Wirtschaftliche, technische und soziale Probleme im neuen Indien: Vortr¤ge zur Er¶ffnung der...

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FORSCHUNGSBERICHTE DK 3(540) DK 62(540) DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN Herausgegeben durm das Kultusministerium Nr.729 Forsmungsinstitut für Internationale Temnische Zusammenarbeit an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, Aachen (F.I.Z.) Wirtschaftliche, technische und soziale Probleme im neuen Indien Vorträge zur Eröffnung der Deutsch-Indischen Ausstellung in Aachen am 14. November 1958 Als Manuskript gedruckt WESTDEUTSCHER VERLAG / KOLN UND OPLADEN 1959

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FORSCHUNGSBERICHTE

DK 3(540) DK 62(540)

DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN

Herausgegeben durm das Kultusministerium

Nr.729

Forsmungsinstitut für Internationale Temnische Zusammenarbeit

an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, Aachen

(F.I.Z.)

Wirtschaftliche, technische und soziale Probleme

im neuen Indien

Vorträge zur Eröffnung der Deutsch-Indischen Ausstellung

in Aachen am 14. November 1958

Als Manuskript gedruckt

WESTDEUTSCHER VERLAG / KOLN UND OPLADEN

1959

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ISBN 978-3-663-04148-1 ISBN 978-3-663-05594-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-05594-5

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Vor w 0 r t

Das Forschungsinstitut für internationale technische Zusammenarbeit an

der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen hat neben sei­

nen Forschungsaufgaben über Anwendung und Verbesserung der Technik in

den Entwicklungsländern auch die Aufgabe, die interessierten deutschen

Stellen über die auftretenden technisch-wissenschaftlichen Probleme zu

informieren und dadurch zur Mitarbeit an ihrer Lösung anzuregen.

Ein erster Schritt zur Erfüllung dieser Aufgabe war die Deutsch-Indische

Ausstellung mit den zur Eröffnu~g gehaltenen Vorträgen.

Indien wurde gewählt als eindrucksvolles Beispiel dafür, welche Schwie­

rigkeiten in allen Entwicklungsländern auf dem Gebiet der Ausbildung,

Ernährung, des Gesundheitswesens, der Landwirtschaft, Industrie und Ver­

waltung zu überwinden sind. Die gewaltigen Anstrengungen des indischen

Volkes auf allen diesen Gebieten wurden ebenso eindringlich wie der An­

teil der deutschen Industrie an diesen technischen Einzel- und Großpro­

jekten dargestellt.

Für das Verständnis der nicht immer einfachen, aber so erfolgreichen

technisch-wirtschaftlichen Zusammenarbeit - behandelt in den Vorträgen

der Herren Dr.HEINRICH, Dr.HUNCK, von MITTERWALLNER und TOPPE - waren

die Darstellung der Lebensgewohnheiten und sozialen Verhältnisse durch

Miss BISWAS und Herrn von POCHHAMMER eine lebendige Ergänzung.

D. H. SCHWENCKE

Leiter des Forschungsinstitutes

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort • • • . . . . . . . . . . . . . S. 3

Generalkonsul a.D. W. von POCHHAMMER

Der Aufbruch Indiens in poli.tischer, soziologischer und sozia-ler Hinsicht. • • • •• •• • • • • • • • • •• •••• S. 1

S.A. BISWAS, Direktorin des Indischen Verkehrbüros, Frankfurt/M.

Die soziale Stel~ung der Frau in Indien • • • • • •

Dr.-Ing. habil. H. HEINRICH, Geschäftsführer der Indien­Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH.

Der Anteil Deutschlands an der Entwicklung der indischen Eisen-

S. 21

und Stahlindustrie im zweiten Fünfjahresplan. • • • • • • s. 35

A. TOPPE, Geschäftsführer der Indien-Gemeinschaft Krupp­Demag GmbH.

Transportprobleme beim Bau des Hüttemlerkes Rourkela .••

Dipl.-Ing. P.H. von MITTERWALLNER, Vorstandsmitglied der Krauss-Maffei AG.

Die Entwicklung der technischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Lokomotivbaues zwischen Tata Locomotive Works Jamshedpur und Krauss-Maffei AG München. •.•••.•.•••••

Dr. J.M. HUNCK, Chefredakteur vom "Handelsblatt" Düsseldorf

Deutsch-indische Zus amme narbe i t in Vergangenheit, Gegem1art und Zukunf t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Aufbruch Indiens in politischer, soziologischer

und sozialer Hinsicht

Von Generalkonsul a.D. W.von POCHHAMMER (früher Bombay)

Eine Menschengruppe von fast 400 Millionen Menschen bildet heute die

Bevölkerung eines nunmehr einheitlich geführten indischen Staats, des

zweitgrößten an Volksreichstum in Asien und der ganzen Erde. Als dieses

Gebiet noch unt·er britischer Herrschaft stand, pflegten die Staatsmänner

Europas zu sagen: "Wer Indien hat, beherrscht die Welt." So groß 'wurde

der Wert und das natürliche Potential dieses Subkontinents damals' einge­

schätzt. Nach einem Ringen von über fünfzig Jahren, das mit geistigen,

sittlichen Kräften durchgeführt worden ist, hat dieses Indien heute

seine Unabhängigkeit wiedergewonnen und seinen Platz ~nter den Völkern

als ein selbständig handelnder Faktor wieder eingenommen. Die erste

Frage, die uns hier heute angeht, ist die: welche Kräfte haben diesen

Aufbruch zu einem neuen Abschnitt der Existenz Indiens ermöglicht und

woher stammen sie? Welches waren die angewandten Methoden? Welche Wand­

lungen haben in Indien selbst Platz gegriffen, die sein Verhältnis zur

Welt und zu uns beeinflussen?

Lassen Sie mich zunächst ein paar geschichtliche Zahlen in unser Ge­

dächtnis zurückrufen. Die indische Nationalbewegung, ebenso wie die

deutsche des 19.Jahrhunderts, hatte zwei Ziele zu verwirklichen: Einheit

und Freiheit, Unabhängigkeit. Die politische Einheit hat Indien in einer

vielhundertjährigen Geschichte und einem langen Leidensweg erlangt. Die

indische Kulturwelt hat sich ganz ähnlich wie die abendländische aus

Wanderung und kulturellen Symbiosen in der Art entwickelt, daß sich

mehrere selbständige Völker gebildet haben, mit eigenen Bräuchen, eige­

ner Geschichte und eigenen Sprachen. Sie haben während langer Zeit durch­

aus nicht das Bedürfnis empfunden, sich staatlich zusammenzuschließen,

ebensowenig wie die Völker Europas. Aber sie haben in der gemeinsamen

Kultur, in ihrem Religions- und Gesellschaftssystem, das wir Hinduismus

nennen, eine sehr stark verbindende Basis entwickelt, die um alle Ange­

hörigen Indiens, unbeschadet kastenmäßiger Spaltung, ein sehr starkes

Band der Gemeinschaft seit jeher geschlagen hat. Dann haben sie, lode

jedes reifende Kulturvolk, das auf eine höhere Stufe gelangt, doch den

Wert erkannt, den größere Staatszusammenfassungen haben: wenn ständige

Kämpfe und Streitigkeiten unter den einzelnen nationalen Staaten auf­

hören und ersetzt werden durch Schaffung grösserer Reiche - im Interesse

der friedlichen Arbeit und der Pflege geistiger und kultureller Werte.

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Das alte Indien hat in dem Begriff des "Tschakravartin", des Weltkaisers,

ein ganz ähnliches Herrscherideal geprägt, wie wir es im Abendlande mit

dem Kaiser des Abendlandes gehabt haben. Und das hohe Ansehen, das in

Indien stets das Geistige gehabt hat - wir können Indien mit mehr Recht

als uns das "Volk der Dichter und Denker" nennen - dieses Übergewicht

hat dazu geführt, daß diese imperiale staatszusammenfassende Tendenz,

diese Überwindung nationaler Besonderheiten und nationaler Eigeninter­

essen schon sehr früh erstarkt ist. Schon im 4.Jahrhundert v.Chr. ist

im Gangestal das erste Großreich dieser Art entstanden, von dem wir den

Namen des Kaisers ASHOKA kennen, und in der Zeit vom 2. bis 5.Jahrhun­

dert n.Chr. ist dieses Reich als GUPTA-Reich erneuert worden und hat

damals der höchsten Blüte der alt-indischen Kultur als Schirm und Schutz

gedient. Aber beides, die gemeinsame Kultur und diese imperiale Tendenz,

wären nie stark genug ge~esen, eine wirkliche poltische Einheit zuwege

zu bringen: das hat die Fremdherrschaft vermocht. Schon die Eroberung

Indiens durch mohammedanische Dynastien türkisch-mongolischer Abkunft

seit etwa 1200 n.Chr. hat damals zwar die Einheit der alt-indischen

Kultur insofern gesprengt, als ja ein neues landfremdes Element, der

Islam, eingeführt wurde; aber diese Eroberung hat unter den Hindus das

Gefühl der Einigkeit durch das gemeinsame Schicksal der Unterwerfung

bedeutend gestärkt. Und noch mehr gilt dies für die Eroberung Indiens

durch die Europäer, durch die Engländer. Zwar sahen sie die Uneinigkeit

zwischen den beiden antagonistischen Gruppen nicht ungern; aber diese

beinahe zweihundert jährige Herrschaft hat auf Indien einen starken Druck

ausgeübt - der Gegendruck,der dadurch in der ganzen Bevölkerung entstand,

ist zum ecbten Ausgangspunkt der Einheit des modernen Indiens geworden.

