer am 14. September 1960 um 14.30 Uhr te-lefonisch vom Büro Brandt an die Redak-tion der SZ in München durchgegebenwurde. Der Artikel erschien am 16. Septem-ber 1961 unter dem Titel „Gemeinsame Po-litik in Not“.2 Brandt meint hier den Bau der BerlinerMauer am 13. August 1961 sowie die Atom-bombenversuche in der UdSSR und den

559 Anmerkungen S. 239 bis 264

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USA. In der Sowjetunion wurde im Rahmenvon Atomversuchen eine „Superbombe“von 50 Millionen TNT Sprengkraft, dasentspricht der 2.500-fachen Stärke der Hiro-shima-Bombe, gezündet. In den USA wur-den im gleichen Jahr neue Atomwaffen-typen („Davy-Rocket-Raketen“) in Versu-chen getestet.3 Am 17. September 1961 fanden dieWahlen zum 4. Deutschen Bundestag statt.Zum Ergebnis vgl. Anhang.4 Vgl. Einleitung und Nr. 35.5 Vgl. Nr. 36 Anm. 19.6 Richtig: Franz Josef.7 Am 17. September 1961 fanden in derDDR Gemeinde- und Kreistagswahlen statt,bei der die Einheitsliste der NationalenFront eine Zustimmung von 99,97 Prozentder gültigen Stimmen erzielte.

Nr. 391 Mit hs. Vermerk: „Vertraulich“.2 Gemeint sind die politischen Span-nungen zwischen der Sowjetunion und denWestalliierten sowie der Bundesrepublikund der DDR im Zusammenhang mit demMauerbau am 13. August 1961.3 Die Frage nach einer möglichen All-parteienregierung erörterte Willy Brandtebenfalls im September 1961 im einem ver-traulichen Treffen mit Hugo Stinnes jr., beidem auch die Möglichkeit eines Zusam-mentreffens mit FDP-Vertretern angespro-chen wurde (Hs. Vertraulicher VermerkBrandts, September 1961, AdsD, WBA, A 6,63 [alt]). In seiner Rede in der Sitzung desBundestages am 6. Dezember 1961, dieBrandt in der Aussprache über die Regie-rungserklärung Adenauers hielt, bedauerteer noch einmal, dass es nicht zur Bildungeiner Allparteienregierung nach der letztenBundestagswahl gekommen sei.4 Paraphiert.

Nr. 401 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/Klaus Schütz vertraulich zurKenntnisnahme“.2 Wehner hatte neben den Geburtstags-wünschen an Brandt u. a. folgendes ge-schrieben (AdsD, WBA, A 6, 27 [alt]): „Wasdiesen [Brandts Platz in der Partei] betrifft,so wirst Du in keinem Fall ,nominell‘ sein,denn Dein Platz wird in jedem Fall die poli-tisch richtunggebende Stelle in der Parteisein. Das bedeutet für mich, daß ich alles,worauf ich Einfluß habe, so ordnen werde,daß es im Einklang mit Dir geschieht. HastDu aber im konkreten Fall den Eindruck, eslaufe anders, so werde ich Dir dankbar sein,wenn Du es freimütig mich wissen läßt.Dann werde ich mich stets dafür einsetzen,daß Hindernisse aus dem Weg geräumtwerden. Vielleicht findest Du in absehbarerZeit einmal die Gelegenheit, mit mir überDeine Vorstellungen zu sprechen, die fürdie Vorbereitung des Parteitags wesentlichsind. Dann wird manches rechtzeitig in dierichtigen Gleise gebracht werden können.Das gilt nicht zuletzt auch für Personen-fragen, in denen es immer gut ist, genau zuwissen, welche Gedanken sich jeder macht.“3 Brandt nahm hier Bezug auf die vonihm am 21. Dezember 1961 vorgenommeneSenatsumbildung in Berlin. Karl Schillerwurde Senator für Wirtschaft, HeinrichAlbertz Senator für Inneres und KlausSchütz Senator für Bundesangelegenheiten.4 Auf dem Kölner Parteitag der SPD vom26. bis 30. Mai 1962 hielt Brandt ein Referatzum Thema „Wer rastet – der rostet. Dyna-mische Politik als deutsche Gemeinschafts-aufgabe“.5 Die Bildung der so genannten „Pla-nungsgruppe“, die dem Parteivorstand derSPD als Beratungskörperschaft zur Verfü-gung stehen sollte, wurde vom Parteivor-stand am 19. Juni 1962 beschlossen. Die

560 Anmerkungen S. 265 bis 272

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Leitung der Planungsgruppe übernahmBrandt. Vgl. Einleitung.6 Die Forschungsstelle ist nicht einge-richtet worden.7 Das so genannte „Informations-zentrum“, welches beim Presse- und Infor-mationsamt der Stadt Berlin angegliedertwar, existierte von Oktober 1961 bis zumDezember 1968. Es war für die Betreuungvon Berlin-Besuchern zuständig und betriebgleichzeitig einen internationalen Presse-club.8 Gemeint ist der Kreis im Umfeld vonDr. Hans Joachim Robinsohn, der zu dieserZeit Leiter der Hamburger Forschungsstellefür die Geschichte des Nationalsozialismuswar.9 1961 hatte Brandt ein Treffen mitKünstlern und Wissenschaftlern initiiert,weil er sich davon eine positive Wirkungfür die SPD versprach. Darüber hinaus hat-ten einige Mitglieder der vor allem aus jün-geren Schriftstellern bestehenden „Gruppe47“ im Wahlkampf 1961 durch eine Publi-kation versucht, die SPD zu unterstützen.Maßgeblich daran war auch Günter Grassbeteiligt; vgl. Walser, Martin (Hrsg.): Die Al-ternative oder Brauchen wir eine neue Re-gierung?, Reinbek 1961. In den folgendenJahren verstärkte sich das Engagement vie-ler Schriftsteller der „Gruppe 47“ für dieSPD und mündete im Jahr 1969 in dieGründung der „SozialdemokratischenWählerinitiative“ (SWI); vgl. Einleitung.

Nr. 411 Brandt war auf dem Parteitag vom 26.bis 30. Mai 1962 in Köln zu einem der stell-vertretenden Parteivorsitzenden gewähltworden.2 Brandt hielt in Harvard zwei Vorträge,die sowohl in einer englischen als auch ineiner deutschen Version publiziert wurden:

The ordeal of coexistence. The GustavPollack lectures at Harvard University 1962,Cambridge (Mass.) 1963 und: Koexistenz –Zwang zum Wagnis, Stuttgart 1963.3 Vgl. Nr. 40 Anm. 5 sowie Einleitung.4 Vgl. Protokoll 1958, S. 256 ff. und Jahr-buch 1958/59, S. 362.5 Gemeint ist das so genannte „Grund-lagenreferat“, welches im Jahr 1962 unterLeitung von Klaus Helfer eingerichtet wor-den ist. Auf der Klausurtagung des Präsi-diums am 4. Dezember 1961 wurden vonWaldemar von Knoeringen Pläne für einGrundlagenreferat vorgestellt; dies solltemit der Friedrich-Ebert-Stiftung koope-rieren und sich neben wissenschaftlichenauch kulturpolitischen Fragen widmen; vgl.SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle, Dezem-ber 1961. Auf der Präsidiumssitzung am 22.Januar 1962 bewarb sich Helfer für die Lei-tung diese Referates. Daraufhin beschlossdas Präsidium, ihn dem PV für diese Auf-gabe zu empfehlen; vgl. SPD-Parteivorstand,PV-Protokolle, Januar 1962.6 Vgl. Nr. 40 Anm. 8.7 Ein zentrales Archiv der Sozial-demokratischen Partei wurde 1882 – aufAnregung August Bebels – in Zürich ge-gründet. Nach der Aufhebung des Sozia-listengesetzes (1890) war das Archiv in Ber-lin beherbergt.Während der NS-Zeit konnteein Teil des Bestandes ins Ausland gerettetwerden. Nach 1945 begann die SPD damit,ein neues Zentralarchiv aufzubauen, wel-ches ständig erweitert wurde. Das Archivder sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn wurde jedoch erstam 6. Juni 1969 von Willy Brandt eröffnet.

Nr. 421 In Köln fand der Bundesparteitag derSPD vom 26. bis 30. Mai 1962 unter demMotto „Wer rastet – der rostet“ statt.

561 Anmerkungen S. 272 bis 277

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2 Waldemar von Knoeringen hatte aufdem Kölner Parteitag nicht mehr zur Wahleines stellvertretenden Parteivorsitzendenkandidiert und damit Brandt die Möglich-keit eröffnet, sich zur Wahl zu stellen.3 Vgl. Nr. 40 Anm. 5.4 Vgl. Nr. 41 Anm. 5.5 Es wurde weder ein Beirat noch einAusschuss einberufen.

Nr. 431 Hs. eingefügt.2 1962 fanden Landtagswahlen in Nord-rhein-Westfalen (8. Juli), Schleswig-Hol-stein (23. September), Hessen (11. Novem-ber) und Bayern (25. November) statt.3 Bei den vier Gemeinschaftsaufgaben,die Brandt auf dem Kölner Parteitag in sei-nem Referat benannt hatte, handelte es sichum: Bildung und Ausbildung, Sorge um diealten Menschen, Gesundheitsvorsorge undErneuerung der Gemeinden, Städte undDörfer; vgl. Protokoll 1962, S. 73 ff., undEinleitung.4 Der „Plan Z II“ sollte den Plan Z „DieZukunft meistern“ von 1958, der auf einBündnis zwischen Politik und Wissenschaftzur Lösung von bildungs- und wissen-schaftspolitischen Fragen abzielte, ersetzenbzw. erneuern. Klaus Helfer als Leiter desGrundlagenreferates hatte in diesem Zu-sammenhang die Aufgabe, Kontakte mitWissenschaftlern und Lehrern aufzu-nehmen sowie Gespräche mit den sozial-demokratischen Kultusministern zu füh-ren. Ziel war es, einen fundierten Kultur-und Bildungsplan der SPD vorzulegen. Un-ter der Bezeichnung „Plan Z II“ ist das Pro-jekt jedoch nicht umgesetzt worden.5 Vom 17. bis 19. Oktober 1962 fand inBerlin der SPD-Kongress „Deutsche Ge-meinschaftsaufgaben“ statt.6 Vgl. Nr. 41 Anm. 2.

7 Hs. eingefügt.8 Klaus von Dohnanyi, der 1961 bereitsam Wahlprogramm der SPD mitgearbeitethatte, war zum damaligen Zeitpunkt in derMünchner SPD aktiv. Mit den „Godesber-gern“ ist höchstwahrscheinlich die SPD-Zentrale in Bonn gemeint. Vgl. SchreibenDohnanyis an die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, 14. Februar 2000.

Nr. 441 Gemeint ist hier die Achtzehn-Mächte-Abrüstungskonferenz, die im Jahr 1962 inmehreren Etappen vom 14. März bis14. Juni, vom 16. Juli bis 7. September undvom 26. November bis 20. Dezember statt-fand.2 Die Sowjetunion hatte bereits im Mai,Juni und August des Jahres 1961 mehrereMemoranden an US-Präsident Kennedy unddie Bundesregierung mit der Ankündigunggesandt, mit der DDR einen Separat-friedensvertrag schließen zu wollen.3 Vgl. Nr. 41 Anm. 2.4 Vgl. Nr. 41.5 Am 19. August 1962 fand in Hannovereine Gedenkstunde mit Kranzniederlegunganlässlich des 10. Todestages von KurtSchumacher statt.

Nr. 451 Erler hatte am 19. Juli 1962 in der Ge-denkstätte Plötzensee in Berlin eine Redeanlässlich des 18. Jahrestages des geschei-terten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli1944 gehalten.2 Vgl. Erler, Fritz/Jaeger, Richard: Sicher-heit und Rüstung, Köln 1962.3 Die erste gemeinsame Sitzung von PVund FV nach der Sommerpause fand am1. Oktober 1962 in Bonn statt. Brandt nahmdaran jedoch nicht teil. Erörtert wurdenvornehmlich Fragen der Wirtschafts- und

562 Anmerkungen S. 277 bis 283

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Finanzpolitik sowie die Situation in Berlinund die Lage in der DDR; vgl. SPD-Partei-vorstand, PV-Protokolle Oktober 1962.4 Vgl. hs. Schreiben Brandts an Schmid,30. Juli 1962 (AdsD, NL Schmid, Mappe 750):„Leider ist es noch nicht zu dem ruhigenGespräch gekommen, das – vor allem seitder Kontroverse im Präsidium – zwischenuns fällig ist. Erich [Ollenhauer] sagte mirjedoch, Ihr hättet miteinander gesprochenund er hätte Dir auch über meine Erklärungvor dem Parteivorstand berichtet. Ichmöchte es so deutlich wie nur irgend mög-lich machen, dass mir nichts ferner liegt, alsDich von irgendetwas ausschliessen zuwollen. Falls es Dir zeitlich möglich ist,möchte ich ganz gewiss gerade Dich in dievorbereitenden Planungsarbeiten einbezo-gen wissen. Womit ich Dich nicht belastenzu sollen glaubte (zumal alle Vorschlägedem Präsidium und dem PV unterbreitetwerden), sind jene organisatorischen undmaterial-verschwendenden Aufgaben, diebisher vernachlässigt wurden und um diewir uns jetzt stärker kümmern wollen, alsoeine Wahlanalyse des vorigen Jahres undder Landtagswahlen dieses Jahres. Vor-schläge für die Öffentlichkeitsarbeit derPartei, Arbeitsunterlagen für die ,vernach-lässigten Gemeinschaftsaufgaben‘ usw.Aber es ist wohl das Vernünftigste, wennwir uns nach der Urlaubszeit einmal zu-sammensetzen und miteinander bespre-chen, wie wir zu einer guten Form der Zu-sammenarbeit kommen. Ich vermute, dasses auch noch einige andere Fragen gibt,über die wir miteinander sprechen sollten.“

Nr. 461 Mit Vermerk: „Persönlich!“.2 Die „peinliche Panne“ meint höchst-wahrscheinlich technische Übertragungs-probleme während der Rede Wehners. Dass

Brandt sich dafür entschuldigte, ist nichtzuletzt damit zu erklären, dass sein „Berli-ner Büro“ die Veranstaltung organisierthatte und Wehner dessen Aktivitätengrundsätzlich skeptisch beurteilte. Vgl.Schreiben Staars an die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, 20. Februar 2000.3 Vom 17. bis 19. Oktober 1962 hielt dieSPD in Berlin einen Kongress unter demMotto „Deutsche Gemeinschaftsaufgaben“ab, an dessen Ende Parteivorstand, Parteiratund Kontrollkommission der SPD in einergemeinsamen Sitzung „Zwölf Punkte zurBerlinpolitik“ beschlossen. An den Kon-gress schloss sich das Berlin-Treffen derdeutschen Sozialdemokraten vom 19. bis21. Oktober 1962 an.4 Wehner war in Köln mit nur 232 von312 Stimmen zum stellvertretenden Vor-sitzenden der SPD gewählt worden.5 Gemeint: die gemeinsame Sitzung vonParteivorstand, Parteirat und Kontroll-kommission am 6. Dezember 1962.6 Der 6. Bundeskongress des DGB vom22. bis 24. Oktober 1962 in Hannover hattejede Notstandsgesetzgebung mit 276 gegen138 Stimmen abgelehnt.

Nr. 471 Der Parteivorstand kam am 1. Dezem-ber 1962 vor dem Hintergrund der Krise, indie die Regierungskoalition aus CDU/CSUund FDP durch die so genannte Spiegel-Af-färe geraten war, zu einer Sitzung zusam-men. Die führenden Sozialdemokratenwollten über die Möglichkeit einer GroßenKoalition beraten, nachdem bereits infor-melle Gespräche zwischen CDU/CSU-Ver-tretern und der SPD stattgefunden hatten.Der PV machte deutlich, daß sich die SPDnicht für „Scheinverhandlungen“ hergebe,sofern die Union nur beabsichtige, ihrenbisherigen Koalitionspartner „gefügig“ zu

563 Anmerkungen S. 284 bis 287

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machen. Drei Tage später beschlossen PVund FV gemeinsam, die Sondierungen übereine Regierungsbildung mit der CDU/CSUfortzusetzen. Vgl. auch Einleitung.2 Gemeint ist die gemeinsame Sitzungvon Parteivorstand, Parteirat und Kontroll-kommission vom 6. Dezember 1962, auf derder Beschluss von Partei- und Fraktionsvor-stand vom 4. Dezember 1962 bestätigt wurde.3 Am 26. November 1962 hatte Brandtsich mit dem Geschäftsführer des afro-asia-tischen Rates, Trikandas, getroffen.

Nr. 481 Zu den Diffamierungskampagnen imWahlkampf 1961 vgl. u. a. Nr. 35 und Ein-leitung.2 Sternberg, wie Brandt in den dreißigerJahren Mitglied der SAP, antwortete: „DieSAP (Sozialistische-Arbeiter-Partei) gingvon der Einstellung aus, daß der Sieg desNationalsozialismus ermöglicht, in jedemFall stark dadurch erleichtert wurde, daßdie deutsche Linke und dabei vor allem diedeutsche Arbeiterschaft gespalten war. DieHauptverantwortung an dieser Spaltungtrug damals die deutsche kommunistischePartei, die nicht von Deutschland, sondernvon Moskau aus gelenkt wurde; die diedeutschen Sozialdemokraten als Sozial-,Fa-schisten‘ bezeichnete und die dann – als eszu spät war – plötzlich schrieb, daß sie imGefolge des Kampfes gegen die Sozial-,Fa-schisten‘ einen Tempoverlust im Kampfegegen die Nationalsozialisten erlitten habe.Mit dieser Einstellung, daß alles zu tun sei,um zu einer Einheit gegen den National-sozialismus zu kommen, gingen führendeSchichten der SAP in die Emigration. Sienahmen dabei Teil an allen Bestrebungen indieser Richtung von den europäischen Län-dern bis zu den USA; besonders stark inFrankreich. Dort hatte sich unter Leon

Blum eine Volksfrontregierung gebildet;dort bildete sich auch ein Ausschuß zurVorbereitung einer deutschen Volksfront,dem führende Sozialdemokraten, z. B. Breit-scheid, aber auch führende Liberale, z. B.Georg Bernhard (der frühere Chefredakteurder Berliner Vossischen Zeitung) beitraten.Die Politik der Kommunisten bei diesenVolksfront- und Einheitsbestrebungen warjedoch im grossen und ganzen die gleichewie vor der Niederlage in Deutschland: Sieunterstützten sie mit Worten und sabotier-ten sie, da sie willenlose Werkzeuge Stalinswaren, mit ihren Taten. In unserer ganzenPolitik in dieser Epoche standen wir daherim ständigen Kampf gegen die Kom-munisten, die uns aufs schärfste angriffenund beschimpften“ („Bemerkungen zurVolksfrontfrage und zu den Einheits-bestrebungen in den dreißiger Jahren“ in:AdsD, NL Sternberg). Zu dieser Problematikvgl. auch Berliner Ausgabe, Bd. 1.3 Hs. unterzeichnet.

Nr. 491 Brandt sprach auf einer Fest-veranstaltung in Düsseldorf. Die zentraleFeierstunde zum 100-jährigen Bestehen derSPD fand am 12. Mai 1963 in Hannoverstatt. Dort hatte der Vorsitzende der SPDErich Ollenhauer die Festrede gehalten.2 Richtig: „dato“.3 Brandt zitierte hier eine AussageWilhelm Liebknechts vom achten Ver-handlungstag des Leipziger Hochverrats-prozesses vom 11. bis 26. März 1872. Bebelund Liebknecht waren am 17. Dezember1870 wegen Versuchs der Vorbereitung desHochverrats verhaftet worden. Damitwollte die preußische Regierung die sozial-demokratische Führung politisch lahmle-gen.

564 Anmerkungen S. 287 bis 290

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4 Das Zitat stammt aus der AntrittsredeFriedrich Eberts als Reichspräsident vom11. Februar 1919, in: Musulin, Janko (Hrsg.):Proklamationen der Freiheit, Frankfurt/Main 1959.5 Brandt hatte die Politik der SPD Endeder zwanziger/Anfang der dreißiger Jahrekritisiert, was ihn schließlich im Jahr 1931zum Übertritt in die neugegründete SAPveranlasste. Vgl. Berliner Ausgabe, Bd. 1.6 Löwenthal, Richard: Die Kontinuität derBewegung – 100 Jahre Kampf um die De-mokratie, in: Der Politologe. Berliner Zeit-schrift für Politische Wissenschaft 4 (1963)13, S. 11–17, hier S. 17. Bei der gedrucktenVersion, aus der Willy Brandt zitiert, han-delt es sich um eine leicht überarbeiteteFassung des Festvortrages vom 5. Mai 1963;dessen Originalversion war erschienen in:Beilage zur Berliner Stimme vom 11. Mai1963.7 Zu den Ergebnissen der Landtags-wahlen vgl. Anhang.

Nr. 501 Mit Vermerk: „Gleiche Briefe habenerhalten: [Erich] Ollenhauer, [Martha]Schanzenbach, [Herbert] Wehner, [Klaus]Schütz, [Alfred] Nau, [Hermann] Bortfeldt,[Fritz] Erler, [Egon] Bahr, [Heinrich] Deist,[Kurt] Mattick, Carlo Schmid, Fritz Schäfer,[Erwin] Schoettle“.2 Willy Brandt hielt in der Evangeli-schen Akademie in Tutzing am 15. Juli1963, anlässlich des zehnjährigen Bestehensdes Politischen Klubs der Akademie, einReferat mit dem Titel „Denk ich anDeutschland . . .“, in dem er die Politik derBundesregierung nach der Hälfte der Le-gislaturperiode kritisch bilanzierte; vgl.Vorwärts vom 24. und 31. Juli 1963.3 Strauß hatte am 10. Juli 1963 in derSendereihe „Politik aus erster Hand“ des

Bayerischen Rundfunks ein Interview gege-ben.4 Gemeint ist das III. Deutschland-treffen der SPD vom 29. August bis 1. Sep-tember 1963 in Hamburg. Die dortige RedeWilly Brandts stand unter dem Motto „Anmorgen denken“, in: Die Neue Gesellschaft 11(1964) 1, S. 3–9. Den gleichen Titel trug dieRede Brandts, die dieser aus Anlass seinerWahl zum SPD-Parteivorsitzenden auf demaußerordentlichen Parteitag der SPD in BadGodesberg am 16. Februar 1964 hielt; vgl.Protokoll 1964, S. 45–68.5 In seiner Regierungserklärung am18. Oktober 1963 kündigte der zwei Tagezuvor neu gewählte Bundeskanzler Erhardeine Politik der Mitte und der Verständi-gung an. In der Aussprache über die Regie-rungserklärung am 24. Oktober 1963 er-klärte Fritz Erler für die SPD u. a., dass dieBundesregierung die volle Unterstützungder Opposition haben werde, wenn sie ohnePreisgabe lebenswichtiger deutscher Inte-ressen zu einer Normalisierung der Bezie-hungen zu den osteuropäischen Staaten ge-lange.6 Am 2. Oktober 1963 fand eine Sitzungder SPD-Bundestagsfraktion statt; vgl. Pott-hoff, Heinrich (Bearb.): Die SPD-Fraktion imDeutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle1961–1966. Erster Halbband 1.–72. Sitzung1961–1963, Düsseldorf 1993, S. 326–338. ZuErhard führte Brandt u. a. aus (ebd., S. 328):„Als Bundeskanzler wird dem jetzigen Vize-kanzler [Erhard] der Respekt zuteil werden,auf den er Anspruch hat. Er wird sich aller-dings sagen lassen müssen, daß er die Ver-antwortung für die Versäumnisse undFehlentwicklungen der vergangenen Jahrein vollem Umfang mitträgt. Seine Tätigkeitwird von den Sozialdemokraten nichtdurch eine Parteibrille beobachtet, sondernan den objektiven Erfordernissen gemessenwerden.“

565 Anmerkungen S. 293 bis 302

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7 Die wirtschaftspolitische Konferenzder SPD fand vom 3. bis 5. Oktober 1963 inEssen statt. Sie stand unter dem Leitspruch„Stabilität und Aufstieg“. Als Instrumenteeiner zukünftigen sozialdemokratischenWirtschaftspolitik wurden herausgestellt:Marktwirtschaft, monetäre und fiskalischeGlobalsteuerung sowie Wohlfahrtspolitik.8 Am 21./22. November 1963 fand inDüsseldorf ein außerordentlicher Gewerk-schaftskongress des DGB statt, auf dem einneues Grundsatzprogramm beschlossenwurde.9 Bahr prägte in seiner Rede am 15. Juli1963 in Tutzing die Formel „Wandel durchAnnäherung“, die ab 1969 zum Leitmotivder Ostpolitik der sozialliberalen Koalitionwerden sollte.

Nr. 511 Hs. paraphiert: „Br[andt]“.2 Gemeint ist die nochmalige Kanzler-kandidatur Willy Brandts.3 Widerwillig.4 Hs. paraphiert.

Nr. 521 Briefe mit dem gleichen Wortlaut gin-gen am 2. Januar 1964 an den Innensenatorder Freien und Hansestadt Hamburg,Helmut Schmidt, und den nordrhein-west-fälischen Landtagsabgeordneten Emil Gross(AdsD, WBA, A 6, 41 [alt]). Im Vorfeld hatteBrandt u. a. Briefe von Herbert Wehner(23. Dezember 1963) und Karl Anders(16. Dezember 1963) erhalten, in denen eraufgefordert wurde, die Nachfolge des ver-storbenen Vorsitzenden Ollenhauer anzu-treten; (ebd., Mappe 40 [alt] und Einleitung).2 Auf einer Parteivorstandssitzung derSPD am 13. Januar 1964, die durch den Toddes Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer am14. Dezember 1963 notwendig wurde, be-

schloss der Vorstand, dem außerordentli-chen Parteitag am 15./16. Februar in BadGodesberg vorzuschlagen, Willy Brandtzum Vorsitzenden der SPD und Fritz Erlersowie Herbert Wehner zu seinen Stellver-tretern zu wählen. Gleichzeitig sollteBrandt erneut als Kanzlerkandidat für denWahlkampf 1965 aufgestellt werden. Vgl.auch Einleitung.3 Nicht ermittelt.

Nr. 531 Der von Brandt redigierte Interview-text wurde der Zeitung bereits am 20. Fe-bruar 1964 von Franz Barsig übermittelt;vgl. AdsD, WBA, A 3, 174.2 Vgl. dazu die Reden Brandts „Die Vor-schläge der deutschen Sozialdemokratenzur Erneuerung von Staat, Wirtschaft undGesellschaft“ sowie „Grundzüge des sozial-demokratischen Regierungsprogramms“auf dem Karlsruher Parteitag 1964, in: Pro-tokoll der Verhandlungen des Parteitagesder Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands vom 23. bis 27. November 1964 inKarlsruhe, Hannover-Bonn 1965, S. 129 ff.und 893 ff.; zum Wahlkongress der SPD inDortmund am 14. August 1965 unter demMotto „Ja zur SPD – Ja zu Deutschland“ vgl.Nr. 57.3 Im Januar 1964 hatte die SPD ihrenEntwurf für ein Drittes Wohnungsbau-gesetz (Bundeswohnungsgesetz) dem Bun-destag vorgelegt; vgl. Jahrbuch 1962/63,S. 120 ff.4 Brandt spielte hier auf das Verhaltenvon CDU/CSU im letzten Bundestagswahl-kampf (1961) und in der Folgezeit gegen-über ihm und der SPD an; vgl. Einleitung.

Nr. 541 Das Interview wurde am 25. Septem-ber 1964 ausgestrahlt. Es ist in über-

566 Anmerkungen S. 302 bis 309

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arbeiteter Form auch erschienen in: Gaus,Günter: Zur Person. Porträts in Frage undAntwort, München 1965, S. 31–48. EgonBahr hat in der Retrospektive über diesesInterview gesagt: „Ich erinnere mich sehrgenau an die erste Sendung ,Zur Person‘ dieDu [Günter Gaus] mit Willy Brandt gemachthast, und zwar aus folgendem Grunde: Daswar damals eine andere Sendung als heute.Es gab ja nicht furchtbar viele Fernseh-programme. Jedes dieser Programme wurde– ganz anders als heute – beachtet, gehört,verfolgt. Eine Sendung mit Günter Gauskonnte entscheiden über die Art, in der dieMenschen diesen Interviewten sahen, hör-ten, empfanden, einschätzten; das konnteauch über Wahlen ein wichtiges Wort . . .Ich erinnere mich jedenfalls sehr genau:Wir waren schrecklich aufgeregt, ich waraufgeregt, er [Willy Brandt] war aufgeregt.Wir haben tagelang durchgenommen – waskönnte dieser Gaus fragen, welche Antwor-ten könnte man sich da ausdenken. Aberganz genau ausrechenbar war er [GünterGaus] nicht, und deshalb waren wir aufge-regt“ (Zur Person. Porträts in Frage undAntwort. Egon Bahr im Gespräch mitGünter Gaus, in: ORB-Fernsehen, 21. No-vember 1999).2 Vgl. Protokoll 1960, S. 658–680, hierS. 661.3 Korrigiert aus: „Flexion“.4 Vgl. u. a. Brandt 1994, S. 89.5 Gemeint war, dass Trotzki die UdSSRbereits verlassen hatte.6 Vgl. Brandt 1960, S. 45.7 Vgl. dazu Berliner Ausgabe, Bd. 1 undBd. 2.8 Schumacher sprach sich eindeutig füreine Neugründung der SPD nach 1945 aus.Zur historiographischen Kontroverse indieser Frage vgl. Einleitung Anm. 4.9 Das Zitat stammt aus der Rede „Denkich an Deutschland . . .“, die Willy Brandt

am 15. Juli 1963 anläßlich des zehnjährigenBestehens des Politischen Clubs der Evan-gelischen Akademie Tutzing gehalten hat;vgl. Nr. 49 Anm. 2.10 Brandt 1960, S. 378.11 Ebd., S. 69.12 Richtig: 1938.13 Vgl. dazu u. a. Nr. 35.14 Zu einigen Artikeln, die Brandt wäh-rend des Spanischen Bürgerkriegs als Jour-nalist verfasst hat, Brandt 1966, S. 185–220.15 Richtig: Halvard.16 Vgl. Nr. 5.17 Vgl. Einleitung und Berliner Ausgabe,Bd. 2.18 Vgl. u. a. Nr. 10 sowie Brandt 1994,S. 39 ff. und Einleitung.19 Vgl. Nr. 2.20 Herbert Wehner war von 1949 bisEnde 1966 Vorsitzender des Bundestagsaus-schusses für Gesamtdeutsche Fragen undBerlin.21 Gaus hatte Herbert Wehner in der glei-chen Sendereihe am 8. Januar 1964 befragt.22 AdsD, WBA, A 6, 26 (alt).23 Richtig: Januar 1963.24 Brandt sagte das Gespräch mitChruschtschow ab, nachdem ihm von sei-nem Berliner Koalitionspartner, der CDU,im Falle eines solchen Treffens mit der Auf-kündigung der Koalition gedroht wordenwar. Vgl. Brandt 1976, S. 112 f.25 Am 27. November 1958 hatte die So-wjetunion in Noten an die drei West-mächte, die Bundesrepublik und die DDRden Viermächtestatus für Berlin aufge-kündigt. Die Westmächte wurden aufge-fordert, binnen sechs Monaten aus West-Berlin abzuziehen. West-Berlin solle denStatus einer „freien entmilitarisierten“Stadt erhalten. Die Westmächte wiesen am31. Dezember 1958 diese Forderungen ineiner Note an die sowjetische Regierung als„unannehmbar“ zurück.

567 Anmerkungen S. 311 bis 330

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26 Vgl. Erklärung des Regierenden Bür-germeisters von Berlin, Brandt, 27. Novem-ber 1958, in: Presse- und Informationsamtdes Landes Berlin. Pressedienst des Senatsvon Berlin, Nr. 276 vom 27. November 1958.27 Gemeint ist die Unterzeichnung deszweiten Passierscheinabkommens zwi-schen dem West-Berliner Senat und derDDR-Regierung am 24. September 1964,welches West-Berlinern in der Folge, infestgelegten Zeiträumen, einen Besuch inOst-Berlin ermöglichte.

Nr. 551 Dieses Schreiben gehörte zu einerganzen Serie von Briefen, die Brandt nachdem Karlsruher Parteitag (23. bis 27. No-vember 1964) am 30. November und 1. De-zember 1964 verschickte, um den Adressa-ten für die Mitarbeit und Unterstützungwährend des Parteitages zu danken. Derhier abgedruckte Brief kann als exempla-risch gelten. Weitere Briefe gingen an Hein-rich Braune, Wenzel Jaksch, Günter Klotz,Reinhold Rehs, Hermann Schmitt-Vocken-hausen, Erwin Schoettle und Fritz Sänger(AdsD, WBA, A 6, 44/45 [alt]).2 Zur „Regierungsmannschaft“ der SPDdes Jahres 1965 gehörten: Fritz Erler, GustavHeinemann, Waldemar von Knoeringen,Alex Möller, Ernst Schellenberg, KarlSchiller, Carlo Schmid, Helmut Schmidt,Käte Strobel und Herbert Wehner.3 Bei der Vorbereitung des KarlsruherParteitages hatte Brandt eng mit Schäferzusammengearbeitet. In einem Schreibenvom 22. September 1964 hatte der Vor-sitzende ihm seine inhaltlichen Vor-stellungen mitgeteilt und gebeten, die Vor-lagen für den Parteitag vorzubereiten undmit den jeweiligen Verfassern zu koor-dinieren (Schreiben Brandts an Schäfer,22. September 1964, AdsD, WBA, A 6, 44/45

[alt]). Brandt hatte im Vorfeld die Verab-schiedung eines Manifestes auf dem Partei-tag geplant. Er schrieb dazu an Schäfer(ebd.): „Was wir aus dem Tagesordnungs-punkt ,Grundzüge eines sozialdemokrati-schen Regierungsprogramms‘ machen wol-len, wird noch zu besprechen sein. Wahr-scheinlich wird es auf eine Art Manifestherauslaufen müssen, durch das – gestütztauf die Entschliessungen der Arbeitskreise –die Schwerpunkte für 1965 deutlich ge-macht werden. Ein solches ,Manifest‘ würdein eine Rede eingepackt werden. Es würdeuns die Freiheit lassen, in den kommendenMonaten noch eine Reihe von Einzelfragenzu konkretisieren.“ Brandt stellte auf demParteitag zwar die „Grundzüge eines sozial-demokratischen Regierungsprogramms“vor (Protokoll 1964, S. 895–911), zur Verab-schiedung eines Manifestes kam es aller-dings nicht.

Nr. 561 Vgl. dazu u. a. Nr. 35 und Einleitung.

Nr. 571 Am 19. September 1965 wurde der 5.Deutsche Bundestag gewählt; zum Ergebnisvgl. Anhang.2 Die CDU hatte am 8. August 1965 inDortmund eine große Kundgebung als Auf-takt zur Schlussphase des Wahlkampfesveranstaltet.3 Vgl. Nr. 54 Anm. 27.4 Als am 13. August 1961 die Mauer ge-baut wurde, führte Adenauer seinen Wahl-kampf zunächst fort, als ob nichts Wesent-liches passiert wäre. Er reiste erst am22. August 1961 persönlich nach Berlin,nachdem er vier Tage zuvor im Bundestagin seiner Regierungserklärung den Mauer-bau als „beispiellose Bankrotterklärung“der DDR-Regierung bezeichnet hatte. Dies

568 Anmerkungen S. 330 bis 339

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hielt den Kanzler jedoch nicht davon ab,weiter heftige Attacken gegen Brandt unddie SPD zu führen. Auch die Forderung ausden eigenen Reihen, „er solle aufhören, mitdem Holzhammer in den Wahl-versammlungen dreinzuschlagen“, beein-druckte ihn wenig (Tagebucheintrag Hein-rich Krones, 30. August 1961, in: Krone,Heinrich: Tagebücher. Erster Band: 1945–1961. Bearb. Kleinmann, Otto, Düsseldorf1995, S. 527).5 Vgl. Nrn. 38 und 39.6 Am 16. Oktober 1963 hatte LudwigErhard Konrad Adenauer als Bundeskanzlerabgelöst.7 Ludwig Erhard hatte in einer Wahl-kampfrede im Juli 1965 in Anspielung andie Schriftsteller und Intellektuellen, diesich im Wahlkampf für die SPD engagier-ten, u. a. Rolf Hochhuth als „Pinscher“ be-zeichnet (vgl. Frankfurter Rundschau vom16. Juli 1965). Die Äußerungen Erhards lös-ten einen breiten Sturm der Entrüstung –nicht nur unter Intellektuellen – aus.8 Erhard griff in seinen Reden häufig dieGewerkschaften an, so auch während desWahlkampfes 1965. In einer dieser Reden inLudwigshafen im August 1965 sagte er u. a.:„Es wird immer Interessen geben. Es istauch legitim, sie zu vertreten. Wenn ich ge-gen die Gewerkschaftsfunktionäre spreche,die mit äußerster Macht sogar Einfluß aufden Staat gewinnen wollen, dann meine ichdie Gewerkschaftsbosse – und ich meinenicht die Gewerkschaften“ (Fundstelle:Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn).9 Nicht ermittelt. Zur Kriegsopferfragehatte Erhard sich u. a. in einer Rundfunkan-sprache vom 9. Dezember 1963 im Deutsch-landfunk geäußert und die Politik der SPD indiesem Punkt kritisiert: „Hier wird der klareVersuch unternommen, die Kriegsopfer-frage für billigste machtpolitische Manipu-lationen zu mißbrauchen.“

10 Vgl. Nr. 55 Anm. 2.11 Am 8. Januar 1965 hatte die Regie-rungsmannschaft der SPD auf der Grund-lage der Beschlüsse des Karlsruher Partei-tages von 1964 die Grundzüge sozialdemo-kratischer Regierungspolitik festgelegt.12 Brandt hatte gesagt: „Der Sieg von1965 ist noch nicht sicher; aber sicher ist,daß wir siegen können!“ (Protokoll 1964,S. 899).