Und die britische Zeit hat diese Tendenz zur Einigkeit dadurch erheb­

lich erleichtert, daß sie zum ersten Mal den ganzen Subkontinent, das

ganze geographische Gebiet Indiens staatlich unter eine Ver~altung

brachte, gleichzeitig der Bevölkerung das Englische als Amtssprache auf­

zvang und ihr dadurch eine gemeinsame Sprache gab, die der indischen

Freihei tsbe 1•regung als ein willkommenes Werkzeug bei ihrer Tätigkeit ge­

dient hat, und die noch heute den staatlichen Apparat Indiens zusammen­

hält. Im Kampf gegen Fremdherrschaft sind die Inder zu einer so festen

Nation zusammengewachsen, wie wir sie heute sehen - ähnlich wie das

deutsche Nationalgefühl seine stärksten Impulse der Freiheitsbewegung

gegen Napoleon seinerzeit verdankt hat. Der Kampf um die Rückgewinnung

der politischen Unabhängigkeit hat nun nicht mit jenem großen Aufstand

begonnen, der "great mutiny" von 1856/57 - obwohl im vorigen Jahre bei

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der Hundertjahrfeier manche Reden auf diesen Ton gestimmt waren. Das

war lediglich ein Aufstand meuternder indischer Soldaten ohne politische

Führung, und der einzige poltische Gedanke damals, den letzten Mogulkai­

ser, einen Schattenfürsten, wieder auf den Thron zu setzen, war ein

Anachronismus, der selbst dann keine konstruktiven Folgen gehabt hätte,

wenn die' ganze Bewegung erfolgreicher verlaufen wäre. Trotz einiger

wundervoller Heldentaten wi~ die des berühmten Heldentodes der jungen

Fürstin von JEANS I , die heute noch in der Phantasie der Inder fortlebt

wie die Jungfrau von Orleans in Frankreich, schließt dieses Ereignis

mehr die ältere indische Geschichte ab; und die neue indische Geschichte

beginnt ganz anders. Sie beginnt in den achtziger Jahren mit der Grün­

dung des bürgerlichen indischen Nationalkongresses. Indien war seit

Jahrtausenden nur monarchisch regiert worden. Die Radschas und Maharad­

schas waren der Inbegriff des staatlichen Lebens - wobei übrigens das

Wort "Radsch" sowohl Herrschaft wie Fürstenherrschaft bedeutet und nicht

nur dem Sinn, sondern auch dem Inhalt nach unserem Wort "Reich" anklingt.

Die Unabhängigkeitsbewegung Indiens ist nicht von den Fürsten ausgegan­

gen. Denn nur solche Fürsten waren ja auf ihrem Thron geblieben, die

sich rechtzeitig der britischen Herrschaft unterworfen und mit England

entsprechende Verträge abgeSChlossen hatten. Die Unabhängigkeit ist von

der neuen Schicht des indischen Bürgertums erkämpft wor.den, das zu Wohl­

stand und Besitz gelangt war und die Ideen der Nation und des Selbst­

bestimmungsrechts der Völker begeistert aufgriff; dem es gelang, den

kleinen Mittelstand mit sich zu ziehen und selbst bei den ärmsten Schich­

ten ein Interesse am Staat mit der Verheißung zu wecken, daß die Ver­

treibung der Briten, die als kapitalistische Ausbeuter hingestellt wur­

den, auch ihr materielles Wohl, das materielle Wohl jedes einzelnen,

fördern würde. In diesem Kampf, in dem die Fürsten überwiegend abseits

standen, hat die Bürgerschicht als Träger des nationalen Willens ganz

logisch den Gedanken entwickelt, daß die Absetzung des Königs von Eng­

land und Kaisers von Indien zur Republik führen müßte. Und ebenso lo­

gisch war es, daß Indien bald nach der Unabhängigkeitserklärung auch

den letzten monarchischen Faden abschnitt, indem es seine Stellung als

Dominion mit einem Generalgouverneur, der bereits ein Inder war, auf-

hob und sich zur echten, ganz unabhängigen Republik erklärte; und eben­

so logisch, daß Indien heute als wichtigsten Nationalfeiertag nicht den

Tag feiert, an dem die Engländer das Land verlassen haben, sondern den

Tag, an dem Indien sich zur Republik erklärt hat, den 26.Januar. Und

ebenso logisch ist es endlich, daß dieses neue Indien als erste

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politische Aufgabe erhielt, die zahlreichen Fürstenstaaten, die ihnen

die Engländer ja nicht übertragen konnten, in seinen Rahmen einzufügen;

denn die Engländer konnten ihnen nur Britisch-Indien geben; die Fürsten­

staaten gehörten nicht dazu. Und der große Staatsmann, der diese Aufgabe

vollbracht hat, VALABHAI PATEL, den manche den "indischen Bismarck"

nennen, hat mit Energie und klarem Blick von vornherein erkannt, daß

nicht der Beitritt der Fürsten in den indischen Bundesstaat, sondern

nur ihr Thronverzicht die einzig annehmbare Lösung sein könnte. Daß er

dies in kurzer Zeit, im Laufe von anderthalb Jahren, ganz überwiegend

in friedlichen Verhandlungen erreicht hat, ist sozusagen eins der ersten

Wunder der indischen Staatswerdung. Es erklärt sich auch daraus, daß

die Fürsten selbst an der Fortdauer ihrer geschichtlichen Aufgabe zwei­

felten und gern die guten Pensionen annahmen, die das neue Indien ihnen

als Abfindung bis zu ihrem Tod versprach.

Minder glücklich verlief die Auseinandersetzung mit der mohammedanischen

Gruppe. Im Kampf gegen England waren beide Bekenntnisse vorübergehend

geeint gewesen. GANDHI selber hatte sie im Jahre 1915 zu einem richti­

gen Bündnis zusammengebracht. Aber in der Entscheidungsstunde traten

die trennenden Momente zwischen beiden Gemeinschaften so stark in den

Vordergrund, daß ein eigener mohammedanischer Staat aus dem altindischen

Gebiet abgetrennt wurde. Englische Klugheit, ein rechtzeitiger Verzicht

der Fürsten, die große Energie und das große Geschick der indischen

Politiker, die den Staat aufbauten: das waren die Faktoren, die es er­

möglicht haben, in so kurzer Zeit aus diesem Subkontinent einen einigen,

festgefügten Staat zu schaffen. Dies waren die äußeren Ereignisse, die

ich ins Gedächtnis zurückrufen wollte, damit das Folgende verstanden

werden kann.

Die Kraft, die die heutigen Inder befähigt hat, dieses große staatliche

Werk zu vollbringen, stammt, wie alle großen Bewegungen in der Geschich­

te und namentlich wie alls großen Bewegungen in Indien, aus einer

geistigen Erneuerungsbewegung, die schon unter dem Druck der mohammeda­

nischen Herrschaft begonnen hatte. Schon damals, als die Religion, der

Hinduismus, die einzige Trostquelle des unterworfenen Volkes bildete,

als der Rückhalt an seiner Kaste für den Hindu die einzige Zuflucht war,

in der er Rettung finden konnte, hatte die Gläubigkeit des Volkes in

allen Schichten zu einer Verinnerlichung des religiösen Lebens geführt,

die wir etwa seit dem 16.Jahrhundert in zahlreichen Sekten und dem Auf­

treten neuer Propheten verfolgen können und die im 19.Jahrhundert zu

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voller geistiger Reife gelangte. Ich nenne die inzwischen ' ... el tbekannt

gewordenen Namen der großen Denker und religiösen Erneuerer:RAMAKRISHNA,

VIVEKANANDA und AUROBINDO GHOSH; neben ihnen die ungewöhnlich zahlreiche

Schicht großer Staatsmänner und Politiker, beginnend mit TILAK und

C.R. DAS bis zu GANDHI und dem Ministerpräsidenten NEHRU. G~eichzeitig

wirkte die erzwungene politische Untätigkeit, die dem indischen Volk

jahrhundertelang auferlegt wurde, wie eine Brache, bei der der nichtge­

nutzte Boden neue Kraft sammelte, die nun plötzlich zur Verfügung stand.

Weiterhin bewirkte die natürliche Reaktion auf die Demütigungen, denen

man einst durch die fremden Herren ausgesetzt war, ein neuartiges Auf­

flammen des Stolzes auf die eigene Vergangenheit, auf die eigene Lei­

stung, die eigene Größe, woraus der heutige indische Nationalstolz er­

wachsen ist. Und diese geistige Bewegung verband sich nun mit dem Ein­

dringen westlicher Ideen, mit den Ideen der Freiheit und dem Selbst­

bestimmungsrecht der Völker, der Gleichberechtigung aller Menschen und

der inneren staatlichen Freiheit, wie sie den Indern im Vorbild des

englischen Staates rasch geläufig wurden. Das alles erreichte einen

Siedepunkt, als man sah, daß die vielbewunderten europäischen Großmächte

durchaus nicht unbesiegbar waren. Das erste große Erlebnis war die Tat­

sache, daß Rußland von einer asiatischen Macht, nämlich 1904 von Japan,

niedergeworfen wurde. Und verhundertfacht wiederholte es sich in den

beiden Weltkriegen, als das herrschende England schwerste Niederlagen

einstecken mußte und in sch\·rerste Krisen geriet. So, aus mannigfaltigen

Quellen und gespeist durch die Ereignisse der Tagesgeschichte, hat sich

die Kraft in Indien gebildet, die sich gegen die Fremdherrschaft auf­

bäumte.

Hand in Hand damit ging eine andere Entwicklung. Jede Erhebung, jede

Revolution, wirkt irgendwie illegal. Es kam aber den Indern von Anfang

an entscheidend darauf an, ihren Anspruch auf Unabhängigkeit als sitt­

lich gerechtfertigt vor sich und vor der Welt zu erweisen, ferner, dieses

Ziel ohne Gewalt, ohne Blutvergießen zu erreichen. Als ich zum ersten

Mal in den zwanziger Jahren nach Indien kam, wurde noch mitunter mit

terroristischen Methoden, namentlich bei der bengalischen Jugend, gear­

beitet. Seitdem aber Gandhi die Führung der Bewegung übernahm, wurde

jede derartige Anwandlung verdammt. Die Gewaltlosigkeit, die AHIMSA,

ist das alt-indische Ideal, das schon vom Kaiser ASHOKA an seine berühm­

ten Felssäulen gemeisselt worden war, und mit Recht bildet Ashokas

Symbol heute das Staatswappen Indiens. Dieses Ideal erwies sich nicht

nur als die beste Kampfmethode für ein waffenloses und kriegsungeübtes

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Volk unter Führung eines städtischen Bürgertums, sondern entsprach auch

dem indischen Genius. Und diese Methode hat ihm rasch die Sympathie der

ganzen Welt eingebracht, eine Sympathie, die schon früh weit in ideolo­

gisch eingestellte Kreise Englands übergriff. Diese Methode bestand im

Boykott britischer Waren, im Boykott der Schulen, in passivem Widerstand

gegen harte Unterdrückung, schließlich in bürgerlichem Ungehorsam bis

zur Steuerverweigerung und in parlamentarischen Kämpfen, die aber nach

festen Spielregeln geführt wurden. Wir müssen uns daran erinnern, daß

dieser jahrzehntelange Freiheitskampf des indischen Volks geführt worden

ist, ohne daß, mit ganz geringen Ausnahmen, diese Spielregeln verletzt

wurden, ohne daß den Europäern ein Haar gekrümmt ~lrde. Es kamen damals

in Indien auf jeden Europäer etwa 200 Inder. Man hätte gegen sie eine

"Bartholomäusnacht" veranstalten können. Niemand hat auch nur daran ge­

dacht! Noch heute ist britisches Eigentum unangetastet geblieben. So hat

sich nach Beendigung dieses Ringens ein Verhältnis zwischen diesen bei­

den Völkern, zwischen den Engländern und den Indern, herausbilden können,

das die Bitterkeit der früheren Zeit vergessen ließ und das den Boden

bereitet hat für eine politische Freundschaft, die heute eine der wich­

tigsten Grundlagen der außenpolitischen Stellung Indiens ist. Und sie

dient nicht nur dem Verhältnis Indiens zu England, sie erklärt nicht

nur Indiens Verbleiben im Commonwealth und im Sterling-Block, sondern

sie dient auch als Boden und Brücke für sein Verhältnis zu allen übri­

gen europäischen Staaten, die ja heute mehr oder weniger zu Bundesge­

nossen Englands geworden sind, und sie dient damit auch Indiens Verhält­

nis zu uns. Sie läßt uns rückblickend den tieferen Grund erkennen, wes­

wegen England freiwillig aus Indien herausgegangen ist. Es war die

Bestürzung vor einer solchen geschlossenen Front von Millionen Indern.

Es war die Erkenntnis, daß die Nationalbewegung so stark geworden war

und so weite Kreise erfaßt hatte, daß sie imstande war, die britisch~

Herrschaft lahmzulegen, daß jedenfalls die politische Beherrschung

Indiens mit den bisherigen Mitteln unmöglich geworden war, und daß man

vor der Wahl stand, entweder politisch zu verzichten oder derart riesige

Machtmittel dort festzulegen, daß es auf die Dauer für das Empire zu

einer untragbaren Bürde werden würde.

Es ist das weltgeschichtliche Verdienst GANDHIS, dies geahnt, erkannt

und formuliert zu haben. Er hat die gewaltlose Methode nicht nur zum

obersten Gesetz erhoben; er hat sie so formuliert und in die Praxis

übersetzt, daß sie jedem Inder, auch dem kleinsten Bauern, verständlich

wurde, und er hat es vermocht, sie breitesten Schichten des Volkes

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lnd der Ärmsten, denen er als Prophet, als der "Mahatma" galt, hinter

sich zu stellen. Er hat dadurch die Nationalbe1oJegung aus einer bürger­

lichen zu einer Massenbewegung gemacht, hat ihre Kraft den fremden Be­

lerrschern vor Augen geführt und hat gleichzeitig dadurch die bisher

~oli tisch schlummernden Massen zum ersten Mal aufge 1'leckt. Aber der Ein­

cluß dieses Ringens ist noch weitergegangen. Übersehen loJir nicht, daß

Ln der indischen Ideologie das kosmopolitische Element eine große Rolle

3pielt. Was hier ein großes Genie dem indischen Volk predigte, das waren

3ittliche Ideen, die auch allgemeine Gültigkeit beanspruchen konnten.

3ie quollen aus einer tiefen Auffassung des Menschentums. Sie waren Aus­

lruck einer neuen Form der Humanität, die als solche eine Brücke zum

Hesten herüberschlug und dort sehr früh als solche verstanden worden

Lst. Ich erinnere daran, daß einer der ersten, der dies erfaßte, der

cranzösische Schriftsteller Romain ROLLAND war, der schon , ... ährend des­

~rsten Weltkrieges das erste verständnisvolle Buch über Gandhi und

3eine Rolle in der Welt schrieb. Wenn heute die indische Staatsführung

Lm Zeichen des Friedens steht und dieses Ziel als das Kardinalziel der

Lndischen Politik bezeichnet; wenn heute Ministerpräsident Nehru sagt,

laß "Gewaltlosigkeit und Frieden ihm als der einzige Weg erscheinen, um

lns alle vor Selbstvernichtung zu retten", dann folgt er nur den Maximen,

nit denen Indiens Unabhängigkeitskampf zum Erfolg geführt wurde. Als

301che friedensbejahende Macht steht Indien zwischen den beiden Blöcken;