Nr. 581 Das Protokoll gibt die Beiträge derRedner in indirekter Rede wieder.2 Zum Wahlergebnis der Bundestags-wahl 1965 vgl. Anhang.3 Die Nachwahlen erfolgten am 3. Ok-tober 1965 in den Wahlkreisen 135 (Ober-taunus) und 236 (Schweinfurt). Im Ober-taunuskreis gewann die SPD mit 42,5 Pro-zent, in Schweinfurt erreichte sie nur 30,2Prozent. Die Nachwahlen waren erforder-lich, weil in den beiden Kreisen kurz vordem Termin der Bundestagswahl je einKandidat ausfiel. Im Obertaunuskreis warder Kandidat der AUD und in Schweinfurtder Kandidat der DFU verstorben.4 Vgl. Protokoll der SPD-Konferenz vom25. September 1965 in Bad Godesberg zurAuswertung des Wahlkampfes, in: AdsD,SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle Septem-ber 1965 – März 1966, Teil I.5 Ein Gespräch zwischen Brandt unddem Bundespräsidenten Lübke hatte aufdessen Initiative hin am 21. September 1965stattgefunden; vgl. Schreiben Lübkes anBrandt, 16. September 1965, in: AdsD, WBA,A 11 (Allgemeine Korrespondenz), 12.6 Das Protokoll der Vorsitzendenbespre-chung am 21. September 1965 hatte zu die-sem Punkt festgehalten (SPD-Parteivor-stand, PV-Protokolle September 1965):„Brandt: teilt mit, dass er Klaus Schütz be-

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auftragt habe, mit Mende Verbindung auf-zunehmen. Er habe diesen Schritt getan,nicht weil er die Hoffnung gehabt habe, mitder FDP zu einem Arrangement zu kom-men, sondern nur um festzuhalten, dass esauch diesen Kontakt gegeben habe, damitnicht später jemand sagen könne, man habemit der FDP eine Koalition bilden können.Schütz habe mit Mende gesprochen undgesagt, dass ,Willy Brandt‘ ihn nicht in Un-annehmlichkeiten bringen wolle und des-halb das Gespräch nicht persönlich führe.Wenn er (Mende) jedoch den Wunsch habemit ,Willy Brandt‘ zu sprechen, sei er zueiner solchen Unterhaltung bereit. Mendehabe – wie erwartet – reagiert. Er sei dank-bar für den Schritt, aber halte eine solcheUnterhaltung nicht für opportun.“7 Beide nahmen ihr Mandat an.8 Vgl. dazu Nr. 54 Anm. 27.9 Vgl. Einleitung.10 In den drei Dortmunder Wahlkreisenlegte die SPD bei der Bundestagswahl zwi-schen vier und sechs Prozent zu und lag da-mit nicht nur weit über dem Bundes-, son-dern auch über dem Landesdurchschnittvon Nordrhein-Westfalen. Das höchste Er-gebnis erzielte die SPD im Wahlkreis Dort-mund II mit 60,1 Prozent.11 Der Wahlkampf der SPD wurde durchSchriftsteller und Intellektuelle im so ge-nannten „Wahlkontor deutscher Schrift-steller“ unterstützt. Dieses existierte vonJuli bis September 1965 mit dem Ziel, durchdie Zusammenarbeit mit einigen führendenSozialdemokraten den Wahlkampf der Par-tei nicht nur zu unterstützen, sondern auchattraktiver zu machen. Dazu zählten etwadie von Günter Grass initiierten Wahl-kampfveranstaltungen für die SPD. Vgl.Nr. 61 und Einleitung.12 Vgl. dazu Nr. 64.13 Brandt sprach vor dem 8. OrdentlichenGewerkschaftstag der IG Metall am 6. Sep-

tember 1965 in Bremen (AdsD, WBA, A 3,217). Dabei betonte er einerseits die Not-wendigkeit einer Zusammenarbeit zwi-schen Gewerkschaften und SPD, anderer-seits machte er deutlich, dass die SPD keineGewerkschaftspartei sei und im Falle einerRegierungsübernahme das ganze Volk ver-treten werde. Darüber hinaus ging Brandtauf die zwischen SPD und Gewerkschaftenkontrovers diskutierte Frage der Notstands-gesetze ein. Er verteidigte die Notwendig-keit, „Vorsorge“ zu treffen, allerdings werdedie SPD darauf achten, dass die Rechte derArbeitnehmer in „etwaigen Notzeiten“ ge-sichert seien.14 Vgl. dazu Anhang.15 Im Juni 1965 hatte der nieder-sächsische Landtag mit den Stimmen derSPD ein Schul- und Hochschulkonkordatmit dem Vatikan abgeschlossen. Danachwurde die christliche Gemeinschaftsschuleals Regelschule sowie die Beibehaltung undErrichtung katholischer Bekenntnisschulenfestgelegt.16 Vgl. dazu Anhang.17 Vgl. Nr. 59.18 Vgl. dazu Anhang.19 Die Auseinandersetzung betraf das sogenannte „Gag-Festival“, eine Ausstellungvon antikirchlichen Karikaturen im Herbst1964 im Berliner Haus am Lützowplatz, de-ren Veranstalter auch führende Berliner So-zialdemokraten waren. Diese Ausstellungnahm die katholische „Neue Bildpost“ imWahlkampf zum Anlass, um gegen die SPDzu polemisieren und ihr eine antikirchlicheHaltung zu unterstellen. Daraufhin stelltedie Partei ihrerseits gegen die Zeitung Straf-antrag „wegen übler Nachrede zum Nach-teil der SPD und wegen Gotteslästerung“.Vgl. dazu u. a. Rheinischer Merkur vom15. Oktober 1965.20 Richtig hier und im Folgenden:Hansing.

570 Anmerkungen S. 346 bis 352

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21 Vgl. dazu Anhang.22 Vermutlich gemeint: umgeben.23 Das Kommuniqué hatte folgendenWortlaut (SPD Pressemitteilungen und In-formationen, Nr. 580/65 vom 22. September1965): „[. . .] Der Vorstand hat seinem Vor-sitzenden Willy BRANDT für seine ein-drucksvolle Leistung im Bundestagswahl-kampf 1965 gedankt, die entscheidend dazubeigetragen hat, das Vertrauen von 12,4Millionen Wählern zu gewinnen. Ein-stimmig hat der Vorstand der SPD seinemVorsitzenden das uneingeschränkte Ver-trauen für die weitere Zusammenarbeit un-ter seiner bewährten Führung aus-gesprochen. Die Entscheidung des SPD-Vor-sitzenden Willy BRANDT, sein Amt alsRegierender Bürgermeister von Berlin fort-zuführen und dort staatliche Verant-wortung zu tragen, wird vom Vorstand derSPD akzeptiert.“24 Bei der Konferenz handelte es sich umein Zusammentreffen der SPD-Spitzen-gremien am 25. September 1965 in Bad Go-desberg mit dem primären Ziel, das Wahl-ergebnis zu analysieren und notwendigeKonsequenzen daraus abzuleiten. Zur dorti-gen Rede Brandts vgl. SPD Pressemitteilun-gen und Informationen Nr. 584/65 vom 25.September 1965.

Nr. 591 Mit Vermerk: „Abschrift“.2 Die Pressekonferenz fand – nach derPV-Sitzung – vermutlich am späten Nach-mittag im Bundeshaus statt. Die genaueUhrzeit ließ sich nicht mehr ermitteln. Un-gewöhnlich war daran, dass die Presse-konferenz erst nach Redaktionsschluss vie-ler Tageszeitungen abgehalten wurde. Dieerste im WBA überlieferte dpa-Tickermel-dung ist mit 18.30 Uhr datiert.3 Vgl. Nr. 58.

4 Im November 1965 standen in Baden-Württemberg und im März 1966 in Schles-wig-Holstein Kommunalwahlen an, am27. März 1966 in Hamburg Bürgerschafts-wahlen.5 Vgl. Nr. 58.6 Vgl. Anhang.7 Vgl. dazu auch Nr. 59A. Den im Jahr1965 von Brandt ausgesprochenen Verzichtauf eine weitere Kanzlerkandidatur hat die-ser auch in seinen autobiographischenWerken verarbeitet. Hier steht im Mittel-punkt, dass er – neben dem nicht erreichtenWahlziel für die SPD – vor allem wegen derständigen Verleumdungskampagnen, die erweder sich noch seiner Partei weiterhin zu-muten wollte, von einer weiteren Kandida-tur Abstand genommen habe. Darüber hin-aus widersprach er mit Nachdruck der da-mals kolportierten Annahme, dass seineFrau Rut ihn nach der Wahl aufgeforderthabe, sich aus der Politik zurückzuziehenund wieder nach Norwegen zu gehen. Vgl.u. a. Brandt 1976, S. 168 f.; ders. 1994, S. 262.8 Zum Wortlaut des Kommuniqués vgl.Nr. 58 Anm. 22.9 Vgl. Einleitung.10 Brandt postulierte in seiner Dankes-rede nach seiner Wahl zum SPD-Kanzler-kandidaten auf dem Parteitag 1960 in Han-nover die so genannte „Gemeinsamkeits-politik“. Zur Frage der „Aussöhnung“ führteer u. a. Folgendes aus: „Unser Volk muß sichmit sich selber aussöhnen. Wir müssen ge-wiß unterscheiden zwischen Schuld undIrrtum. Jeder von uns weiß um die schreck-lichen Verbrechen der Vergangenheit. Wirwissen aber auch, wieviel Idealismus ver-braucht worden ist, und es gibt niemanden,der frei ist von Fehlern, und jeder solltenach seiner Schuld oder seinem Versagensuchen, bevor er auf den andern mit demFinger zeigt. In diesem Geist müssen wiruns mit der Vergangenheit auseinander-

571 Anmerkungen S. 352 bis 357

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setzen, indem wir sie anerkennen mit al-lem, was sie ausmacht“ (Protokoll 1960,S. 658–680, hier S. 678).11 In der Vorlage fehlt: „Erstens“.12 Vgl. Nr. 58 Anm. 23.

Nr. 59A1 Vgl. dazu Nr. 31A Anm. 1.2 Zu den Wahlergebnissen vgl. Anhang.3 Vgl. Einleitung.4 Eine verzögerte Reaktion.5 Auslassung in der Vorlage.6 Anspielung auf die gesundheitlichenProbleme Brandts nach der Bundestagswahl1965.7 Korrigiert aus: „65“.8 Ich hatte keinen Ehrgeiz mehr.

Nr. 601 Die Rede ist in Auszügen auch im Vor-wärts vom 27. Oktober 1965 veröffentlicht.Außerdem berichtete u. a. Die Zeit vom22. Oktober 1965, unter dem Titel „Derbeste Willy, den es seit langem gab“, überdie Rede.2 Zum Ergebnis der Bundestagswahlenvom 19. September 1965 vgl. Anhang.3 Die Berliner Abgeordneten im Bun-destag wurden laut Wahlgesetz nicht di-rekt, sondern vom Abgeordnetenhaus ge-wählt. Zu dem Ergebnis der Berliner Abge-ordnetenhauswahl vom Februar 1963 vgl.Anhang.4 SPD und FDP verfügten im Bundestag(ohne die Berliner Sitze) über eine Mehrheitvon sechs Sitzen.5 Am 19. November 1962 waren im Zu-sammenhang mit der Spiegel-Affäre fünfFDP-Minister von ihrem Posten zurück-getreten. Strauß, der einen Großteil der po-litischen Verantwortung für die Affäre trug,stellte sein Amt als Verteidigungsministeram 30. November 1962 zur Verfügung.

6 Vgl. Nr. 58 Anm. 6.7 Dies ist eine Anspielung auf die DPund den BHE, die bis 1957 im DeutschenBundestag vertreten waren.8 Vgl. u. a. Der Verzicht Willy Brandts,in: Die Welt vom 24. September 1965;Brandts Entscheidung und die SPD, in: Süd-deutsche Zeitung vom 24. September 1965;Spekulationen über Brandts Entschluß, in:Stuttgarter Zeitung vom 24. September 1965;Der Entschluß Willy Brandts, in: Handels-blatt vom 24./25. September 1965 sowie DieRückkehr des Bürgermeisters in seine Stadt,in: Frankfurter Allgemeine vom 27. Septem-ber 1965.9 Vgl. Nr. 58.10 Am 9. Juni 1965 trat Paul Nevermannvom Amt des 1. Bürgermeisters der Freienund Hansestadt Hamburg zurück, das ererst Ende 1962 von Max Brauer über-nommen hatte. Sein Nachfolger wurdeHerbert Weichmann. Wilhelm Kaisenwurde am 20. Juli 1965 als Präsident desBremer Senats von Willi Dehnkamp abge-löst.11 Indien und Pakistan befanden sich seitdem 5. August 1965 im Kriegszustand.12 Auf der Konferenz des Präsidiums zuFragen der Auswertung des Wahlkampfes1965 am 25. September 1965 in Bad Godes-berg hatte Brandt zu diesem Punkt aus-geführt „daß eben einmal und nicht we-niger deutlich als das vorige Mal sich ge-zeigt hat, wie unterschiedlich sich dieFrauenstimmen auf die großen Parteienverteilen, und die erneute Überlegung, obund was geschehen kann, um das, was ichden Abbau von Vorurteilen und das Ge-winnen von Vertrauen [nenne,] gerade auchbei den weiblichen Wählern noch stärkerNiederschlag finden lassen [kann.]“ (AdsD,SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle Septem-ber-Dezember 1965).13 Vgl. Nr. 58 Anm. 13.

572 Anmerkungen S. 358 bis 370

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Nr. 611 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/ Sen[ator] Schiller“.2 Dort wohnte die Familie Brandt zudieser Zeit in Berlin.3 Es handelt sich um die „Rede über dasSelbstverständliche“, die Grass zur Verlei-hung des Georg-Büchner-Preises am 9. Ok-tober 1965 in Darmstadt gehalten hatte; in:Grass, Günter: Essays und Reden I: 1955–1969, Göttingen 1997, S. 147–163.4 Vgl. Nr. 58 Anm. 11 und Einleitung.

Nr. 621 Schmidt hatte Brandt ein langesSchreiben mit Datum 8. und 11. Oktobergeschickt (AdsD, WBA, A 6, 48/49 [alt]), indem er Brandt seine Sympathie bekundeteund sich – nach dem Verzicht Brandts aufeine weitere Kanzlerkandidatur – über dieEntwicklung an der Parteispitze Gedankenmachte. Schmidt schrieb u. a.: „So sehr manals Mann auch über das Jünglingsalter he-raus einer Frau Briefe der Liebe schreibenmag, so sehr zögert man meist – jedenfallsin unserem Jahrhundert – einem Freundeseine Freundschaft anders darzutun alsdurch Handeln oder Unterlassen. Trotzdem,Willy (nun ohne Rücksicht auf die Gefahrpathetischer Pose): dies ist ein Brief der tie-fen Freundschaft + zugleich des Respektes.Ich habe in den letzten 14 Tagen vielfachgesagt, Du seiest der beste Mann, den unserePartei zur Verfügung hat. Das meine ichauch so. Und ich habe von Deiner großenmenschlichen + politischen Autorität überden ganzen Kreis der uns zugehörigenMenschen gesprochen, die ein heute nochunschätzbares Kapital sei – das meine ichebenfalls so. [. . .] Zum Schluß: niemand vonuns übrigen hätte in diesen fünf Jahren seitHannover [Parteitag 1960] Partei + Demo-kratie in Deutschland auch nur annähernd

so weit bringen können, wie es Dir ge-lungen ist.“2 Schmidt war auf der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion am 20. Oktober 1965 fürdie Wahl zum stellvertretenden Fraktions-vorsitzenden nominiert worden. Am 3. No-vember 1965 wurde er in das Amt gewählt.

Nr. 631 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/Egon Bahr, Herbert Wehner, BrunoNaumann“.2 Matthias Walden hatte am 21. No-vember 1965 in der Quick eine Kolumne mitdem Titel „Die Legende einer Niederlage“veröffentlicht; vgl. Quick Nr. 47 vom 21. No-vember 1965. Brandt lag offensichtlich einVorabdruck vor. Walden wandte sich darinmit Nachdruck gegen die Diffamierung vonEmigranten, die Deutschland zwischen1933 und 1945 verlassen mussten, im All-gemeinen und von Willy Brandt im Beson-deren. „Wer Willy Brandt nicht wählte, weilWilly Brandt vor Hitler und gegen Hitlernach Norwegen emigrierte, hat sich damitselbst disqualifiziert bis in die finsterenWinkel politischer Vor- und Fehlurteile“(ebd.).3 Walden hatte u. a. geschrieben: „Eswar damals zwischen 1933 und 1945 ehren-hafter für einen Deutschen, eine norwegi-sche Uniform zu tragen als eine braunedeutsche oder eine schwarze deutsche oderauch in vielen Fällen eine feldgraue deut-sche“ (ebd.).4 Walden hatte zu diesem Punkt aus-geführt: „Die Analyse des Wahlergebnissesmündete für sehr viele der SPD-,Analytiker‘bald nur noch in das eine, böse, schmäh-liche Motiv, wenn es darum ging, zu erklä-ren, warum Brandt nicht Kanzler gewordenoder die Partei mit ihm nicht wenigstensüber die 40-Prozent-Hürde gesprungen war:

573 Anmerkungen S. 372 bis 375

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Der norwegische Uniformrock soll die Ur-sache, der deutsche Wähler in all seinerVoreingenommenheit soll Schuld gewesensein. Mit Hilfe dieser Legende spinnen undpuppen sich viele SPD-Leute und mancheihrer intellektuellen Freunde schmollendein“ (ebd.).5 An diesem Tag hatte die Bundestags-wahl des Jahres 1965 stattgefunden.

Nr. 641 Am Textende vermerkt: „D[urch-schlag] Fritz Erler, Herbert Wehner, AlfredNau, Ludwig Rosenberg, Georg Leber.“2 Auf persönliche Einladung Brandtsvom 11. Dezember 1965 hatte Brenner am29. Januar 1966 in der Heimvolkshoch-schule der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berg-neustadt einen Vortrag zum Thema „ZurAufgabe sozialdemokratischer Arbeits-gemeinschaften“ gehalten. Die folgendenZitate stammen, sofern nicht anders ver-merkt, aus dieser Rede (AdsD, IG-Metall-Ar-chiv, Vorstand Sign. 1–2 2155).3 Vgl. Nr. 58.4 In Ansätzen ist diese Problematikschon in Diskussionen nach der Verab-schiedung des Erfurter Programms von1891 zu finden. In der Weimarer Republikwurde die Frage nach einer Öffnung derSPD für neue Wählerschichten weiter-geführt, wie das Görlitzer Programm von1921 zeigt.5 Der entsprechende Beschluss des Par-teitages lautete: „Der Parteitag fordert denParteivorstand auf, die Tätigkeit der Be-triebsgruppen noch mehr als bisher zu för-dern. Betriebsarbeit ist Parteiarbeit. 1. DieBetriebsarbeit ist wesentlicher Bestandteilunserer Parteiarbeit. Sie kann und darf vonder Gesamtpartei nicht mehr übersehenwerden. Nach wie vor hat die SPD ein gro-ßes Reservoir in der Arbeitnehmerschaft.

Alle Parteigliederungen haben deshalb dieVerpflichtung, diese Arbeit zu unterstützen,dort, wo sie bereits vorhanden ist, weiterauszubauen oder, wo sie noch nicht besteht,mit allem Nachdruck zu beginnen. 2. DieZusammenfassung sozialdemokratischerGewerkschafter in Sozialen Arbeitsgemein-schaften muß in Zukunft stärker gefördertwerden. Die SAGs müssen als das wichtigsteVerbindungsglied zwischen Partei und Ge-werkschaften wirksam werden. Die Bildungdieser Arbeitsgemeinschaften hat auf allenOrganisationsebenen der Partei zu erfolgen.Für die bessere Zusammenarbeit mit demParteivorstand ist es zweckmäßig, regel-mäßige Zusammenkünfte zwischen Be-triebs- und Gewerkschaftsfunktionärendurchzuführen, um einen echten Mei-nungs- und Erfahrungsaustausch zu haben.3. Eine intensive Betriebsarbeit ist nurmöglich, wenn regelmäßige Schulungender Betriebsfunktionäre durchgeführt wer-den. Hierzu ist ebenfalls die volle Unter-stützung vom Parteivorstand zwingend er-forderlich und notwendig.“ (Protokoll 1958,S. 505).6 Am 24. April 1959 verabschiedete derParteivorstand der SPD die „Richtlinien fürdie Betriebsgruppenarbeit“. Sie legten fest,dass in Klein- und Mittelbetrieben die SPDdurch einen politischen Vertrauensmannsowie in Großbetrieben durch sozial-demokratische Betriebsgruppen vertretenwerde. Letztere umfassten alle sozial-demokratischen Betriebsangehörigen. Sietraten regelmäßig zu Sitzungen zusammenund wählten eine Leitung. Hauptzweck derBetriebsgruppenarbeit war es, die Arbeit-nehmer über das „Wollen der SPD“ auf-zuklären.7 Gemeint war die für den DortmunderParteitag im Juni 1966 vorgesehene Arbeits-gemeinschaft C „Mitgliederpartei, Massen-medien und Verbände“.

574 Anmerkungen S. 375 bis 379

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8 Der Dialog zwischen Brandt undBrenner geriet jedoch offenbar ins Stocken.Der Gewerkschaftschef antwortete erst am12. August 1966 auf Brandts Schreiben.

Nr. 651 Das Schreiben wurde u. a. veröffent-licht in: Vorwärts vom 18. Mai 1966; BerlinerStimme vom 21. Mai 1966.2 Anspielung auf den geplanten Red-neraustausch zwischen SPD und SED: Ver-treter der SPD sollten auf einer öffentlichenVeranstaltung in Chemnitz, dem damaligenKarl-Marx-Stadt, Repräsentanten der DDR-Staatspartei in Hannover auftreten. Vgl.dazu auch Nr. 66.3 In der „Offenen Antwort der SPD“ vom18. März 1966 (veröffentlicht auch im NeuenDeutschland vom 26. März 1966) auf den„Offenen Brief an die Delegierten des Dort-munder Parteitages“ des ZK der SED hattedie SPD sieben Fragen gestellt: 1. „Wie solldenn in Deutschland offen und unbefangendiskutiert werden, wenn auf Menschen ge-schossen wird, weil sie aus dem durch Mi-nenfelder, Mauer und Drahtverhaue abge-trennten Teil ihres deutschen Vaterlandesausbrechen wollen? Oder weil sie einfachnur von Deutschland nach Deutschlandwollen – zu ihren Angehörigen, ihrenFreunden, ihren Landsleuten?“ 2. „Ist dieSED bereit, nicht nur ausgewählten Funk-tionären, sondern jedem Mitglied ihrer Par-tei und allen ,Bürgern der DDR‘ – nicht nurRentnern, sondern auch jüngeren Men-schen – zu erlauben, die Bundesrepublik zubesuchen und sich ein eigenes Urteil überdie tatsächliche Lage zu verschaffen?“ 3. „Istdie SED bereit, im Bereich ihrer Verant-wortung dazu beizutragen, daß den Men-schen im gespaltenen Deutschland das Le-ben leichter gemacht wird?“ 4. „Ist die SEDbereit, ihre feindselige und schikanöse Hal-

tung gegenüber Berlin aufzugeben?“ 5. „Istdie SED zu einer freimütigen Diskussion inbeiden Teilen Deutschlands bereit?“ 6. „Istdie SED bereit, das Spielen mit dem Kriegeaufzugeben?“ 7. „Will sich die SED fürpraktische Erleichterungen im geteiltenDeutschland einsetzen?“ (Tatsachen – Ar-gumente, Nr. 189/1966).4 Unterschrift faksimiliert.

Nr. 661 Das Schreiben wurde u a. veröffent-licht in: Jahrbuch der SozialdemokratischenPartei Deutschland 1966/67, Bonn o. J.,S. 341–343.2 Das Protokoll der Sitzung vermerkteu. a.: „Wehner geht auf die Diffamierungendurch die SED – insbesondere durch Norden– ein und schildert nochmals das Rück-zugsgefecht der SED vom Redneraustausch.Er unterstreicht, dass es uns bei der Ausein-andersetzung nicht allein um den Redner-austausch ging. Es müsse jetzt heraus-gestellt werden, was die SPD bereits in derAuseinandersetzung erreicht habe und dasses jetzt nicht zurückgehen könne in die Zeitvor Beginn des Dialogs. [. . .] Ausserdemmüsse deutlich gemacht werden, wo dieschwachen Seiten der SED sind. Die Parteimüsse begreifen, was uns die SED verwei-gert habe“ (AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle 1966/2).3 Die SPD-Führung hatte mit ihrer „Of-fenen Antwort“ vom 18. März 1966 als Re-aktion auf den „Offenen Brief der SED“ vom7. Februar 1966 erstmals seit 1946 auf einen(Offenen) Brief der SED geantwortet.4 Es handelte sich dabei um den ein-stimmig vom Parteitag angenommen An-trag B 66 des Parteivorstandes; vgl. Protokollder Verhandlungen des Parteitages der So-zialdemokratischen Partei Deutschlands

575 Anmerkungen S. 380 bis 383

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vom 1. bis 5. Juni 1966 in Dortmund, Bonno. J., S. 1049.5 Die endgültige Neufassung der Richt-linien wurde am 18. März 1967 von PV, PRund Kontrollkommission beschlossen (vgl.Jahrbuch 1966/67, S. 370–372). Darin hießes u. a.: „Grundsatz: Die Sozialdemokratielehnt jede organisatorische und politischeBeziehung zu kommunistischen Organisa-tionen, besonders zur SED ab. Sie hat immerwieder davor gewarnt, sich von Kom-munisten für deren propagandistischeZwecke mißbrauchen zu lassen. Dies ist beiReisen in kommunistisch regierte Länderzu beachten“ (ebd., S. 370).6 Vgl. den „Dritten Offenen Brief“ derSED an die SPD, 25. März 1966, und „ZweiteOffene Antwort der SPD“, 14. April, in: Tat-sachen – Argumente, Nr. 197, 1966, S. 11.7 Unterschrift faksimiliert.

Nr. 671 Der von Brandt selbst hs. redigierteund grundsätzlich überarbeitete Text(AdsD,WBA, A 3, 242) des Interviews wurdeauch veröffentlicht in: SPD Pressemittei-lungen und Informationen, Nr. 531/66,3. November 1966.2 Vgl. Einleitung.

Nr. 681 Schreiben mit gleichem Wortlaut gin-gen am selben Tag an: den CSU-Vor-sitzenden, Strauß, den FDP-Vorsitzenden,Mende, den Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Barzel,sowie den Vorsitzenden der FDP-Fraktionim Deutschen Bundestag, Freiherr vonKühlmann-Stumm. Darüber hinaus erhieltder christ-demokratische Ministerpräsidentdes Landes Baden-Württemberg und desi-gnierte Kanzler-Nachfolger Kiesinger eine

Durchschrift zur Kenntnisnahme (AdsD,WBA, A 11, ungeordneter Bestand).2 Auf einer gemeinsamen Sitzung vonSPD-Partei- und Fraktionsvorstand am11. November 1966 wurde u. a. beschlossen,den Vorsitzenden der im Bundestag ver-tretenen Parteien und ihren Fraktionen ge-meinsame Beratungen über die Notwendig-keiten einer gemeinsamen Innen- und Au-ßenpolitik vorzuschlagen.3 Vgl. dazu ausführlich Einleitung.

Nr. 691 Der Briefwechsel zwischen GünterGrass und Willy Brandt wurde auf Anre-gung von Günter Grass veröffentlicht; vgl.Der Abend vom 29. November 1966; Vor-wärts vom 30. November 1966. Zum Schrei-ben Brandts vgl. Nr. 70.2 Grass spielte hier auf sein Engagementfür die SPD in den Wahlkämpfen der Jahre1961 und 1965 an; vgl. Einleitung undNr. 61.3 Hs. unterzeichnet.

Nr. 701 Vgl. Nr. 69.2 Auf dieses Schreiben antwortete Grassnoch am gleichen Tag (AdsD, A 11, unge-ordneter Bestand): „Meine Warnung habeich ausgesprochen; Sie haben diese War-nung bestätigt. Uns allen, die wir außerhalbstehen, fehlt es an der Macht, die sich an-bahnende, und wie ich meine, unglücklicheEntwicklung zu verhindern. [. . .] Sie aberhaben es immer noch in der Hand, dieseLiaison, die sehr bald herabschätzend ,dieGroße Kumpanei‘ genannt werden wird, zutrennen, bevor sie sich paart. Wenn es aberwahr ist, daß die Große Koalition nicht zuverhindern ist, sollten Sie wenigstens eineGroße Koalition fordern, die den Mehr-heitsverhältnissen im Bundestag ent-

576 Anmerkungen S. 385 bis 392

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spricht. [. . .] Die SPD ist die größte Partei.Sie ist in sich gefestigt und in der Lage, ihralternatives Programm zu verwirklichen.Also hat sie die Aufgabe, den Bundeskanzlerzu stellen. [. . .] Dieses sollte klar aus-gesprochen werden: Der ehemalige Ver-teidigungsminister F. J. Strauß kann niewieder Minister werden.Wer das Parlamentbelügt, wer, wie Strauß während der Kuba-Krise, im Zustand der Volltrunkenheit seineAufgabe als Verteidigungsminister wahr-zunehmen versucht, der darf in unsremLand keine politische Verantwortung mehrtragen. Es mag sein, daß die Hektik derVerhandlungen den Überblick trübt. Dieallgemeine Ermüdung fordert hastige Ent-schlüsse. Ich schreibe Ihnen ausgeruht undbei aller Anspannung gelassen: Über-spannen Sie nicht den Bogen des Zumut-baren, es könnte die SPD daran zerbrechen,es könnte damit unsrem Land unheilbarerSchaden zugefügt werden.“

Nr. 711 Das Schreiben wurde u. a. veröffent-licht in: Vorwärts vom 7. Dezember 1966.2 Vgl. Nr. 61 Anm. 4.3 Brandt spielte hier auf die in der Mit-gliedschaft und unter vielen Journalisten,Künstlern und Intellektuellen verbreiteteKritik an; vgl. Einleitung. Vor allen Dingendie Tatsache, dass das einstige NSDAP-Mit-glied Kiesinger als Bundeskanzler undFranz Josef Strauß als Minister der Regie-rung angehörten, gab Anlass zur Kritik.Auch Brandt persönlich wurde wegen sei-ner Zustimmung zur Großen Koalition an-gegriffen, da er sich lange – im Gegensatz zuWehner – gegen ein solches Bündnis aus-gesprochen hatte. Vgl. dazu auch Nr. 69.Die innerparteiliche Auseinandersetzungüber die Große Koalition erlebte auf dem

SPD-Parteitag im März 1968 noch einmaleinen Höhepunkt; vgl. dazu Nr. 81.4 Unterschrift faksimiliert.

Nr. 721 Die Broschüre ist eine aktualisierteNeuauflage, die unter dem gleichen Titelbereits im Wahlkampf des Jahres 1961 vonder SPD verteilt wurde. Dieses Heft wurdeerneut im Wahlkampf des Jahres 1969 ein-gesetzt.2 Unterschrift faksimiliert.

Nr. 731 Mit Vermerk: „Willy Brandt, Vor-sitzender der SPD, zum Abschluß der 3-tä-gigen Bundeskonferenz der SPD in Bad Go-desberg.“ Bei der Vorlage handelt es sich umeine Abschrift des Interviews, das die Abtei-lung im BPA angefertigt hat. Am gleichenTag gab Brandt ein weiteres Interview zumThema für die ZDF-Sendung „Themen desTages“ (AdsD, WBA, A 3, 263). Die SPD hieltvom 13.–15. November 1967 in Bad Godes-berg eine Bundeskonferenz zum Thema„Die Sozialdemokraten in der Regie-rungsverantwortung“ mit 870 Teilnehmernab. Diese Konferenz sollte keine Beschlüssefassen, sondern der Diskussion innerhalbder SPD dienen. In Arbeitsgemeinschaftenwurden zentrale Themen wie die Wirt-schafts- und Bildungspolitik sowie die Not-standsgesetze und Generationsfragen dis-kutiert.2 Vgl. Einleitung, Nrn. 69 und 81.3 Vgl. Anhang.4 Brandt hatte auf der Bundeskonferenzam 13. November 1967 ein Referat zumThema „Deutschland heute: Gesellschaft-liche Interessen und politische Aufgaben“gehalten.5 Vgl. Nr. 68.

577 Anmerkungen S. 392 bis 401

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6 Wehner hielt auf der Konferenz am14. November 1967 eine Rede zum Thema„Die geistige und politische Wirklichkeit –Zur Diskussion mit der jungen Generation.“

Nr. 741 Vermerk: „Sperrfrist: Freitag, 5. Januar1968 – 20.00 Uhr“.2 Der Parteitag fand vom 17. bis 21. März1968 statt.3 Vgl. dazu u. a. Ehmke, Horst (Hrsg.):Perspektiven. Sozialdemokratische Politikim Übergang zu den siebziger Jahren, Rein-bek 1969. Am 9. Januar 1968 beschloss derParteivorstand den Entwurf „Sozialdemo-kratischer Perspektiven im Übergang zuden siebziger Jahren“, der dem Parteitag1968 in Nürnberg vorgelegt und dort miteinigen Veränderungsvorschlägen verab-schiedet wurde. Die „Perspektiven“ warennicht als ein Programmersatz gedacht, son-dern als tagespolitische Richtlinie. In den„Perspektiven“ wurden vor allem die vonder SPD als nötig erachteten innen-politischen Reformen der bundesdeutschenGesellschaft dargelegt.

Nr. 751 Gemeint ist der Bundesparteitag derSPD vom 17. bis 21. März 1968 in Nürnberg.2 Die Absicht des Parteivorstands, sichdie Entscheidung zum Eintritt in die GroßeKoalition durch ein Parteitagsvotum imNachhinein bestätigen zu lassen, rief auchdie innerparteilichen Gegner auf den Plan.Der von dreißig Delegierten aus verschiede-nen Parteibezirken eingebrachte Antrag389, der darauf abzielte, das Vorhaben desPV zu durchkreuzen, scheiterte mit 143 zu147 Stimmen denkbar knapp; vgl. Protokoll1968, S. 251 f.3 Vgl. Anhang.

4 Gemeint sind hier nicht die ge-walttätigen Demonstrationen von Anhän-gern der Studentenbewegung im Umfelddes Parteitages, sondern die Auseinander-setzungen zwischen dem „linken“ und„rechten“ Flügel der SPD. Im Laufe desNürnberger Parteitages kam es zwischeneinzelnen Delegierten sowohl zu Hand-greiflichkeiten als auch zu heftigen ver-balen Attacken. Vgl. u. a. Der Spiegel vom25. März 1968; Frankfurter Allgemeine vom18. März 1968.

Nr. 761 Schreiben desselben Inhalts gingen analle sozialdemokratischen Ministerpräsi-denten, Innenminister und Justizministerder Länder sowie Oberbürgermeister; vgl.AdsD, WBA, A 11, ungeordnet.2 Vgl. Nr. 76A. Gemeint ist das Attentatauf Rudi Dutschke am 11. April 1968, indessen Folge es in zahlreichen deutschenStädten zu gewalttätigen Demonstrationenund Aktionen kam, bei denen in Münchenzwei Personen ums Leben kamen.3 Brandt bezog sich hier auf die öffentli-chen Aufrufe von Seiten des SDS, an denDemonstrationen und Aktionen, so z. B. ge-gen den Springer-Konzern, teilzunehmen.