las erklärt das große Ansehen, das ihm vor allem bei den übrigen farbi­

?;en Völkern in Asien wie in Afrika zugefallen ist. Sie alle blicken mehr

)der 10Teniger bewußt auf Indien als das klassische Musterbeispiel einer

Gösung von der kolonialen Fremdherrschaft in vorbildlicher Form. Einige

Ton ihnen haben es so nicht fertiggebracht, wie z.B. Indonesien; aber

3ie alle verspüren Achtung vor dem Staat, dem es in dieser Form gelungen

Lst, und der jetzt für den Frieden in aller Interesse eintritt. So den­

ten die asiatischen Staaten, die zum engeren Kulturkreis Indiens gehören,

lie einst von Indien Religion und Kultur empfangen und mit indischer

Iilfe die Grundlagen ihrer Zivilisation gelegt haben: Ceylon, Burma,

I1a.laya, Thailand, Indonesien, die ganze Welt, die wir einst "Holländisch

md Französisch-Indien" genannt haben. Und nicht viel anders ist es im

Terhältnis zur arabischen Welt. Ob sie noch unter kolonialer Herrschaft

3teht oder schon de facto eine Unabhängigkeit erlangt hat: sie empfin­

let es als besonders verheißungsvoll, daß Indien auf religiösem Gebiet

3treng tolerant geblieben ist. Ungleich Pakistan hat Indien den Weg

rermieden, seinen Staat auf die Relgion zu gründen. Indien ist kein

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hinduistisoher Staat geworden, sondern ein 14eltlioher, in dem die Be­

kenner aller Konfessionen gleichberechtigte Bürger sind. Und so kann

auch die arabische, also mohammedanische Welt, auf Indien als eine füh­

rende Macht der farbigen Welt blicken und Ähnliches gilt für die farbi­

gen Völker in Afrika, für die schwarze Rasse, die das Beispiel Indiens

bewundert, die Führung seiner Politik aufmerksam verfolgt und oft seinen

Rat einholt. Dieser Sieg mit sittlichen Mitteln hat Indien in der ganzen

nicht-kommunistischen farbigen Welt eine Stellung gegeben, die beinahe

an die eines Sprechers ihrer Interessen heranreicht.

So hat sich der politische Aufbruch Indiens vollzogen: aus einer geistig­

religiösen Erneuerungsbewegung heraus, getragen von der Energie und dem

Elan der neuen bürgerlichen Schicht, inspiriert durch das Eindringen

westlicher Gedanken und geführt von einer Reihe von großen Staatsmännern

und Politikern, wie sie wenige Völker der Erde in dieser Zahl besessen

haben.

Soziologischer Teil

Wer heute einen modernen Inder, namentlich ein Mitglied der jüngeren

Generation fragt, welcher Kaste er angehöre, wird mitunter ein leises

Lächeln bemerken, das zu besagen scheint, daß diese Frage heute unzeit­

gemäß klänge. Aber wir, die wir aus Büchern gelernt haben, daß das

Kastensystem eisern die indische Gesellschaft beherrsche und noch heute

die Gesellschaft in luftdicht abgeschlossene Abteilungen spalte, fragen

uns, wie denn der geschilderte Aufbruch und die Entstehung eines gemein­

samen Nationalgefühls möglioh gewesen ist. Das alt-indische Kastenwesen

ist - ähnlich wie unsere mittelalterliche Gesellschaftsordnung - aus

der Tatsache entstanden, daß eine erobernde Oberschicht eine rassisch

andersartige Bevölkerung beherrschte, sich die drei Stände: Adel, Geist­

lichkeit und Bürgertum, vorbehielt, und die unterworfene Masse in die

Rolle des "Nicht-Stands" herabdrückte, um einen Ausdruck SPENGLERS zu

gebrauchen. Indem dann die ziffernmäßig weit überlegene Schicht der

dunkelhäutigen Unterworfenen allmählich die absterbende Überschicht

durchdrang und ersetzte, erhob sie ihre Götter auf den Thron, die nicht

den vedischen Göttern entsprachen, ohne aber diese abzusetzen. Auch

übernahmen sie die als sakrosankt angesehene Ständeordnung; nur führte

sie das Prinzip der Erblichkeit für alle Berufsgruppen durch, im Gegen­

satz zum Abendland, wo sich das Prinzip der Erblichkeit nur für die

ritterlich-fürstliche Schicht durchgesetzt hat, und wo die Geistlichkeit

durch das Zölibat jeder Erblichkeit entkleidet 'lurde. Diese Entwicklung,

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die in der Blütezeit der indischen Kultur durchaus noch im Flusse war,

führte während der Fremdherrschaft zu einer gewissen Erstarrung. Damals,

im Kampf um die Erhaltung der Art, wurde die Kaste zum einzigen Zufluchts­

ort für die desorganisierte Masse. In Zeiten, wo dauernde Invasionen,

blutige Unterdrückung, Vergewaltigung der Frauen das Leben der Völker

Indiens und ihre Kultur von Tag zu Tag in Frage stellten, haben die Ka­

sten die große Aufgabe gelöst, die in ihr zusammengeschlossenen Gruppen

blutsmäßig rein zu erhalten und die in ihnen gepflegte Kultur, Religion,

Brauchtum zu bewahren und von Generation zu Generation weiterzugeben.

Das ist der positive Wert des Kastenwesens; und in britischer Zeit, wo

man dies durchaus respektierte, hat die mühselige und pedantisch genaue

Statistik der Kasten noch zu einer weiteren Versteinerung der Verhält­

nisse geführt. Zu keiner Zeit hat es in Indien an starken Bel·regungen

gegen das Kastenwesen gefehlt. Die erste, beinahe stärkste, war die des

BUDDHA, der die Kasten abschaffen wollte; und das ist mit einer der

Gründe, l~eswegen seine Religion später in Indien so gut wie verschwun-

den ist. Unter den neue ren Anläufen im 19.Jahthundert erwähne ich den

bekannten Orden der SIKHS und die freireligiöse Gemeinde des BRAHMO

SAMAJ, der z.B. der bekannte Dichter TAGORE angehörte. Das Zusammenleben

mit den beiden-großen Universalreligionen, dem Islam und dem Christen­

tum, hat weniger stark gewirkt als man erwarten könnte. Der natürliche

Gegensatz des Hindus zu diesen beiden landfremden Bekenntnissen war

stärker als die Neigung, ihr Beispiel nachzuahmen, zumal wir bekennen

müssen, daß auch das indische Christentum in seinen Reihen die Kasten­

trennung durchaus nicht überwunden hat.

Nun treten zwei Fakten auf: Die Nationalbewegung und die moderne Wirt­

schaft. Beide tragen dazu bei, den Gegensatz, die Härte des Kastenwe­

sens zu mildern. Die Nationalbewegung mußte sich, als sie begann, mit

der Teilaufgabe begnügen, die schlimmsten Auswüche'und Schäden, die sich

eingebürgert hatten, zu bekämpfen, nämlich die unglückliche Lage der

sogenannten Unberührbaren. Auch hier war es Gandhi, der bahnbrechend

wirkte, indem er erklärte, daß kein Volk seine Freiheit verdiene, so­

lange es noch solche "Parias" in seinen eigenen Bezirken dulde. Er hat

die Rettung, die Befreiung dieser Schicht zu einem seiner Hauptanliegen

gemacht und diesen Aufgaben mehrere seiner berühmt gewordenen Fasten­

zeiten bis zum Tode gewidmet. Und die heutige Regierung des freien

Indiens hat mit allen Mitteln sein Werk fortgeführt, soweit es eben

einer Regierung möglich ist, ein gesellschaftliches Problem mit gesetz­

geberischen Maßnahmen zu lösen. Was mit gesetzgeberischen Mitteln

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geschehen konnte, ist geschehen; ja, man ist in Indien sogar so weit ge­

gangen, daß die Benachteiligung eines Unberührbaren zum strafrechtlichen

Delikt erklärt worden ist. Trotzdem ist die Aufgabe noch nicht vollendet;

denn mit noch so drakonischen Maßnahmen lassen sich Wandlungen gesell­

schaftlicher Natur nicht erzwingen, zumal die Unglücklichen selbst in­

folge ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung an derartigen Inferiori­