Nr. 76A1 Diese Erklärung wurde erst am fol-genden Tag veröffentlicht; vgl. SPD Presse-mitteilungen und Informationen, Nr. 173/68, 17. April 1968.2 Nau hatte sowohl das Attentat auf RudiDutschke als auch die darauffolgenden Ge-walttätigkeiten verurteilt. In seiner Erklä-rung vom 12. April 1968 hieß es weiter: „DieSPD hat als erste der parlamentarischen Par-teien im Frühsommer vergangenen Jahresden Dialog mit der gesamten Studenten-schaft aufgenommen. Sie hat hochschulpo-

578 Anmerkungen S. 401 bis 409

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litische Forderungen der Studentenschaft,die weitgehend ihren eigenen Zielsetzungenentsprechen, nachdrücklich unterstützt. Siehat besonders durch den Mund ihres Vor-sitzenden Willy Brandt die Berechtigungauch einer außerparlamentarischen Oppo-sition anerkannt, jedoch keinen Zweifeldaran gelassen, daß mit antiparlamenta-rischen Gruppen, die die demokratischeGrundordnung verwerfen oder sogar mitrevolutionären Mitteln beseitigen wollen,kein Dialog möglich ist“ (SPD-Presse-mitteilungen und Informationen vom12. April 1968).3 Brandt erklärte zu den Vorfällen ineinem Interview, das am 21. April 1968 inder „Wochenchronik“ des BayerischenRundfunks gesendet wurde: „Ich selbst ge-höre zu denen, die den Mordanschlag inBerlin für etwas Furchtbares, etwasScheußliches gehalten haben. Was immernun auch in den letzten Tagen passiert ist,[ich] werde alles tun, um von mir aus zu ap-pellieren, daß Schluß gemacht wird mit Ge-walttätigkeiten und daß Respekt bezeugtwird vor dem Gesetz.“4 Auf das Angebot Kiesingers in seinerRegierungserklärung vom 11. März 1968an die DDR-Regierung, Verhandlungenüber eine Gewaltverzichtserklärung sowieüber Sachfragen aufzunehmen, reagierteUlbricht mit Ablehnung. Am 13. April 1968verbot die DDR Bundesministern undhohen Ministerialbeamten vorübergehenddie Durchreise von Westdeutschland nachWest-Berlin.

Nr. 771 Vgl. Nr. 78.2 Am 31. Mai 1968 wurde Hans-JürgenWischnewski zum ersten Bundesgeschäfts-führer der SPD berufen; vgl. auch Einlei-tung.

3 Anspielung auf die Reaktionen nachden starken Verlusten der SPD bei denLandtagswahlen in Baden-Württemberg am28. April 1968; vgl. Anhang.4 Vgl. Nr. 78.5 Brandt spielte hier auf die zunehmendtheoretischen Diskussionen innerhalb derJusos an, die dort in den folgenden Jahrenzu Fraktionierungen, u. a. in „Anti-Revisio-nistischer Flügel“ und „Stamokap-Frak-tion“, führten.6 Vgl. u. a. Nr. 76A.7 Vgl. u. a. Nrn. 5 und 95.8 Gemeint war die 17-jährige Opposi-tionszeit der SPD auf Bundesebene seit Be-stehen der Bundesrepublik.9 Brandt ging hier auf die Situation inanderen westeuropäischen Ländern, vor al-lem in Frankreich, und die dortigen Aus-einandersetzungen mit Studenten und Ar-beitern ein.10 Brandt sprach sich schon seit seinerNominierung zum Kanzlerkandidaten imJahr 1960 immer wieder für eine größere Be-teiligung von Frauen in allen gesellschaft-lichen Bereichen – auch in der Politik – ausund förderte eine eigenständige Frauen-arbeit und -politik in der SPD.11 Im Februar und März 1968 wurden inGießen, Hamburg, Hannover, München,Essen und Bad Dürkheim sechs Regional-konferenzen der SPD abgehalten, die sichmit der Thematik der gesellschaftlichen In-tegration von Frauen befassten.12 Auf Initiative der SPD wurde dieGleichstellung der Geschlechter in derWeimarer Verfassung vom 11. August 1919aufgenommen und das aktive und passiveWahlrecht für Frauen eingeführt.13 In Artikel 3, Absatz 2 des Grund-gesetzes heißt es: „Männer und Frauen sindgleichberechtigt“.14 Der prozentuale Anteil der weiblichenAbgeordneten im Deutschen Bundestag

579 Anmerkungen S. 409 bis 419

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entwickelte sich folgendermaßen (die An-gaben beziehen sich immer auf den Beginnder jeweiligen Wahlperiode): 1. Wahl-periode (1949–1953) 6,8 %, 2. Wahlperiode(1953–1957) 8,8 %, 3. Wahlperiode (1957–1961) 9,2 %, 4. Wahlperiode (1961–1965)8,3 %, 5. Wahlperiode (1965–1969) 6,9 %.

Nr. 781 U. a. veröffentlicht in: SPD Presse-mitteilungen und Informationen Nr. 465/68vom 15. Oktober 1968.2 Mit der Verabschiedung der „Not-standsverfassung“ (Vorsorgegesetze für denFall eines Krieges sowie von Katastrophenund Gefahren für die Verfassungsordnungim Innern) am 30. Mai 1968 durch denDeutschen Bundestag fand die sehr kontro-verse Diskussion um die Gesetze einenEndpunkt; vgl. dazu ausführlich BerlinerAusgabe, Bd. 7.3 Brandt nahm hier u. a. auf die Grün-dung der „Sozialdemokratischen Wäh-lerinitiative“ Ende 1967 Bezug; vgl. Einlei-tung.4 Vgl. Anhang.5 Dieser so genannte „Acht-Punkte-Auf-gabenkatalog“ wurde am 2. November 1966von der SPD-Bundestagsfraktion veröffent-licht. Er bildete die Grundlage für die Ko-alitionsverhandlungen der SPD mit derCDU/CSU und der FDP. Inhaltlich um-fassten die acht Punkte folgende Komplexe:1. Um äußere Stabilität und Sicherheit zuerreichen, müsse „das Verhältnis zu Wa-shington und Paris wieder in Ordnung“ ge-bracht werden. 2. Der „Ehrgeiz auf atoma-ren Mitbesitz“ müsse aufgegeben werden. 3.Das aktive Eintreten für eine Normalisie-rung des Verhältnisses zu den „östlichenNachbarvölkern“ und eine Versöhnung mitihnen. 4. Den Handlungsspielraum gegen-über den „Ostberliner Machthabern“ aus-

loten und ausfüllen. 5. Maßnahmen zurStärkung der deutschen Wirtschaft, um de-ren Aufschwung zu gewährleisten. 6. Ord-nung der Staatsfinanzen und die Abwen-dung einer „Haushaltskatastrophe für1967“. 7. Für Bund, Länder und Gemeindensollten bei der finanziellen Neuordnunggleichberechtigt die Voraussetzungen fürdie Lösung ihrer jeweiligen Aufgabengeschaffen werden. 8. WirtschaftlichesWachstum, finanzielle Ordnung und so-ziale Stabilität seien die innenpolitischenGrundlagen für den Fortschritt der Gesell-schaft und eine kontinuierliche Politik.6 Vgl. Ehmke 1969.7 Am 21./22. August 1968 marschiertenTruppen der Warschauer-Pakt-Staaten un-ter Führung der UdSSR in die CSSR ein, umden „Prager Frühling“, die von AlexanderDubcek und der KPC eingeleitete Reform-politik, gewaltsam zu beenden und die Re-former durch moskautreue Kommunistenzu ersetzen.8 Unterschrift faksimiliert.

Nr. 791 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/Helmut Schmidt, Herbert Wehner,Alfred Nau“; hs. vermerkt: „Kenntnis: L[eo]Ba[uer], P[eter] R[öhrig], H[einz] C[astrup]“.2 Brandt bezog sich im Folgenden aufden zusammenfassenden Bericht von infra-test zum Thema „Wählerforschung“ vomDezember 1968, Bd. A, in: AdsD, Zeitge-schichtliche Sammlungen, infratest, Mappe3. Dort wurden 23 Thesen über die Aus-sichten der SPD bei den Bundestagswahlen1969 aufgestellt.3 In dem Bericht hieß es dazu u. a. (ebd.):„Die Ereignisse in der Tschechoslowakeihaben, wie der vorliegende Bericht beweist,die Bedeutung der Außenpolitik für die in-nenpolitische Wahlargumentation stark er-

580 Anmerkungen S. 420 bis 425

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höht. [. . .] Da davon ausgegangen werdenkann, daß das Interesse der Wähler an au-ßenpolitischen Fragen in den nächsten Mo-naten nicht nachlassen wird und daß mög-licherweise in den Wahlkampf neue inter-nationale Probleme hineinspielen werden,wird angeregt, kurzfristig ein Forschungs-programm zu diesem Problem durchführenzu lassen. Dieses außenpolitische For-schungsprogramm kann auch in der letztenPeriode des Wahlkampfes von großer Be-deutung sein, weil angenommen werdenkann, daß sich ein Teil der zur Zeit noch,Unentschiedenen‘, die gegenwärtig einenrelativ hohen Prozentsatz der potentiellenWählerschaft sowohl der SPD als auch derCDU/CSU stellen, gerade unter dem Ein-druck außenpolitischer Probleme im letz-ten Moment für die eine oder andere Parteientscheiden wird.“4 Am 7./8. August 1869 wurde in Eise-nach die „Sozialdemokratische Arbeiter-partei“ gegründet.5 Auf dem Vereinstag des Verbandes derDeutschen Arbeitervereine in Nürnbergwurde beschlossen, sich den programmati-schen Bestrebungen der InternationalenArbeiterassoziation anzuschließen.

Nr. 801 Am rechten Rand hs. von Willy Brandtvermerkt: „L[eo] B[auer] Einverstanden.Bitte, Briefentwurf fertigmachen, ein-schl[ießlich ] Namen. 11/1.[1969]“. Am Text-ende hs. vermerkt: „Anlagen“.2 Vgl. dazu Einleitung.3 Zwei Ausgaben der Zeitschrift DAFÜRwurden von der SWI im Wahlkampf desJahres 1969 herausgegeben. Das erste Heftenthielt Beiträge von Schriftstellern, Pub-lizisten und Wissenschaftlern zur Politikder SPD. Die zweite Ausgabe stand unterdem Motto „Warum wähle ich SPD?“. Pro-

minente aus allen gesellschaftlichen Berei-chen sollten hier ihre Wahlentscheidungfür die SPD erläutern.4 In der Anlage werden genannt GrafBaudissin, Robert Jungk, Hartmut vonHentig, Alexander Mitscherlich, HelmutSchön und Philipp Rosenthal.5 Den Briefentwurf übernahm Brandtunverändert für sein Schreiben an die Pro-minenten; vgl. Nr. 81.6 Hs. unterzeichnet.

Nr. 811 Der Brief geht auf einen Entwurf vonGünter Gaus zurück, vgl. Nr. 80. GleicheSchreiben gingen an Graf Baudissin, RobertJungk, Hartmut von Hentig, Helmut Schönund Philipp Rosenthal.2 Gemeint ist die „SozialdemokratischeWählerinitiative“ (SWI); vgl. Einleitung.3 Vgl. Nr. 80 Anm. 3.

Nr. 821 Bei der Vorlage handelt es sich umeine unkorrigierte Abschrift der Bandauf-nahme der Parteiratssitzung. Zu der Sitzungvgl. auch die handschriftlichen Aufzeich-nungen Brandts in: AdsD, WBA, A 9 (Ver-trauliche Aufzeichnungen), 1.2 Seidel hatte eingangs der Sitzung u. a.auf eine Beschwerde von Norbert Ganselund Jochen Steffen (LV Schleswig-Holstein)hingewiesen, die die Rechtmäßigkeit dieserParteiratssitzung und damit auch deren Be-schlusskompetenz mit der Begründung be-zweifelten, es seien durch das Organisa-tionsstatut festgelegte Fristen nicht be-achtet worden. Zu den Beschwerden vgl.auch Protokoll der Sitzung des Partei- undFraktionsvorstandes, 2. Februar 1968, in:AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-ProtokolleNovember 1968 bis März 1969.

581 Anmerkungen S. 426 bis 429

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3 Der Paragraph 23 des Organisations-statuts vom 23. Mai 1950, in der verändertenFassung vom 27. November 1964, besagt:„Der Parteirat wird durch den Parteivor-stand unter Angabe der Tagesordnung ein-berufen. Er tritt in der Regel vierteljährlichzusammen. Auf Antrag eines Drittels seinerMitglieder, der zu begründen ist, muß eineaußerordentliche Sitzung einberufen wer-den. Die Einladungen sollen den Mit-gliedern des Parteirates in der Regel fünfTage vor der Sitzung zugehen“ (Jahrbuchder Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands 1964/65, Bonn o. J., S. 260).4 Der entsprechende Paragraph lautete:„Der Parteirat ist anzuhören v o r Be-schlüssen des Parteivorstandes über grund-legende außen- und innenpolitische Ent-scheidungen, grundsätzliche organisatori-sche Fragen, Einrichtung von zentralenParteiinstitutionen, die die Partei dauernderheblich belasten, die Vorbereitung derBundestagswahlen. Der Parteirat hat au-ßerdem die Aufgabe, die Politik in Bund undLändern aufeinander abzustimmen“ (ebd.).5 Der Parteirat hatte einstimmig eine Re-solution beschlossen. Dort hieß es u. a. (SPDPressemitteilungen und InformationenNr. 45/65 vom 13. Februar 1969): „Die Bürgerdieses Landes sind beunruhigt über die Aus-wüchse der Gewalt, die von einer Minderheitorganisiert werden. Sie sind über die trägeEntwicklungderUniversitätsreform besorgt,die dieser Minderheit willkommene Vor-wände für Gewaltaktionen verschafft. Indieser Lage kommt es auf zweierlei an: 1.WirSozialdemokraten werden getreu der Ent-wicklung unserer Partei unbeirrt refor-mieren, was reformiert werden muß. Wirwerden uns von den Konservativen nichtbehindern lassen. Ebenso wenig werden wiruns von dem Radau der Extremisten aufeinen falschen Weg drängen lassen. 2. WirSozialdemokraten stehen entschieden hinter

allen, die das Recht als die Grundlage unseresfreiheitlichen Zusammenlebens konsequentverteidigen. Denn dauerhafte Reformen sindnur möglich, wenn Freiheit und Recht ge-sichert bleiben.“6 Bereits im April des Jahres 1968 hattenAndreas Baader, Gudrun Ensslin u. a. inFrankfurt am Main Brandanschläge aufzwei Kaufhäuser verübt. Hier liegen dieAnfänge des Terrorismus der späteren RAF,deren erste Generation von Mitgliedern sichzum Großteil aus der Studentenbewegungrekrutierte.7 Korrigiert aus: „– Zwischenrufe –“.8 Korrigiert aus: „wenn“.9 So lautete der Slogan der CDU imWahlkampf des Jahres 1961.10 Vgl. Protokoll des PV vom 12. Februar1969, in: AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Pro-tokolle, Februar 1969.11 Brandt spielte hier auf die Debatte umdie Verjährung von NS-Verbrechen an.12 Gemeint sind damit u. a. die 1968 ent-standenen Gruppen der Parteirechten, diesich am Rande der Partei organisierten, soetwa der „Kurt-Schumacher-Kreis“, der„Godesberger Kreis“ und die „Julius-Leber-Gesellschaft“. Anlass für die Gründung die-ser Gruppen waren vor allem der an-gebliche „Linksruck“ der Partei und dieauch in der SPD verbreitete Kritik der Ost-politik.13 Am 11./12. Januar 1969 fand in BadGodesberg ein „Kongress der SPD mit derJugend“ statt.14 Scherzhaftes Wortspiel: die Brandt-sche Wortschöpfung „Tomologie“ steht für„Sektenkunde“.15 Beim Parteitag der deutschen Sozial-demokratie in Schloss Wyden im KantonZürich vom 20. bis 23. August 1880 trenntesich die Partei von Johann Most undWilhelm Hasselmann, denen man anar-chistische Bestrebungen vorwarf.

582 Anmerkungen S. 429 bis 435

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16 Gemeint: Antrag auf Verbot der Parteibeim Bundesverfassungsgericht in Karls-ruhe.17 Brandt sagte u. a.: „Nazismus, alter Na-zismus, aufgewärmter Nazismus, Neonazis-mus ist Verrat an Volk und Land“ (Protokoll1968, S. 101).18 Korrigiert aus: „der“.19 Vgl. Anhang.

Nr. 831 Mit Vermerk: „Sperrfrist: 18. März[1969] 7.00 Uhr“. Das Interview erschien ingroßen Auszügen unter der Überschrift„Brandt: ,Ich halte nichts von der Opposi-tion in der Koalition‘“ in der Südwest Pressevom 18. März 1969.2 Am 13. März 1969 informierte dasPräsidium der SPD: „Angesichts derSpekulationen einiger Presseorgane überden Bundeskanzler einer sozialdemo-kratisch geführten Bundesregierung gibtdas Präsidium der SPD seinen in Berlin ge-faßten Beschluß bekannt, den zuständigenGremien der Partei zu empfehlen, WillyBrandt als Kanzler einer sozialdemo-kratisch geführten Bundesregierung zu no-minieren“ (SPD Pressemitteilungen undInformationen Nr. 84/69, vom 13. März1969).3 Vgl. dazu Nr. 59.4 Auch auf dem Parteitag betonteBrandt, dass die SPD „über eine große Zahlvon hervorragenden Kräften“ verfüge. Da-rüber hinaus machte er deutlich, dasseiner SPD-geführten Bundesregierung KarlSchiller als Wirtschafts- und HelmutSchmidt als Verteidigungsminister ange-hören würden (Protokoll 1969, S. 455 ff.,S. 464). Allerdings kursierten im Mai 1969Gerüchte über eine „geheime Kabinetts-liste“ der SPD; vgl. u. a. Hamburger Abend-blatt vom 21. Mai 1969.

5 Gemeint ist die besonders von derCDU angestrebte Einführung des Mehr-heitswahlrechts, welches in der Regel klei-nere Parteien benachteiligt.6 Die Bundesversammlung hatte am5. März 1969 mit den Stimmen der SPD undder FDP Gustav Heinemann zum ersten so-zialdemokratischen Bundespräsidenten ge-wählt. Er erhielt 512 Stimmen, der Kandidatder Unionsparteien, Gerhard Schröder(CDU), 506 Stimmen.7 Dort wurde u. a. beschlossen, dafüreinzutreten, das Wahlalter auf 18 Jahre (ak-tiv) bzw. 21 Jahre (passiv) herabzusetzen.Außerdem sollte nach der Wahl 1969 eineumfassende Diskussion über eine Reformdes Wahlrechts geführt werden.8 Dieser Passus fehlte im Abdruck derSüdwest Presse.

Nr. 841 Von Brandt hs. abgezeichnet: „25/9“.2 Vgl. Nr. 84A.3 Wehner war in der Großen KoalitionBundesminister für gesamtdeutsche Fragen.4 Hs. unterzeichnet.

Nr. 851 Am Textende vermerkt: „D[urch-schrift]/ B[undes]M[inister] Prof. HorstEhmke“.2 Auf der Sitzung des Präsidiums am20. November 1969 hatte Brandt angeregt,dass von einer Kommission „zur Gesell-schafts- und Bildungspolitik qualifizierteVorstellungen entwickelt werden sollen“(AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle,November 1969). Auf dem Parteitag im Mai1970 in Saarbrücken sprach der Vorsitzendeselbst zum Thema „Unsere gesellschafts-politische Richtlinie für die SiebzigerJahre“; vgl. Protokoll der Verhandlungendes Parteitages der Sozialdemokratischen

583 Anmerkungen S. 436 bis 445

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Partei Deutschlands vom 11. bis 14. Mai1970 in Saarbrücken, Bonn o. J., S. 450–478.Über „Bildungspolitik als Schwerpunkt-aufgabe unserer Reformen“ referierte derzuständige Bundesminister Leussink; vgl.ebd., S. 539–554.3 Dieser Plan ist nicht verwirklichtworden.4 Im Jahr 1970 wurden zwei PV-Sit-zungen außerhalb Bonns abgehalten, einein Mainz und eine während des Parteitagesin Saarbrücken.5 Einen detaillierten Plan über die Ar-beitsneuverteilung im Präsidium legteHerbert Wehner am 13. Dezember 1970 mitdem Hinweis vor, die Aufgabenverteilungsei zeitlich zu begrenzen. Demnach warvorgesehen: Willy Brandt (Bundesre-gierung, Kontakte mit den Ländern, Richt-linien), Herbert Wehner (Bundestag,Organisationspolitik), Helmut Schmidt(Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, Pro-grammatik), Egon Franke (Deutschland-politik, Meinungsbildung und Massen-medien), Heinz Kühn (Länder-Bund-Ver-hältnis und Länderreform, Wissenschafts-,Forschungs-, Bildungs- und Ausbildungs-politik), Georg Leber (Verkehrspolitik undPost, Kirchen und Verhältnis zu den Kir-chen), Alex Möller (Finanz- und Steuer-politik, Steuerreform und Schwer-punktfinanzierung), Alfred Nau (Schatz-meister, Politische Bildungsstätten undStiftungen), Annemarie Renger (Frauen-politik), Karl Schiller (Wirtschaftspolitik,Europäische Integration und Wirtschafts-beziehungen), Hans-Jürgen Wischnewski(Bundesgeschäftsführung, Kommunikationmit Parteien anderer Länder); vgl. AdsD,SPD-PV, PV-Protokolle, Dezember 1970, An-lage vom 13. Dezember 1970.6 Den Bericht „Zur Lage der Nation“ gabBrandt am 14. Januar 1970 vor dem Deut-schen Bundestag ab.

Nr. 861 Mit Vermerk: „SPERRFRIST: 15.00UHR“. Der Kongress fand vom 11. bis13. Dezember 1970 in Bremen statt.2 Vgl. Protokoll 1970, S. 492–498.3 Vgl. ebd., S. 511.4 Ebd., S. 508 f.5 Ebd., S. 509 f.6 „Richtlinien für die Tätigkeit der Ar-beitsgemeinschaften in der SPD“ vom 9. Fe-bruar 1957, Punkt 1, in: Jahrbuch 1968/69,S. 475.7 Eine ganze Reihe von Beschlüssen desKongresses liefen der Regierungspolitik zu-wider. So forderte der Kongress die schritt-weise Einführung einer neuen Wirtschafts-verfassung und stellte fest, dass dieunabdingbare Voraussetzung für jede Re-formpolitik darin bestehe, dass die Refor-men „nicht systemerhaltend“, sondern„systemverändernd“ sein müssten. Gleich-zeitig betonten die Jusos aber auch, dass siekeinen Bruch mit der SPD anstrebten.8 Wolfgang Roth erläuterte auf demKongress die so genannte „Doppelstrategie“der Jusos. Ein Ansatzpunkt der „Doppel-strategie“ sollte das Schaffen von Kon-flikten im „Wohnungssektor“ sein, vonKonflikten „gegenüber denen, die im Au-genblick Eigentümer, d. h. Kapitalisten, ander Wohnung sind“. Gleichzeitig solltendiese Konflikte von den staatlichen In-stitutionen „aufgenommen“ werden, die ge-gen diejenigen, die bisher „Gewinne undProfite“ aus dem Wohnungssektor „gezogenhaben“, vorzugehen hätten. Ein andererSchwerpunkt dieser Strategie sollten die„Berufswelt der Arbeitnehmer und die Lagein den Betrieben“ sein. Auf der Juso-Bun-deskonferenz am 24./25. April 1971 inMannheim wurde noch einmal klarfestgelegt, was „Doppelstrategie“ heiße:„1. Schaffung und Unterstützung eines um-fassenden politischen Problembewußtseins

584 Anmerkungen S. 446 bis 455

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bei der Bevölkerung und daraus resultie-rend ihre Mobilisierung, Politisierung undOrganisierung. [. . .] 2. Intensive Mitarbeitauf allen Ebenen der Partei, um auf demWege über demokratische Mehrheits-entscheidungen die politischen Voraus-setzungen für eine bessere Gesellschaft zuschaffen. 3. Reform der Partei, damit sie indie Lage versetzt wird, Mobilisierung, Poli-tisierung und Organisierung der Bevölke-rung einzuleiten und in wirksamer Weisezur Befriedigung der Bedürfnisse der Be-völkerung und zur Stärkung demokra-tischer, antikapitalistischer Machtpositio-nen beizutragen und in eine Veränderunginstitutioneller Entscheidungen umzuset-zen.“ (Zitiert nach: Osterroth, Franz/Schuster,Dieter: Chronik der deutschen Sozial-demokratie, Bd. III: Nach dem ZweitenWeltkrieg, 2. Aufl. Bonn 1978, S. 517.)9 Richtig: „geübt werde“; Protokoll überdie Verhandlungen des Parteitages der So-zialdemokratischen Partei Deutschlands.Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Okto-ber 1891, Bonn-Berlin 1978 (Nachdruck),S. 157.10 Ebd., S. 157 f. Auslassungen im Zitat inder Vorlage.11 Anlage 2 zum Protokoll der Bundes-Ausschusssitzung der Jungsozialisten,22. November 1970, AdsD, SPD-Parteivor-stand, 4940. In Berlin hatte der Bundes-Aus-schuss zu diesem Punkt festgestellt (ebd.),„daß der Beschluß des Parteirats [vgl.Anm. 16] die notwendige Auseinanderset-zung zwischen Positionen des demokrati-schen Sozialismus und des Kommunismusaußerordentlich erschwert. Das Verfahrendes Parteirats zeigt, daß Bemühungen umdie ideologische Abgrenzung der Sozial-demokratie zum Kommunismus dazu ge-braucht werden sollen, die sozialistischenKräfte in der SPD zurückzudrängen. Mitdiesem Beschluß wird der in der Bundes-

republik vorhandene Antikommunismusneu belebt, der in der Vergangenheit auchdie Funktion hatte, notwendige gesell-schaftliche Reformen zugunsten der ab-hängig Beschäftigten zu verhindern.“12 Auf der gemeinsamen Sitzung vonParteivorstand, Parteirat und Kontroll-kommission am 14. November 1970 wurdedie Abgrenzung der SPD zur DKP, SEW,SDAJ und FDJ (Berlin) beschlossen: „Zwi-schen Sozialdemokraten und Kommunis-ten gibt es keine Aktionsgemeinschaft. DerParteirat fordert deshalb die Organisations-gliederungen auf, in Fällen, in denen Mit-glieder der SPD zusammen mit Mitgliedernder DKP, SEW, SDAJ und der FDJ (Berlin)– gemeinsame Veranstaltungen durch-

führen– gemeinsame Publikationen herausgeben– gemeinsame Aufrufe, Flugblätter, Ein-

ladungen usw. unterzeichnensowie in Fällen, in denen Sozialdemokratenan von DKP, SEW, SDAJ und FDJ (Berlin)gesteuerten Publikationen mitarbeiten,diese Mitglieder mit Nachdruck auf denparteischädigenden Charakter ihres Ver-haltens hinzuweisen und notfalls Partei-ordnungsverfahren einzuleiten.“ (Zitiertnach: Jahrbuch der SozialdemokratischenPartei Deutschlands 1970/72, Bonn o. J.,S. 555).13 In dem Dokument „Sozialdemokratieund Kommunismus“, das der Parteirat aufseiner Sitzung am 14. November 1970 imGrundsatz billigte, hieß es wörtlich: „KeineFriedenspolitik und keine außenpolitischeAnnäherung können den Gegensatz zwi-schen freiheitlich-sozialer Demokratie undkommunistischer Parteidiktatur über-winden, denn diese Friedenspolitik und dieSicherung der Freiheit gehören für diedeutsche Sozialdemokratie untrennbar zu-sammen“ (AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle Juli-Dezember 1970, Teil I).

585 Anmerkungen S. 456 bis 458

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14 Zu den Ergebnissen der Landtags-wahlen 1970 und der Bundestagswahl 1969vgl. Anhang.

Nr. 871 In Bremen fand vom 11. bis 13. De-zember 1970 der Bundeskongress der Jung-sozialisten statt. Vgl. Nr. 86.2 Zu den Problemen zwischen Schmidtund Wehner vgl. Nr. 88, insbes. Anm. 3.3 Zu Brandts Führungsstil vgl. Einlei-tung. Helmut Schmidt schrieb in der Rück-schau über das Führungsgespann der SPD:„Wir [Brandt, Wehner, Schmidt] haben unsdie gemeinsame Führung der Sozial-demokratie und der Bundesrepublik nichtleicht gemacht. Aber unser Land – so glaubeich – ist gut mit uns gefahren. Natürlichhätte Willy Brandt, solange er Parteivor-sitzender und Kanzler zugleich war, imNotfall das letzte Wort haben müssen. [. . .]Aber ein solcher Notfall ist nicht einge-treten. [. . .] Ich selbst war im Umgang mitmeinen Freunden Brandt und Wehner [. . .]gewiß nicht immer leicht zu nehmen, meistkühl, meist hart im Argument und Ton,bisweilen schroff. [. . .] In Wahrheit habenwir sechzehn Jahre lang kooperativ geführt,zwar keineswegs immer einträchtig, aberim Ergebnis eben doch gemeinsam.“(Schmidt, Helmut: Weggefährten. Erinne-rungen und Reflexionen, Berlin 1996,S. 450).

Nr. 881 Von Brandt hs. abgezeichnet: „13/1“.2 Vgl. Nr. 87.3 Zur Kritik an Brandts Führungsstilvgl. Einleitung.4 Vgl. Nr. 87 Anm. 1.5 Öffentlich.6 Wehner hatte auf dem Juso-Bundes-kongress vom 11. bis 13. Dezember 1970 in

Bremen die Politik der Bundesregierungkritisiert und Helmut Schmidt persönlichangegriffen. Wehner führte u. a. aus (AdsD,Personalia Herbert Wehner): „Ihr habt denEindruck, das Langzeitprogramm sei des-wegen schon skeptisch zu betrachten, weilder Vorsitzende [der Programmkommis-sion, Helmut Schmidt] einer ist, der vonEuch in einer anderen Eigenschaft ange-gangen wird und wegen einiger lästerlicherReden, die ihm nicht verziehen werden sol-len, über die man aber mit ihm reden soll.Das ist sehr schwer, weil es ein unerhörttemperamentvoller Mann ist. Aber ichmöchte niemanden schwimmen lassen. Erwird es hören oder lesen – in SPIEGEL-Fas-sung wird er das lesen, dessen bin ich sicher,und ich habe dann einiges auszustehen –nur wollte ich es deswegen erwähnt haben.“7 Auf der PR-Sitzung am 13./14. Novem-ber 1970 standen die Bilanz nach einem JahrRegierungsverantwortung und das Verhält-nis von Sozialdemokratie und Kom-munismus im Mittelpunkt der Diskussion;vgl. AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Pro-tokolle Juli-Dezember 1970, Teil I.8 Laut Terminkalender von Brandt fandein solches Gespräch zwischen Schmidt,Wehner und Brandt am 4. Februar 1971statt.9 Vgl. Schmidt, Helmut: Strategie desGleichgewichts. Deutsche Friedenspolitikund die Westmächte, Stuttgart 1969,S. 302–311.10 Flurgespräche.11 Schmidt nahm in einem hs. Zusatz zueinem Schreiben an Brandt vom 10. De-zember 1970 auf ein Gespräch Bezug, indem es offenbar darum gegangen war, Un-stimmigkeiten zwischen den beiden in Fra-gen der Ostpolitik auszuräumen. Er schrieb(AdsD, WBA, A 8, 18): „Lieber Willy, letztesWort: das Gespräch gestern abend auf demVenusberg hat mir gut getan – laß uns um

586 Anmerkungen S. 460 bis 466

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Gottes Willen solche Gespräche häufigerhaben, umso weniger muß man dann be-fürchten, daß sie Bitterkeiten produzieren“.

Nr. 891 Hs. vermerkt: „Kopie“. Die Vorlageträgt kein Datum. Zu den Adressaten ge-hörten u. a.: Graf Baudissin, Peter Franken-feld, Götz George, Günter Grass, HelmutKäutner, Victor de Kowa, Wolfgang Menge,Philipp Rosenthal, Carl Christian vonWeizsäcker.2 Unter Testimonials versteht man einzu Werbezwecken eingesetztes Empfeh-lungsschreiben. Im Wahlkampf 1969 wur-den Anzeigen geschaltet, in denen sich Pro-minente aus allen gesellschaftlichen Berei-chen zur SPD bekannten und ihreStimmabgabe für die Sozialdemokraten be-gründeten. Diese Kampagne war für dieSPD ein sehr erfolgreiches Werbemittel.Vgl. auch Einleitung.3 Vgl. Nr. 90.

Nr. 901 Vgl. dazu auch Nr. 89.2 Gemeint ist zur Halbzeit der Legisla-turperiode.3 Hs. eingefügt.4 Hs. eingefügt.5 Recht und Ordnung.6 Hs. eingefügt.7 Hs. eingefügt8 Hs. eingefügt.9 Hs. eingefügt.

Nr. 911 Mit Vermerk: „Sperrfrist: 8.11.[19]71“.Der Artikel ist unter dem Titel „Die SPD ’71.Zum außerordentlichen Parteitag der SPD“erschienen in: Die Neue Gesellschaft 18 (1971)11, S. 771–772.

2 Die wichtigsten Beschlüsse des a. o.Parteitages 1971 waren die „Entschließungzur Steuerreform“, die „Entschließung zurLage und Entwicklung der Massenmedienin der Bundesrepublik Deutschland“, die„Entschließung zur Reform des § 218 StGB“sowie die Neufassung des Organisations-statuts der SPD.

Nr. 921 In seinem Schreiben vom 22. Novem-ber 1971 (AdsD, WBA, Verbindungen mitder SPD-Fraktion, 1971 [N–Z]) wiesSchmitt-Vockenhausen auf die Gefahrender innerparteilichen Auseinandersetzun-gen mit den Jusos und die Möglichkeit einesLinksrucks in der SPD bzw. die Abkehr vomKonzept der Volkspartei hin. Gleichzeitigmachte er auf die negativen Auswirkungendieser Tendenz für die SPD und ihre Akzep-tanz in der Bevölkerung aufmerksam. Dem-gegenüber hob er jedoch die positive Wir-kung Brandts und dessen deutliches Be-kenntnis zum Godesberger Programm undgegen Linkstendenzen auf dem a. o. Partei-tag 1971 in Bonn hervor.2 Schmitt-Vockenhausen wies Brandt inseinem Schreiben (ebd.) auch auf an-gebliche Pläne aus FDP-Kreisen hin, dieLinken in der SPD zu stützen, indem mitHilfe u a. des Spiegel die „rechten“ SPD-Füh-rungspersonen geschädigt werden sollten,um damit der Partei Wählerpotenzial ab-spenstig zu machen und auf diese Weisezwischen der SPD und der CDU ein Wäh-lerreservoir für die FDP zu erschließen. Eshandelte sich dabei um den so genannten„Flach-Plan“, nach dem FDP-General-sekretär und ehemaligen stellvertretendenChefredakteur der Frankfurter RundschauKarl-Herrmann Flach benannt.3 Hs. paraphiert.4 Gestempelt.

587 Anmerkungen S. 467 bis 474

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Nr. 931 Anspielung auf die Auseinander-setzungen mit den linken Strömungen in-nerhalb der Jusos; vgl. Nr. 86 und Einlei-tung.2 Auf der Parteiratssitzung am 20. März1972 hatte Brandt ausgeführt (AdsD, SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle, März 1972):„Jeder, der mich kennengelernt hat über dieJahre, weiß, daß ich gegen Verkrustungenbin. Und mir eine Partei wünsche, in der derWeg nach vorne als Ergebnis immer neuerDiskussionen demokratischabgesteckt wird.Aber ich muß die Mitglieder des Parteiratsherzlichbitten, mirverstärkt dabei zuhelfen,daß einige Wegmarkierungen beachtet wer-den. Und als solche betrachte ich 1. Wer un-seren Charakter als sozialdemokratischePartei verändern will, der darf nicht damitrechnen können, daß wir ihn dabei gewäh-ren lassen. (Beifall). Wer eine grundsätzlichandere Partei als die des Godesberger Pro-gramms will, der muß darauf hingewiesenwerden, daß er bei uns fehl am Platze ist. Dasist das eine. Das ist 2. Wer gruppenmäßigeBindungen oder regionale Partikularismenhöherstellt als die Loyalität gegenüber derGesamtpartei und ihrer Aufgabe in diesemStaat, dem muß unmißverständlich bedeutetwerden, daß es unsere Arbeit erschwert, stattsie zu fördern. Und 3.Wer die Geschicke die-ses Staates mitbestimmen will, der muß dasdafür erforderliche Augenmaß aufbringen.Daran fehlt es leider immer wieder. Mal andiesem, mal an jenem Wort. Und man wirdden Eindruck nicht los, als verberge sich da-hinter manchmal immer noch eine gewisseSehnsucht nach der Opposition“.

Nr. 941 Brandt fertigte die hand- und maschi-nenschriftlich überlieferten Tagebuchauf-zeichnungen an, um sie zu einem späteren

Zeitpunkt als eine Art „Wahlkampftage-buch“ zu veröffentlichen. Anders als ur-sprünglich geplant, wurde das „Tagebuch“erst zwei Jahre später und dann nur in Aus-zügen publiziert. Einige Ausschnitte wur-den u. a. in „Über den Tag hinaus“ ver-öffentlicht (vgl. Brandt 1974, S. 41 ff.). Dabeimuss es sich jedoch um eine im Nachhineinüberarbeitete Fassung handeln, da sie inweiten Strecken nicht mit dem vor-liegenden Manuskript identisch ist.2 Brandt absolvierte bei vorangegange-nen Wahlkämpfen sein Programm eben-falls in einem Sonderzug der Bundesbahn.3 Es handelt sich um den ersten Ehe-mann von Ninja Frahm.4 Vgl. Nr. 95.5 Am 27. April 1972 war ein von derCDU/CSU wegen der Ostpolitik gegenBrandt initiiertes Misstrauensvotum imBundestag gescheitert.6 Auslassung in der Vorlage.7 Zum politischen Hintergrund derRede vgl. Einleitung.

Nr. 951 Die Rede, die auf große öffentliche Re-sonanz stieß (vgl. u. a. Süddeutsche Zeitungvom 21. August, Frankfurter Rundschau vom21. August 1972, Guardian vom 21. August1972, Die Welt vom 24. August 1972), wurdeim Archiv der sozialen Demokratie derFriedrich-Ebert-Stiftung in Bonn gehalten.Vgl. auch Einleitung.2 Grundsatzprogramm der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands. Be-schlossen vom Außerordentlichen Parteitagder Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. No-vember 1959, Bonn 1959, S. 7.3 Der SPÖ-Parteitag fand vom 17. bis19. April 1972 in Villach statt. Zur RedeKreiskys vgl. u. a. Presse vom 19. April 1972.

588 Anmerkungen S. 474 bis 481

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4 Vgl. u. a. Die Welt vom 3. Juli 1972. DerHamburger Landesparteitag der SPD fandam 1./2. Juli 1972 statt.5 Protokoll 1946, S. 56. Der Titel derRede Schumachers lautete „Aufgaben undZiele der deutschen Sozialdemokratie“.6 Protokoll 1947, S. 52. Schumacher re-ferierte über „Deutschland und Europa“.7 Ebd., S. 13.8 Vgl. Ehmke, 1969.9 Ebd., S. 164.10 Vgl. Brandt, Willy: Idee und Wirk-lichkeit. Gespräch mit Bundeskanzler WillyBrandt, in: Die Neue Gesellschaft 17 (1970) 1,S. 23–41.11 Vgl. Der Sozialdemokrat vom 28. April1947. Der Titel der Rede von Reuter lautete„Ziele und Grundsätze der Sozial-demokratie“.12 Protokoll 1950, S. 83. Das Zitat stammtaus Schumachers Parteitagsrede zum Thema„Die Sozialdemokratie im Kampf fürDeutschland und Europa“: „Wir sind derMeinung, daß dieses wirtschaftliche Mitbe-stimmungsrecht in dem Prozeß der großenklassenpolitischen Auseinandersetzung inallernächster Zeit schon eine ähnliche Rollespielen wird, wie der Kampf um das all-gemeine Wahlrecht zu Zeiten FerdinandLassalles.“13 Brandes, Georg: Ferdinand Lassalle. Einliterarisches Charakterbild, Berlin 1877.14 Rede Schumachers vom 6. Mai 1945„Wir verzweifeln nicht!“, in: Albrecht 1985,S. 203–240, hier S. 219.15 Ebd., S. 232.16 Ebd., S. 231.17 Öffentliche Stellungnahme Schuma-chers „Was wollen die Sozialdemokraten?“,Oktober 1945/Januar 1946, in: ebd., S. 375–384, hier S. 381. Schumacher benutzte imOriginal allerdings nicht den Begriff „de-mokratischer Sozialismus“, sondern ersprach von „Sozialismus“.

18 „Die Wandlungen um den Klassen-kampf“ (1946), in: Scholz, Arno/Walther G.Oschilewski (Hrsg.): Kurt Schumacher. Re-den und Schriften, Berlin 1962, S. 297.19 Die „Sozialistische ArbeiterparteiDeutschlands“, ihre Vereine, Kassen undPresseorgane waren aufgrund des immerwieder verlängerten „Gesetzes gegen die ge-meingefährlichen Bestrebungen der Sozial-demokratie“ (kurz: „Sozialistengesetz“) von1878 bis 1890 verboten.20 Richtig: „gar nicht“.21 Redebeitrag Bismarcks in der 6. Sit-zung des Reichstages am 15. März 1884, in:Stein, Philipp (Hrsg.): Fürst Bismarcks Reden1882–1884, Leipzig o. J., S. 148 und S. 151.22 Scholz, Arno/Oschilewski, Walther G.(Hrsg.): Turmwächter der Demokratie. EinLebensbild von Kurt Schumacher, Bd. 3: Alser von uns ging, Berlin 1952, S. 23–27, hierS. 27.23 Vorwort zum Aktionsprogramm derSozialdemokratischen Partei Deutschlands,beschlossen auf dem Parteitag in Dortmund1952, in: Dowe/Klotzbach 1978, S. 298–301,hier S. 298.24 Richtig: „Wir deutschen Sozialdemo-kraten sind nicht britisch und nicht rus-sisch, nicht amerikanisch und nicht franzö-sisch. Wir sind die Vertreter des deutschenarbeitenden Volkes und damit der deut-schen Nation.“ (Schumacher, Kurt: „Pro-grammatische Erklärungen“ auf den Konfe-renzen von Wennigsen und Hannover 5./6.Oktober 1945, in: Albrecht 1985, S. 301–319,hier S. 311).25 Internationale Sozialistische Konfe-renz in Zürich 6. bis 9. Juni 1947 – Protokoll,in: AdsD, NL Schumacher, Mappe 215.26 Vgl. Nr. 78 Anm. 7.27 Richtig: „Ein neues Deutschlandwürde seine höchste Aufgabe darin sehen,Bestandteil zu sein der Vereinigten Staatenvon Europa“ (Protokoll 1946, S. 44).

589 Anmerkungen S. 483 bis 495

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28 Am 9. Mai 1950 legte der französi-schen Außenminister Robert Schumaneinen Plan zur Bildung einer westeuro-päischen Montanunion vor, der nach ihmbenannt wurde.29 Brandt bezog sich hier auf eine Passageim Heidelberger Programm der SPD von1925, in der es hieß: „Sie [die Sozial-demokratische Partei Deutschlands] trittein für die aus wirtschaftlichen Ursachenzwingend gewordene Schaffung der euro-päischen Wirtschaftseinheit, für die Bil-dung der Vereinigten Staaten von Europa,um damit zur Interessensolidarität der Völ-ker aller Kontinente zu gelangen.“ Pro-gramm der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands, beschlossen auf dem Partei-tag in Heidelberg 1925, in: Dowe/Klotzbach1978, S. 203–212, hier S. 212.30 Brandt zitierte hier aus seiner Regie-rungserklärung vom 28. Oktober 1969(Auftakt zur Ära Brandt. Gedanken zur Re-gierungserklärung Willy Brandts vom28. Oktober 1969, Berlin 1999, S. 67–98,hier S. 98): „Wir stehen nicht am Ende un-serer Demokratie, wir fangen erst richtigan. Wir wollen ein Volk der guten Nach-barn sein und werden im Inneren undauch nach außen.“31 Schumacher hatte sich vehement undmit Erfolg gegen eine Intervention derWestalliierten in der Frage des geplantenGrundgesetzes gewehrt, die darauf abziel-ten, Westdeutschland in einen Staaten-bund aufzulösen. Vgl. u. a. Albrecht 1985,S. 140 ff.32 Anspielungen auf die Zeitungen desVerlegers Axel Springer.33 Das so genannte „Ahlener Programm“wurde vom Zonenausschuss der CDU derbritischen Zone in Ahlen vom 1. bis 3. Fe-bruar 1947 beraten und beschlossen.34 Der Artikel 15 des Grundgesetzes [So-zialisierung] lautet: „Grund und Boden, Na-

turschätze und Produktionsmittel könnenzum Zwecke der Vergesellschaftung durchein Gesetz, das Art und Ausmaß der Ent-schädigung regelt, in Gemeineigentum oderin andere Formen der Gemeinwirtschaftüberführt werden.“35 Schmidt, Ute: Christlich Demokrati-sche Union Deutschlands, in: Stöss 1983,S. 527. Die „Frankfurter Leitsätze“ wurdenim September 1945 verabschiedet.36 Richtig: dieser sozialen und wirt-schaftlichen.37 Pulte, Peter: Parteiprogramme, Neu-wied u. a. 1980, S. 1.38 Helmut Schmidt übernahm das Amtdes Wirtschafts- und Finanzministers am7. Juli 1972 von dem zurückgetretenen KarlSchiller. Vgl. u. a. Süddeutsche Zeitung vom3. August 1972.39 Grundsatzprogramm 1959, S. 14.40 Löwenthal hatte auf einer Japanreisevom 29. März bis 9. April 1972 u. a. am7. April 1972 im „Europa-Asien-Institut“ inTokio einen Vortrag zum Thema „TheSoviet Union, China and Japan – an outline“(Die Sowjetunion, China und Japan – EinAbriss) gehalten; vgl. AdsD, NL Löwenthal,237. Der Vortrag ist publiziert in: Löwenthal,Richard: The Soviet Union, China and Japan,in: Survey. A journal of East and West Stu-dies 18 (1972) 4, S. 30–37.41 Rede auf der 4. Internationalen Ar-beitstagung der IG-Metall in Oberhausenam 11. April 1972, in: Eppler, Erhard: Maß-stäbe für eine humane Gesellschaft. Le-bensstandard oder Lebensqualität?, Stutt-gart 1974, S. 18–32, hier S. 30.42 Vgl. Ehmke, Horst/Ehrenberg, Herbert/Oertzen, Peter von (Hrsg.): Orientierungs-rahmen ’85. Text und Diskussion. Bearb. v.Heiner Lindner, Bonn-Bad Godesberg 1976.

590 Anmerkungen S. 495 bis 511

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Nr. 961 Die Eintragungen unter dem 21. Au-gust 1972 wurden handschriftlich, die desFolgetages maschinenschriftlich nieder-geschrieben.2 Vgl. Nr. 94 Anm. 1.3 Vgl. Nrn. 31A und 59A.4 Damit trat er auch aus dem Partei-präsidium aus. Hans-Jochen Vogel wurdeam 24. August 1972 zu seinem Nachfolgergewählt; vgl. Nr. 97.5 Schiller war am 7. Juli 1972, nach Aus-einandersetzungen im Kabinett, von sei-nem Amt als Bundeswirtschafts- und -fi-nanzminister zurückgetreten.6 Nachdem Schiller am 24. September1972 aus der SPD ausgetreten war, notierteBrandt: „Nachsatz betr. Schiller Parteiaus-tritt [. . .] Erinnern: Scheel hatte mir [19]69vorausgesagt, Schiller werde nicht daraufverzichten wollen, auch den nächstenWahlkampf gegen den Bu[ndes]ka[nzler] zuführen, und er werde vielleicht zu spätmerken, dass es sich diesmal beim Kanzlerum den eigenen Parteivorsitzenden han-delt.“7 Schreiben Grass’ an Brandt, 21. August1972, AdsD, WBA, A 8, 6.8 Hs. eingefügt.9 Vgl. Grass, Günter: Aus dem Tagebucheiner Schnecke, Hamburg 1972. Grass hat indiesem Werk seine Erfahrungen aus demBundestagswahlkampf des Jahres 1969 lite-rarisch verarbeitet.10 Hs. eingefügt.

Nr. 971 Hs. von Brandt eingefügt.2 Vgl. Nr. 96 Anm. 4.3 Vgl. Nr. 95.4 Hs. von Brandt eingefügt.5 Hs. von Brandt eingefügt.

Nr. 981 Vgl. Sitzung des Präsidiums, 4. Sep-tember 1972, in: AdsD, SPD-Parteivorstand,PV-Protokolle, September 1972.2 Vom 26. August bis 11. September1972 fanden in Kiel und München dieXX. Olympischen Spiele statt.3 Das Interview ist unter dem Titel„Willy Brandt: ,Ein weiblicher Bundes-kanzler – warum nicht?‘“ am 8. Oktober1972 in: Der Stern erschienen.4 Der „Bericht der Bundesregierungüber die Maßnahmen zur Verbesserung derSituation der Frau“ wurde am 1. August1972 dem Bundestagspräsidenten über-geben.

Nr. 991 Schmid hatte nach der Bundestags-wahl 1969 erklärt, dass er sich bei der näch-sten Wahl nicht wieder für ein Bundestags-mandat bewerben wolle. 1972 machte erdiesen Entschluss rückgängig. In seinemMannheimer Wahlkreis hatte man sich je-doch bereits für einen jüngeren Kandidatenentschieden; so wurde versucht, Schmideinen Platz auf der Landesliste von Nord-rhein-Westfalen zu sichern. DiesemWunsch der Parteiführung entsprach je-doch der Landesparteitag nicht. Eine Kan-didatur Schmids kam nicht mehr zustande.2 Am 19./20. Oktober 1972 tagten in Pa-ris die Staats- und Regierungschefs der sechsEG-Staaten sowie Dänemarks, Großbritan-niens und Irlands.

Nr. 1001 Am 3. November 1972 wurde das sogenannte „Rotbuch“ auf dem Wahlkongressder CSU in München veröffentlicht.2 Dort hieß es wörtlich: „Nun, auchseine letzte Frau Ruth [sic] zeigte sich nebenBrandt in Berlin in norwegischer Uniform

591 Anmerkungen S. 516 bis 522

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und übte als Mitglied der norwegischen KPeinen entsprechenden Einfluß auf ihrenMann aus.“3 Auch dieser Ausspruch ist dem „Rot-buch“ entlehnt.4 Eine der CDU/CSU nahestehende„Wählerinitiative“ hatte Anzeigen, die zurWahl der CDU/CSU aufriefen, unter derÜberschrift „Sicherheit auch für unsere jü-dischen Mitbürger“ mit einem Foto ver-öffentlicht, das Adenauer und Ben Gurionzeigte.

Nr. 1011 Brandt meinte hier eine großangelegteAnzeigenkampagne zugunsten der CDU,die von Teilen der deutschen Industrie fi-nanziert wurde.2 Am 22. November 1972 fanden in Hel-sinki Vorgespräche zwischen Vertretern al-ler Staaten Europas – mit Ausnahme Alba-niens – sowie der USA und Kanadas übereine einzuberufende „Konferenz über Si-cherheit und Zusammenarbeit in Europa“statt.

3 Am 31. Januar 1973 begannen in WienVorgespräche über eine Truppenreduzie-rung zwischen NATO und Warschauer Pakt(MBFR-Konferenz).

Nr. 1021 Es ist der Tag der Bundestagswahl1972.2 Zum Wahlergebnis vgl. Anhang.

Nr. 1031 Zum Wahlergebnis vgl. Anhang.2 Vgl. Einleitung.3 Am 18. September 1973 wurden so-wohl die Bundesrepublik als auch die DDRin die Vereinten Nationen aufgenommen.4 Nicht die beiden deutschen Regie-rungschefs, sondern ihre UnterhändlerEgon Bahr und Michael Kohl unterzeich-neten am 21. Dezember 1972 den „Grund-lagenvertrag“ zwischen der Bundesrepublikund der DDR. Vgl. Berliner Ausgabe, Bd. 6.

592 Anmerkungen S. 522 bis 527

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Anhang

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594 Anhang: Übersicht über Wahlergebnisse

Page 595: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Ergebnis der Wahl zur Berliner Stadtverordnetenversammlung1946 für Groß-Berlin in Prozent der gültigen Stimmen:

SPD SED CDU LDP Wahlbeteilig.

Groß-Berlin20. Oktober 48,7 19,8 22,2 9,3 92,3 %

Ergebnisse der Landtags- und Bürgerschaftswahlen 1946 in denWestzonen in Prozent der gültigen Stimmen:

Bayern30. Juni

Hessen30. Juni

Würt-tem-berg-

Baden30. Juni

Bre-men

13. Ok-tober

Ham-burg

13. Ok-tober

Würt-tem-berg-

Baden24. No-vember

Bayern1. De-

zember

Hessen1. De-

zember

CDU 58,31 37,2 40,9 19,3 26,7 38,4 52,31 31,0

SPD 28,8 44,3 32,3 48,0 43,1 31,9 28,6 42,7

FDP 2,5 8,1 16,8 16,9 18,2 19,5 5,6 15,7

KPD 5,3 9,7 10,0 11,5 10,4 10,3 6,1 10,7

Sons-tige 5,12 0,6 – 4,3 1,6 – 7,42 –

Wahl-beteilig. 71,7 % 71,7 % 68,2 % 81,6 % 79,0 % 72,2 % 75,7 % 73,2 %

1 CSU. 2 WAV.

595 Anhang: Übersicht über Wahlergebnisse

Page 596: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Ergebnisse der Landtags- und Bürgerschaftswahlen 1947 in denWestzonen in Prozent der gültigen Stimmen:

Schles-wig-Hol-stein20.

April

Nieder-sach-sen20.

April

Nord-rhein-West-falen20.

April

Rhein-land-Pfalz

18. Mai

Baden18. Mai

Würt-tem-berg-

Hohen-zollern18. Mai

Saar-land

5. Ok-tober

Bre-men

12. Ok-tober

CDU 34,1 19,9 37,6 47,2 55,9 54,2 – 22,0

SPD 43,8 43,4 32,0 34,3 22,4 20,8 32,84 41,7

FDP 5,0 8,8 5,9 9,8 14,3 17,7 7,65 19,47

KPD 4,7 5,6 14,0 8,7 7,4 7,3 8,4 8,8

Sons-tige 12,51 22,32 10,63 – – – 51,26 8,1

Wahl-beteilig. 69,8 % 65,1 % 76,3 % 77,9 % 67,8 % 66,4 % 95,7 % 67,8 %

1 Davon SSW: 9,3 %. 2 Davon NLP: 17,9 %. 3 Davon Z: 9,8 %. 4 SPS. 5 DPS. 6 CVP.7 Bremer Demokratische Volkspartei: 13,9 %, FDP: 5,5 %.

Ergebnisse der Bundestagswahlen 1949–1972 in Prozent dergültigen Zweitstimmen:

14.August

1949

6. Sep-tember

1953

15. Sep-tember

1957

17. Sep-tember

1961

19. Sep-tember

1965

28. Sep-tember

1969

19. No-vember

1972

CDU/CSU 31,0 45,2 50,2 45,3 47,6 46,1 44,9

SPD 29,2 28,8 31,8 36,2 39,3 42,7 45,8

FDP 11,9 9,5 7,7 12,8 9,5 5,8 8,4

KPD 5,7 2,2 – – – – –

Sonst. 22,2 14,31 10,3 5,7 3,6 5,42 0,9

Wahl-beteilig. 78,5 % 86,0 % 87,8 % 87,7 % 86,8 % 86,7 % 91,1 %

1 Davon GB/BHE: 5,9 %. 2 Davon NPD: 4,3 %.

596 Anhang: Übersicht über Wahlergebnisse

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Ergebnis der Bundestagswahl am 19. September 1965 ineinzelnen Ländern in Prozent der gültigen Zweitstimmen:

Nieder-sachsen

Saarland Baden-Württemberg

Bremen Schleswig-Holstein

CDU 45,8 46,8 49,9 34,0 48,2

SPD 39,8 39,8 33,0 48,5 38,8

FDP 10,9 8,6 13,1 11,7 9,4

Sonstige 3,5 4,8 3,8 5,8 3,6

Wahl-beteilig. 87,3 % 89,2 % 84,8 % 86,1 % 85,9 %

Ergebnisse verschiedener Landtagswahlen zwischen 1960 und1968 in Prozent der gültigen Stimmen:

Saarland4. Dezember

1960

Nordrhein-Westfalen8. Juli 1962

Schleswig-Holstein

23. Septem-ber 1962

Hessen11. Novem-

ber 1962

Bayern25. Novem-

ber 1962

CDU 36,6 46,4 45,0 28,8 47,53

SPD 30,0 43,3 39,2 50,8 35,3

FDP 13,8 6,9 7,9 11,5 5,9

Sonstige 19,61 – 6,5 6,32 4,8

Wahl-beteilig. 79,1 % 73,4 % 70,1 % 77,7 % 76,9 %

597 Anhang: Übersicht über Wahlergebnisse

Page 598: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Fortsetzung der Tabelle von S. 597

Berlin(West)

17. Februar1963

Rheinland-Pfalz

31. März1963

Nieder-sachsen

19. Mai 1963

Bremen29. Septem-

ber 1963

Hamburg27. März

1966

CDU 28,8 44,4 37,7 28,9 33,0

SPD 61,9 40,7 44,9 54,7 59,0

FDP 7,9 10,1 8,8 8,4 6,8

Sonstige 1,3 4,8 8,5 8,14 4,2

Wahl-beteilig. 89,9 % 75,5 % 76,9 % 76,1 % 69,8 %

Nordrhein-Westfalen

10. Juli 1966

Hessen6. November

1966

Bayern20. Novem-

ber 1966

Berlin(West)

12. März1967

Rheinland-Pfalz

23. April1967

CDU 42,8 26,4 48,16 32,9 46,7

SPD 49,5 51,0 35,8 56,9 36,8

FDP 7,4 10,4 5,1 7,1 8,3

Sonstige 0,3 12,25 11,07 3,2 8,28

Wahl-beteilig. 76,5 % 81,0 % 80,6 % 86,2 % 78,5 %

Schleswig-Holstein23. April

1967

Niedersach-sen 4. Juni

1967

Bremen1. Oktober

1967

Baden-Würt-temberg28. April

1968

CDU 46,0 41,7 29,5 44,2

SPD 39,4 43,1 46,0 29,0

FDP 5,9 6,9 10,5 14,4

Sonstige 8,79 8,310 14,011 12,412

Wahlbeteilig. 74,1 % 74,8 % 77,0 % 70,7 %

1 Davon CVP/SVP: 11,4 %, DDU: 5,0 %. 2 GDP/BHE. 3 CSU. 4 Davon DP: 5,2 %. 5 Da-von NPD: 7,9 %. 6 CSU. 7 Davon NPD: 7,4 %. 8 Davon NPD: 6,9 %. 9 Davon NPD: 5,8 %.10 Davon NPD: 7,0 %. 11 Davon NPD: 8,8 %. 12 Davon NPD: 9,8 %.

598 Anhang: Übersicht über Wahlergebnisse

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalische Quellen

Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Fried-rich-Ebert-Stiftung, BonnPersönliche Unterlagen/Biographische Materialien (A 1)Publizistische Äußerungen Willy Brandts 1933–1992 (A 3)Allgemeine Korrespondenz (A 4)Beruflicher Werdegang und politisches Wirken in Berlin 1947–1966 (A 6)1

Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler der Regierungder Großen Koalition 1966–1969 (A 7)Bundeskanzler und Bundesregierung 1969–1974 (A 8)Schriftwechsel/Aufzeichnungen geheim (A 9)Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Parteivorsitzender/Parteipräsidium/ Parteivorstand (1964–1987) (A 11)Persönliche Korrespondenz 1968–1980 (A 11.1)Verbindungen mit Mitgliedern des Präsidiums, sozialdemokrati-schen Bundesministern und Staatssekretären in obersten Bun-desbehörden (A 11.3)Verbindungen mit Referaten, Abteilungen, Büros des Erich-Ollenhauer-Hauses, Gremien beim Parteivorstand sowie Arbeits-gemeinschaften und Verbänden in der SPD (Bundesebene) (A 11.4)Verbindungen mit regionalen Parteigliederungen, Landes-verbände und Bezirke (A 11.5)Verbindungen mit regionalen Parteiorganisationen (A 11.6)Verbindungen mit Gruppierungen in der SPD sowie mit SPD-nahen Vereinigungen, Organisationen und Stiftungen (A 11.7)Mitgliedschaften Willy Brandts in Gremien beim Parteivorstand(A 11.8)SPD-Parteitage. Kongresse und Veranstaltungen (A 11.9)

1 Der Bestand „Beruflicher Werdegang und Berlin“ (A 6) ist nach der Benutzung umgeordnetworden, deshalb sind die Angaben der Mappennummerierung aus diesem Bestand mit demZusatz (alt) versehen.

599 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 600: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Allgemeine KorrespondenzWahlen (A 18)Akten aus dem Privathaus Willy Brandts in Unkel/Rhein (B 25)Leo BauerVerbindungen mit der Fraktion

Archiv Helmut Schmidt, HamburgArchiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

IG-Metall-Archiv: VorstandNachlass Fritz ErlerNachlass Richard LöwenthalNachlass Erich OllenhauerNachlass Carlo SchmidDepositum Helmut SchmidtNachlass Kurt SchumacherNachlass Fritz SternbergSammlung PersonaliaSPD-BundestagsfraktionSPD-ParteivorstandZeitgeschichtliche Sammlung: infratest

Landesarchiv BerlinE Rep. 2000–18, Nr. 27/1

Stiftung-Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, StuttgartNachlass Heuss N 1221 (= BArch Koblenz)

Veröffentlichte Quellen

I. Veröffentlichungen Willy Brandts

Brandt, Willy: Weitergeführte Demokratie, in: Der Monat 1 (1949) 5,S. 29–33.

Brandt, Willy/Löwenthal, Richard: Ernst Reuter. Ein Leben für die Frei-heit. Eine politische Biographie, München 1957.

Brandt, Willy: Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania,München 1960.

600 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

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Brandt, Willy: Das Regierungsprogramm der SPD. AußerordentlicherKongress der SPD, Bonn 28. April 1961 (als Manuskript gedruckt).

Brandt, Willy: Koexistenz – Zwang zum Wagnis, Stuttgart 1963.Brandt, Willy: Draußen. Schriften während der Emigration. Hrsg. von

Günter Struve, München 1966.Brandt, Willy: Braucht die Politik Schriftsteller?, in: Die Neue Gesell-

schaft 18 (1971) 1, S. 51–53.Brandt, Willy: Über den Tag hinaus. Eine Zwischenbilanz, Hamburg

1974.Brandt, Willy: Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975,

Hamburg 1976.Brandt, Willy: Links und frei. Mein Weg 1930–1950, Hamburg 1982.Brandt, Willy: Erinnerungen, Berlin-Frankfurt/Main 1994 (erw. Aufl.).Schumacher, Kurt/Ollenhauer, Erich/Brandt, Willy: Der Auftrag des de-

mokratischen Sozialismus, Bonn 1972.

II. Veröffentlichte Quellen

Adenauer, Konrad: Reden 1917–1967. Eine Auswahl. Hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975.

Albrecht, Willy (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden – Schriften – Korre-spondenzen, Berlin-Bonn 1985.

Albrecht, Willy (Hrsg.): Die SPD unter Kurt Schumacher und ErichOllenhauer 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzen-gremien, Bd. 1: 1946 bis 1948, Bonn 1999.

Auftakt zur Ära Brandt. Gedanken zur Regierungserklärung WillyBrandts vom 28. Oktober 1969 (Schriftenreihe der Bundes-kanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Heft 5), Berlin 1999.

Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996.Böhme, Erich/Wirtgen, Klaus (Hrsg.): Willy Brandt. Die SPIEGEL-Ge-

spräche 1959–1992, Stuttgart 1993.Dowe, Dieter/Klotzbach, Kurt (Hrsg.): Programmatische Dokumente

der deutschen Sozialdemokratie, Berlin-Bonn 1978.

601 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 602: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Dowe, Dieter (Hrsg.): Protokolle und Materialien des AllgemeinenDeutschen Arbeitervereins (inkl. Splittergruppen). Mit einerEinleitung von Cora Stephan, Berlin-Bonn 1980 (Nachdruck).

Ehmke, Horst (Hrsg.): Perspektiven. Sozialdemokratische Politik imÜbergang zu den siebziger Jahren, Reinbek 1969.

Ehmke, Horst: Mittendrin. Von der Großen Koalition zur DeutschenEinheit, Berlin 1994.

Ehmke, Horst/Ehrenberg, Herbert/Oertzen, Peter von (Hrsg.): Orientie-rungsrahmen ’85. Text und Diskussion. Bearb. von Heiner Lind-ner, Bonn-Bad Godesberg 1976.

Grass, Günter: Rede über das Selbstverständliche, in: Ders.: Essays undReden I, 1955–1959 (Günter Grass: Werkausgabe, Bd. 14), Göt-tingen 1997, S. 147–163.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe, Bonn1985.

Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.Beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemo-kratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis15. November 1959, Bonn 1959.

Hölscher, Wolfgang (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundes-tag. Sitzungsprotokolle 1957–1961 (Quellen zur Geschichte desParlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe,Bd. 8/II), Düsseldorf 1993.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1952/53,Bielefeld o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1954/55,Hannover-Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1956/57,Hannover-Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1958/59,Hannover-Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1960/61,Hannover-Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1962/63,Hannover-Bonn o. J.

602 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 603: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1964/65,Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1966/67,Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1968/69,Bonn o. J.

Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1970/72,Bonn o. J.

Jenaczek, Friedrich (Hrsg.): Ferdinand Lassalle. Reden und Schriften.Mit einer Lassalle-Chronik, München 1970.

Kautsky, Karl: Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teilerläutert von Karl Kautsky, Stuttgart 1892.

Kautsky, Karl: Kommentar zum Heidelberger Programm der Sozial-demokratie, Berlin 1925.

Kempski, Hans Ulrich: Um die Macht. Sternstunden und sonstige Aben-teuer mit den Bonner Bundeskanzlern 1949 bis 1999, Berlin 1999.

Krause, Werner/Gröf, Wolfgang (Hrsg.): Willy Brandt . . . auf der Zinneder Partei . . . Parteitagsreden 1960 bis 1983, Berlin-Bonn 1984.

Krone, Heinrich: Tagebücher. Erster Band: 1945–1961. Bearb.: OttoKleinmann, Düsseldorf 1995.

Musulin, Janko (Hrsg.): Proklamationen der Freiheit, Frankfurt/Main1959.

Potthoff, Heinrich (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.Sitzungsprotokolle 1961–1966, Erster Halbband: 1.–72. Sitzung1961–1963 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus undder politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 8/III), Düsseldorf 1993.

Ders. (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungs-protokolle 1961–1966, Zweiter Halbband: 73. –167. Sitzung1964–1966 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus undder politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 8/III), Düsseldorf 1993.

Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom14. bis 20. Oktober 1891, Bonn-Berlin 1978 (Nachdruck).

603 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 604: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 9. bis 11. Mai 1946 in Hannover,Hamburg 1947.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 11. bis 14. September 1948 inDüsseldorf, Hamburg o. J.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 21. bis25. Mai 1950 in Hamburg, Hamburg 1950.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 24. bis 28. September 1952 inDortmund, Bonn o. J.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 20. bis 24. Juli 1954 in Berlin,Berlin o. J.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 10. bis 14. Juli 1956 in München,Bonn o. J.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 18. bis 23. Mai 1958 in Stuttgart,Hannover-Bonn o. J.

Protokoll der Verhandlungen des Außerordentlichen Parteitages derSozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13.–15. Novem-ber 1959 in Bad Godesberg, Hannover-Bonn o. J.

Protokoll der Verhandlungen und Anträge vom Parteitag der Sozial-demokratischen Partei Deutschlands in Hannover 21. bis25. November 1960, Bonn 1961.

Protokoll der Verhandlungen vom Parteitag der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands in Köln vom 26. bis 30. Mai 1962,Bonn 1962.

Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages derSozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesbergvom 15. bis 16. Februar 1964, Bonn 1964.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 23. bis 27. November in Karls-ruhe 1964, Hannover/Bonn 1965.

604 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 605: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 1. bis 5. Juni 1966 in Dortmund,Hannover-Bonn 1967.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 17. bis 21. März 1968, Hannover-Bonn 1968.

Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands vom 11. bis 14. Mai 1970 in Saar-brücken, Bonn o. J.

Roosevelt spricht. Die Kriegsreden des Präsidenten, Stockholm 1945.Schmidt, Helmut: Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Ber-

lin 1996.Scholz, Arno/Oschilewski, Walther G. (Hrsg.): Turmwächter der Demo-

kratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Bd. 3: Als er vonuns ging, Berlin 1952.

Scholz, Arno/Oschilewski, Walther G. (Hrsg.): Kurt Schumacher. Redenund Schriften, Berlin 1962.

Schütz, Klaus: Logenplatz und Schleudersitz. Erinnerungen, Berlin-Frankfurt/Main 1992.

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hrsg.): Entwurf zu einemGrundsatzprogramm, Bonn 1958.

Stein, Philipp (Hrsg.): Fürst Bismarcks Reden 1882–1884, Leipzig o. J.Weber, Petra (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sit-

zungsprotokolle 1949–1957, Erster Halbband: 1.–181. Sitzung1949–1953 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus undder politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 8/I), Düsseldorf 1993.

Dies. (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungs-protokolle 1949–1957, Zweiter Halbband: 182. –328. Sitzung1953–1957 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus undder politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 8/I), Düsseldorf 1993.

Wehner, Herbert: Wandel und Bewährung. Ausgewählte Reden undSchriften 1930–1975. Hrsg. von Gerhard Jahn, Berlin-Frankfurt/Main 1976 (erw. Aufl.).

605 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 606: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

III. Magazine, Pressedienste, Zeitungen

ArbeiterbladetBerliner StimmeGeneralanzeiger (Bonn)Frankfurter AllgemeineFrankfurter RundschauHandelsblattParlamentarisch-Politischer-Pressedienst (PPP)QuickRheinischer MerkurDer SpiegelSPD Pressemitteilungen und InformationenSüddeutsche ZeitungSüdwest PresseStuttgarter ZeitungVorwärtsDie WeltDie Zeit

Zitierte Literatur

Andrzejewski, Marek/Rinklake, Hubert: „Man muß doch informiertsein, um leben zu können“. Erich Brost. Danziger Redakteur,Mann des Widerstandes, Verleger und Chefredakteur der West-deutschen Allgemeinen Zeitung, Bonn 1997.

Appelius, Stefan: Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht, Essen1999.

Arend, Peter: Die innerparteiliche Entwicklung der SPD 1966–1975,Diss. Köln 1974.

Ashkenasi, Abraham: Reformpartei und Außenpolitik. Die Außen-politik der SPD Berlin-Bonn, Köln-Opladen 1968.

Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982.Bender, Peter: Die ,Neue Ostpolitik‘ und ihre Folgen. Vom Mauerbau

bis zur Vereinigung, 4. Aufl., München 1996.

606 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

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Bouvier, Beatrix W.: Zwischen Godesberg und Großer Koalition. DerWeg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicher-heits- und deutschlandpolitische Umorientierungen und gesell-schaftliche Öffnung der SPD 1960–1966, Bonn 1990.

Bouvier, Beatrix W.: Ausgeschaltet. Sozialdemokraten in der So-wjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn1996.

Brandes, Georg: Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild,Berlin 1877.

Brandt, Peter u. a.: Karrieren eines Außenseiters. Leo Bauer zwischenKommunismus und Sozialdemokratie 1912 bis 1972, Berlin-Bonn 1983.

Burnham, James: Das Regime der Manager, Stuttgart 1948.Eppler, Erhard: Maßstäbe für eine humane Gesellschaft. Lebensstan-

dard oder Lebensqualität?, Stuttgart 1974.Erler, Fritz/Jaeger, Richard: Sicherheit und Rüstung, Köln 1962.Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999.Grass, Günter: Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Hamburg 1972.Grebing, Helga: Die Parteien, in: Benz,Wolfgang (Hrsg.): Die Geschichte

der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Frankfurt/Main 1989,S. 71–150.

Grebing, Helga: Kurt Schumacher als Parteivorsitzender und seineKontrahenten, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land (Hrsg.): Kurt Schumacher und seine Politik, Berlin 1996 [a],S. 13–28.

Grebing, Helga: „Neubau“ statt „Wiederaufbau“ der SPD – die Lehrenaus der Weimarer Republik, in: Dowe, Dieter (Hrsg.): Kurt Schu-macher und der „Neubau“ der deutschen Sozialdemokratie nach1945, Bonn 1996 [b], S. 73–89.

Grebing, Helga: Probleme einer Neubestimmung demokratisch-sozia-listischer Politik nach 1945, in: Faulenbach, Bernd/Potthoff, Hein-rich (Hrsg.): Sozialdemokraten und Kommunisten nach Natio-nalsozialismus und Krieg. Zur historischen Einordnung derZwangsvereinigung, Essen 1998, S. 55–68.

607 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

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Grebing, Helga: Willy Brandt – Ein Leben für Freiheit und Sozialismus(Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Heft 4),Berlin 1999.

Grebing, Helga: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland II(1933–1989), in: Dies. (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen inDeutschland, Essen 2000.

Heimann, Siegfried: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in:Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bun-desrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 2, Opladen 1984,S. 2025–2216.

Klotzbach, Kurt: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktischePolitik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945–1965, Bonn (Neuauflage) 1996.

Löer, Wigbert: Ausflug zur Macht, noch nicht wiederholt. Die Sozial-demokratische Wählerinitiative und ihre Rudimente im Bun-destagswahlkampf 1998, in: Dürr, Tobias/Walter, Franz (Hrsg.):Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft. Parteien,Milieus und Verbände im Vergleich, Opladen 1999, S. 379–393.

Löwenthal, Richard: Die Kontinuität der Bewegung – 100 Jahre Kampfum die Demokratie, in: Der Politologe. Berliner Zeitschrift fürPolitische Wissenschaft, 4 (1963) 13, S. 11–17.

Löwenthal, Richard: The Soviet Union, China and Japan, in: Survey. Ajournal of East and West studies 18 (1972) 4, S. 30–37.

Lorenz, Einhart: Willy Brandt in Norwegen. Die Jahre des Exils 1933bis 1940, Kiel 1989.

Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei-Volkspartei-Quo-tenpartei, Darmstadt 1992.

Malycha, Andreas: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie unddie Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ, Bonn1995.

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Müller, Albrecht: Willy wählen ’72. Siege kann man machen, Ann-weiler 1997.

608 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

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Münkel, Daniela: Zwischen Diffamierung und Verehrung. Das BildWilly Brandts in der bundesdeutschen Öffentlichkeit (bis 1974),in: Tessmer, Carsten (Hrsg.): Das Willy-Brandt-Bild in Deutschlandund Polen (Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stif-tung, Heft 6), Berlin 2000, S. 23–40.