tätskomplexen leiden, daß sie erst allmählich von ihnen geheilt werden

müssen. Hier wird nur die Zeit helfen und wir werden noch ein bis z'''ei

Generationen zu warten haben, bis auch dieses Übel wirklich verschwun­

den ist. Gleichzeitig wurden in der modernen Wirtschaft Leute aus allen

Kasten eingesetzt: der Brahmane trat in die Bank ein, der Angehörige

der Kaufmannskaste in die Industrie, und die großen neuen Arbeiterscha­

ren setzten sich aus mannigfaltigen Kasten zusammen. So entstand ein

Prozeß, den man das"Abbröckeln des Kastenwesens" nennen könnte. In Poli­

tik und im Parlament, in Wirtschaft, Verkehr und Technik, kurz überall,

wo das neue Leben die Menschen anspricht und seine Anforderungen stellt,

spricht man vom Kastenwesen möglichst wenig. In einer Weltstadt wie

Bombay verkehren Angehörige aller Kasten und Religionen miteinander,

selbst Heiraten aus der Kaste heraus sind häufig, und die Familie Nehrus

selbst hat ja hier ein schlagendes Beispiel geliefert, indem sowohl seine

jüngere Schwester wie seine Tochter aus der Kaste, ja aus der Religion

heraus geheiratet haben. Der nationale Kampf und die moderne Wirtschaft

sind zum Schmelztiegel geworden, in dem sich nach und nach die Kasten­

vorurteile abschleifen. Lassen Sie mich statt vieler Einzelheiten ein

bezeichnendes Beispiel geben, wie die Dinge sich heute praktisch aus­

wirken: Der gesamte Nachwuchs an Offizieren für die drei Waffengattun­

gen der indischen Wehrmacht wird in einer großen Kadettenanstalt ausge­

bildet. Dort werden selbstverständlich Angehötige aller Kasten, auch

Unberührbare, angenommen. Sie alle essen zusammen in einem großen Ess­

raum, wobei sie sich ihre Kost bis zu einem gewissen Grade wählen dür­

fen. Aber jeder schläft in einem eigenen Zimmer! So haben wir hier,

ich glaube, die einzige Kadettenanstalt der Erde, in der jeder Kadett

zum eigenen Zimmer gekommen ist.

Ich darf hier ein Wort anschließen über die Stellung der indischen Frau,

obwohl ihr ein eigener Vortrag unserer verehrten Miss BISWAS vorbehal-

ten ist. Auch ihre Stellung wurde durch die Nationalbewegung grundlegend

geändert. Indem Gandhi für seinen letzten Feldzug, die "Quit-India­

Campagne", während des zweiten Weltkrieges, ausdrücklich alle, auch die

Frauen aufrief, und indem die indischen Frauen in einer niemals erwarteten

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Zahl kamen und sich an den großen Demonstrationen und Kämpfen beteilig­

ten, ja sich förmlich in die Gefängnisse hineindrängten, konnte ihnen

die Zulassung im öffentlichen Leben nun nicht länger verweigert werden.

11an kann nicht sagen, daß das Kastenpesen in Indien nun versch,.,runden

sei. Solche uralt eingewurzelten Zustände lösen sich nicht i'n einem

Menschenal ter auf. Vor allen Dingen hält sich s eine wichtigste Grundlage

noch: der Glauben an Wiedergeburt und an KARI1A. Der Inder ist durch

jahrtausendelange geistige Erziehung gewohnt, sich Unsterblichkeit in

der Form vorzustellen, daß die Seele hier auf dieser Erde wiedergeboren

wird. Er hat weiterhin den Glauben entwickelt, daß das Schicksal des

heutigen Lebens die gerechte Vergeltung oder die gerechte Belohnung

für Taten darstellt, die jeder in seinem ~rüheren Leben begangen hat.

Das ist natürlich für die gesamte Sozialverfassung eine entscheidende

Auffassung, die den sozialen A~pekt umstürzt und die alle Ungleichhei­

ten als sittlich gerechtfertigt erklärt. Diese Auffassung stützt das

Kastensystem. Auch bildet die Kaste noch heute für einen großen Teil

der Bevölkerung eine natürliche Zufluchts- und Hilfsorganisation, eine

Art Versicherung gegen Krankheit, Unglücksfälle, Arbeitslosigkeit, eine

Art Sterbekasse, selbst eine Art Kreditinstitut. Und von unserem abend­

ländischen Standpunkt aus sollten wir nicht übersehen, daß diese Fort­

dauer der alten Gesellschaftsordnung, daß dieser Glaube an KARMA, zu

den festesten Pfeilern für die alte indische Kultur gehört und damit

eine der festesten Bollwerke gegen das Eindringen bolschewistischer

Ideen bildet. So überraschend es klingen mag, ist das Fortbestehen die­

ser alten Kulturwerte auf sozialem Gebiet eine der Klammern, die Indien

so stark an die freie Welt binden.

Sozialer Teil ,

Wer aufgefordert würde, in Europa über noch bestehende Kastenvorurteile

zu sprechen, wäre sich vermutlich bewußt, daß er einen heiklen Gegen­

stand zu behandeln hätte, der unsichtbar oder schwer erfassbar bleibt

- meistens nur innerhalb der Familie erkennbar, beispielsweise wenn die

Tochter heiratet oder wenn gesellschaftliche Einladungen ergehen sollen.

Ähnlich ist es auch in Indien. Diese Frage gehört zu denen, die sich

hinter einem Vorhang abspielen, und viele Europäer leben jahrelang in

Indien, ohne zu wissen, zu welcher Kaste ihre engsten Geschäftsfreunde

gehören. Anders liegt das bei der sozialen Zusammensetzung eines Volkes.

Sie ist im wesentlichen wirtschaftlich begründet, also ist sie stati­

stisch erfaßbar, und ihre Wandlungen vollziehen sich im Lichte der

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Öffentlichkeit. Die wichtigste Tatsache auf diesem Gebiet ist die Stel­

lung, die das neue indische Bürgertum einnimmt. Neu ist nicht die Tat­

sache, daß Indien ein Bürgertum hat; das hat es schon 500 Jahre v.ehr.

gegeben, und aus der Lebensgeschichte des Buddhas wissen wir, daß es

damals schon ein sehr reiches Groß-Bürgertum gegeben hat, das in den

großen Weltstädten des alten Indiens mit Fürsten und Großen auf gleichem

Fuße verkehrte. Das Neue der heutigen BürgerschiGht liegt einmal darin,

daß diese Schicht sich aus allen Kasten und Religionsgruppen zusammen­

setzt, und daß sie sich daher als Klasse fühlt; und zweitens, daß diese

Klasse zum Träger der Nationalbewegung und des politischen Willens der

Nation geworden ist. Eigentlich haben wir damit schon die Grundlage

bezeichnet, weswegen in Indien demokratische, freiheitliche Verfassungs­

und Verwaltungsmaximen möglich und nötig sind. Versetzen Sie sich bitte

einmal in die Lage des deutschen Bürgertums in der Zeit der Paulskirche:

wenn damals plötzlich alle Fürsten und Generale aus Deutschland ver­

schwunden wären, und dieses Bürgertum, auf sich selbst gestellt, den

Kampf gegen Frankreich und die Reichsgründung hätte durchfechten müssen

- dann haben Sie ein Bild von der Aufgabe, die dem indischen Bürgertum

gestellt worden ist und was es geleistet hat.

Dieses Bürgertum hat seine Basis in Handel und Industrie, in den freien

Berufen, im Verwaltungsdienst. Kastenmäßig finden wir natürlich Brahma­

nen in großer Zahl als Universitätsprofessoren, Anwälte und Ärzte; denn

geistige Berufe waren ihr erblicher Anteil. Im Wirtschaftsleben über­

IViegen noch die alten Kaufmannskasten. Aber überall treten die Angehö­

rigen anderer Kasten hinzu und auch die Angehörigen anderer Religions­

gemeinschaften. Es gibt große und sehr bedeutende mohammedanische Kauf­

mannsgilden, und es gibt die zahlenmäßig kleine, aber sehr wichtige

Gruppe der PARSEN, meist in Bombay, die in der Wirtschaft, verglichen

mit ihrer geringen Zahl, eine enorme Rolle spielen. Es war ein genialer

Parse, der Indien das erste WasserkraftHerk und das erste StahlHerk be­

scherte, und ein Großneffe von ihm eröffnete die zivile Luftfahrt durch

eigenen Flug. Und ein Parse war's, der ohne fremde Hilfe in Bombay den

ersten Atomreaktor selbständig vor zwei Jahren gebaut hat, der vortreff­

lich funktioniert. Dieses Bürgertum hat sich in Unternehmerverbänden,

Handelskammern und berufsständischen Organisationen zusammengeschlossen,

ähnlich wie ihre Berufsgenossen in Europa dies tun. Und neben ihm wächst

ein kleiner Mittelstand heran, der sich aus den zahllosen kleinen Gewer­

betreibenden, den Angestellten in Firmen, Behörden und städtischen Ver­

Haltungen rekrutiert. Wie stark ziffernmäßig die Gruppen im einzelnen

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sind, ist nicht leicht zu sagen. Bei uns würden wir als nächstliegende

Quelle die Einkommensteuerregister einsehen. Aber das funktioniert in

Indien nicht, weil die Inder die Einkommensteuer nicht sehr lieben. Vor

allen Dingen gibt es in Indien das ingeniöse System der "Gesamtfamilie",

der Großfamilie, die als Gesamteigentümer einer Firma oder eines Indu­

striebetriebes auftreten kann und dann nur als eine Gesamtpersönlich­

keit Steuern zahlt. So ist zu erklären, daß in Indien bei einer Bevöl­

kerung von 380 Millionen nur etwa 300 000 Menschen zur Einkommensteuer

veranlagt werden. In ihren wirtschaftlichen Anschauungen stehen diese

indischen Kreise den europäischen sehr nahe. In ihrer geistigen Welt

sind sie sehr verschieden. Wir haben ganz westlich eingestellte Kreise

und ganz orthodoxe. Nehmen wir die beiden bekanntesten großen Industrie­

unternehmungen Indiens, so sind die einen - die Tatas - Parsen, sehr

westlich eingestellt, sie heiraten gern Europäerinnen; während die ande­

ren - die Birlas - streng orthodoxe Hindus alten Glaubens sind. Und der

Unterschied geht durch alle Schichten, wobei natürlich der kleine Mittel­

stand und die Massen noch überwiegend in überkommenen Anschauungen leben,

mit Ausnahme der akademischen Jugend, die auch in Indien radikalen Ten­

denzen offensteht.

Ein neues Gebilde in Indien ist die Arbeiterklasse. Schon vor einigen

dreißig Jahren zählte das Internationale Arbeitsamt in Genf Indien nach

der Zahl seiner Industriearbeiter unter die sechs größten Industriestaa­

ten der Erde. Seitdem ist der Aufbau der indischen Industrie mit großen

Schritten vorwärtsgegangen, und ein weiterer großer Ausbau ist geplant,

wie andere Redner darstellen werden. Die Arbeitsleistung des indischen

Arbeiters entsprach damals vor dreißig Jahren gewiß nicht der deS euro­

päischen. Das hat sich sehr ge1.Tandel t. Im Tata-Stahhlerk erzählte man

mir, daß man heute im allgemeinen mit eineinhalb Arbeitern rechnet, wo

bei uns ein Arbeiter erforderlich ist. Und in einigen Abteilungen sprach

man schon von einem Verhältnis von 1:1! Das ist ein Werk, das schon seit

50 Jahren Stahl produziert. In Betrieben, die neu begonnen werden, vor

allen Dingen in den zahlreichen großen Regierungsunternehmungen, zu

denen ja auch das Stahlwerk in Rourkela gehört, ist man auf ungelernte

Arbeitermassen angewiesen; dort findet man noch die alte Formel: drei

Inder für einen Europäer. Immerhin hat Indien schon die Grundlage eines

Facharbeiterstamms, und an seiner Vergrößerung wird mit allen Mitteln

gearbeitet, namentlich durch die vielen technischen Schulen, die gegrün­

det worden sind. Diese indische Arbeiterschaft hängt zum Teil noch mit

ihren Familien auf dem Lande eng zusammen. Es ist noch gar nicht lange

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her, daß bei einem Streik in Bombay die meisten Arbeiter aus der Fabrik­

gegend verschwanden, um in ihren Dörfern unterzutauchen. Je übervöl­

kerter aber diese Dörfer werden, desto mehr hat sich das geändert, und

dann wird der Arbeiter in den Arbeitervierteln der Großstädte, die oft

wirkliche Elendsquartiere sind, rasch entwurzelt und zu einer guten Beute

radikaler Demagogie. Sie sind gewerkschaftlich organisiert, obwohl die

wirklich zahlenden Mitglieder auch in Indien in der Minderzahl sind.

Indien hat vier Gewerkschaften, denn jede der politischen Parteien hat

sich eine eigene Ge"rerkschaft geschaffen. Die größte ist die des Kon­

gresses, der Regierungspartei. Im ' ... ei t-en Abstand die zweitgrößte ist

die der kommunistischen Partei. Diese Rivalität z1dschen den Gewerkschaf­

ten führt oft dazu, daß sich die kleineren durch radikale und übertrie­

bene Forderungen hervortun wollen. Zu den schlimmsten gehören die sozia­

listisch-kommunistischen Gewerkschaften der Hafenarbeiter. Sie haben es

dahin gebracht, daß sich der Betrieb in den großen Häfen sehr verschlech­

tert hat, und die Abfertigung der Schiffe zu einem Engpaß geworden ist,

der manchmal die Durchführung der großen Projekte gefährdet.

Die Haltung der indischen Unternehmer ist sehr verschieden; wir finden

Vertreter aller Richtungen, solche, die den Standpunkt "Herr im eigenen

Haus" recht frühkapitalistisch hervorkehren und solche, die mehr tun,

als gesetzlich vorgeschrieben ist. Das Stahhlerk der Tatas hat von sich

aus das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter eingeführt. Die indische Re­

gierung betrachtet es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, den Kontakt

zu den Gewerkschaften zu pflegen, das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen,

und im Interesse des Arbeitsfriedens zu vermitteln. (Zu meiner Zeit war

der indische Arbeitsminister ein ehemaliger Arbeiter.) Im allgemeinen

hat die Regierung mit diesen Bemühungen Erfolg, ob' ... ohl natürlich Störun­

gen nicht zu vermeiden und Streiks nicht selten sind. Im Jahre 1956

haben wir 1200 Streiks gehabt mit 700 000 an ihnen beteiligten Arbeitern

Qnd über 7 Millionen verlorengegangenen Arbeitstagen.

Neben diesen beiden Klassen, die wir als die "Neuen" bezeichnen können,

steht nun die große breite Masse der ländlichen Bevölkerung Indiens,

die noch über 75% des Ganzen ausmacht. Einen echten Großgrundbesitzer­

stand im Sinne von landwirtschaftlichen Betriebsherren, die auf dem

Lande selber arbeiten, hat Indien seit langem nicht mehr besessen. Die

überwiegende Mehrheit aller Betriebe ist in kleine und mittlere Pachtun­

gen vergeben worden, so daß die rechtliche Absetzung aller dieser Grund­

herren, der Fürsten - ZAMINDARS, JAGIDARS usw. - das faktische Bild auf

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dem Land nicht wesentlich geändert hat. Die Pächter und die kleinen Be­

sitzer haben behalten, was sie bewirtschafteten, nur zahlen sie jetzt

nicht mehr an den Grundherrn, sondern direkt an den Fiskus. Von den in

der Landwirtschaft tätigen Menschen werden 250 Millionen einschließlict

Familienangehörigen als solche registriert, die eigenes Land bebauen;

30 Millionen einschließlich Familienangehörigen als landwirtschaftliche

Hilfsbetriebe und 45 Millionen als Landarbeiter. Diese große Masse ist

das eigentliche Problem Indiens. Indien hat den Begriff der Leibeigen­

schaft in unserem Sinn z~.rar nicht gekannt, praktisch aber war die Lage

der Bauern in vielen Teilen Indiens nicht viel anders. Ihre mater'ielle

Not war riesengroß und ist heute immer noch sehr groß. Der tiefste und

letzte Grund liegt in dem Mißverhältnis zwischen anbaufähigem Boden und

der rasch wachsenden Bevölkerung. Es kommen in Indien auf 1 qm anbau­

fähigen Boden 240 Menschen, bei uns in der Bundesrepublik 210. Und so

kommt es, daß das Durchschnittseinkommen der indischen Bevölkerung im

Jahr pro Kopf nur 240,- DM beträgt, also etwa 20,- DM im Monat, wobei

natürlich das Einkommen der Massen auf dem Land noch erheblich unter

dieser Ziffer liegt. Auf verschiedenen Wegen wird hier versucht, Besse­

rung zu schaffen. Die erste Frage war eine Neuverteilung des Bodens:

eine Agrarreform, die dich nicht damit begnügte, alte Grundherrenlasten

abzuschaffen, sondern jedem Land zu geben. Die gro,ße Sc-hwierigkei t aber

ist, daß keine Bodenreserve vorhanden ist. Auch würde die Auf teilung

der größeren bäuerlichen Wirtschaften gerade die Leute treffen, welche

die treuesten Anhänger des Kongresses auf dem Lande sind und die ver­

hältnismäßig am meisten für die Ernährung beitragen. So entstand das

Problem einer neuen Landverteilung. Da rief VINOBRA BRAVE, eine der

interessantesten Gestalten des heutigen Indiens, ein Idealist vom Schla­

ge Gandhis, alle Bauern auf, freiwillig Land zu schenken. Und mit die­

ser Landschenkungsaktion, bei welcher der alte Mann barfuß von Dorf zu

Dorf zieht, hat er einen großen unmittelbaren Erfolg erzielt und einen

noch größeren moralischen; denn er hat das Problem der Landverteilung

zum lebendigen Inhalt der Gespräche auf dem Lande wie in den Regierungs­

kreisen gemacht. Aber selbst, ~.renn er dem landlosen Arbeiter nun ein

Stück Land gibt, ist dem damit nicht viel geholfen, ,.renn es ihm an dem

Betriebskapital fehlt, um das Land auch wirklich zu bewirtschaften. Und

so kommen wir zur Hauptaufgabe der Regierung, zu den großen Plänen, die

Dörfer zu erwecken, aufzurütteln und zu besseren Methoden und zu größe­

rer Selbsthilfe zu veranlassen. Man nennt das in Indien "Community

Development Scheme" oder "National Extension Service" - beides ist

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ziemlich dasselbe. Man nimmt einen bestimmten Bezirk, sagen wir von