Münkel, Daniela: Intellektuelle für die SPD. Die sozialdemokratischeWählerinitiative, in: Hertfelder,Thomas/Hübinger, Gangolf (Hrsg.):Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik,Stuttgart 2000, S. 222–238.

Osterroth, Franz/Schuster, Dieter: Chronik der deutschen Sozial-demokratie, Bd. III: Nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl., Bonn1978.

Potthoff, Heinrich: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis1990, Berlin 1991.

Prittie, Terence: Willy Brandt. Biographie, Frankfurt/Main 1973.Pulte, Peter: Parteiprogramme, Neuwied u. a. 1980.Rudolph, Karsten: Die sechziger Jahre. Das Jahrzehnt der Volks-

parteien?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999) 2,S. 362–376.

Saage, Richard: Faschismustheorien, Baden-Baden 1997.Seebacher-Brandt, Brigitte: Bebel. Künder und Kärrner im Kaiserreich,

2. Aufl., Bonn 1990.Schmidt, Ute: Christlich Demokratische Union Deutschlands, in: Stöss,

Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundes-republik Deutschland 1945–1980, 2 Bde., Opladen 1983.

Schneider, Andrea H.: Die Kunst des Kompromisses. Helmut Schmidtund die Große Koalition 1966–1969, Paderborn u. a. 1999.

Schneider, Michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Ent-wicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn1989.

Schöllgen, Gregor: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland.Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 1999.

Schönhoven, Klaus: Entscheidung für die Große Koalition. Die Sozial-demokratie in der Regierungskrise im Spätherbst 1966, in: Pyta,

609 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

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Wolfram/Richter, Ludwig (Hrsg.): Gestaltungskraft des Politi-schen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 379–397.

Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Bd. 2: Der Staatsmann 1952–1967,München 1994.

Sering, Paul ( d.i. Löwenthal, Richard): Jenseits des Kapitalismus, Laufb. Nürnberg 1946.

Soell, Hartmut: Fritz Erler – Eine politische Biographie, 2 Bde., Bonn1976.

Sontheimer, Kurt: So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politi-schen Kultur der Bundesrepublik, München 1999.

Varga, Eugen: Veränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft imGefolge des Zweiten Weltkrieges, Moskau 1946.

Das Wahlkontor deutscher Schriftsteller in Berlin 1965. Versucheiner Parteinahme, Berlin 1990.

Walser, Martin (Hrsg.): Die Alternative oder Brauchen wir eine neueRegierung?, Reinbek 1961.

Weber, Petra: Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie, München1996.

Wildenmann, Rudolf/Scheuch, Erwin K.: Der Wahlkampf 1961 imRückblick, in: Dies.: Zur Soziologie der Wahl (Kölner Zeitschriftfür Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 9), Köln-Op-laden 1965, S. 39–73.

Winkler, Heinrich August: Kurt Schumacher und die nationale Frage,in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.):Kurt Schumacher und seine Politik, Berlin 1996, S. 41–52.

Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Ar-beiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1924, Bonn 1984.

Zons, Achim: Das Denkmal. Bundeskanzler Willy Brandt und dielinksliberale Presse, München 1984.

610 Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis

Page 611: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Abkürzungsverzeichnis

ADAV Allgemeiner Deutscher ArbeitervereinAdsD Archiv der sozialen Demokratiea.o. außerordentlichAPO Außerparlamentarische OppositionARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rund-

funkanstalten der Bundesrepublik DeutschlandAUD Aktionsgemeinschaft unabhängiger DeutscherBArch BundesarchivBBC British Broadcasting Corporation (Britische Rund-

funkgesellschaft)BGBl BundesgesetzblattBHE Block der Heimatvertriebenen und EntrechtetenBPA BundespresseamtBS Berliner Stadtblatt, ab 1952 die Wochenzeitung Berliner

StimmeCDU Christlich-Demokratische Union DeutschlandsCSSR Ceskoslovenská Socialistická Republika (Tschecho-

slowakische Sozialistische Republik)CSU Christlich-Soziale Union in BayernCVP Christliche Volkspartei des SaarlandesDDP Deutsche Demokratische ParteiDDR Deutsche Demokratische RepublikDDU Deutsche Demokratische UnionDFU Deutsche Friedens-UnionDGB Deutscher GewerkschaftsbundDKP Deutsche Kommunistische ParteiDNA Det norske Arbeiderpartiet (Norwegische Arbeiter-

partei)DOG Deutsche Olympische GesellschaftDP Deutsche Parteidpa Deutsche Presse AgenturDPS Demokratische Partei Saar

611 Anhang: Abkürzungsverzeichnis

Page 612: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

DVP Deutsche VolksparteiEFTA European Free Trade Association (Europäische Frei-

handelsassoziation)EG Europäische GemeinschaftEmnid Erforschung, Meinung, Nachrichten, Informations-

dienst. Institut für Markt-, Meinungs- und Sozialfor-schung

EVG Europäische VerteidigungsgemeinschaftEWG Europäische WirtschaftsgemeinschaftFAZ Frankfurter Allgemeine ZeitungFDJ Freie Deutsche JugendFDP Freie Demokratische ParteiFES Friedrich-Ebert-StiftungFU Freie UniversitätFV FraktionsvorstandFVP Freie VolksparteiGB Gesamtdeutscher BlockGDP Gesamtdeutsche ParteiGmbH Gesellschaft mit beschränkter HaftungGVP Gesamtdeutsche VolksparteiIG Metall Industriegewerkschaft Metallinfas Institut für angewandte SozialwissenschaftJusos JungsozialistenKominform Kommunistisches InformationsbüroKPC Kommunistische Partei der TschechoslowakeiKPD Kommunistische Partei DeutschlandsKPdSU Kommunistische Partei der SowjetunionKSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in

EuropaKZ KonzentrationslagerLV LandesverbandMBFR Mutual Balanced Forces Reductions (Beiderseitig aus-

gewogene Truppenverminderungen)MdB Mitglied des BundestagesMdL Mitglied des Landtages

612 Anhang: Abkürzungsverzeichnis

Page 613: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

MdPR Mitglied des Parlamentarischen RatesMd(N)R Mitglied des (Norddeutschen) ReichstagesMPr MinisterpräsidentNATO North Atlantic Treaty Organization (Organisation des

Nordatlantikpakts)NL NachlassNLP Niedersächsische LandesparteiNOK Nationales Olympisches KomiteeNPD Nationaldemokratische Partei DeutschlandsNRW Nordrhein-WestfalenNS NationalsozialismusNSDAP Nationalsozialistische Deutsche ArbeiterparteiOECD Organization for Economic Cooperation and Deve-

lopment (Organisation für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung)

OEEC Organization for European Economic Cooperation(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit inEuropa)

OHG Offene HandelsgesellschaftOMGUS Office of the Military Goverment (for Germany), Uni-

ted States (Amt der US-amerikanischen Militärregie-rung für Deutschland)

ORB Ostdeutscher Rundfunk BrandenburgPPP Parlamentarisch-Politischer-PressedienstPR ParteiratPV ParteivorstandRAF Rote Armee FraktionRbm Regierender BürgermeisterRIAS Rundfunk im amerikanischen SektorSAGs Soziale ArbeitsgemeinschaftenSAP bzw.SAPD Sozialistische Arbeiterpartei DeutschlandsSBZ Sowjetische BesatzungszoneSDAJ Sozialistische Deutsche ArbeiterjugendSDS Sozialistischer Deutscher Studentenbund

613 Anhang: Abkürzungsverzeichnis

Page 614: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

SED Sozialistische Einheitspartei DeutschlandsSEW Sozialistische Einheitspartei WestberlinsSFB Sender Freies BerlinSHAPE Supreme Headquarters of the Allied Powers in Europe

(Oberstes Hauptquartier der vereinigten Streitkräftein Europa)

SHB Sozialdemokratischer Hochschulbund (ab März 1971Sozialistischer Hochschulbund)

SMAD Sowjetische Militäradministration in DeutschlandSopade Sozialdemokratische Partei DeutschlandsSPD Sozialdemokratische Partei DeutschlandsSPÖ Sozialistische Partei Österreichs (seit 1991 Sozialde-

mokratische)SPS Sozialdemokratische Partei SaarSRP Sozialistische ReichsparteiSSW Südschleswigscher WählerverbandStGB StrafgesetzbuchSU SowjetunionSVP Saarländische VolksparteiSWF SüdwestfunkSWI Sozialdemokratische WählerinitiativeSZ Süddeutsche ZeitungTH Technische HochschuleTNT 2,4,6-Trinitrotoluol (u. a. Vergleichseinheit für die

Sprengwirkung von Atombomben)TU Technische UniversitätUFA Universum Film AktiengesellschaftUN verkürzte Fassung von UNOUNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural

Organization (Organisation der Vereinten Nationenfür Erziehung, Wissenschaft und Kultur)

UNO United Nations Organization (Organisation der Ver-einten Nationen)

USA United States of America (Vereinigte Staaten vonAmerika)

614 Anhang: Abkürzungsverzeichnis

Page 615: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

VVN Vereinigung der Verfolgten des Nazi-RegimesWAV Wirtschaftliche AufbauvereinigungWBA Willy-Brandt-ArchivWDR Westdeutscher RundfunkWEU Westeuropäische UnionZ ZentrumZDF Zweites Deutsches FernsehenZK ZentralkomiteeZ.W.L. Zentrale Wahlkampfleitung

615 Anhang: Abkürzungsverzeichnis

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Editionsgrundsätze

Die Berliner Ausgabe zeichnet anhand von Quellen, die nach wissen-schaftlichen Kriterien ausgewählt werden, das politische WirkenWilly Brandts nach. Dabei werden die unterschiedlichen Funktionenund Ämter Brandts und thematisch abgrenzbare Tätigkeitsfelder je-weils gesondert behandelt. Die vorliegenden Dokumentenbändestützen sich vorwiegend auf Materialien aus dem Willy-Brandt-Ar-chiv (WBA) im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Veröffentlichte Dokumente und Schriftstücke aus anderenArchiven werden übernommen, wenn sie ursprünglicher oder voll-ständiger sind als Schriftstücke aus dem WBA, wenn sie Lücken imBrandt-Nachlass schließen oder ihr Inhalt eine Aufnahme in die Edi-tion nahe legt.

In beschränktem Umfang werden in die Edition auch Quellenaufgenommen, deren Verfasser nicht Willy Brandt selbst ist, die aberin unmittelbarem Bezug zu seinem politischen Denken und Tun ste-hen. So finden sich in den Bänden sowohl Briefe oder sonstige Mit-teilungen an Willy Brandt als auch Vorlagen seiner Mitarbeiter.

Die Edition richtet sich in Übereinstimmung mit dem gesetzlichfestgelegten politischen Bildungsauftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung (BWBS) an eine breite historisch-politisch inte-ressierte Öffentlichkeit. Dies war sowohl bei der Auswahl der zupublizierenden Dokumente als auch bei ihrer Aufbereitung undKommentierung zu beachten. Deshalb finden vereinzelt auch Mate-rialien Berücksichtigung, die z. B. Einblick in den Alltag eines Spit-zenpolitikers und Staatsmannes gewähren. Sämtliche fremd-sprachigen Texte wurden ins Deutsche übertragen und sind alsÜbersetzungen kenntlich gemacht.

Die durchnummerierten Dokumente sind grundsätzlich chro-nologisch angeordnet. Ausschlaggebend dafür ist das Datum des be-treffenden Ereignisses, bei zeitgenössischen Veröffentlichungen dasDatum der Publikation. Einzelne Bände der Berliner Ausgabe ver-binden aus inhaltlichen Gründen eine themenbezogene systemati-

616 Anhang: Editionsgrundsätze

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sche Gliederung mit dem chronologischen Ordnungsprinzip. EinDokument, das als Anlage kenntlich gemacht oder aus dem Text-zusammenhang als Anlage erkennbar ist, gilt mit Blick auf die Rei-henfolge und die Nummerierung nicht als eigenständig, wenn dasHauptdokument, dem es beigegeben ist, ebenfalls abgedruckt wird.In diesem Fall trägt es die Nummer des Hauptdokuments zuzüglicheines Großbuchstabens (in alphabetischer Reihenfolge) und wird imDokumentenkopf ausdrücklich als Anlage ausgewiesen. Das Datumder Anlage ist für die Einordnung unerheblich.

Der Dokumentenkopf umfasst Dokumentennummer, Doku-mentenüberschrift und Quellenangabe. Die Dokumentenüberschriftvermittelt auf einen Blick Informationen zum Datum, zur Art desDokuments und zu den jeweils unmittelbar angesprochenen han-delnden Personen. Die Quellenangaben weisen in der Regel nur denFundort des Originals nach, nach dem das Dokument abgedrucktwird. Fremdsprachige Archivnamen und Bestandsbezeichnungensind in den Angaben des Dokumentenkopfes ins Deutsche übersetzt.

Wird das Dokument unvollständig wiedergegeben, wird es inder Dokumentenüberschrift als Auszug bezeichnet.

Zum Dokument gehören sämtliche im Originaltext enthaltenenAngaben. Dazu zählen im einzelnen: Datum und Uhrzeiten, Klassifi-zierung, Anrede, Anwesenheits- oder Teilnehmerlisten, Überschrif-ten und Zwischenüberschriften, Schlussformeln, Unterschriften,Namenskürzel, hand- oder maschinenschriftliche Zusätze, Kommen-tare und Korrekturen, sofern sie nicht einen deutlich späteren Zeit-bezug haben. Auf eine Reihe dieser Angaben wird beim Abdruckverzichtet, wenn sie inhaltlich unerheblich oder schon im Doku-mentenkopf enthalten sind. Dies gilt insbesondere für Datumsan-gaben, Absenderanschriften, Adressen und ebenso für Überschriften,sofern diese dem Dokumentenkopf weitestgehend entsprechen.Hand- bzw. maschinenschriftliche Vermerke oder Kommentare, diesich auf das Dokument insgesamt beziehen, werden unabhängig vonihrer Aussagekraft immer in der Anmerkung wiedergegeben, wennsie von Brandt selbst stammen; dies gilt ebenso für die Paraphe oderandere Kürzel Brandts sowie Stempel bzw. Vermerke, mit denen be-

617 Anhang: Editionsgrundsätze

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stätigt wird, dass Brandt Kenntnis von dem Schriftstück genommenhat. Übrige Vermerke, Paraphen oder Stempel werden nur dann ineine Anmerkung aufgenommen, wenn dies aus Sicht des jeweiligenBearbeiters aus inhaltlichen Gründen geboten ist.

Streichungen im Original erscheinen nicht im Dokumententext,alle hand- bzw. maschinenschriftlichen Zusätze oder Korrekturenwerden in der Regel unkommentiert in den Dokumententext über-nommen, da sie allesamt als vom jeweiligen Verfasser genehmigtgelten können. Wird solchen Ergänzungen, Verbesserungen oderStreichungen jedoch eine wichtige inhaltliche Aussagekraft zuge-schrieben, wird dies insoweit in textkritischen Anmerkungen er-läutert. Im Text selbst werden solche Passagen in spitze Klammern„< >“ gesetzt. Unterschriften und Paraphen des Verfassers eines Do-kuments werden in der Regel kommentiert, Unterstreichungen, Be-merkungen und Notizen am Rand nur dann, wenn dies inhaltlichgeboten erscheint.

Bei der Wiedergabe der Dokumente wird ein Höchstmaß an Au-thentizität angestrebt. Die im jeweiligen Original gebräuchlicheSchreibweise sowie Hervorhebungen werden unverändert über-nommen. Dies gilt ebenso für die Wiedergabe von Eigennamen ausslawischen Sprachen, die im übrigen Text grundsätzlich in der tran-skribierten Form erscheinen. Das Layout folgt weitgehend dem Ori-ginal, sofern Absätze, Zeilenausrichtung und Aufzählungen betroffensind. Offensichtliche „Verschreibfehler“ werden hingegen ohne wei-teren Hinweis verbessert, es sei denn, sie besitzen inhaltliche Aus-sagekraft. Sinnentstellende Passagen und Zusätze werden im Doku-mententext belassen, Streichungen solcher Art nicht rückgängig ge-macht und in textkritischen Anmerkungen mit der gebotenenZurückhaltung erläutert. Ebenso wird mit schwer verständlichenoder heute nicht mehr gebräuchlichen Ausdrücken verfahren. Sach-lich falsche Angaben in der Vorlage werden im Anmerkungsapparatkorrigiert. Tarnnamen und -bezeichnungen sowie sonstige „Codes“oder schwer zu deutende Formulierungen werden in eckigen Klam-mern im Dokumententext aufgeschlüsselt. Abkürzungen im Origi-naltext werden in der Regel im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Im

618 Anhang: Editionsgrundsätze

Page 619: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Dokumententext selbst werden sie – in eckigen Klammern – nurdann entschlüsselt, wenn es sich um ungewöhnliche Kurz-schreibformen handelt.

Die Berliner Ausgabe enthält einen bewusst knapp gehaltenenAnmerkungsteil, der als separater Abschnitt dem Dokumententeilangehängt ist. Die Zählung der Anmerkungen erfolgt durchgehendfür die Einleitung und für jedes einzelne Dokument. Der Kommentarsoll in erster Linie Hilfe für die Leserin und den Leser sein. Er ergänztdie im Dokumentenkopf enthaltenen formalen Informationen, gibttextkritische Hinweise, erläutert knapp Ereignisse oder Sachverhalte,die aus dem Textzusammenhang heraus nicht verständlich werdenoder der heutigen Erfahrungswelt fremd sind, weist in den Doku-menten erwähntes veröffentlichtes Schriftgut nach und liefert Quer-verweise auf andere Quellentexte innerhalb der Edition, sofern sie ineinem engeren Bezug zueinander stehen. Es ist nicht Aufgabe desKommentars, Ereignisse oder Sachverhalte, die in den ediertenSchriftstücken angesprochen sind, detailliert zu rekonstruieren.Ebenso wenig sollen weitere nicht abgedruckte Aktenstücke oderanderes Schriftgut mit dem Ziel nachgewiesen werden, den ge-schichtlichen Kontext der abgedruckten Quellentexte in ihrer chro-nologischen und inhaltlichen Abfolge sichtbar zu machen und damitEntscheidungsprozesse näher zu beleuchten.

Es bleibt der Einführung zu den einzelnen Bänden vorbehalten,das edierte Material in den historischen Zusammenhang einzu-ordnen, die einzelnen Dokumente in Bezug zueinander zu setzensowie zentrale Begriffe ausführlich zu klären. Darüber hinaus unter-zieht sie das politische Wirken Brandts und die jeweiligen histori-schen Rahmenbedingungen seiner Politik einer kritischen Bewer-tung. Aufgabe der Einführung ist es auch, die Auswahl der Doku-mente zu begründen, in der gebotenen Kürze den Forschungsstandzu referieren und auf einschlägige Sekundärliteratur hinzuweisen.

Eine erste Orientierung in jedem Band bietet dem Leser dasdurchnummerierte Dokumentenverzeichnis mit Angabe der Seiten-zahlen, über das sich jedes Dokument nach Datum, Bezeichnung desVorgangs und der daran beteiligten Personen erschließen lässt.

619 Anhang: Editionsgrundsätze

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Das Personenregister listet die Namen aller in der Einführung, imDokumententeil einschließlich Dokumentenverzeichnis und im An-merkungsapparat genannten Personen mit Ausnahme des Namensvon Willy Brandt auf, sofern sie nicht im Rahmen selbständigerbibliographischer Angaben ausgewiesen sind; es enthält zusätzlichbiographische Angaben, insbesondere zu den maßgeblichen Funk-tionen, die die angesprochenen Personen während der vom jewei-ligen Band erfassten Zeitspanne ausübten. Die alphanumerisch ge-ordneten Schlagwörter des Sachregisters, denen weitere Unter-begriffe zugeordnet sein können, ermöglichen einen gezielten,thematisch differenzierten Zugriff. Das Quellen- und Literaturver-zeichnis vermittelt – mit Ausnahme von Artikeln in Tages-, Wochen-oder monatlich erscheinenden Zeitungen bzw. Pressediensten –einen Überblick über die im Rahmen der Bearbeitung des jeweiligenBandes der Berliner Ausgabe eingesehenen Archivbestände und diebenutzte Literatur.

Carsten Tessmer

620 Anhang: Editionsgrundsätze

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Personenregister

Abendroth, Wolfgang (1906–1985), 1948ordentlicher Professor in Jena, 1948Flucht in die britische Besatzungszone,1950–1972 Professor für Politikwissen-schaft in Marburg, 1961 Ausschluss ausder SPD wegen Kontakten zum SDS,1962 Mitbegründer und Vorstands-mitglied des „Sozialistischen Bun-des“ 546

Adenauer, Konrad (1876–1967), Mitbe-gründer der rheinländischen CDU,1946–1950 Erster Vorsitzender derCDU in der britischen Besatzungszone,1950–1966 Vorsitzender der CDU,1948–1949 Präsident des Parlamentari-schen Rates, 1949–1963 Bundeskanz-ler, 1949–1967 MdB, 1951–1955 Bun-desaußenminister 36, 41 f., 44 f., 135,137, 142, 146, 151, 168, 190, 229, 256, 261,263, 266–270, 290, 298 f., 304, 340, 360,522, 530, 534 f., 544, 546, 548, 557–560,568 f., 592

Agartz, Viktor (1897–1964), 1947 MdLNordrhein-Westfalen (SPD), 1948–1955 Leiter des Wirtschaftswissen-schaftlichen Instituts der Gewerk-schaften, 1958 Ausschluss aus derSPD 21

Ahlers, Conrad (1922–1980), 1949–1951Tätigkeit beim Hamburger Sonntags-blatt, 1951–1952 Chef vom Dienst imBPA, 1952–1966 Journalist für ver-schiedene Presseorgane, darunter1962–1966 stellv. Chefredakteur desMagazins Der Spiegel, 1966–1968 stellv.Leiter, 1969–1972 Leiter des BPA1972–1980 MdB (SPD) 534

Ahlers, Sybille, Tochter von Conrad undHeilwig → Ahlers 524

Albertz, Heinrich (1915–1993), 1947–1955MdL Niedersachsen, 1948–1951Flüchtlingsminister und 1951–1955Sozialminister in Niedersachsen, 1959Bevollmächtigter des SPD-Parteivor-stands in Berlin und Chef der BerlinerSenatskanzlei, 1961–1963 und 1965–1966 Innensenator Berlin, 1966–1967Regierender Bürgermeister von Ber-lin 26, 271, 287, 560

Anders, Karl (1907–1997), eigentl. Name:Kurt Wilhelm Naumann, 1934–1946Emigration, 1940 Anschluss an die so-zialistische Widerstandsgruppe NeuBeginnen (vorher KPD), 1945–1949Deutschland-Berichterstatter für dieBBC, Die Zeitung und Observer, 1946–1960 Leiter des Nest-Verlags Nürn-berg–Frankfurt am Main, 1953–1957Geschäftsführer und Verlagsleiter derFrankfurter Rundschau, 1958–1959 Be-rater der Konzentration Aktiengesell-schaft in Bonn, 1960/61 Mitarbeiter derZWL der SPD, 1971–1974 Mitglied derGrundwerte-Kommission der SPD 70,225–227, 478, 556, 566

Arp, Erich (geb. 1909), 1946–1947 Ministerfür Aufbau und Arbeit, 1947–1949 fürErnährung, Landwirtschaft und Fors-ten in Schleswig-Holstein (SPD), 1946–1950 MdL Schleswig-Holstein, 1949Austritt aus der SPD wegen Kontaktenzur SED, 1957 Wiedereintritt in dieSPD, 1961–1974 Mitglied der Ham-burger Bürgerschaft 98, 540

621 Anhang: Personenregister

Page 622: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Augstein, Rudolf (geb. 1923), seit 1947Herausgeber des NachrichtenmagazinsDer Spiegel, 1962–1963 Verhaftung imZuge der sog. „Spiegel-Affäre“, 1972MdB (FDP) 534

Baader, Andreas (1944–1977), 1970 Mitbe-gründer und führendes Mitglied der„Rote Armee Fraktion“ 582

Bahr, Egon (geb. 1922), 1945–1950 Journa-list für verschiedene Presseorgane,1950–1960 RIAS Berlin, 1953–1954dessen Chefredakteur, 1956 Beitritt zurSPD, 1960–1966 Leiter des Presse- undInformationsamtes des Landes Berlin,1966–1967 Sonderbotschafter im Aus-wärtigen Amt, 1967–1969 Leiter des-sen Planungsstabs, 1969–1972 Staats-sekretär im Bundeskanzleramt, zusätz-lich Bundesbevollmächtigter fürBerlin, 1972–1974 Bundesminister fürbesondere Aufgaben, 1972–1990 MdB(SPD) 72, 224–226, 268, 303–305,524, 555, 565–567, 573, 592

Barsig, Franz (1924–1988), 1947–1948stellv. Leiter des Büros der DeutschenNachrichtenagentur, 1948–1954 Leiterdes Ressorts Innen- und Wirtschafts-politik beim SPD-Parteiorgan Vorwärts,1954–1958 Pressereferent der SPD-Bundestagsfraktion, 1958–1965 Spre-cher des SPD-Parteivorstands, 1965–1968 Chefredakteur der Hauptabtei-lung „Aktuelles Programm“ und stellv.Intendant beim Deutschlandfunk,1968–1977 Intendant des SFB 354,566

Barzel, Rainer (geb. 1924), 1949–1956 Tä-tigkeiten in der Verwaltung Nord-rhein-Westfalens, 1956–1987 MdB(CDU), 1962–1963 Bundesminister fürGesamtdeutsche Fragen, 1964–1973Vorsitzender der CDU/CSU-Bundes-

tagsfraktion, 1971–1973 Vorsitzenderder CDU 481, 499 f., 503, 521 f., 525,576

Baudissin,Wolf Graf (1907–1993), ab 1951Beteiligung am Aufbau westdeutscherStreitkräfte, 1955 Eintritt als Oberst indie Bundeswehr, 1959 Chef des Ge-neralstabs im NATO-Hauptquartier,1963–1965 Kommandeur des NATO-Defence College, 1965–1967 Chef desStabes für Planung und Operationenim SHAPE, 1968 Eintritt in dieSPD 581, 587

Bauer, Leo (1912–1972), 1949–1950 Chef-redakteur des Deutschlandsenders in derDDR, Bruch mit der SED und Fluchtaus der DDR, 1961–1968 politischerRedakteur des Stern, 1968–1972 Chef-redakteur der SPD-nahen ZeitschriftDie Neue Gesellschaft 75, 425–427,580 f.

Bebel, August (1840–1913), 1869 Mitbe-gründer der Sozialdemokratischen Ar-beiterpartei, 1875 Mitbegründer derSozialistischen Arbeiterpartei, 1867–1881 und 1883–1913 MdNR bzw. MdR,1892–1913 Vorsitzender der SPD 104,114, 290, 295, 298, 315, 378, 456 f., 492,496, 514, 561, 564

Becker, Walter (1920–1990), Professor amUniversitätsklinikum in Bonn, ArztWilly Brandts 524

Beermann, Friedrich (1912–1975), 1955–1959 militärtechnischer Berater derSPD-Bundestagsfraktion, 1959–1968im Auslandsdienst der Bundeswehr,u. a. Mitarbeiter der deutschen Vertre-tung der NATO-Kommission in Wa-shington, Militärattaché der deutschenBotschaft in Neu Dehli, 1968–1969deutscher Bevollmächtigter bei der

622 Anhang: Personenregister

Page 623: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

NATO-Gruppe Nord, 1969–1975 MdB(SPD) 69 f., 200 f., 211 f., 551, 553 f.

Behrendt, Walter (1914–1997), 1957–1976MdB (SPD), 1971–1973 Präsident desEuropäischen Parlaments 352

Ben-Gurion, David (1886–1973), 1921–1933 Generalsekretär der von ihm mit-begründeten jüdischen Arbeiter-organisation Histadrut, 1930 Mitbe-gründer der Mapai (Arbeiterpartei,Austritt 1956), 1948 nach Gründungdes Staates Israel Ministerpräsidentund Verteidigungsminister (bis 1953und 1955–1963) 592

Bernhard, Georg (1875–1944), 1909 Mit-glied der Direktion des Ullstein-Ver-lags, 1928–1933 MdR (SPD), 1933 Aus-schluss aus dem Reichsverband derdeutschen Presse, 1934 Aberkennungder deutschen Staatsbürgerschaft,1933–1939 Exil in Paris 564

Bernstein, Eduard (1850–1932), 1878 Re-dakteur des Parteiorgans Der Sozial-demokrat, 1888–1901 Exil in London,1891 Mitverfasser des „Erfurter Pro-gramms“ der SPD, Theoretiker des „Re-visionismus“, 1902–1906, 1912–1918und 1920–1928 MdR (SPD, 1917–1919USPD) 542

Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898),1861–1890 preußischer Ministerpräsi-dent, 1871–1890 Reichskanzler 290,319, 491 f., 496, 589

Blachstein, Peter (1911–1977), 1931 Ein-tritt in die SAP, 1933–1934 aus politi-schen Gründen in Haft, 1935 Fluchtnach Skandinavien, 1949–1976 Mit-glied des SPD-Landesvorstands Ham-burg, 1949–1969 MdB (SPD), 1968–1969 Botschafter in Belgrad 70, 227 f.,350, 557

Blücher, Franz (1896–1959), 1945 Mitbe-gründer der FDP, 1947 Mitglied imWirtschaftsrat, 1949–1959 MdB (bis1956 FDP), 1949–1954 Vorsitzender derFDP, 1956 Austritt aus der FDP undMitbegründer der FVP, 1949–1957Bundesminister für Angelegenheitendes Marshall-Plans und Vizekanzler,1958–1959 Mitglied der Hohen Be-hörde der Montanunion 192, 549

Blum, Leon (1872–1950), 1936–1938 und1946–1947 sozialistischer Minister-präsident Frankreichs 564

Blüm, Norbert (geb. 1935), 1966–1968 Re-dakteur der Sozialen Ordnung, 1968–1975 Hauptgeschäftsführer der CDU-Sozialausschüsse, seit 1969 MdB (CDU),1982–1998 Bundesminister für Arbeitund Sozialordnung 503

Börner, Holger (geb. 1931), 1957–1976MdB (SPD), 1961–1964 Juso-Bundes-vorsitzender, 1967–1972 Staatssekretärim Bundesministerium für Verkehr (ab1969 auch Staatssekretär im Bundes-ministerium für Post- und Fern-meldewesen), 1972–1976 Bundesge-schäftsführer der SPD, 1976–1987 Mi-nisterpräsident von Hessen, ab 1987Vorsitzender der FES 59, 518 f., 521

Bolten, Seymour R. (1921–1985), 1945–1949 Mitarbeiter der Abteilung Poli-tical Parties des Civil AdministrationOffice von OMGUS 68, 142–144

Bortfeldt, Hermann (1911–1985), Journa-list, 1960–1961 Kulturpolitischer Refe-rent beim SPD-Parteivorstand, 1962–1963 Redakteur der bonner depesche,1963–1966 Abteilungsleiter des Bürosfür Veröffentlichungen des SPD-Partei-vorstands und Chefredakteur der bon-ner depesche, ab 1967 Abteilungsleiter

623 Anhang: Personenregister

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Kultur der Deutschen Welle 71, 275,278–281, 285 f., 565

Brandes, Georg (eigentl. Morris Cohen)(1842–1927), dänischer Schriftstellerund Wegbereiter des Naturalismus489

Brandt, Lars (geb. 1951), Sohn von → Rutund Willy Brandt, Bildender Künst-ler 310, 476

Brandt, Mathias (geb. 1961), Sohn von→ Rut und Willy Brandt, Schau-spieler 476, 524

Brandt, Peter (geb. 1948), Sohn von → Rutund Willy Brandt, seit 1990 Professorfür Neuere Geschichte an der Fern-universität Hagen 143, 310, 476

Brandt, Rut (geb. 1920), geb. Hansen, 1947Sekretärin Willy Brandts an der nor-wegischen Militärmission in Berlin, ab1947 freie Journalistin für skandinavi-sche Zeitungen, 1948–1980 verheiratetmit Willy Brandt 144, 175, 282, 325,334, 461, 466, 476, 516, 521, 538, 571,591

Brauer, Max (1887–1973), 1946–1953 und1957–1961 Erster Bürgermeister derFreien und Hansestadt Hamburg, seit1949 Mitglied des Deutschen Rats derEuropäischen Bewegung, 1961–1965MdB (SPD) 24, 35, 201, 222, 555 f., 572

Braune, Heinrich (1904–1990), Chef-redakteur und später Herausgeber derHamburger Morgenpost 568

Breitscheid, Rudolf (1874–1944), 1918–1919 preußischer Innenminister,1920–1933 MdR (SPD), 1928–1933Vorsitzender der SPD-Reichstags-fraktion, 1933 Flucht ins Exil nach Pa-ris, 1941 an Deutschland ausgeliefert,1941–1944 KZ-Haft in Buchenwald,

1944 bei einem Luftangriff umge-kommen 564

Brenner, Otto (1907–1972), 1931 Mitbe-gründer der SAP, 1933 Verhaftungdurch die Gestapo und Verurteilung zuzwei Jahren Haft, 1945 Mitbegründerder Gewerkschaften und der SPD inNiedersachsen, 1951–1953 MdL Nie-dersachsen (SPD), 1952–1972 Vor-sitzender der IG Metall 74, 348, 375–380, 574 f.

Brost, Erich (1903–1995), 1924–1936 Re-dakteur der „Danziger Volksstimme“,Abgeordneter des Volkstags, 1936 Emi-gration nach Polen und weiter überSchweden und Finnland nach Groß-britannien, 1946–1947 Chefredakteurder Neuen Ruhr-Zeitung Essen, 1946–1947 Beauftragter des SPD-Parteivor-stands in Berlin, ab 1948 Gründer,Chefredakteur und Herausgeber derWestdeutschen Allgemeinen Zeitung 22,82–85, 544 f.

Brüning, Heinrich (1885–1970), 1930–1932 Reichskanzler (Zentrum) 313

Carlsson, E., Pseudonym → Rut Brandts87

Castrup, Heinz (1927–1988), 1954–1963persönlicher Referent → Erich Ol-lenhauers, 1966–1974 Direktor des Bü-ros des SPD-Präsidiums 278, 389, 580

Conrad, Kurt (1911–1982), 1947–1952MdL Saarland, 1952 Austritt aus derSPS, 1955–1968 MdL Saarland (SPD),seit 1955 Mitglied des SPD-Parteivor-standes, 1957–1959 MdB, 1955–1958Arbeitsminister, 1959–1961 Innen-minister des Saarlands, 1960–1970Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktionim Saarland 351

624 Anhang: Personenregister

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Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch(1894–1971), 1934–1966 Vollmitglieddes ZK der KPdSU, 1939–1964 Mitglieddes Politbüros, 1947–1949 Vor-sitzender des ukrainischen Minister-rats, 1949 Sekretär des ZK der KPdSU,1953–1964 Erster Sekretär des ZK derKPdSU, 1958–1964 Ministerpräsi-dent 329 f., 551 f., 567

Dehnkamp, Willy (1903–1985), 1951–1967 Mitglied der Bremer Bürgerschaft(SPD), 1951–1965 Senator für Bil-dungswesen Bremen, 1965–1967 Bür-germeister von Bremen 572

Deist, Heinrich (1902–1964), 1941–1949Wirtschaftsprüfer, ab 1949 geschäfts-führendes Mitglied der Stahl-treuhändervereinigung, 1953–1964MdB (SPD), 1958–1964 stellv. Vor-sitzender der SPD-Bundestagsfrak-tion 35, 201, 226, 280, 555 f., 565

Dirks, Walter (1901–1991), 1945 Mitbe-gründer der CDU Hessen, 1945–1985Herausgeber der Frankfurter Hefte,1956–1966 Leiter der HauptabteilungKultur des Westdeutschen Rundfunks,1967–1977 Kommentator beimSWF 500

Dohnanyi, Klaus von (geb. 1928), 1960Mitbegründer des Meinungsfor-schungsinstituts Infratest in München,1968–1969 Staatssekretär im Bundes-wirtschaftsministerium, 1969–1981MdB (SPD), 1969–1972 Parlamenta-rischer Staatssekretär im Bundesminis-terium für Bildung und Wissenschaft,1972–1974 Bundesminister für Bil-dung und Wissenschaft, 1981–1988Erster Bürgermeister Hamburgs 280,562

Dubcek, Alexander (1921–1992), ab 1958Mitglied des ZK der slowakischen

Kommunistischen Partei, 1968–1969Erster Sekretär des ZK der KSC, nachdem Einmarsch der Truppen des War-schauer Paktes Entmachtung, 1969–1970 Botschafter in der Türkei, 1970Verlust aller Ämter 580

Dudda, Waldemar (geb. 1925), 1964–1968Bürgermeister von Uetersen (SPD),1967–1975 MdL Schleswig-Holstein54 f., 536

Dutschke, Rudi (1940–1979), 1958 Stu-dienverbot in der DDR wegen Wehr-dienstverweigerung, Lehre als Indus-triekaufmann, 1960–1969 Studium derSoziologie an der Freien UniversitätBerlin, 1963 Mitglied der „SubversivenAktion“, 1964 Mitglied des SDS, seit1967 führender Kopf des „anti-autoritären Lagers“ innerhalb der SDS,1968 durch Attentat schwer verletzt,1969–1971 Studium in London, 1971Ausweisung aus England, ließ sich da-raufhin in Dänemark nieder 409, 578

Ebert, Friedrich (1871–1925), 1912–1918MdR (SPD), 1913–1919 SPD-Vor-sitzender, 1918 Vorsitzender des Ratsder Volksbeauftragten und Reichs-kanzler, 1919–1925 Reichspräsi-dent 292 f., 295, 565

Ehmke, Horst (geb. 1927), Professor fürRechtswissenschaften in Freiburg,1967–1969 Staatssekretär im Bundes-justizministerium, 1969 Bundesjustiz-minister, 1969–1972 Bundesministerund Chef des Kanzleramtes, 1972–1974 Bundesminister für Forschungund Technologie sowie für das Post-und Fernmeldewesen, 1969–1990 MdB(SPD) 518, 536, 583

Ehrenberg, Herbert (geb. 1926), 1964–1968 Mitarbeiter → Georg Lebers imHauptvorstand der IG Bau-Steine-Er-

625 Anhang: Personenregister

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den, seitdem Mitglied im Ausschuss fürWirtschaftspolitik des SPD-Parteivor-stands, 1968–1969 Leitung der Unter-abteilung Strukturpolitik im Bundes-wirtschaftsministerium, 1971–1972Staatssekretär, 1976–1982 Minister imBundesministerium für Arbeit und So-zialordnung, 1972–1987 MdB (SPD)478

Eichel, Hans (geb. 1941), 1969–1972 stellv.Juso-Bundesvorsitzender, 1970–1975stellv. Vorsitzender der SPD-Stadtrats-fraktion in Kassel, 1975–1991 Ober-bürgermeister von Kassel, 1990–1999Ministerpräsident von Hessen, ab 1999Bundesfinanzminister 449

Eichler, Willi (1896–1971), 1945 Beteili-gung am Aufbau der SPD im Rhein-land, 1945–1951 Chefredakteur derRheinischen Zeitung, 1946–1968 Mit-glied des SPD-Parteivorstands, 1947–1948 MdL Nordrhein-Westfalen (SPD),1948–1949 Mitglied des FrankfurterWirtschaftsrats, 1949–1953 MdB,1952–1971 Vorsitzender des Kultur-politischen Ausschusses beim SPD-Par-teivorstand 346, 508, 546, 550

Engels, Friedrich (1820–1895), sozialisti-scher Theoretiker 103, 140, 148

Ensslin, Gudrun (1940–1977), 1970 Mitbe-gründerin und führendes Mitglied der„Rote Armee Fraktion“ 582

Eppler, Erhard (geb. 1926), 1961–1976MdB (SPD), 1968–1974 Bundesministerfür wirtschaftliche Zusammenarbeit,1970–1991 Mitglied des SPD-Parteivor-stands 508, 518, 520, 537

Erhard, Ludwig (1897–1977), 1949–1963Bundeswirtschaftsminister, 1949–1977MdB (CDU), 1963–1966 Bundes-kanzler, 1966–1967 Vorsitzender der

CDU, 1967–1977 Ehrenvorsitzenderder CDU 45 f., 52, 74, 256, 263, 266–268, 300–302, 340 f., 347, 352, 355, 360,369, 389, 421, 536, 540, 558 f., 565, 569

Erler, Fritz (1913–1967), 1949–1967 MdB(SPD), 1956–1967 Mitglied des SPD-Parteivorstands, 1957–1967 Vorsit-zender der SPD-Bundestagsfrak-tion 20, 35–37, 44, 47–49, 58, 63, 69,72, 142, 193–195, 200 f., 223, 275, 279,283 f., 306, 347, 349 f., 353, 356, 369,387, 531, 536, 551, 555, 562, 565 f., 568,574

Etzel, Franz (1902–1970), 1949–1967 MdB(CDU), 1951–1952 Vorsitzender desCDU-Wirtschaftsausschusses, 1952–1957 Vizepräsident der Hohen Behördeder Europäischen Gemeinschaft fürKohle und Stahl, 1957–1961 Bundes-finanzminister, 1969–1970 persönlichhaftender Gesellschafter des Bank-hauses Friedrich Simon KG a. A. 558 f.

Evers, Carl-Heinz (geb. 1922), 1959–1963Mitglied im Schulausschuss der stän-digen Konferenz der Kultusminister,1963–1970 Schulsenator Berlin, 1970–1974 Mitglied des SPD-Parteivor-stands 425

Fechner, Max (1892–1973), 1945 Mitbe-gründer der SPD in Berlin, 1945–1946Vorsitzender des Zentralausschussesder SPD mit → Grotewohl, 1946–1953Mitglied des Parteivorstands bzw. desZK der SED, 1949–1953 DDR-Justiz-minister, 1953–1956 in Haft wegen„republikfeindlicher Tätigkeiten“, 1958Wiederaufnahme in die SED 20

Figgen, Werner (1921–1991), 1956–1964Oberbürgermeister der Stadt Hamm,1961–1966 MdB (SPD), 1965–1973stellv. SPD-Landesvorsitzender Nord-rhein-Westfalen, 1966–1975 Arbeits-

626 Anhang: Personenregister

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und Sozialminister in Nordrhein-Westfalen (seit 1970 Minister für Ar-beit, Gesundheit und Soziales), 1973–1977 SPD-Landesvorsitzender Nord-rhein-Westfalen 479

Flach, Karl-Hermann (1929–1973), 1959–1962 Bundesgeschäftsführer der FDP,1964 stellv. Chefredakteur der Frank-furter Rundschau, 1971 Generalsekretärder FDP, 1972 MdB (FDP) 587

Frahm, Ludwig (1875–1934), Großvatervon Willy Brandt 311 f., 315

Frahm, Ninja (geb. 1940), Tochter vonWilly Brandt und Carlota Frahm 325,476

Franke, Egon (1913–1995), 1945 Mitbe-gründer der SPD in Hannover, 1947–1951 MdL Niedersachsen, 1951–1987MdB (SPD), 1958–1973 Mitglied desSPD-Parteivorstands und 1964–1973des SPD-Präsidiums, 1969–1982 Bun-desminister für innerdeutsche Bezie-hungen (bis 1972 Bundesminister fürGesamtdeutsche Fragen) 350, 584

Frankenfeld, Peter (1913–1979), Unter-haltungskünstler 587

Frederik, Hans (geb. 1906), Verleger undPublizist, Verfasser zahlreicher Ver-leumdungsschriften gegen Brandt undWehner 288

Fuchs, Jockel (geb. 1919), 1955–1971 MdLRheinland-Pfalz (SPD), 1970–1971 Vor-sitzender der SPD-Landtagsfraktion,1962–1973 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1964–1985 Oberbürgermeistervon Mainz, 1966–1970 SPD-Landesvor-sitzender Rheinland-Pfalz 350

Gabert, Volkmar (geb. 1923), 1950–1957Juso-Landesvorsitzender Bayern, 1950–1978 MdL Bayern (SPD), 1962–1976

Vorsitzender der SPD-Landtagsfrak-tion, 1963–1972 SPD-Landesvorsitzen-der Bayern, ab 1964 Mitglied des SPD-Parteivorstands 350

Gansel, Norbert (geb. 1940), 1969–1970stellv. Juso-Bundesvorsitzender, 1971–1973 Mitglied des SPD-Landesvor-standes Schleswig-Holstein, 1972–1997 MdB (SPD) 449, 581

Garbe, Karl (geb. 1927), 1945–1949 Ver-waltungsangestellter und Kommunal-beamter, 1950–1961 Redaktion derSPD-nahen Zeitschriften DemokratischeGemeinde, Klarer Kurs, eilt und bonnerdepesche, 1962–1969 Leiter der Abtei-lung Öffentlichkeitsarbeit der SPD,1969–1983 Herausgeber der ZeitschriftEsprit 275, 278 f.

Gaulle, Charles de (1890–1970), 1944–1945 Chef der provisorischen Regie-rung Frankreichs, 1945–1946 und1958 französischer Ministerpräsident,1958–1969 französischer Staatspräsi-dent 323

Gaus, Günter (geb. 1929), 1953–1965 poli-tischer Redakteur bei versch. Tages-und Wochenzeitungen, u. a. 1961–1965 bei der Süddeutschen Zeitung,1963–1966 Leitung der TV-Reihe „ZurPerson – Portraits in Frage und Ant-wort“ im ZDF, 1965–1969 Pro-grammdirektor und stellv. Intendantdes Südwestfunks, 1966–1969 Leitungder Reihe „Zu Protokoll“, 1969–1973Chefredakteur des Nachrichten-magazins Der Spiegel 58, 73, 309–331,427 f., 567, 581

George, Götz (geb. 1938), Schauspieler587

Gerhardsen, Rolf (1902–1971), norwegi-scher Journalist, 1945–1953 Redak-

627 Anhang: Personenregister

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tionssekretär im Arbeiderbladet(Oslo) 87

Gerstenmaier, Eugen (1906–1986), 1949–1969 MdB (CDU), 1950–1954 Mitgliedder beratenden Versammlung des Eu-roparats, 1954–1969 Bundestagspräsi-dent, 1956–1969 stellv. Vorsitzenderder CDU 229, 268 f., 287

Globke, Hans (1898–1973), 1932–1945Ministerialrat und Referent für Staats-angehörigkeitsfragen im Reichsinnen-ministerium, Verfasser eines Kommen-tars zu den „Nürnberger Rassege-setzen“ von 1935, 1950–1953Ministerialdirektor und Leiter der Ab-teilung für Allgemeine Angelegen-heiten, Gesetzgebung und Koordinie-rung im Bundeskanzleramt, 1953–1963 Staatssekretär im Bundeskanzler-amt 190

Goebbels, Josef (1897–1945), 1933–1945Reichsminister für Volksaufklärungund Propaganda 522, 545

Gotthelf, Herta (1902–1963), 1934–1946Exil in Großbritannien, 1943–1946Journalistin der BBC, 1947–1958 Mit-glied des SPD-Parteivorstands, 1950–1963 Schriftleiterin der politischenFrauenzeitschrift Gleichheit 550

Grass, Günter (geb. 1927), Schriftsteller,Bildhauer, Grafiker, Mitglied der„Gruppe 47“, 1958 Preis der „Gruppe47“ für das Manuskript „Die Blech-trommel“, Begründer und Mitglied der„Sozialdemokratischen Wählerinitia-tive“, 1965, 1969 und 1972 für die SPDim Wahlkampf, 1999 Nobelpreis fürLiteratur 54, 57–59, 73 f., 372 f., 390–392, 426, 428, 516 f., 537, 570, 573, 576,587, 591

Gross, Emil (1904–1967), 1946–1947 MdLNordrhein-Westfalen (SPD), 1946 Auf-bau des Zeitungsverlages Freie Presseund Gründung des Phönix-Verlags so-wie Mitbegründer des Nordwest-deutschen Zeitungsverleger-Vereins,1946–1960 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1947 Mitbegründer der dpd-Ge-nossenschaft (später dpa), ab 1951Präsident des Gesamtverbandes derDeutschen Zeitungsverleger und Vor-standsmitglied des InternationalenZeitungs-Verlegerverbandes, ab 1954stellv. Präsident des BundesverbandesDeutscher Zeitungsverleger, 1959–1961 Mitglied des Rundfunkrats desWDR 566

Grotewohl, Otto (1894–1964), 1945 Mitbe-gründer der SPD in Berlin, 1945–1946Vorsitzender des Zentralausschussesder SPD, 1946–1954 Vorsitzender derSED, 1949–1964 Ministerpräsident derDDR 20

Hammer, Konrad (Jule), (1926–1991),1961–1965 Leiter des Berliner BürosWilly Brandts zusammen mit → Jo-chen Holtz, Mitglied des Vorberei-tungsteams zur Organisation derWahlkämpfe Willy Brandts 1961 und1965 273

Hansing, Hermann (1908–1977), 1953–1972 MdB (SPD), 1964–1970 Mitglieddes SPD-Parteivorstands 352, 570

Harpprecht, Klaus (geb. 1927), 1954 Kom-mentator beim RIAS Berlin, 1955 Leiterdes Bonner Büros des SFB, ab 1956Korrespondent und Kommentator beiversch. Rundfunkanstalten, u. a. alsSonderkorrespondent des ZDF in denUSA, 1966–1969 Leiter des S. FischerVerlages, 1972–1974 Berater des Bun-deskanzlers Willy Brandt für Inter-

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nationale Fragen und (ab 1973) Leiterder Schreibstube im Bundeskanzler-amt 428, 525

Härtling, Peter (geb. 1933), Schriftsteller,1962–1970 Redakteur bei der Zeit-schrift Der Monat, 1968–1973 Sprecherder Geschäftsleitung des S. FischerVerlages 59

Hassel, Kai-Uwe von (1913–1997), 1953–1954 und 1965–1980 MdB (CDU),1954–1963 Ministerpräsident vonSchleswig-Holstein, 1956–1964 stellv.Vorsitzender der CDU, 1963–1966Bundesverteidigungsminister, 1966–1969 Bundesminister für Vertriebene,1969–1972 Bundestagspräsident 591

Hasselmann, Wilhelm (1844–1916), seit1865 Mitglied des ADAV, ab 1864 Re-dakteur der Zeitungen Social-Demokratbzw. Neuer Social-Demokrat, 1874–1880MdR (mit Unterbrechungen), 1880Ausschluss aus der Sozialistischen Ar-beiterpartei Deutschlands 582

Heine, Fritz (geb. 1904), 1933–1946 Exil inPrag, Frankreich und London, 1946–1958 besoldetes Mitglied des SPD-Par-teivorstands und Leiter des Referats für„Presse und Propaganda“, 1946–1957Sprecher der SPD, 1958–1974 Ge-schäftsführer der KonzentrationGmbH 27, 33, 63, 67, 85, 132–134,531, 550

Heinemann, Gustav (1899–1976), 1946–1949 Oberbürgermeister von Essen,1947–1950 MdL Nordrhein-Westfalen(CDU), 1947–1948 JustizministerNordrhein-Westfalen, 1949–1950 Bun-desinnenminister, 1951 Gründungs-mitglied der Notgemeinschaft für denFrieden Europas, 1952 Austritt aus derCDU, Gründung der GVP und derenVorsitzender (bis 1957), 1957 Eintritt in

die SPD, 1957–1969 MdB (SPD), 1966–1969 Bundesjustizminister, 1969–1974Bundespräsident 425, 430, 440, 450,537, 568, 583

Heinig, Kurt (1886–1956), 1927–1933 MdR(SPD), 1933 Emigration nach Däne-mark, 1940 nach Schweden, seit 1934Mitarbeit an den „Deutschland-Be-richten“ der Exil-SPD, 1943–1945 Lan-desvertreter des Londoner Parteivor-stands der Exil-SPD und 1946–1947Vertreter des SPD-Parteivorstands inStockholm 83–85, 538

Helfer, Klaus, (1928–?), 1962–1966 Mitar-beiter des SPD-Parteivorstands, ab 1967der FES 276–278, 561 f.

Hennig, Arno (1897–1963), 1946–1950Kulturreferent beim SPD-Parteivor-stand, 1949–1953 MdB (SPD), 1953–1959 Minister für Erziehung undVolksbildung Hessen, 1954–1961 MdLHessen 149

Hentig, Hartmut von (geb. 1925), 1963–1968 ordentlicher Professor und Direk-tor des Pädagogischen Seminars an derUniversität Göttingen, 1968–1988 Pro-fessor für Pädagogik an der UniversitätBielefeld 581

Hertz, Paul (1888–1961), 1951–1953 Sena-tor für Marshall-Plan und KreditwesenBerlin (SPD), 1953–1955 Bevoll-mächtigter für Kreditwesen der StadtBerlin, 1955–1961 Senator für Wirt-schaft und Kredit Berlin 199

Heuss, Theodor (1884–1963), 1946–1949MdL Württemberg-Baden (FDP), 1948–1949 MdPR, 1949 Vorsitzender derFDP, 1949–1959 Bundespräsident 71,228 f., 260, 557

Hirschfeld, Hans Emil (1894–1971),1950–1960 Leiter des Presse- und In-

629 Anhang: Personenregister

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formationsamtes des Magistrats vonGroß-Berlin, 1957–1959 Leiter der Se-natskanzlei 68, 176

Hitler, Adolf (1889–1945), 1933–1945Reichskanzler, „Führer“ der NSDAP110, 142, 209, 294, 317, 323, 327, 489,496, 562, 573

Höcherl, Hermann (1912–1989), 1953–1976 MdB (CSU), 1961–1965 Bundes-innenminister, 1965–1969 Bundes-minister für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten 534

Hochhuth, Rolf (geb. 1931), Schriftstellerund Dramatiker 569

Holtz, Jochen (geb. 1927), MitarbeiterBrandts, 1964–1972 Chef des BerlinerBüros Willy Brandts 273

Huber, Ludwig (geb. 1928), 1946–1959Vorsitzender der Jungen Union Ober-bayern, 1958–1977 MdL Bayern (CSU),1962–1972 Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion, 1963–1970 stellv.CSU-Landesvorsitzender, 1964–1970Kultusminister in Bayern 43, 534

Ihlefeld, Heli (geb. 1935), 1969–1973 freieJournalistin in Bonn, u. a. bei derMünchner Abendzeitung, beim Stern undBunte 520

Jäckel, Eberhard (geb. 1929), 1967–1997Professor für Neuere Geschichte an derUniversität Stuttgart, 1969 Mitbe-gründer der „SozialdemokratischenWählerinitiative“ neben → GünterGrass 588

Jaeger, Richard (1913–1998), 1949–1980MdB (CSU), 1953–1965 und 1967–1976Vizepräsident des Deutschen Bundes-tages, 1957–1963 stellv. und 1963–1965 ordentliches Mitglied der Be-ratenden Versammlung des Europa-

rates und der Versammlung der WEU,1965–1966 Bundesjustizminister 283

Jahn, Gerhard (1927–1998), 1957–1990MdB (SPD), 1961–1963 und 1965–1967Parlamentarischer Geschäftsführer derSPD-Bundestagsfraktion, 1967–1969Staatssekretär im Auswärtigen Amt,1969–1974 Bundesjustizminister 425

Jaksch, Wenzel (1896–1966), 1950–1953Leiter des Landesamtes für Vertriebene,Flüchtlinge und Evakuierte in Hessen,1950–1966 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1957–1966 MdB (SPD), 1961–1964 Vizepräsident des Bundes derVertriebenen, 1962–1965 Vorsitzenderdes Ausschusses für Vertriebene,Flüchtlinge und Kriegsgeschädigtebeim SPD-Parteivorstand, 1964–1966Präsident des Bundes der Ver-triebenen 344, 350–352, 555, 568

Junghans, Hans-Jürgen (geb. 1922), 1947Mitbegründer des SDS in Hannover,1957–1987 MdB (SPD), 1968–1974SPD-Bezirksvorsitzender Braun-schweig 520

Jungk, Robert (1913–1994), öster-reichischer Zukunftsforscher und Wis-senschaftspublizist 581

Käber, Wilhelm (1896–1987), 1947–1967MdL Schleswig-Holstein (SPD), 1947–1950 Innenminister in Schleswig-Hol-stein, 1949–1950 stellv. Ministerpräsi-dent von Schleswig-Holstein, 1953–1966 Vorsitzender der SPD-Landtags-fraktion, 1962–1966 Mitglied des SPD-Parteivorstands 352

Kaisen, Wilhelm (1887–1979), 1945–1965Bürgermeister von Bremen (SPD),1946–1950 Mitglied des SPD-Parteivor-stands 24 f., 368, 530, 572

630 Anhang: Personenregister

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Kaiser, Jakob (1888–1961), 1945 Mitbe-gründer der CDU in Berlin, 1945–1947Vorsitzender der CDU in der SBZ, 1947von der SMAD seines Amtes enthoben,Übersiedlung nach Westdeutschland,1948–1949 MdPR, 1949–1957 MdBund Bundesminister für Gesamt-deutsche Fragen, 1949–1958 Vor-sitzender der CDU-Sozialausschüsse,1950–1958 stellv. Vorsitzender derCDU, 1950–1961 Vorsitzender der Exil-CDU, 1958–1961 Ehrenvorsitzenderder CDU 503

Kant, Immanuel (1724–1804), Philosoph,Hochschullehrer in Königsberg 487

Kapfinger, Hans (1902–1985), 1946–1985Herausgeber der Passauer Neuen Presse,bis 1960 Chefredakteur, 1961–1962Herausgeber des NachrichtenmagazinsAktuell 288

Katzer, Hans (1919–1996), 1950–1963Hauptgeschäftsführer der CDU, 1957–1980 MdB (CDU), 1963–1977 Vor-sitzender der CDU-Sozialausschüsse,1965–1969 Bundesminister für Arbeitund Sozialordnung 503

Käutner, Helmut (1908–1980), Schau-spieler und Regisseur 587

Kautsky, Karl (1854–1938), sozialistischerTheoretiker, 1882/83–1917 Chef-redakteur der Neuen Zeit 113, 120

Kennedy, Edward Moore (geb. 1932), Bru-der → John F. Kennedys, seit 1962 Se-nator von Massachusetts, 1969–1971stellv. Fraktionsführer der Demokrati-schen Partei im Senat 525

Kennedy, John Fitzgerald (1917–1963),1961–1963 Präsident der VereinigtenStaaten von Amerika, 1963 in Dallasermordet 41, 502, 556, 562

Kiesinger, Kurt Georg (1904–1988), 1933–1945 Mitglied der NSDAP, 1943–1945stellv. Abteilungsleiter der Rundfunk-abteilung des Reichsaußenministe-riums, 1948 Beitritt zur CDU, 1949–1953 und 1969–1980 MdB (CDU),1958–1966 Ministerpräsident Baden-Württemberg, 1960–1966 MdL Baden-Württemberg (CDU), 1962–1963 Präsi-dent des Bundesrates, 1966–1969 Bun-deskanzler, 1967–1971 Vorsitzenderder CDU 53, 229, 390, 392 f., 406, 576 f.

Klein, Günther (1900–1963), 1949–1953und 1955–1961 Senator für Bundesan-gelegenheiten Berlin, 1961–1963 MdB(SPD) 193, 199, 284, 552

Klotz, Günther (1911–1972), 1952–1970Oberbürgermeister von Karlsruhe(SPD) 568

Kluncker, Heinz (geb. 1925), 1964–1982Erster Vorsitzender der ÖTV 446

Knoeringen, Waldemar Freiherr von(1906–1971), 1946–1970 MdL Bayern(SPD), 1947–1963 SPD-Landesvor-sitzender Bayern, 1948–1962 Mitglieddes SPD-Parteivorstands, 1949–1953MdB (SPD), 1958–1962 stellv. Vor-sitzender der SPD 20, 25, 27, 33, 71 f.,223, 275, 277 f., 280, 305 f., 346, 352, 531,561 f., 568

Kohl, Michael (1929–1981), 1964–1965Leiter der Abteilung Grundsatzfragenim DDR-Außenministerium, 1965–1973 Staatssekretär beim Ministerratder DDR, in dieser Funktion Chef-unterhändler der DDR in den Ver-handlungen mit der Bundesregie-rung 592

Korn, Armin (geb. 1922), Journalist, 1947Eintritt in die SPD 147, 545

631 Anhang: Personenregister

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Kowa, Victor de (1904–1973), Schau-spieler 587

Kreisky, Bruno (1911–1990), 1938–1946Exil in Schweden, 1953–1959 Staats-sekretär im österreichischen Bundes-kanzleramt, 1956–1983 Abgeordneterim Nationalrat (SPÖ), 1959–1966österreichischer Außenminister, 1967–1983 Vorsitzender der SPÖ, 1970–1983österreichischer Bundeskanzler 481,531, 588

Krone, Heinrich (1895–1989), 1945 Mitbe-gründer der CDU in Berlin, 1949–1969MdB (CDU), 1955–1961 Vorsitzenderder CDU/CSU-Bundestagsfraktion,1958–1964 stellv. Vorsitzender derCDU, 1964–1966 Bundesminister fürbesondere Aufgaben, 1967–1969 Son-derberater des Bundeskanzlers fürSchulfragen 569

Kühlmann-Stumm, Knut Freiherr von(1916–1977), 1956–1958 Landes-schatzmeister der FDP in Hessen,1960–1976 MdB (FDP, ab 1972 CDU),1963–1971 Vorsitzender der FDP-Bun-destagsfraktion, 1971 Abgabe der Par-teiämter, 1972 Austritt aus der FDP undEintritt in die CDU 576

Kühn, Heinz (1912–1992), 1949–1950Chefredakteur der Rheinischen Zeitung,1953–1963 MdB (SPD), 1954–1956 undab 1962 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1962–1973 SPD-Landesvor-sitzender Nordrhein-Westfalen, 1966–1978 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, 1973–1975 stellv. Vor-sitzender der SPD 348, 350, 367, 430,479, 516, 584

Kuhlmann, Marta (1894–1969), geb.Frahm, Mutter von Willy Brandt 311

Kukil, Max (1904–1959), eigentl. Name:Kukielczynski, 1950–1959 MdLSchleswig-Holstein (SPD), 1952–1959Mitglied des SPD-Parteivorstands (bis1958 besoldetes Mitglied) 198, 550 f.

Lange, Halvard M. (1902–1970), 1942–1945 in deutscher KZ-Haft, 1946–1965norwegischer Außenminister (mit kur-zer Unterbrechung 1963) 80, 324

Langer, Wolfram (geb. 1916), 1947 Wirt-schaftsredakteur beim Handelsblatt,1958–1966 Ministerialdirektor imBundeswirtschaftsministerium, 1966–1968 Staatssekretär im Bundesschatz-ministerium, 1968–1978 Präsident derPfandbriefanstalt in Wiesbaden 399

Lania, Leo (1896–1961), eigentl. Name: La-zar Herman, Schriftsteller und Journa-list 318

Lassalle, Ferdinand (1825–1864), 1863 Be-gründer des ADAV 104, 227, 291, 295,297 f., 488 f.

Leber, Annedore (1904–1968), geb. Rosen-thal, Frau von → Julius Leber, 1946–1950 Lizenzträgerin der Berliner Tages-zeitung Telegraf, 1949 Gründung desBuchverlages Mosaik (später: „VerlagAnnedore Leber“) 211

Leber, Georg (geb. 1920), 1957–1983 MdB(SPD), 1957–1966 Vorsitzender der In-dustriegewerkschaft Bau-Steine-Erden,1962–1986 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1966–1972 Bundesverkehrs-minister, ab 1969 auch Bundesministerfür das Post- und Fernmeldewesen,1972–1978 Bundesverteidigungsminis-ter 347 f., 367, 425, 446, 574, 584

Leber, Julius (1891–1945), 1921–1933 Re-dakteur bzw. Chefredakteur des Lü-becker Volksboten und Abgeordneter inder Lübecker Bürgerschaft (SPD),

632 Anhang: Personenregister

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1924–1933 MdR (SPD), 1933–1937 auspolitischen Gründen in Haft, 1937–1944 Kontakt zu Widerstandsgruppen,nach dem Attentat des 20. Juli 1944 er-neute Verhaftung, 1945 hingerichtet314

Lemmer, Ernst (1898–1970), 1945 Mitbe-gründer der CDU in Berlin, 1945–19472. Vorsitzender der CDU in der SBZ,1949 Übersiedlung nach West-Berlin,1950–1956 Mitglied und CDU-Frak-tionsvorsitzender im Berliner Abge-ordnetenhaus, 1952–1970 MdB (CDU),1956–1961 CDU-LandesvorsitzenderBerlin, 1956–1957 Bundesminister fürdas Post- und Fernmeldewesen, 1957–1962 Bundesminister für Gesamt-deutsche Fragen, 1961–1970 Vor-sitzender der Exil-CDU, 1963–1964stellv. Vorsitzender der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion, 1964–1965 Bundes-minister für Vertriebene, 1965–1969Sonderbeauftragter des Bundeskanz-lers für Berlin 219, 555

Lenz, Hans (1907–1968), 1953–1967 MdB(FDP), 1961–1962 Bundesschatz-minister, 1962–1964 stellv. Vor-sitzender der FDP, 1962–1965 Bundes-minister für Wissenschaft und For-schung 301

Leussink, Hans (geb. 1912), 1954–1969Professor für Bauwesen an der THKarlsruhe, 1958–1961 Rektor der THKarlsruhe, 1960–1962 Präsident derWestdeutschen Rektorenkonferenz,1965–1969 Präsident des Wissen-schaftsrates, 1969–1972 Bundes-minister für Bildung und Wissen-schaft 584

Liebknecht, Wilhelm (1826–1900), 1869Mitbegründer der Sozialdemokrati-schen Arbeiterpartei, 1867–1886 und

1889–1900 MdNR bzw. MdR, 1875Mitbegründer der Sozialistischen Ar-beiterpartei Deutschlands in Go-tha 102, 114, 290, 564

Linde, Erdmann (geb. 1943), 1967–1968SHB-Bundesvorsitzender, Geschäfts-führer der „SozialdemokratischenWählerinitiative“, 1970–1971 Mitglieddes Juso-Bundesausschusses und Juso-Bezirksvorsitzender Westliches West-falen 58

Lipschitz, Joachim (1918–1961), 1945–1948 Bezirksrat für Personalfragen undVerwaltung in Berlin-Lichtenberg,1948 von der sowjetischen Besatzungs-macht seiner Ämter enthoben, 1951–1961 Mitglied im Berliner Abge-ordnetenhaus (SPD), 1955–1961 In-nensenator Berlin 191

Löbe, Paul (1875–1967), 1920–1932 Präsi-dent des Reichstages (SPD), währendder NS-Zeit zeitweise im KZ, 1948–1949 MdPR (SPD), 1949–1953 MdB(SPD) und Alterspräsident 544

Löwenthal, Richard (1908–1991), unterdem Decknamen „Paul Sering“ Mit-glied der sozialistischen Widerstands-gruppe Neu Beginnen, 1935–1949 Exilin Prag, Paris und England, 1949–1955Korrespondent der Londoner Nach-richtenagentur Reuters und 1954–1958Korrespondent des Observer in West-deutschland, 1961–1975 Professor fürPolitikwissenschaft und Geschichteund Theorie der Auswärtigen Politikam Otto-Suhr-Institut der Freien Uni-versität Berlin, 1971 Mitbegründer des„Bund Freiheit der Wissenschaft“, Be-rater der SPD 123, 296, 508, 548, 590

Lohmar, Ulrich (1928–1991), 1954–1967Chefredakteur der SPD-nahen Zeit-schrift Die Neue Gesellschaft, 1957–1976

633 Anhang: Personenregister

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MdB (SPD), 1967–1969 Chefredakteurder Tageszeitung Neue Westfälische,1971–1984 Ordinarius für PolitischeWissenschaft an der Gesamthoch-schule Paderborn 272, 276 f.

Lübke, Heinrich (1894–1972), 1947–1952Minister für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten in Nordrhein-West-falen, 1949–50 und 1953–1959 MdB(CDU), 1953–1959 Bundesminister fürErnährung, Landwirtschaft und For-sten, 1959–1969 Bundespräsident346, 569

Maier, Reinhold (1889–1971), 1945–1953Ministerpräsident von Württemberg-Baden bzw. Baden-Württemberg,1952–1963 MdL Baden-Württemberg(FDP), 1953–1956 und 1957–1959 MdB(FDP), 1957–1960 Vorsitzender derFDP 546

Martin, Berthold (1913–1973), 1957–1973MdB (CDU), 1961–1965 Vorsitzenderdes Bundestagsausschusses für Kultur-politik und Publizistik, 1965–1972Vorsitzender des Arbeitskreises fürWissenschaft und Publizistik und Mit-glied des Vorstandes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1969–1973 Vor-sitzender der Enquete-KommissionAuswärtige Kulturpolitik 300

Marx, Karl (1818–1883), sozialistischerTheoretiker, Philosoph und Öko-nom 35, 104, 109, 115, 140, 148, 157,291 f., 315, 487, 503

Mattick, Kurt (1908–1986), 1946–1953Mitglied der Berliner Stadtverordne-tenversammlung bzw. des BerlinerAbgeordnetenhauses (SPD), 1947–1952und 1958–1963 stellv. SPD-Landesvor-sitzender Berlin, 1953–1980 MdB(SPD), 1963–1968 SPD-Landesvorsit-zender Berlin 133, 565

McCarthy, Joseph Raymond (1909–1957),1947–1954 republikanischer Senatorvon Wisconsin, 1950–1954 Vor-sitzender des Senatsausschusses zurUntersuchung „unamerikanischerUmtriebe“ 547

McCloy, John Jay (1895–1989), 1947–1949Präsident der Weltbank, 1949–1952amerikanischer Hoher Kommissar inDeutschland, 1953–1960 Vorsitzenderder Chase National Bank (ab 1955Chase Manhattan Bank), 1953–1960Vorsitzender des Aufsichtsrates derFord Foundation, 1961–1974 Leiter desBeraterkomitees des US-Präsidentenfür Abrüstungsfragen 493

Mellies, Wilhelm (1899–1958), 1949–1958MdB (SPD), 1952–1957 stellv. Vor-sitzender der SPD, 1953–1957 stellv.Vorsitzender der SPD-Bundestags-fraktion 177, 193, 531, 546, 549 f.

Mende, Erich (1916–1998), 1949–1953parlamentarischer Geschäftsführer derFDP-Bundestagsfraktion, 1949–1980MdB (bis 1970 FDP, dann CDU), 1953–1957 stellv. Vorsitzender der FDP-Bun-destagsfraktion, 1960–1967 Vor-sitzender der FDP, 1963–1966 Bundes-minister für Gesamtdeutsche Fragenund Vizekanzler 309, 346, 364 f., 421,535, 569 f., 576

Menge, Wolfgang (geb. 1924), Journalist,Film- und Fernsehautor 587

Menzel, Rolf (geb. 1924), 1956–1962 Chef-redakteur beim SFB, 1963–1966 UNO-Korrespondent der ARD, 1966–1978Korrespondent der ARD in Wa-shington 177

Menzel, Walter (1901–1963), 1946–1963Mitglied des SPD-Parteivorstands,1946–1950 Innenminister in Nord-

634 Anhang: Personenregister

Page 635: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

rhein-Westfalen, 1948–1949 MdPR(SPD), 1949–1963 MdB (SPD), 1949–1961 Parlamentarischer Geschäfts-führer der SPD-Bundestagsfraktion177

Mitscherlich, Alexander (1908–1982),1960–1976 Leiter des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, 1966–1973 Professor für Psychologie an derUniversität Freiburg 75, 428 f., 581

Möller, Alex (1903–1985), 1945–1969 Vor-standsvorsitzender der „Karlsruher Le-bensversicherung“, 1946–1952 MdLWürttemberg-Baden und 1952–1961MdL Baden-Württemberg (SPD), 1958–1973 Mitglied des SPD-Parteipräsi-diums, 1961–1976 MdB (SPD), 1962–1966 SPD-Landesvorsitzender Baden-Württemberg, 1964–1969 und 1972–1976 stellv. Vorsitzender der SPD-Bun-destagsfraktion, 1969–1971 Bundes-finanzminister 52, 225, 280, 389, 447,466, 517, 535, 555 f., 568, 584

Mommer, Karl (1910–1990), 1949–1969MdB (SPD), 1957–1966 Parlamenta-rischer Geschäftsführer der SPD-Bun-destagsfraktion, 1966–1969 Vize-präsident des Deutschen Bundes-tages 200, 275, 552

Most, Johann (1846–1906), 1874–1878MdR (Sozialdemokratische Arbeiter-partei/Sozialistische ArbeiterparteiDeutschlands – SAP), 1880 Ausschlussaus der SAP 582

Müller, Albrecht (geb. 1938), 1970–1973Leiter der Abteilung für Öffentlich-keitsarbeit beim SPD-Parteivor-stand 518 f.