50 Dörfern mit einigen 50 000 bis }GO 000 Einwohnern. Man setzt hinein:

geeignetes Lehrpersonal, Traktoren, ein paar Landmaschinen, Saatgut

- und dann geht man zu den Dörflern und sagt ihnen: wenn ihr mithelft,

eine Schule, ein Hospital, eine Veterinärstation zu bauen, wenn ihr

freiwillig Mittel gebt oder eure Arbeitskraft, dann wird euch der Staat

das und das dazutun. Das Echo ist hocherfreulich.; der indische Bauer

ist gar nicht schwerfällig, wie viele dachten, und er begreift durchaus,

wenn einer ihm wirklich uneigennützig helfen will. So ist vieles ent­

standen, nicht nur die sogenannten Musterdörfer, nein, hunderte von

Dörfern und Bezirken sind in dieser Weise bereits "er\Veckt" und refor­

miert wQrden. So sind gute Ansatzpunkte zu neuem Leben auf dem Lande

geschaffen. Aber die Sache geht langsamer voran als die Kolchosen in

China. Wenn man zweihundert solcher Projekte mit je 100 000 Menschen

bearbeitet, dann wird es etwa zwanzig Jahre dauern, bis man durch's

ganze Land kommt. Und dabei ist der Hauptengpaß nicht Mangel an Geld,

was die Regierung liberal zur Verfügung stellt, sondern Mangel an Lehr­

personal. Die Schulung dieser Leute, das ist es, worauf es hier ankommt.

Und dieses Unternehmen ist das zukunftsträchtigste und wichtigste von

allem, was sich im heutigen Indien abspielt.

Der dritte Weg ist die Neuerweckung des bäuerlichen Hausfleißes. Seit

Jahrhunderten ist der indische Bauer gewohnt, auch in den langen Mona­

ten seiner Mußezeit an irgendetwas zu arbeiten. Wir haben in 6en indi­

schen Dörfern einen sehr hohen Stand von Hausfleiß, der mitunter an das

beste Kunsthand",erk heranreicht. In den gelegentlichen Ausstellungen

dieser "Khadi"-Industrie, wie man sie nennt, zeigt sich ein überraschend

hoher Standard solcher kunsthand",erklichen Erzeugnisse. Daneben bemüht

man sich, Industrie auf das flache Land zu verlagern, sei es, um Zu­

bringerindustrien aufzuziehen, sei es, um neue Haus- oder Heimindustrien

zu schaffen. Wir nennen das in Indien die Förderung von "Small Scale

and Village Industry". Auch hier ist manch schöner Anfangserfolg erzielt

"'orden, besonders, seit die Statebank of India mit einer großen Aus­

dehnung ihres Filialnetzes den ländlichen Kredit wesentlich erleichtert

hat. So entsteht langsam aber stetig die Grundlage für einen klassen­

bewußten, aufgeweckten Bauernstand. Und nach dem festen Willen der in­

dischen Regierung soll diese neue Ordnung nicht durch Kolchosen nach

russischem und chinesischem Vorbild erreicht werden, sondern unter Be­

lassung der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung und des Privateigen­

tums. Wir stehen am Beginn einer Neuordnung der indischen Gesellschaft;

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eine neue Initiative erfüllt das Volk in allen Schichten und dringt lang­

sam von den Brennpunkten des politischen Lebens hinaus in das flache

Land. Der Nationalkongreß, die Regierungspartei, die Angehörige aller

Kasten und Berufe, aller Klassen umschließt, wird zum eigentlichen

Schmelztiegel, der die sozialen Spannungen mildert und Gegen$ätze aus­

gleicht. Es wird an dieser Partei viel Kritik geübt, da jede Regierungs­

partei, wenn sie an die Macht kommt und lange an der Macht bleibt, ge­

wisse bedenkliche Anzeichen von Sterilität aufweist. Aber der Kongreß

hat als großes Aktivum einmal die Tatsache, daß er die Unabhängigkeit

des Landes erreicht hat und daß er sich offensichtlich und mit Erfolg

bemüht, die wirtschaftliche Lage aller und gerade der ärmsten Schichten

zu heben. Er hat große Popularität mit dem sozialistischen Wirtschafts­

programm erlangt, das die Regierung im Jahre 1956 verkündet hat, und

mit dem er, ohne sich an Doktrinen von Marx und anderen zu binden, eine

sozialistische Gesellschaftsordnung eigener Prägung anstrebt, die zum

Wohle des Ganzen, aber unter Be~ahrung der bisherigen Tradition durch­

geführt werden soll. Und endlich verfügt die Kongreßpartei über das

Ansehen seines Führers, des Ministerpräsidenten NEHRU, in seiner eigen­

artigen Doppels·tell ung: er ist einmal der Erbe GANDHIS, denn GANDHI

ernannte ihn zu seinem Nachfolger, und sein Ruf und sein Vertrauen be­

fähigten ihn, zum Hüter des Gandhischen Verhältnisses zwischen Kongress

und Masse zu werden; und er ist auf der anderen Seite der fortschritt­

lich gesinnte Neuerer und Reformer, der überall und oft spontan bereit

ist, neue Wege aufzuzeigen und einzuschlagen. In seiner Person gleicht

sich beinahe täglich der Zwiespalt aus, der das ganze Leben Indiens

noch beherrscht: der Drang, Altes zu bewahren und Neues einzuführen.

Noch hängen unzählige Familien Indiens, ganze Volksschichten am über­

lieferten Alten. Noch sind erst wenige Jahrzehnte vergangen, seit die

ersten großen Führer der Unabhängigkeitsbewegung unt.er der Devise

"zurück zum Alten" ihre Tätigkeit begannen, als der große TILAK (der

1922 gestorben ist) in der Wiedererweckung de~ alten Hinduglaubens den

ersten Schritt zur nationalen Befreiung erblickte. Auch GANDHI war vor­

wiegend auf die Bewahrung des Alten eingestellt. Am liebsten hätte er

die Maschinen abgeschafft. Im Handspinnrad erblickte er damals nicht

nur das Symbol, das jeden an die nationale Sache band, sondern ernst­

haft den ersten Schritt zur Lösung aller Wirtschaftsprobleme. Und diese

Anschauungen sind auch heute noch politisch organisiert. Ich denke an

die Partei der HINDU - MAHASABHA, der einflußreichen ~ertretung aller

orthodoxen Kreise. Auf kulturellem Gebiet sehen wir ein bewußtes,starkes

Sei te 23

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Wiedererwachen des Interesses an der alt-indischen Kultur. Wir haben in