Müller, Arnold (geb. 1931), 1950–1953Vorsitzender der Gewerkschaftsjugendin Bremen, 1952–1955 stellv. SPD-

Ortsvereinsvorsitzender Bremen-Nord 148, 545

Müller, Claus Wolfgang (geb. 1928),1961–1966 Mitarbeiter des BerlinerBüros Willy Brandts, seit 1965 Pro-fessor für Erziehungswissenschaften inBerlin 273

Müller, Egon Erwin (geb. 1929), 1950–1958 freier Mitarbeiter von → FranzNeumann, 1957–1961 und 1962–1963Pressereferent beim Berliner Innen-senat, Mitarbeiter des Presse- und In-formationsamtes des Landes Berlin,1965–1975 freier Mitarbeiter WillyBrandts, 1966–1972 Leiter der Abtei-lung Studienförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung 478

Myrdal, Alva (1902–1986), geb. Reimer,1936–1948 Gründerin und Direktorindes sozialpädagogischen Seminars inStockholm, 1949–1950 Haupt-direktorin der Abteilung für Sozialan-gelegenheiten der UN, 1951–1955Direktorin der UNESCO-Abteilungfür Sozialwissenschaften, 1956–1961schwedische Botschafterin in Indien,Burma und Ceylon, 1964–1966 Ehren-vorsitzende des Schwedischen Institutsfür Friedensforschung, 1966–1973schwedische Ministerin für Abrüs-tungsfragen und (ab 1969) für kirch-liche Angelegenheiten 85, 531, 538

Myrdal, Gunnar (1898–1987), 1933–1950Professor für Wirtschaftspolitik undFinanzwissenschaften an der Stockhol-mer Handelsschule, Wirtschaftsberaterder DNA, 1935–1938 und 1942 Mit-glied des schwedischen Reichstages,1942–1945 Mitglied der Inter-nationalen Gruppe demokratischer So-zialisten, 1945–1947 schwedischerHandelsminister, 1947–1957 Exeku-

635 Anhang: Personenregister

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tivsekretär der Europäischen Wirt-schaftskommission der UNO, 1960–1967 Lehrstuhl für internationaleWirtschaftspolitik an der UniversitätStockholm, 1974 Nobelpreis für Wirt-schaft 85, 531, 538

Napoleon Bonaparte (1769–1821), Kaiserder Franzosen 334

Nau, Alfred (1906–1983), 1946–1975 Bun-desschatzmeister der SPD und Mitglieddes SPD-Parteivorstands (bis 1958 be-soldetes Mitglied), 1958–1983 Mitglieddes SPD-Parteipräsidiums, 1954–1970stellv. Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1970–1983 Vorsitzender derFriedrich-Ebert-Stiftung 28, 48, 71, 76,197, 222, 272–276, 279 f., 283, 285, 287,353, 386, 409, 424, 445 f., 550, 565, 574,578, 580, 584

Naumann, Bruno, 1966 Mitarbeiter imBerliner Büro des SPD-Parteivorstands,1969 Pressereferent im Berliner BüroWilly Brandts 573

Naumann, Friedrich (1860–1919), 1907–1918 MdR, 1918 Mitbegründer derDDP 290, 514

Neumann, Franz (1904–1974), 1946–1958SPD-Landesvorsitzender Berlin, 1946–1960 Mitglied des Berliner Abge-ordnetenhauses (SPD), 1947–1958 Mit-glied des SPD-Parteivorstands, 1949–1969 MdB (SPD), 1949–1951 und1953–1957 Mitglied des Vorstands derSPD-Bundestagsfraktion, 1951–1958SPD-Fraktionsvorsitzender im BerlinerAbgeordnetenhaus 83, 85, 132, 534,546

Neumann, Siegmund (Siggi) (1907–1960),1947 Leiter des SPD-Ostbüros, 1948–1954 Leiter des Betriebsgruppenrefe-rats beim SPD-Parteivorstand, 1954 Re-

ferent beim Hauptvorstand der IG Me-tall 68, 143 f.

Nevermann, Paul (1902–1979), 1950–1953und 1957–1960 Bausenator und Zwei-ter Bürgermeister in Hamburg, 1961–1965 Erster Bürgermeister in Hamburg,1966–1970 SPD-LandesvorsitzenderHamburg, 1967–1979 Präsident desDeutschen Mieterbundes 226, 347,556, 572

Nölting, Erik (1892–1953), 1928–1933MdL Preußen (SPD), 1946–1950 MdLund Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen, 1949–1953 MdB (SPD) 21

Norden, Albert (1904–1982), kom-munistischer Politiker, seit 1946 SED-Funktionär, 1949–1981 Mitglied der(Provisorischen) Volkskammer, 1949–1952 Leiter der Hauptabteilung Presseim Amt für Information der DDR,1955–1981 Mitglied und Sekretär desZK der SED (zuständig u. a. für West-arbeit), 1958–1981 Mitglied des Polit-büros 575

Ollenhauer, Erich (1901–1963), 1933–1946 Exil und Mitglied der Sopade,1946–1952 stellv. Vorsitzender derSPD, 1946–1963 Mitglied des SPD-Par-teivorstands (bis 1958 besoldetes Mit-glied), 1948–1949 MdPR (SPD), 1949–1963 MdB (SPD), 1949–1963 Vize-präsident der Sozialistischen Inter-nationale, 1952–1963 Vorsitzender derSPD und Vorsitzender der SPD-Bundes-tagsfraktion, 1958–1963 Mitglied desSPD-Präsidiums, 1963 Präsident der So-zialistischen Internationale 23, 27,33–35, 44, 48, 63, 67–69, 71 f., 85, 90 f.,96, 132, 177 f., 190, 193, 196 f., 199–203,207, 211, 216, 222 f., 228, 272–276,281 f., 285, 287, 316, 485, 492, 535, 543,545 f., 552–553, 563 f., 566

636 Anhang: Personenregister

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Ollenhauer, Martha (1900–1985), Ehefrauvon → Erich Ollenhauer 282

Opel, Georg von (1912–1971), 1951–1969Präsident der DOG 558

Palme, Olof (1927–1986), 1955–1961 Stu-dienobmann des Schwedischen Sozial-demokratischen Jugendverbandes,1957–1986 Mitglied des schwedischenReichstages, 1965–1967 Minister fürVerkehr, Post und Fernmeldewesen,1967–1969 Unterrichtsminister, 1969–1986 Vorsitzender der SchwedischenSozialdemokratischen Partei, 1969–1976 und 1982–1986 schwedischer Mi-nisterpräsident, 1986 ermordet 525

Paul, Ernst (1897–1978), 1949–1951 Chef-redakteur der Allgemeinen Zeitung inStuttgart und Mannheim, 1949–1969MdB (SPD) 225

Pfleiderer, Karl Georg (1899–1957), 1949–1955 MdB (FDP), 1955–1957 DeutscherBotschafter in Belgrad 546

Pollak, Oscar (1893–1963), 1945–1961Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung inWien, 1956–1958 Präsident des Inter-nationalen Presse-Instituts in Zü-rich 202, 552

Porzner, Konrad (geb. 1935), 1962–1981MdB (SPD), 1967–1972 Mitglied desVorstandes der SPD-Bundestags-fraktion 518

Prittie, Terence (geb. 1913), britischer Jour-nalist und Publizist, 1946–1963Deutschland-Korrespondent des Man-chester Guardian, ab 1963 diploma-tischer Korrespondent des Guardian,Biograph u. a. Willy Brandts 70, 73,222–224, 360–362, 516, 555

Rau, Friedrich (geb. 1916), 1960–1965 Se-natsdirektor der Volksbildungsverwal-

tung Berlin, 1965 Bundestagskandidatder SPD in Ulm, MdB 1965–1969(SPD) 369

Rau, Johannes (geb. 1931), 1952–1957 Mit-glied der GVP, 1957 Eintritt in die SPD,1958–1999 MdL Nordrhein-Westfalen(SPD), 1965–1967 Direktor eines theo-logischen Verlags der evangelischenJugend, 1967–1970 Vorsitzender derSPD-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen, 1968–1999 Mitglied desSPD-Parteivorstands, 1969–1970 Ober-bürgermeister von Wuppertal, 1970–1978 Minister für Wissenschaft undForschung Nordrhein-Westfalen,1978–1998 Ministerpräsident vonNordrhein-Westfalen, ab 1999 Bundes-präsident 426

Rehs, Reinhold (1901–1971), 1950–1954MdL Schleswig-Holstein (SPD), 1953–1969 MdB (SPD), 1967–1970 Präsidentdes Bundes der Vertriebenen, 1969Wechsel zur CDU 425, 568

Renger, Annemarie (geb. 1919), 1945–1952enge Mitarbeiterin → Kurt Schuma-chers, 1953–1990 MdB (SPD), 1959–1966 Mitglied der Beratenden Ver-sammlung des Europarates und derWEU, 1962–1973 Mitglied des SPD-Parteivorstands, 1969–1972 Parla-mentarische Geschäftsführerin derSPD-Bundestagsfraktion, 1970–1973Mitglied des SPD-Parteipräsidiums,1966–1973 Vorsitzende des SPD-Bun-desfrauenausschusses, 1972–1976Bundestagspräsidentin 584

Reuter, Edzard (geb. 1928), Sohn von→ Ernst Reuter, 1957–1962 Prokuristbei der Universum Film AG in Berlin,1962–1964 Mitglied der Geschäftslei-tung der Bertelsmann Fernsehproduk-tion, seit 1964 in versch. Funktionen

637 Anhang: Personenregister

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bei der Daimler-Benz AG Stuttgart tä-tig 280 f.

Reuter, Ernst (1889–1953), 1931–1933Oberbürgermeister von Magdeburg(SPD), 1932–1933 MdR (SPD), 1935–1945 Exil in der Türkei, 1948–1950Oberbürgermeister von Berlin (SPD),1948–1953 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1950–1953 Regierender Bürger-meister von Berlin (SPD), 1951–1953Präsident des Deutschen Städte-tages 19 f., 24–28, 67, 131–133, 157,164, 319, 328, 398, 487 f., 493, 495, 542,544, 547 f., 589

Richter, Hans Werner (1908–1993),Schriftsteller, 1947 Gründer der„Gruppe 47“, Engagement für dieSPD 57

Richter, Willi (1894–1972), 1947–1949Mitglied des Wirtschaftsrates (SPD),1949–1957 MdB (SPD), 1949–1956Mitglied des geschäftsführenden DGB-Vorstands, 1953–1957 Vorsitzenderdes Bundestagsausschusses für Sozial-politik, 1956–1962 Vorsitzender desDGB 555

Robinsohn, Hans (1897–1981), 1938Flucht nach Dänemark, 1943–1946Exil in Schweden, 1946–1953 Ver-sicherungsangestellter in Dänemark,1960–1963 Leiter der Hamburger For-schungsstelle für die Geschichte desNationalsozialismus 272, 276

Röhrig, Peter (geb. 1938), Journalist, 1968–1970 Persönlicher Referent von WillyBrandt 580

Roosevelt, Franklin Delano (1882–1945),1932–1945 Präsident der VereinigtenStaaten von Amerika 117, 541

Rosenberg, Ludwig (1903–1977), 1933–1946 Exil in Großbritannien, seit 1949

Mitglied des geschäftsführenden DGB-Vorstandes, 1949–1952 Leiter der Ab-teilung Ausland und seit 1954 Leiterder Abteilung Wirtschaft im DGB-Bun-desvorstand, 1959–1962 stellv. Vor-sitzender des DGB, 1962–1969 Vor-sitzender des DGB, 1963–1969 Vize-präsident des Internationalen BundesFreier Gewerkschaften 574

Rosenthal, Philipp (geb. 1916), Unter-nehmer, 1968 Beitritt zur SPD, 1969–1983 MdB (SPD), 1970–1971 Parla-mentarischer Staatssekretär im Bun-deswirtschaftsministerium 581, 587

Roth, Wolfgang (geb. 1941), 1965–1967Vorsitzender des Berliner Landesver-bands des Verbandes Deutscher Stu-dentenschaften, 1969–1972 stellv.Juso-Bundesvorsitzender und 1972–1974 Bundesvorsitzender 519, 584

Sänger, Fritz (1901–1984), 1946–1947 Her-ausgeber des Sozialdemokratischen Pres-sedienstes, 1947–1959 Geschäftsführer(1947–1955 Chefredakteur) des Deut-schen Pressedienstes bzw. der DeutschenPresseagentur, 1961–1969 MdB (SPD),1970–1974 Mitglied der SPD-Bundes-schiedskommission 568

Schäfer, Friedrich (1915–1988), 1957–1967 und 1969–1980 MdB (SPD),1961–1967 Parlamentarischer Ge-schäftsführer und 1969–1980 stellv.Vorsitzender der SPD-Bundestags-fraktion, 1967–1969 Staatssekretär imBundesministerium für die Angelegen-heiten des Bundesrates und der Län-der 73, 280, 331 f., 565, 568

Schallück, Paul (1922–1976), Schrift-steller, 1949–1952 Theaterkritiker,Mitglied der „Gruppe 47“ 58

638 Anhang: Personenregister

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Schanzenbach, Martha (1907–1997), geb.Lehmann, 1949–1972 MdB (SPD),1957–1965 Mitglied im Vorstand derSPD-Bundestagsfraktion, 1958–1965Mitglied des SPD-Parteivorstands undParteipräsidiums, stellv. Vorsitzendeder Arbeiterwohlfahrt 565

Scheel, Cornelia (geb. 1963), Adoptivtoch-ter von → Walter Scheel 524

Scheel, Walter (geb. 1919), 1950–1953 MdLNordrhein-Westfalen (FDP), 1953–1974 MdB (FDP), 1955–1957 Mitgliedder Gemeinsamen Versammlung derEuropäischen Gemeinschaft für Kohleund Stahl, 1958–1961 Mitglied des Eu-ropäischen Parlaments, 1961–1966Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit, 1968–1974 Vor-sitzender der FDP, 1969–1974 Bundes-außenminister und Vizekanzler, 1974–1979 Bundespräsident 454, 477, 525–527, 591

Scheflo, Inge Vertrauter Willy Brandts ausdem Exil in Norwegen, Journalist,1951–1982 Sekretär der DNA-Fraktionim norwegischen Parlament 538

Schellenberg, Ernst (1907–1984), 1952–1976 MdB (SPD), 1957–1976 Vor-sitzender des Bundestagsausschussesfür Sozialpolitik, 1960–1973 Mitglieddes SPD-Parteivorstands, 1966–1975stellv. Vorsitzender der SPD-Bundes-tagsfraktion 568

Schiller, Karl (1911–1994), 1947–1961Professor an der Universität Hamburg,1956–1958 Rektor der UniversitätHamburg, 1958–1960 Mitglied desWissenschaftsrates, 1961–1965 Sena-tor für Wirtschaft Berlin, 1964–1972Leiter des Wirtschaftspolitischen Aus-schusses beim SPD-Parteivorstand,1965–1972 MdB (SPD), 1966–1972

Bundeswirtschaftsminister, 1971–1972auch Bundesfinanzminister, 1972Rücktritt von allen Ämtern und Partei-austritt, 1980 Wiedereintritt in dieSPD 20, 35, 50, 52, 58, 271, 346, 373,389, 413, 425, 439, 476, 516 f., 536, 560,568, 573, 583 f., 590 f.

Schlesinger jr., Arthur Meier (geb. 1917),1954–1961 Professor für Geschichte ander Harvard-Universität, 1961–1964Mitglied des Mitarbeiterstabs von US-Präsident → John F. Kennedy, 1965–1987 Professor an der Universität NewYork 502, 507

Schmid, Carlo (1896–1979), 1947–1950Justizminister Württemberg-Hohen-zollern, 1947–1973 Mitglied des SPD-Parteivorstands, 1948–1949 MdPR(SPD), 1949–1972 MdB (SPD), 1949–1953 und 1957–1965 stellv. Vor-sitzender der SPD-Bundestagsfraktion,1949–1966 und 1969–1972 Vize-präsident des Deutschen Bundestages,1949–1953 Vorsitzender des Aus-wärtigen Ausschusses des DeutschenBundestages, 1958–1970 Mitglied desSPD-Parteipräsidiums, 1966–1969Bundesratsminister 20, 25–27, 35 f.,63, 70, 97, 138 f., 198 f., 200 f., 211, 216,224 f., 280, 284, 346, 512, 521, 531 f., 544,549 f., 551 f., 554 f., 563–566, 568, 591

Schmidt, Helmut (geb. 1918), 1947–1948Vorsitzender des SDS, 1953–1962 und1965–1987 MdB (SPD), ab 1958 Mit-glied des SPD-Parteivorstands, 1961–1965 Innensenator Hamburg, 1965–1967 stellv. und 1967–1969 Vor-sitzender der SPD-Bundestagsfraktion,1968–1984 stellv. Vorsitzender derSPD, 1969–1972 Bundesverteidigungs-minister, 1972 Bundeswirtschafts-minister und Bundesfinanzminister,

639 Anhang: Personenregister

Page 640: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

1972–1974 Bundesfinanzminister,1974–1982 Bundeskanzler 20, 52 f.,58, 63, 70, 73, 76, 212 f., 280, 346, 348,352, 367, 373 f., 389, 404, 406, 445, 461–466, 506, 520, 566, 568, 573, 580, 583 f.,586 f., 590

Schmitt-Vockenhausen, Hermann (1923–1979), 1953–1979 MdB (SPD), 1961–1969 Vorsitzender des Innenaus-schusses des Deutschen Bundestages,1963–1969 Mitglied des Vorstandes derSPD-Bundestagsfraktion, 1969–1979Vizepräsident des Deutschen Bundes-tages 76, 474 f., 568, 587

Schmückle, Gerd (geb. 1917), General,Publizist, 1957–1962 Pressereferentvon Verteidigungsminister → Strauß,ab 1964 bei der NATO 268

Schön, Helmut (1915–1996), 1964–1978Fußball-Bundestrainer 581

Schoettle, Erwin (1899–1976), 1947–1962SPD-Landesvorsitzender Württemberg-Baden bzw. Baden-Württemberg,1947–1949 SPD-Fraktionsvorsitzenderim Wirtschaftsrat, 1948–1968 Mitglieddes SPD-Parteivorstandes, 1958–1968des Parteipräsidiums, 1949–1972 MdB(SPD), 1949–1969 Vorsitzender desHaushaltsausschusses des DeutschenBundestages, 1951–1957 und 1964–1965 stellv. Vorsitzender der SPD-Bun-destagsfraktion, 1958–1965 Mitglieddes SPD-Parteipräsidiums, 1961–1969Vizepräsident des Deutschen Bundes-tages 145, 346 f., 531, 535, 565, 568

Schröder, Gerhard (1910–1989), 1949–1980 MdB (CDU), 1952–1953 stellv.Vorsitzender der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion, 1953–1961 Bundesinnen-minister, 1961–1966 Bundesaußen-minister, 1966–1969 Bundesverteidi-gungsminister, 1967–1973 stellv.

Vorsitzender der CDU, 1969–1980 Vor-sitzender des Auswärtigen Ausschussesdes Deutschen Bundestages 309, 583

Schütz, Klaus (geb. 1926), 1954–1957 und1963–1977 Mitglied des Berliner Abge-ordnetenhauses (SPD), 1957–1962 MdB(SPD), 1961–1966 Senator für Bundes-angelegenheiten und für das Post- undFernmeldewesen Berlin, 1966–1967Staatssekretär im Auswärtigen Amt,1967–1977 Regierender Bürgermeistervon Berlin, 1968–1977 SPD-Landesvor-sitzender Berlin 41, 75, 225, 271 f.,274 f., 277–279, 408, 425, 532 f., 554–556, 560, 565, 569 f.

Schulz, Jochen (1919–1973), Journalist,1969–1973 Sprecher des SPD-Partei-vorstandes 425

Schulz, Klaus-Peter (geb. 1915), 1946 Re-dakteur des Tagesspiegel, dann Chef-redakteur des Parteiorgans Der Sozial-demokrat, politischer Kommentator beiversch. Rundfunkanstalten, 1962–1966Leiter des Büros der Deutschen Wellein Köln, 1965–1976 MdB (bis 1971 SPD,dann CDU), 1970–1971 Vizepräsidentder Beratenden Versammlung undVorsitzender der Politischen Kom-mission der Versammlung derWEU 68, 145 f., 545

Schumacher, Kurt (1895–1952), 1930–1933 MdR (SPD), 1933–1943 Haft inverschiedenen Zuchthäusern und KZs,1944 nochmalige KZ-Haft, 1945 poli-tischer Beauftragter der SPD in den dreiWestzonen, 1946–1952 Vorsitzenderder SPD, 1949–1952 MdB und Vor-sitzender der SPD-Bundestagsfrak-tion 20–22, 24–27, 31, 33 f., 50, 59, 67,77, 82–90, 94–96, 132, 135, 143, 145,157, 169, 204, 294 f., 299, 317, 327 f., 478,

640 Anhang: Personenregister

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480–515, 529 f., 538 f., 543–545, 562,567, 589 f.

Schuman, Robert (1886–1963), 1948–1949französischer Ministerpräsident, 1948–1952 französischer Außenminis-ter 495, 590

Schwarzhaupt, Elisabeth (1901–1986),1953–1969 MdB (CDU), 1957–1961stellv. Vorsitzende der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion, 1961–1966 Bundes-gesundheitsministerin, 1970–1972Erste Vorsitzende des DeutschenFrauenrats 301

Seidel, Max (1906–1983), 1947–1948 Se-kretär der SPD Fürth (Bayern), 1949SPD-Bezirkssekretär Franken, 1950–1953 stellv. SPD-LandesvorsitzenderBayern, 1953–1972 MdB (SPD), 1958–1970 SPD-Bezirksvorsitzender Fran-ken 429, 581

Sering, Paulsiehe Löwenthal, Richard 123

Sievers, Susanne, Journalistin 534

Sokolowskij, Wassilij Dawidowitsch(auch: Danilowitsch) (1897–1968),1945 Erster stellv. Oberbefehlshaberder Gruppe der Sowjetischen Besat-zungstruppen in Deutschland, 1946–1949 deren Oberbefehlshaber, 1946–1948 Mitglied im Alliierten Kontroll-rat, 1946–1949 Oberster Chef derSMAD, Mitglied des ZK der KPdSU 88

Sontheimer, Kurt (geb. 1928), 1960–1962Professor an der Pädagogischen Hoch-schule in Osnabrück, 1962–1969 Lehr-stuhl für Politische Wissenschaft amOtto-Suhr-Institut an der Freien Uni-versität Berlin, 1969–1993 Professorfür Politische Wissenschaft am Ge-schwister-Scholl-Institut der Universi-tät München 58 f., 428

Springer, Axel Caesar (1912–1985), Ver-leger, u. a. seit 1946 der Zeitschrift Hörzu, seit 1948 des Hamburger Abendblat-tes, seit 1952 Bild, seit 1953 Welt, 1959Übernahme der Ullstein GmbH 590

Staar, Winfried (geb. 1930), 1959–1961 Re-gierungsassessor beim InnensenatorBerlin, 1961 Aufnahme in das Wahl-kampfteam Willy Brandts, 1961 Rück-kehr zur Senats-Innenverwaltung,1962–1965 Persönlicher ReferentWilly Brandts und Mitarbeiter der Se-natskanzlei, 1965 Leiter der Begleitungvon Wahlkampfeinsätzen WillyBrandts, 1964–1974 Abteilungsleiterbei der Senatsverwaltung für Jugendund Sport in Berlin 271, 273, 286

Stalin, Josef Wissarianowitsch (1878–1953), 1922–1953 Generalsekretär derKPdSU, 1941–1953 Vorsitzender desRates der Volkskommissare bzw. dessowjetischen Ministerrates 564

Stammer, Otto (1900–1978), 1955–1969Professor für Soziologie und PolitischeWissenschaften an der Freien Univer-sität Berlin, 1954–1969 Mitbegründerund Vorsitzender des „Zentralinstitutsfür sozialwissenschaftliche Forschung“an der FU Berlin 546

Steffen, Jochen (1922–1987), 1958–1977MdL Schlewig-Holstein (SPD), 1965–1975 SPD-Landesvorsitzender Schles-wig-Holstein, 1966–1973 Vorsitzenderder SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein, 1968–1975 Mitglied des SPD-Parteivorstands 581

Steinhoff, Fritz (1897–1969), 1946–1962MdL Nordrhein-Westfalen (SPD),1946–1957 Oberbürgermeister derStadt Hagen, 1948–1950 Minister fürWiederaufbau Nordrhein-Westfalen,1950–1960 Mitglied des SPD-Parteivor-

641 Anhang: Personenregister

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standes, 1956–1958 Ministerpräsidentvon Nordrhein-Westfalen, 1961–1969MdB (SPD) 555

Steltzer, Werner, 1961–1968 Leiter des In-formationsbüros Berlin 272, 280

Sternberg, Fritz (1895–1963), Wirtschafts-und Sozialwissenschaftler, Publizist,1931 Eintritt in die SAP, 1933 Emigra-tion, zuletzt USA 72, 288, 564

Stinnes jr., Hugo (1897–1982), Indus-trieller, 1945–1948 Schutzhaft bei denenglischen Besatzungsbehörden, 1948unbelastet nach Maßgabe des Ent-nazifizierungsgesetzes und Ausschlussaus der Stinnes Gruppe I, daraufhinÜbernahme der Hugo Stinnes OHG,1971 Bankrott 560

Stone, Shepard (1908–1990), 1950–1952Leiter des Amtes für Öffentliche An-gelegenheiten und Informationswesenbeim amerikanischen Hochkommissarin Deutschland, 1954–1968 Direktorder Abteilung für internationale An-gelegenheiten der Ford-Foundation,1968–1973 Präsident der Inter-nationalen Vereinigung für die Freiheitder Kultur in Paris 194

Stoph, Willi (1914–1999), 1948–1950 Lei-ter der Abteilung Wirtschaftspolitikbeim SED-Parteivorstand, 1950–1989Mitglied des ZK der SED, 1950–1953Sekretär des ZK, 1950–1989 Mitgliedder Volkskammer, 1952–1955 Innen-,1956–1960 Verteidigungsminister derDDR, 1962 Erster stellv. Vorsitzenderund 1964–1973 sowie 1976–1989 Vor-sitzender des DDR-Ministerrates 592

Stråhle, Einar (geb. 1913), schwedischerJournalist, im Zweiten Weltkrieg Mit-arbeiter des Schwedisch-NorwegischenPressebüros sowie des Pressebüros der

schwedischen Arbeiterbewegung inStockholm 87

Strauß, Franz Josef (1915–1988), 1948–1952 Generalsekretär der CSU, 1949–1978 MdB (CSU), 1952–1961 stellv.Vorsitzender der CSU, 1953–1955 Bun-desminister für besondere Aufgaben,1955 Bundesminister für Atomfragen,1956–1962 Bundesverteidigungsminis-ter, 1961–1988 Vorsitzender der CSU,1966–1969 Bundesfinanzminister,1978–1988 Ministerpräsident Bay-erns 44, 53, 263, 266–270, 300 f., 309,364, 390, 426, 440, 481, 499 f., 521, 525,534 f., 576 f.

Strindberg, August (1849–1929), schwe-discher Schriftsteller 318

Strobel, Käthe (1907–1996), 1949–1972MdB (SPD), 1958–1973 Mitglied desSPD-Parteivorstands, 1958–1966 Mit-glied des Europäischen Parlaments(SPD), 1962–1964 Vizepräsidentin desEuropäischen Parlaments, 1964–1966Vorsitzende der Sozialistischen Frak-tion des Europäischen Parlaments,1966–1970 Mitglied des SPD-Partei-präsidiums, 1966–1969 Bundesgesund-heitsministerin, 1969–1972 Bundes-ministerin für Jugend, Familie und Ge-sundheit 555, 568

Sünderhauf, Ernst (1908–1974), 1945–1951 Sekretär und Kassierer im SPD-Landesverband Berlin, 1951–1959 Be-zirksstadtrat für Finanzen im Bezirks-amt Reinickendorf, 1959–1968 Senats-direktor in der Finanzverwaltung(SPD), 1968–1973 Präsident des Berli-ner Rechnungshofes 271

Suhr, Otto (1894–1957), 1945 Referentbeim Magistrat der Stadt Berlin, 1946Generalsekretär der SPD Berlin, 1947–1949 Mitglied des SPD-Parteiaus-

642 Anhang: Personenregister

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schusses, 1947–1948 stellv. Mitglieddes SPD-Parteivorstandes, 1948–1949MdPR (SPD), 1949–1953 MdB (SPD),1949–1955 Präsident des Berliner Ab-geordnetenhauses, 1955–1957 Regie-render Bürgermeister von Berlin 33,546

Szende, Stefan (1901–1985), ungarischerPublizist, 1933 Mitglied der illegalenSAP-Reichsleitung, 1934 Zuchthaus-haft, ab 1937 im Exil in Schweden,Mitglied der Internationalen Gruppedemokratischer Sozialisten, 1949–1968Inhaber der Agence Européenne dePresse 531

Tausch-Treml, Franz (1901–1986), 1953–1957 MdB (SPD) 133

Trotzki, Leo (1879–1940), russischer Poli-tiker und Revolutionär 313, 567

Truman, Harry S. (1884–1972), 1944–1945Vizepräsident und 1945–1952 Präsi-dent der Vereinigten Staaten von Ame-rika 112

Ulbricht, Walter (1893–1973), 1929–1946Mitglied des Politbüros der KPD, 1946–1973 Mitglied des Zentralsekretariatsbzw. des Politbüros der SED, 1946–1950 stellv. Vorsitzender der SED,1949–1973 Mitglied der Volkskammer,1949–1960 stellv. DDR-Minister-präsident, 1950–1971 Generalsekretärbzw. Erster Sekretär des ZK der SED,1960–1973 Staatsratsvorsitzender undVorsitzender des Nationalen Verteidi-gungsrats der DDR 163, 191, 200, 313,327, 545, 578

Varga, Jewgenij (Eugen) Samuilowitsch(1879–1964), 1927–1947 Direktor desInstituts für Weltwirtschaft und Welt-politik in Moskau, 1958–1964 Chef-

redakteur der Zeitschrift Weltwirtschaftund internationale Beziehungen 112

Veit, Hermann (1897–1973), 1946–1949MdL Württemberg-Baden (SPD), 1946–1947 und 1950–1960 Mitglied des SPD-Parteivorstands, 1946–1960 Wirt-schaftsminister Württemberg-Badenbzw. Baden-Württemberg, 1949–1953MdB (SPD), 1951–1960 stellv. Minis-terpräsident Baden-Württemberg,1962–1965 Mitglied des SPD-Partei-rates 95, 540, 543

Vogel, Hans-Jochen (geb. 1926), 1960–1972Oberbürgermeister von München,1972–1974 Bundesminister für Städte-bau, Raumordnung und Bauwesen,1974–1981 für Justiz, Jan. bis Juni 1981Regierender Bürgermeister von Berlin,danach bis 1983 Oppositionsführer imBerliner Abgeordnetenhaus, 1972–1981 und 1983–1994 MdB, 1983–1991Vorsitzender der SPD-Bundestags-fraktion, 1972–1977 SPD-Landesvor-sitzender Bayerns, 1970–1991 Mitglieddes SPD-Parteivorstands, 1987–1991Vorsitzender der SPD 277, 346, 517,520, 591

Voigdt, Klaus (geb. 1925), 1946–1951 undab 1957 Journalist, 1961 Pressereferentim Berliner Büro Willy Brandts, 1962–1966 politischer Redakteur beim„Deutschlandfunk“, 1966–1973 stellv.Chefredakteur des Vorwärts 280

Wagenbach, Klaus (geb. 1930), 1960–1964Lektor des S. Fischer-Verlags, 1964Gründung eines eigenen Verlages 57

Walcher, Jacob (1887–1970), 1932 Eintrittin die SAP, 1933–1946 Exil in Paris undNew York, 1946 Rückkehr nachDeutschland (SBZ), 1947 Eintritt in dieSED, 1947–1951 Chefredakteur der Ge-werkschaftszeitung Tribüne, 1951–

643 Anhang: Personenregister

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1952 Mitarbeiter im Deutschen Institutfür Zeitgeschichte in Ost-Berlin, 1952Ausschluss aus der SED, 1956 Rehabili-tierung und Wiederaufnahme in dieSED, 1956–1970 freier Mitarbeiter desInstituts für Marxismus-Leninismusbeim ZK der SED 85, 538

Walden, Matthias (1927–1984), eigentl.Name: Eugen Wilhelm Otto Baron vonSass, 1950–1956 Redakteur und Kom-mentator beim RIAS Berlin, 1956–1979Chefredakteur und Chefkommentatorbeim SFB 74, 374 f., 573

Walser, Martin (geb. 1927), Schriftstellerund Journalist 537

Wehner, Herbert (1906–1990), 1926–1942KPD, 1946 Eintritt in die SPD, 1949–1983 MdB (SPD), 1949–1966 Vor-sitzender des gesamtdeutschen Aus-schusses des Deutschen Bundestages,ab 1952 Mitglied des SPD-Parteivor-stands, 1958–1973 stellv. Vorsitzenderder SPD, 1966–1969 Bundesministerfür gesamtdeutsche Fragen, 1969–1983Vorsitzender der SPD-Bundestagsfrak-tion 20, 27, 33, 35, 37–39, 44, 47–50,52 f., 59, 69–72, 75 f., 193 f., 214, 223,225, 270–276, 279, 284–286, 306, 328 f.,347, 351, 353, 356, 369, 386, 389 f., 399–401, 404, 441–449, 462–464, 476, 483,518–521, 531 f., 535, 541, 549–552, 555,560, 563, 565–568, 573–575, 577 f., 580,583 f., 586

Weichmann, Herbert (1896–1983), 1957–1964 Finanzsenator Hamburg, 1961–1974 Mitglied der Hamburger Bürger-schaft (SPD), 1965–1971 Bürgermeistervon Hamburg 572

Weisser, Gerhard (1898–1989), 1948–1950Staatssekretär im FinanzministeriumNordrhein-Westfalen, 1950–1966 Pro-fessor für Sozialpolitik und Genossen-

schaftswesen, 1954–1970 Vorsitzenderder Friedrich-Ebert-Stiftung 546

Weizsäcker, Carl Christian von (geb.1938), 1965–1972 Professor für Volks-wirtschaftslehre an der UniversitätHeidelberg, 1972–1974 Professor ander Universität Bielefeld 587

Wienand, Karl (geb. 1926), 1952–1967Bürgermeister in Rosbach (Sieg), 1953–1974 MdB (SPD), 1958 Mitglied derVersammlung des Europarats, 1960–1970 Mitglied des SPD-Parteivor-standes, 1967–1974 parlamentarischerGeschäftsführer der SPD-Bundestags-fraktion 518

Windmöller, Eva, Journalistin beim Sternund bei der Wochenzeitung DieZeit 520, 525

Wischnewski, Hans-Jürgen (geb. 1922),1957–1990 MdB (SPD), 1959–1961Juso-Bundesvorsitzender, 1960–1965Mitglied des SPD-Parteirates, 1961–1966 Mitglied des Europäischen Parla-ments (SPD), 1964–1966 und 1970–1971 Präsident des Kuratoriums derDeutschen Stiftung für Entwicklungs-hilfe, 1966–1968 Bundesminister fürwirtschaftliche Zusammenarbeit,1968–1971 Bundesgeschäftsführer derSPD, 1970–1985 Mitglied des SPD-Par-teivorstandes 59, 75 f., 424–426,445 f., 518, 525, 536, 578, 584

Zerbe, Edwin (1916–1992), 1955–1970Landrat des Landkreises Hersfeld,1965–1967 MdB (SPD), 1970–1971Erster Beigeordneter des LandkreisesHersfeld 346

Ziebill, Otto (1896–1978), 1946–1948Oberlandesgerichtsrat und 1946 Vor-sitzender der Berufungskammer fürEntnazifizierung am Landgericht

644 Anhang: Personenregister

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Nürnberg/Fürth, 1948–1951 Ober-bürgermeister von Nürnberg (SPD),1951–1963 Geschäftsführendes Präsi-diumsmitglied des Deutschen Städte-tags 70, 215

Zinn, Georg-August (1901–1976), in derNS-Zeit mehrfach in Haft, 1946–1949Justizminister Hessen, 1946–1970 MdLHessen (SPD), 1947–1969 SPD-Landes-vorsitzender Hessen, 1948–1949 MdPR(SPD), 1949–1951 und 1961 MdB (SPD),

1951–1969 Ministerpräsident von Hes-sen, 1952–1970 Mitglied des SPD-Par-teivorstands 35, 201, 222, 555

Zorn, Rudolf (1893–1966), 1946–1947bayerischer Wirtschaftsminister (SPD),1949–1950 und 1951–1958 geschäfts-leitender Direktor des bayerischenSparkassen- und Giroverbandes, 1950–1951 bayerischer Finanzminister 95,539, 542

645 Anhang: Personenregister

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Sachregister

Abkommen und Verträge— Deutschlandvertrag, 26. Mai 1952 545— Französisch-saarländische Konvention,

3. März 1950 543— Grundlagenvertrag BRD-DDR,

21. Dezember 1972 592— Gründung der Europäischen Gemein-

schaft für Kohle und Stahl, 18. April1951 165

— Hitler-Stalin-Pakt, 22. August 1939 28— Interzonenhandelsvertrag, 20. Septem-

ber 1951 194, 550— Niedersächsisches Konkordat, 30. Juni

1965 350, 570— Nordatlantikpakt, 4. April 1949 542— Pariser Verträge, 23. Oktober

1954 177, 548— Passierscheinabkommen, 17. Dezember

1963, 19. Dezember 1964, 25. November1965 45, 330, 568

— Versailler Vertrag, 28. Juni 1919 495— Vertrag über die Europäische Vertei-

digungsgemeinschaft (EVG), 27. Mai1952 547

Afrika 202, 323Albanien 501, 592Alliierte 23, 147, 324, 543 f.— Westalliierte 21, 544, 548, 560, 567,

590Allparteienregierung 44, 52, 269, 560Anarchismus 435 f., 582Arbeiterbewegung 26, 29, 156, 203, 493,

556— deutsche 210, 293— katholische 514— norwegische 27 f., 61— schwedische 27 f.Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtli-

chen Rundfunkanstalten der Bundes-republik Deutschland (ARD) 402, 558

Asien 202, 226Aufrüstung 166 f.Außenpolitik 38, 40, 146–148, 163–168,

182, 190, 225, 231, 250–254, 271, 308,350, 389, 405, 425, 447 f., 459, 501, 545,554, 580 f.

Außerparlamentarische Opposition (APO),siehe auch: Studentenbewegung 438,578 f.

Australien 117Axel-Springer-Verlag 35, 578

Bad Dürkheim 579Bad Godesberg 35, 203, 206, 210, 565 f.,

571 f., 582, 588Bad Kreuth 334Baden-Württemberg 145, 351, 437Barsinghausen b. Hannover 36Bayerischer Rundfunk 300, 579Bayern 350, 405, 426, 476Belgien 542Bergneustadt 375, 574Berlin 19 f., 22–29, 33, 38, 42, 46, 48 f., 80,

82 f., 90, 92, 96, 126, 131–134, 144 f.,147, 163 f., 167–169, 188, 191, 215,218 f., 226, 255, 273, 275, 282 f., 303, 319,324 f., 328–330, 356 f., 361, 398, 410,425, 465, 535, 544 f., 549, 561–563, 572,578

— Mauer 42, 264 f., 339, 381, 560, 568— Oberbürgermeister 25, 131— Westsektoren 540Berlin (Ost) 266, 330, 540, 567 f.Berlin (West), siehe auch: Abkommen und

Verträge 281, 493, 540, 543, 549, 567 f.,579

— Abgeordnetenhaus 19, 26, 395, 543— Blockade 324, 540, 544— Chruschtschow-Ultimatum, 1958 330,

551

646 Anhang: Sachregister

Page 647: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

— Halensee 143— Informationszentrum 561— Presse- und Informationsamt 176, 304,

561, 568— Regierender Bürgermeister 19, 33,

36 f., 42, 46, 193 f., 200, 215, 222, 270,304 f., 329, 347, 356 f., 395, 549, 556,567 f., 571

— Reinickendorf 271— Schlachtensee 143— Senat 277, 542, 560— Technische Universität 546Besatzungszonen— Amerikanische 25, 540— Bizone 25, 540— Britische 25, 547, 590— Sowjetische 21, 29, 91, 163, 169, 177,

184, 191, 493, 540— Westzonen 20 f., 493— Wirtschaftsrat der Bizone 25, 540Bolschewismus, siehe auch: Marxismus-

Leninismus, Kommunismus, Sowjet-union 86, 106, 151, 182

Bonn 24, 47, 162, 168, 189, 200, 215, 224,262, 271, 274, 281, 283, 299, 327, 330,356, 363, 371, 467, 476, 517 f., 546, 551,555

Bremen 24 f., 148, 368, 370, 545Breslau 210Bundesbank 240Bundeskanzler 20, 42, 44, 52, 59 f., 142,

151, 223, 229, 234, 255, 267, 357Bundespräsident 228, 233 f., 438, 558, 569,

583Bundespresseamt, siehe BundesregierungBundesrat 241, 371, 447, 547, 558Bundesregierung 38, 122, 162, 192, 232–

254, 261, 423, 544 f., 550, 554, 556, 558,562, 565, 583, 586, 591

— Bundeskanzleramt 219, 330, 477, 524— Bundesministerium für Gesamt-

deutsche Fragen 219, 583— Presse- und Informationsamt der Bun-

desregierung 226, 466

Bundesrepublik Deutschland 19 f., 24, 29,41, 61, 137, 155, 162–170, 187, 195, 198,209, 220, 226, 231, 239, 245, 249 f., 254,257, 265 f., 300, 302, 318, 321, 327, 336 f.,339, 341 f., 368 f., 371, 381, 394, 402, 410,418, 432, 448, 454, 492, 496 f., 506, 511,543, 548, 592

Bundestag, siehe Deutscher Bundestag

Bundesverfassungsgericht 233, 558, 583

Bundeswehr 39, 251 f., 425, 493, 554

Chemnitz 380, 382 f., 575

Christlich-Demokratische Union Deutsch-lands (CDU), siehe auch: Große Koali-tion 25, 31, 39, 41–46, 52–55, 95, 189,219, 230–232, 244 f., 255 f., 259 f., 262–267, 298–301, 308, 322, 327, 331, 336,339 f., 350–352, 363–365, 371, 390, 394,400 f., 405 f., 440–445, 459 f., 474 f., 481,483, 485, 493, 499, 501, 513, 515, 518,522 f. 525, 530, 535, 544 f., 559, 564, 566,568, 580–583, 587 f., 592

— Ahlener Programm, 1947 172, 502 f.,542, 590

— Bundestagsfraktion 301, 389, 576— Frankfurter Leitsätze, 1945 503— Junge Union 43— Kanzlerkandidat 266 f.— Parteitage 230, 558

Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU),siehe auch: Große Koalition 25, 39, 41 f.,46, 52–55, 232, 259 f., 262 f., 267, 269,300, 331, 336, 339 f., 350–352, 363, 371,390, 394, 426, 460, 474 f., 481, 483, 493,499, 501, 515, 518, 522 f., 525, 531, 535,545, 559, 564, 566, 580 f., 583, 587 f.,590–592

— CSSR, siehe Tschechoslowakei

Dänemark 84, 542, 591

Darmstadt 573

Demokratie, siehe auch: Soziale Demokratie29 f., 101, 114–118, 154 f., 162, 187, 221,

647 Anhang: Sachregister

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246 f., 259 f., 262, 290 f., 293 f., 295 f.,315–317, 322, 324, 410–412, 423, 431 f.,438, 448 f., 454, 458 f., 483–514, 526 f.,533, 539, 546, 590

Deutsche Demokratische Republik (DDR),siehe auch: Abkommen und Verträge, Ber-lin (Ost), Besatzungszonen, Deutschland-politik, Kalter Krieg, Sozialistische Ein-heitspartei Deutschlands, WarschauerPakt 191, 250, 313, 527, 546, 548 f., 560,563, 567 f., 579, 592

— Freie Deutsche Jugend (FDJ) 585— Ministerium für Staatssicherheit 556— Wahlen 547, 560Deutsche Krankenhausgesellschaft 236,

559Deutsche Olympische Gesellschaft

(DOG) 235, 558Deutsche Partei (DP) 25, 350, 531, 572Deutsche Presse-Agentur (dpa) 474, 571Deutsche Welle 280Deutscher Bundestag 132, 178, 188, 234,

264, 357 f., 364, 371, 387, 391, 394, 401,406, 421, 438, 440, 492, 494, 516, 521,533, 580

— Auflösung und Neuwahl, 1972 478,517 f.

— Berliner Vertreter 19, 26, 133, 142,176 f., 395, 543, 549

— Präsident 268 f.Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), siehe

GewerkschaftenDeutscher Sportrat 235Deutsches Reich 491, 496Deutschland 20–23, 81, 117, 143, 160, 183,

190, 256, 280, 298, 324 f., 356, 454Deutschlandfunk 569Deutschlandpolitik, siehe auch: Abkommen

und Verträge, Berlin, Berlin (West), KalterKrieg, Sowjetunion, Wieder-vereinigung 40, 181, 338 f., 389, 527,533, 538

Diffamierungskampagnen gegen WillyBrandt und die SPD 22, 43–47, 218,

228 f., 266, 288, 310 f., 322, 331, 335, 347,357, 394 f., 521 f., 541, 555, 557, 559, 566,571, 573

Diktatur 114 f., 117Dortmund 147, 336, 348, 368, 568, 570„Drittes Reich“, siehe NationalsozialismusDüsseldorf 23, 92–98, 539, 564

Einheitspartei 21, 326 f.Eisenach 581Elbe 210, 253England, siehe GroßbritannienErfurt 494Essen 579Europa, siehe auch: Abkommen und Verträge,

Westintegration 23, 38, 81, 126–128,136–138, 165, 253, 298, 303, 315, 324,337, 494 f., 513 f., 527, 540

— Europarat 24, 136–138, 143, 166, 530,543 f.

— Europäische Gemeinschaft 591— Europäische Verteidigungsgemein-

schaft (EVG) 547— Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

(EWG) 252— Europäischer Wirtschaftsrat 166— European Free Trade Association

(EFTA) 252— Organization for European Economic

Cooperation (OEEC) 137— Schuman-Plan, 9. Mai 1950 495, 590— Vereinigte Staaten von Europa 126 f.,

496, 589 f.— West-Europa 138Evangelische Akademie 565, 567Exil 29, 82–88, 315 f., 320, 326, 328, 564— sozialdemokratisches 22

Faschismus, siehe auch: National-sozialismus 106, 139, 522

Finanzpolitik 243, 342 f., 371, 421, 433,452, 472

Frankfurt am Main 95, 393

648 Anhang: Sachregister

Page 649: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Frankreich 224, 393, 542, 564, 578Frauenpolitik 237 f., 417–419, 422, 520 f.,

579Freie Demokratische Partei (FDP) 25, 52 f.,

55, 307 f., 336, 339, 350, 355, 364 f., 371,393, 440–445, 450, 452, 474, 513 f., 518,525, 531, 546 f., 569, 576, 583, 587

Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) 276 f., 494,561, 574, 588

— Archiv der sozialen Demokratie(AdsD) 494, 561, 588

Gelsenkirchen 368Genf 281Gesundheitspolitik 235 f., 279, 301, 451,

511Gewerkschaften 174, 188, 227 f., 239, 246,

275, 341, 348, 352, 370, 375–380, 420,425, 433, 446 f., 452, 470, 520 f., 557,569 f., 574

— Deutscher Gewerkschaftsbund(DGB) 286, 303, 406, 548, 563, 566

— Gewerkschaft Öffentliche Dienste,Transport und Verkehr (ÖTV) 446

— Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden 367

— Industriegewerkschaft Metall 228,348, 375, 470, 508, 557, 570, 590

— norwegische 322— Gießen 579Görlitz 109„Goldener Plan“ 235, 558Greifswald 226Großbritannien, siehe auch: Labour

Party 117, 122, 252, 495, 542, 556, 591— Regierung 117, 202Große Koalition 20, 25, 44, 47, 51–55, 58,

390–395, 399–401, 403–406, 411, 413,420, 440 f., 445, 531, 537, 576–578, 583

Grundgesetz 31, 209, 245–247, 250, 339,409, 418, 450, 475, 498 f., 521, 579, 590

Hagen 368

Hamar 476Hamburg 24, 134, 138, 202, 301, 325, 368,

373, 549, 552, 579Hannover 21, 36, 39, 82 f., 87, 120, 131, 144,

211, 227 f., 230, 282, 380, 382 f., 446, 489,562, 564, 575, 579, 589

Harvard University 273, 280 f.Heidelberg 107 f.Helsinki 523, 592Hessen 405Humanismus 109, 129, 159, 315, 423

Imperialismus 125Indien 192, 287, 572Innenpolitik 38–40, 168 f., 181, 183, 225,

231, 234, 308, 389, 459— Innere Sicherheit 245–250, 349— Notstandsgesetzgebung 270, 420, 433,

557, 563, 570, 580— Wahlrechtsreform 440, 583Internationale Arbeiter-Assoziation

(1864) 104, 541Internationale Brigaden 43Irland 542, 591Ischia 466Israel 522Italien 462, 542

Japan 590Jugend 248 f., 386, 401 f., 414 f., 420, 422,

432–434, 578, 582Jungsozialisten (Jusos), siehe Sozial-

demokratische Partei DeutschlandsJustizpolitik 247

Kalter Krieg, siehe auch: Berlin, Berlin(West), Deutschlandpolitik, Ostpolitik,Sowjetunion, Wiedervereinigung 148,253

Kanada 542, 592Kapitalismus 111, 506, 542— Monopolkapitalismus 106Karl-Marx-Stadt, siehe Chemnitz

649 Anhang: Sachregister

Page 650: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Karlsruhe 229, 343, 558

Karpaten 261

Kiel 321, 591

Kirchen 206, 248, 432— Katholische 229, 500

Klassen, Schichten, Berufsgruppen— Akademiker 30, 58— Angestellte 30, 108, 156, 185, 240, 490— Arbeiter 30, 108, 156, 169, 185, 240,

291, 297, 354, 367, 490, 564— Arbeiterklasse 26, 107— Arbeitnehmer 26, 239, 246, 367, 370,

376 f., 450 f.— Bauern 30, 108, 156, 173, 243, 302, 410,

490— Beamte 30, 108, 156, 240— Intellektuelle 57–59, 320, 332, 348,

420, 470, 569, 577— Journalisten 57, 425, 577— Künstler 57, 348, 577— Manager 106, 158— Mittelschichten/-stand 21, 26, 30, 58,

108— Offiziere 252— Proletariat 107— Schriftsteller 57, 341, 348, 373, 537,

569— Selbstständige 236, 242

Klassenkampf 104 f., 490

Köln 47, 277

Kollektivismus 99, 531

Kolonialismus 210, 250

Kommunalpolitik 226, 238, 279, 394

Kommunismus, siehe auch: Bolschewismus,Marxismus-Leninismus 29, 38, 115,124, 203, 220, 293 f., 327, 435, 457 f., 547,564, 585 f.

Kommunistische Partei Deutschlands(KPD)/Deutsche Kommunistische Par-tei 21, 25, 29, 98, 313, 457, 461, 585

Kommunistisches Manifest 542

Kommunistische Partei Norwegens 522

Kommunistische Partei der Tsche-choslowakei (KPC), siehe auch:Tschechoslowakei 580

Kommunistische Partei der Sowjetunion(KPdSU), siehe auch: Sowjetunion 112,548

Konferenzen, siehe auch: SozialdemokratischePartei Deutschlands

— Achtzehn-Mächte-Abrüstungs-konferenz, 14. März bis 14. Juni, 16. Julibis 7. September, 26. November bis20. Dezember 1962 562

— Erste Internationale sozialistische Kon-ferenz in Zürich, 8. Juni 1947 494, 589

— Londoner Konferenz, 11. bis 13. Mai1950 136, 544

— Viermächte-Außenminister-KonferenzBerlin, 25. Januar bis 18. Februar1954 547

— Vorkonferenz zur KSZE, 22. November1972 513, 523, 592

Kongo 338Königsberg 210Konzentrationslager 492Kulturpolitik 226, 247, 254, 301Kuratorium unteilbares Deutschland 193,

549

Labour Party (Großbritannien), siehe auch:Großbritannien 122

Lateinamerika 338Leipzig 290, 564Leipziger Hochverratsprozess, 1872 290,

564London 534Lübeck 147, 311, 313 f., 321, 325, 395 f., 545Ludwigshafen 569Luxemburg 542

Mannheim 521, 591Marktwirtschaft 263, 483, 508, 510, 566Marshall-Plan 112, 127 f.Marxismus 103, 109

650 Anhang: Sachregister

Page 651: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Marxismus-Leninismus, siehe auch: Bolsche-wismus, Kommunismus 124, 292

Meinungsforschungsinstitute— Emnid 518— Infas 518— infratest 424 f., 580Menschenrechte 127, 154, 210, 488, 495Mitteldeutschland 38Moskau 28, 151, 327, 494, 551, 564Mühlheim a. d. Ruhr 38München 281, 464, 519, 521, 579, 591 f.

Nairobi 463Nationaldemokratische Partei Deutsch-

lands (NPD), siehe auch: Rechts-radikalismus 31, 390, 410, 436, 525

Nationalismus 126, 496Nationalsozialismus, siehe auch: Faschis-

mus 122, 188, 203, 249, 309, 315, 320,322, 324, 327, 395 f., 409, 437, 492, 496,538, 547 f., 561, 564

— Attentat auf Hitler, 20. Juli 1944 283,314, 562

— Gestapo 556Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-

partei (NSDAP) 53, 577Neuseeland 117New York 373Niederlande 542Niedersachsen 299, 350Nordrhein-Westfalen 368, 520, 591North Atlantic Treaty Organization (NATO),

siehe auch: Bundeswehr, Kalter Krieg,Verteidigungspolitik, Wieder-bewaffnung 38, 167, 251, 336, 542, 550,592

Norwegen, siehe auch: Arbeiterbewegung, Exil,Oslo 28, 80, 176, 273, 281, 315, 321,323, 325, 476, 478, 538, 542, 571

Norwegische Arbeiterpartei (DNA), sieheauch: Arbeiterbewegung, Skandina-vien 28, 84

Nürnberg 92, 402, 534, 581

Oberhausen 368, 590Organization for Economic Cooperation

and Development (OECD) 282Oslo 85, 87, 325Ostblock 165Ostpolitik 40, 45, 338, 406 f., 447 f., 466,

533, 559, 566, 582, 588

Pakistan 572Paris 272, 323Parlamentarischer Rat 97, 539, 551Patriotismus 496 f.Planwirtschaft 35, 116 f., 122 f., 531Portugal 501, 542

Rechtsradikalismus 293, 436Redneraustausch, siehe Sozialdemokratische

Partei Deutschlands, Sozialistische Ein-heitspartei Deutschlands

Regensburg 534Religion 129, 159 f.Revolution— 1848 104, 291, 479— 1918 122— bürgerliche 290— Französische 103— industrielle 186Rhein 210Rheinland-Pfalz 299, 520Ruhrgebiet 340Russland, siehe Sowjetunion

Saarbrücken 411, 471Saarfrage 136 f.Saarland (bis 1955 Saargebiet) 24, 188, 351,

368, 530, 543Schleswig-Holstein 132, 321, 352Schweden, siehe auch: Arbeiterbewegung,

Sozialdemokratische ArbeiterparteiSchwedens, Stockholm 21, 84, 87, 225,321, 476

Schweinfurt 569Sender Freies Berlin (SFB) 226, 374

651 Anhang: Sachregister

Page 652: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Skandinavien, siehe auch: Dänemark, Exil,Norwegen, Schweden 84, 112, 202, 225,326, 395 f., 538, 556

— Sozialdemokratie 315, 505 f.

Sowjetunion, siehe auch: Alliierte, Berlin,Besatzungszonen, Bolschewismus, KalterKrieg, Kommunistische Partei der Sowjet-union, Marxismus-Leninismus, Moskau,Warschauer-Pakt 111, 200, 338, 494,559 f., 580, 590

— Deutschlandpolitik 38, 330, 465, 545,551

— Fünfjahresplan 117— Moskauer Prozesse 28— Stalinsche Säuberungen 28

Sozialdemokratische Partei Deutschlands(SPD), siehe auch: Arbeiterbewegung,Diffamierungskampagnen, Exil, Friedrich-Ebert-Stiftung, Gewerkschaften, GroßeKoalition, Internationale Arbeiter-Assozia-tion (1864), Leipziger Hochverratsprozess,Sozialdemokratischer Hochschulbund(SHB), Sozialdemokratische Wäh-lerinitiative (SWI), Soziale Demokratie,Sozialismus, Sozialistengesetz, Sozia-listische Internationale, SozialistischerDeutscher Studentenbund (SDS), Volks-partei, Wahlkontor deutscher Schriftsteller

— Aufrufe/Kundgebungen/Mani-feste 342, 457 f., 539, 580

— Außen- und DeutschlandpolitikDeutsches Manifest, 1955 177, 548Deutschlandplan, 1959 199 f., 551 f.

— Bezirk Mittelrhein 166— Bundesgeschäftsführer 59, 405, 412,

424, 445, 578— Bundestagsfraktion 26, 32, 39, 46–49,

52 f., 177, 193, 272, 283 f., 302, 306, 344 f.,373, 389, 393, 421, 471, 519, 533, 536,543, 549 f., 562–564, 573, 587

— Gemeinsamkeitspolitik 31, 37–56,233, 235–257, 265, 267, 271, 309, 342 f.,358, 555 f., 560, 562 f., 571

— Jungsozialisten (Jusos) 54, 60, 384,448–461, 519 f., 584–586, 588

— Kanzlerkandidat 19, 35–47, 49, 216,222–224, 227, 230, 257, 310, 316 f.,329, 346 f., 439 f., 532, 536, 552, 555, 565,571

— Konferenzen, Kongresse, Tagungen1960 Kommunalpolitische Bundes-tagung, Mülheim/Ruhr 381961 außerordentlicher Kongress,Bonn 2301962 Deutschlandtreffen, Berlin 5631963 Deutschlandtreffen, Ham-burg 5651963 Kulturkonferenz, Hamburg 3011963 Wirtschaftspolitische Konferenz,Essen 5661965 Deutschlandtreffen, Dort-mund 336–343, 5661968 Bundesfrauenkonferenz, Saar-brücken 4111969 Jugendkongress, Bad Godes-berg 5821970 Juso-Kongress, Bremen 448, 461,463 f., 584–586

— Kontrollkommission 559, 563 f.— Landesverband Baden-Württem-

berg 145— Landesverband Bayern 277, 305— Landesverband Berlin 22 f., 33, 131–

135, 144, 150, 198, 203, 206, 211, 284 f.,296, 363, 537, 544–546Kreisverband Wilmersdorf 26Landesparteitag 1947 488Landesparteitag 1949 29, 542Landesparteitag 1954 150, 546

— Landesverband Hamburg 483, 543,588

— Landesverband NiedersachsenOrtsverein Hannover 20

— Landesverband Schleswig-Hol-stein 581

— Ministerpräsidenten der Bundes-länder 532, 558, 578

652 Anhang: Sachregister

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— Öffentlichkeitsarbeit, Werbung 41,61, 180, 367 f., 405, 468, 531, 563

— Oppositionspolitik 25, 37, 180, 540,544

— Organisation 20, 22, 25 f., 174 f., 189,387, 412, 530, 550

— Parteipräsidium 32, 44, 47 f., 52 f., 197,222, 274, 344, 354, 367, 384, 387, 405,408, 429 f., 439, 446, 465, 517, 519, 524 f.,550, 561, 563 f., 572, 583, 591

— Parteirat 33, 36, 200, 216, 349, 393, 429,446, 464, 475, 555, 559, 563, 581 f., 588

— Parteireform 26 f., 29 f., 32 f., 35, 61 f.,316

— Parteitage1868 4261869 4261891 456, 5851946 21, 99, 484, 538 f.1947 92, 4881948 23, 90–92, 539–5411950 23, 134, 138, 539, 5431952 34, 1471954 34, 5481956 1901958 32, 34, 195, 204, 378, 5561959 (a. o.) 33, 2061960 35 f., 39, 357, 535, 571, 5731962 48, 271, 561 f.1964 (a. o.) 49, 305, 566, 5691964 307, 369, 5681966 51, 62, 379, 382 f., 5741968 55, 403 f., 413, 5781969 439 f.1970 448, 5831971 (a. o.) 471–473

— Parteivorstand 20, 23, 27, 32 f., 36,46–48, 52, 82, 144, 154, 197, 199, 203,215, 283, 287, 305 f., 344 f., 351–355, 367,382, 387, 404, 429 f., 445 f., 516, 530, 532,535 f., 544, 546, 548, 554 f., 559 f., 562–565, 569, 571, 578, 583–585Ausschuss für Öffentlichkeits-arbeit 367

Berliner Vertretung/Berliner Sekreta-riat 19, 22 f., 90, 92, 99, 131, 144, 325,328Forschungsgemeinschaft 153Forschungsstelle 272, 561Grundlagenreferat 275 f., 279, 281, 561Informationszentrum 272Kommunalpolitischer Ausschuss 346Kulturpolitischer Ausschuss 346Planungsgruppe/Planungsstab 48,272–279, 405, 535, 560 f.Programmkommission 151 f., 539,546, 552 f.Siebener-Kommission 35 f., 223, 550,552Soziale Arbeitsgemeinschaften(SAGs) 378 f., 574Studienkommission 546Wohnungspolitischer Ausschuss 347

— Parteizentrale 48, 130–132, 543— Programme

Dortmunder Aktionsprogramm,1952/54 166, 169 f., 173 f., 202, 492 f.,532, 544–547, 589Erfurter Programm, 1891 103, 107,120, 542, 574Godesberger Programm, 1959 31, 33–35, 37, 60, 206–211, 298, 303, 316 f., 318,355, 369 f., 372, 377, 395, 411, 450, 453,472 f., 475, 482, 486 f., 490, 505–509, 513,531, 553, 558, 587 f., 590Görlitzer Programm, 1921 129, 542,574Heidelberger Programm, 1925 103,105–108, 111 f., 126, 129, 590Langzeitprogramm 586Orientierungsrahmen ’85 511Perspektiven im Übergang zu den sieb-ziger Jahren 402, 422, 578Prinzipienerklärung, 1946 94, 102,105, 120Programm des Allgemeinen deutschenArbeitervereins, 1866 126

653 Anhang: Sachregister

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— Programmdebatte 33–35, 91, 102 f.,117, 138–142, 147–150, 152–175, 196–199, 203–205, 543

— Redneraustausch mit der SED,1966 51, 380–385, 575 f.

— Regierungsbildung 1966 51–55, 389— Regierungsbildung 1969 56–60, 441–

445— Regierungsmannschaft 41 f., 46, 56,

211, 216, 218, 255, 331, 341, 346, 352,356 f., 439, 554, 569

— Traditionalismus 27, 161, 316, 531, 537— Wahlkampf 31 f., 35, 37, 211–267,

303–344, 420–424, 476–479, 533, 536 f.,552, 555, 571 f., 577, 591Berliner Büro Willy Brandts 273 f., 286Deutschlandreise, 1961 41, 271, 533 f.Informationsreise, 1972 479Zentrale Wahlkampfleitung(Z.W.L.) 48, 227, 424

— Wahlprogramme 33, 183, 562Appell von Hannover, 1960 215, 225,554Aufruf, 1965 342, 569Regierungsprogramm, 1961 40, 56,230–257, 259, 302, 307, 371, 420, 472,554, 558Wahlplattform, 1972 518

— Vorsitzender 19, 47–56, 60, 62, 191,201, 305 f., 316 f., 356 f., 396, 399, 419,427 f., 454 f., 465, 553, 571, 577

— Wiederbegründung/Neubegründung1945 20, 33, 101, 294, 316, 480, 487,529, 567

Sozialdemokratische Partei Österreichs(SPÖ) 481, 588

Sozialdemokratische Wählerinitiative(SWI), siehe auch: Wahlkontor deutscherSchriftsteller 57–59, 426–429, 467–470, 517, 527, 581, 587

Sozialdemokratischer Hochschulbund(SHB) 54, 435, 554

Soziale Demokratie 30, 481 f., 585

Sozialisierung 35, 97, 120–122, 168, 499,506, 539 f., 556, 590

— Sozialisierungskommission, 1919 122,542

Sozialismus 29–32, 35, 154, 312, 314 f.,458 f., 481–483, 539, 546

— christlicher 122, 503— demokratischer 22, 28–32, 34 f., 62,

99–130, 153, 179 f., 202, 204 f., 326, 478,480–515, 541, 553

— freiheitlicher 94, 124, 154, 157, 161,480, 508, 547

— Revisionismus 124, 542Sozialistengesetz, 1878 – 1890 290, 491,

561Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands

(SAP/SAPD) 28, 85 f., 313, 531, 556,564 f.

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands(SED), siehe auch: Deutsche Demokrati-sche Republik, Kommunismus, Marxis-mus-Leninismus 21, 29, 191, 380–385,483, 522

— Redneraustausch mit der SPD,1966 51, 380–385, 575 f.

— Zentralkomitee (ZK) 575Sozialistische Internationale 291, 552, 589Sozialistische Jugend Deutschlands/Die

Falken 384Sozialistischer Deutscher Studentenbund

(SDS) 215, 408 f., 554 f., 578Sozialliberale Koalition 52 f., 440, 450, 452,

471 f., 481 f., 515, 535 f., 544, 566Sozialplan 173 f., 184–187, 548Sozialpolitik/Familienpolitik 185, 205,

225, 236 f., 244, 261 f., 303, 307, 370— Kriegsopferversorgung 186, 237, 447,

451, 569Spanien 322 f.— Spanischer Bürgerkrieg 28, 43, 322 f.,

567Spiegel-Affäre 44, 53, 534 f., 563 f., 572Stockholm 28, 81, 538Straßburg 136

654 Anhang: Sachregister

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Studentenbewegung, siehe auch: Außerparla-mentarische Opposition 32, 60, 408–410, 430, 437, 578, 582

Stuttgart 32, 195, 556Südostasien 338Syrien 323

Terrorismus 430, 432, 434, 582— Rote Armee Fraktion (RAF) 582Tessin 426Tokio 590Totalitarismus 96, 205 f., 317Tschechoslowakei, siehe auch: Kalter Krieg,

Kommunismus, Kommunistische Parteider Tschechoslowakei, WarschauerPakt 423, 495, 580

— „Prager Frühling“, 1968 495, 580Tunesien 271Tutzing 300, 303, 565–567

Ulm 369Umweltpolitik 40, 238 f., 453, 500, 510 f.Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

(UdSSR) siehe SowjetunionUniversum Film Aktiengesellschaft

(UFA) 280United Nations Educational, Scientific and

Cultural Organization (UNESCO), sieheauch: Vereinte Nationen 254

Vereinigte Staaten von Amerika(USA) 41, 112, 143, 200, 225 f., 231,280, 316, 320, 530, 547, 551, 555 f., 560,564, 592

Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) 98, 540 f.

Vereinte Nationen (UNO) 165–167, 192,210, 527, 592

Verkehrspolitik 239, 262Verteidigungspolitik, siehe auch: Bundes-

wehr, Wiederbewaffnung, North AtlanticTreaty Organization (NATO) 38, 187,205, 212, 225, 283

— Atombewaffnung der Bundes-wehr 233

Vertriebenenpolitik/Flüchtlings-politik 110, 123, 171, 174, 210, 237,250, 344, 350, 358, 425, 572

Vichy 323Vietnam 338Villach 481Vilshofen 44Volkspartei 20, 30 f., 35, 37, 49, 60 f., 109,

156, 255, 298 f., 368, 377 f., 411, 474, 499,587

Volksrepublik China 501, 590

Währungsreform 1948 170, 324, 507,539

Wahlen in der Bundesrepublik Deutsch-land

— Bundestagswahlen 1953 34, 150, 160,181, 546

— Bundestagswahlen 1957 32, 34, 548— Bundestagswahlen 1961 44 f., 47, 56 f.,

234, 258 f., 263 f., 558 f.— Bundestagswahlen 1965 45 f., 360–

392, 569, 574— Bundestagswahlen 1969 56–58, 591— Bundestagswahlen 1972 19, 60, 535,

592— Landtagswahlen 1946 25— Landtagswahlen 1947 25— Landtagswahlen 1968 54Wahlkontor deutscher Schriftsteller 57 f.,

348, 373, 537, 570Warschau 494Warschauer Pakt 423, 580, 592Washington D.C. 330, 542Weimarer Republik 97, 116, 203, 292, 309,

313, 326, 409, 491, 529, 574Weltkriege, siehe auch: Abkommen und

Verträge— Erster 99, 203, 295, 496— Zweiter 99, 110 f., 115, 288, 293, 309,

322, 486, 530, 547Wennigsen/b. Hannover 21, 589

655 Anhang: Sachregister

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Werra 210Westdeutscher Rundfunk (WDR) 399Westintegration, siehe auch: Abkommen und

Verträge, Deutschlandpolitik, Europa,North Atlantic Treaty Organization(NATO) 543, 545

Wiederaufbau 156, 184 f., 188, 203, 239,534

Wiederbewaffnung, siehe auch: Bundeswehr,North Atlantic Treaty Organization(NATO),Verteidigungspolitik 166–168,190, 546, 549

Wiedervereinigung, siehe auch: Berlin,Deutschlandpolitik, Kalter Krieg 24,147 f., 162 f., 166, 178, 181 f., 184 f., 187,190–193, 207–209, 219, 232, 250, 545,549, 551 f.

Wirtschaft, Handel, Finanzen, siehe auch:Währungsreform 1948, Wirtschaftspolitik

— Gewerbe 108— Handel 108— Handwerk 108, 170— Land- und Forstwirtschaft 108, 242 f.,

302Wirtschaftspolitik 116–126, 169–173,

184–187, 205 f., 226, 239–245, 302, 370,394, 405, 421, 433, 505 f., 539 f., 543

Wissenschaftspolitik, Bildung 233, 247,262, 301, 425 f., 433 f., 500, 511, 583 f.

Wissenschaftsrat 247, 559

Zeitungen, Zeitschriften— Der Abend 576— Arbeiterbladet (Oslo) 87 f., 538— Außenpolitik 213— Bayernkurier 466— Berliner Stadtblatt 142, 543

— Berliner Stimme 149, 203, 362, 543,546, 565, 575

— Dafür 427, 581— Deutsche Zeitung 534— Frankfurter Allgemeine 572— Frankfurter Hefte 500— Frankfurter Rundschau 569, 587 f.— General-Anzeiger (Bonn) 306— Guardian (London) 588— Hamburger Abendblatt 583— Handelsblatt 572— Neue Bildpost 351— Neue Gesellschaft 179, 257, 426, 471,

486, 565, 584, 589— Neues Deutschland 575— Passauer Neue Presse 534— Die Presse (Wien) 588— Rheinischer Merkur 570— Sozialdemokrat 26, 133 f., 143, 543,

589— Das sozialistische Jahrhundert 92— Der Spiegel 42, 332, 534— Stern 520, 591— Stuttgarter Zeitung 559, 572— Süddeutsche Zeitung 264, 559, 572,

588— Südwest Presse 439, 583— Quick 374, 573— Vorwärts 26, 54, 216, 565, 572, 575–

577— Vossische Zeitung 564— Die Welt 572, 588— Die Zeit 572

Zentrum 25

Zürich 303, 494, 582, 589

Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) 558

656 Anhang: Sachregister

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Bildnachweis

Seite 6 und Foto auf dem Umschlag: Foto von Heinz Glässel, Augs-burg, Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie derFriedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 100: Willy Brandt 1949: Foto: dpa, Bilderdienst SüddeutscherVerlag, München.

Seite 153: Willy Brandt redend vor Kindern mit Fahnen: Foto vonP. Gursky, Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratieder Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 207: Redenotizen vom 13. November 1959: Willy-Brandt-Archivim Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung(Bonn).

Seite 214: Telegrammentwurf: Willy-Brandt-Archiv im Archiv dersozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 217: Willy Brandt beim SPD-Parteitag 1960 mit Klaus Schütz: Fotovon Hannes Dahlberg, Foto-Dienst Berlin, Willy-Brandt-Archiv im Ar-chiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 232: Willy Brandt Autogramme schreibend: Willy-Brandt-Ar-chiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung(Bonn).

Seite 269: Notiz vom 20. September 1961: Willy-Brandt-Archiv imArchiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 285: Berlin-Treffen der SPD im Oktober 1962: LandesbildstelleBerlin, Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie derFriedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 333: Willy Brandt im Wahlkampf 1965 winkend: Foto von Ste-fan Moses, Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratieder Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

657 Anhang: Bildnachweis

Page 658: willy brandt Berliner Ausgabe · Bürgermeister von Berlin, Vorsitzenden der SPD und später der Sozialistischen Internationale sowie zum Außenminister und Bun-deskanzler der Bundesrepublik

Seite 345: Willy Brandt 1965 mit Klaus Schütz: Foto von Stefan Mo-ses, Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie derFriedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 397: Umschlag „Warum“: Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung,Parteivorstand der SPD.

Seite 442: SPD-Plakat 1969 mit Willy Brandt: Archiv der sozialen De-mokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn).

Seite 451: Willy Brandt beim Jusokongress 1970: J. H. Darchinger,Bonn.

Seite 469: Willy Brandt mit Günter Grass 1970: Willy-Brandt-Archivim Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung(Bonn).

Seite 477: „Willy Brandt muß Kanzler bleiben“: J. H. Darchinger,Bonn.

Seite 504: Zweiter Entwurf Rede Schumacher: Willy-Brandt-Archivim Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung(Bonn).

658 Anhang: Bildnachweis

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Angaben zur Bearbeiterin und zu den Herausgebern

Bearbeiterin:

Daniela Münkel, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminarder Universität Hannover, Arbeit an einem Habilitationsprojekt zum Thema „WillyBrandt und die vierte Gewalt. Politik, Massenmedien und politische Kultur in derBundesrepublik Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre“. Veröffentlichungenu. a. zur NS-Agrargeschichte, Radiogeschichte im Nationalsozialismus und der DDRsowie zur Politik Willy Brandts.

Herausgeber:

Prof. Dr. Helga Grebing, geb. 1930 in Berlin. Studium an der Humboldt- und der FreienUniversität. 1952 Promotion im Fach Geschichte. Danach Tätigkeiten im Verlagswesenund in Institutionen der Politischen Bildung. Seit 1971 Professorin für Geschichte(Schwerpunkt Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts) an den UniversitätenFrankfurt/Main, Göttingen und Bochum, hier 1988–1995 Leiterin des Zentral-Institutszur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung. 1995 emeritiert und seither alsPublizistin in Göttingen lebend. Viele Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorieder Arbeiterbewegung; Autorin u. a. der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“.

Prof. Dr. Gregor Schöllgen, geb. 1952 in Düsseldorf. Studium der Geschichte, Philo-sophie und Sozialwissenschaften in Bochum, Berlin, Marburg und Frankfurt/Main.Dort 1977 Promotion im Fach Philosophie; 1982 Habilitation für Neuere Geschichte inMünster. Seit 1985 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen. Gast-professor in New York, Oxford und London. Prof. Schöllgen ist Autor zahlreicher Bü-cher, darunter „Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941–1991“und „Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland“.

Prof. Dr. Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg. Studium in Münster,Heidelberg und Tübingen. Promotion zum Dr. phil. in Tübingen 1963. Professor an derFreien Universität Berlin und an der Universität Freiburg/Br., seit 1991 an der Hum-boldt-Universität zu Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: „Arbeiter und Arbeiterbe-wegung in der Weimarer Republik“ (3 Bde.), „Weimar 1918–1933. Die Geschichte derersten deutschen Demokratie“, „Streitfragen der deutschen Geschichte“. Weitere Pub-likationen zur deutschen, europäischen und amerikanischen Geschichte.

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