Bombay das ausgezeichnete Zentrum, die BHARATYA VIDYA BHAVAN, das Insti­

tut für alt-indische Kultur, das sich systematisch zur Aufgabe macht,

ganze Bevölkerungsschichten wieder vertraut zu machen mit der Kenntnis

des Sanskrit, mit alt-indischem Tanz und alt-indischer Musik, von denen

wir in letzter Zeit auch hier in Deutschland ausgezeichnete Proben ge­

sehen haben; durch dramatische Behandlung epischer mythologischer Stoffe,

durch billige Volksausgaben der alten Epen, der alten geistigen Schrif­

ten Indiens. Wir müssen sehr vorsichtig sein mit Ausdrücken wie "rück­

schrittlich oder reaktionär", wie sie von der indischen Jugend und auch

manchmal von deutschen Journalisten angewandt werden. Denn natürlich

wandelt sich auch diese alt-indische Kultur, wenn sie daran geht, im

heutigen Menschen wieder lebendig zu ",erden. Schon die letzten großen

Denker Indiens, die im 19.Jahrhundert lebten, haben bewußt und kühn den

Weg zu einer neuen Deutung des alt-indischen Denkstoffes eingeschlagen,

RAMAKRISHNA z.B. von der praktisch-sozialen Seite aus. Sein Schüler,

V IVEKANANDA, ging von der Idee aus, daß der Hinduismus nicht mehr allein

den Indern als Religion dienen solle, sondern daß er neuen lebendigen

Kontakt auch mit der übrigen Welt suchen müsse, daß er der übrigen Kul­

turwelt etwas zu sagen habe, und der große Erfolg, den VIVEKANANDA

schon um 1900 in Amerika gehabt hat, belegt, wie aufgeschlossen die Welt

sich hierfür zeigte. Hier spricht ein Sendungsbewußtsein, das die gei­

stige Überschicht Indiens neu entwickelt und über alle Grenzen hinaus­

trägt; und einer der Vertreter dieser Richtung ist der Vizepräsident

der Republik, Herr RADHAKRISHNAN, der in seinen Schriften Ähnliches ver­

folgt. Fast die wichtigste Tatsache auf diesem Gebiet ist die, daß

Indien einen großen Denker hervorgebracht hat, der eine klare geistige

Synthese zwischen östlichem und westlichem Denken schuf, den großen

AUROBINDO mit seinem "Ashram in Pondicherry". Er gibt eine geniale Deu­

tung des indischen Geistesguts, die als Brücke zur westlichen Welt dient.

Und diesen Meistern einer neuen Synthese entsprechen auf politischem

Gebiet die Gestalten all der Führer, die, fest im indischen Wesen ver­

wurzelt, doch klar erkannten, d~ß nur Hestliche Ideen und Kampfmethoden

zur Freiheit führen würden: der große C.R. DAS, der früh Verstorbene;

sein engster Freund, NEHRU der Vater, beide zu ihrer Zeit zwei der er­

folgreichsten Anwälte vor den höchsten Gerichten Englands. Zu ihnen

gesellen sich die lebenden Führer, wie der Ministerpräsident NEHRU,

und auf wirtschaftlichem Gebiet Persönlichkeiten wie der alte TATA, der

dem Konzern den Namen gegeben hat, und sein Großneffe, J.R.D. TATA.

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Hier haben wir in lebendigen Gestalten eine Synthese vor uns, die mög­

lich ist, und die erreicht wird, wo immer alt-indischer Geist sich ver­

bindet mit dem ernsten Willen, unter den heutigen Umständen dem indi­

schen Volk eine neue bessere Zukunft zu bauen. Hier wurzelt die Überzeu­

gung, daß nur der Ausbau einer starken Industrie die wirtschaftlichen

Probleme zu lösen vermag. Denn nur die Industrie gibt auf die Dauer neue

Arbeitsplätze für die fünf Millionen Geburtenüberschuß, die Indien jähr­

lich hat. Und in dieser Synthese wurzelt die tiefe Erkenntnis, daß eine

freiheitliche Verwaltung Indiens nötig ist und nur erreicht wird' mit

Hilfe demokratischer Methoden: mit Wahlen zum Parlament, mit demokrati­

schen Vertretungen bis ins letzte Dorf, wo der alte traditionelle

Dorfrat überall wieder in Tätigkeit getreten ist. Oft geht die Grenze

zwischen alt und neu durch die Menschen hindurch: Wie wir es bei Gandhi

sahen, der wirtschaftlich ganz im Alten, Bewahrenden stand und doch

mit bahnbrechender Energie die Reform des Kastenwesens vorantrieb. Und

das beste Beispiel der Synthese ist der Premierminister Nehru selbst,

den man gewiß mit Recht als den "westlichsten Staatsmann Asiens" be­

zeichnen darf, und der doch dem Volk als der Erbe und Inbegriff des

Gandhismus, also des überlieferten Erbes, erscheint. Aus diesem Neben­

und Gegeneinander der Tendenzen ist in Indien eine geistige Spannung

erwachsen, die im höchsten Maße befruchtend wirkt. Auch hier müssen

wir vorsichtig sein mit unserem Urteil. Wir wollen nicht übersehen, daß

der Drang zu westlichen Formen und Lehren selbstverständlich auch den

Weg öffnet zu der radikalsten Lehre des Westens, zum Kommunismus. Und

wir wollen nicht vergessen, daß das beste Bollwerk dagegen immer noch

in dem starken Schwergewicht des Alten liegt. Wir erkennen, daß bei

einer so hektischen Industrialisierung, wie sie Indien nicht aus Ehr­

geiz, sondern getrieben von der bitteren Not der Massen jetzt vorzu­

nehmen hat, die eigentliche Gefahr nicht so sehr in den vorübergehenden

finanziellen Schwierigkeiten liegt - das sind Nachteile, die durch An­

leihen, durch Kredite behoben werden können - sondern daß die Haupt­

gefahr darin zu suchen ist, daß der Mensch als Träger und Gegenstand

einer so raschen Wandlung nicht mitkommt; daß er entweder innerlich wie

zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben wird, oder daß er allzu rasch das

Alte von sich wirft und dadurch ein leichtes Objekt der Entwurzelung

und des Radikalismus wird. Was Indien braucht, ist eine breite Schicht,

die von dieser Synthese geprägt wird, die ich darzustellen versucht

habe: die bewußt das Neue bejaht, aber die Grenze erkennt, bis zu der

es getrieben werden kann. Hier helfen keine Anleihen. Wohl aber kann

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hier ein lebendiger Kontakt mit geistig verwandten Kreisen im Westen

helfen, zu denen die Inder Vertrauen haben wie hier zu uns Deutschen,

und die sich bemühen, Indien in seiner heutigen Lage zu verstehen. Ein

solcher Kontakt kann den Indern menschlich helfen und kann dadurch die­

ses Land in seiner Aufgabe stärken, die es in Asien zu lösen hat: das

Ziel, das andere mit Massenmorden, Terror und Unterdrückung aller mensch­

lichen Freiheiten erreicht haben, in Indien unter Bewahrung der alten

wertvollen Kulturwerte zu erreichen und eine Wirtschaft und eine neue

Gesellschaftsordnung aufzubauen, die Indien geistig und politisch zu

dem machen wird, was seine nächste Zukunft von ihm verlangt.

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Die soziale Stellung der Frau in Indien

Von S.A. BISWAS, Direktorin des Indischen Verkehrsbüros, Frankfurt a.M.

Umgeben und fast isoliert vom Himalaya, der größten Gebirgskette der

Welt, findet man in Indien die verschiedensten klimatischen Bedingungen.

r~n nimmt an, daß diese viel zur Charakterbildung eines Volkes beitra­

gen, und daher rührt wahrscheinlich auch der passive Gleichmut den Freu­

den und Leiden des Lebens gegenüber. Wahrscheinlich hat diese Eigenschaft

in noch weit größerem Maße Gültigkeit bei der Erklärung des Verh~ltens

der indischen Frau. Ein bedeutender Schriftsteller sagte einmal, daß

die Hand, die die Wiege bewegt, die Nation formt. Ein anderer Autor,

ein Franzose, empfiehlt, die Gesellschaftsstellung der Frau zu betrach­

ten, um über eine Nation urteilen zu können. Hält man sich diese Be­

trachtungsmaßstäbe vor Augen, so darf man in bezug auf Indien sagen,

daß der Beitrag der Frau zum nationalen Einheitsgefühl in seinem Auf

und Ab trotz mancher Veränderungen und Wechselfälle und unter dem Zwang

verschiedenartiger Sitten und Bräuche fremder Ansiedler, die immer

wieder in Abständen das Land überschwemmten, durch eine milde, mütter­

liche Einwirkung gekennzeichnet ist. Am Anfang des historischen Indiens

steht die Rigveda1 ), die Quelle und der Ursprung aller nachfolgenden

Richtungen der Hindu-Philosophie. Dieses verehrungswürdige Buch bietet

uns einen interessanten Einblick in die Stellung der Frau im vedischen

Zeitalter. Die traditionelle Einstellung der Hindus erlaubte den Frauen,

eine hochgeachtete Stellung innerhalb des Hauses einzunehmen, gestatte­

te ihnen alle Möglichkeiten einer guten Erziehung und darüber hinaus

die Entfaltung der Persönlichkeit in allen Bereichen der Kunst und

Kultur. Es versteht sich, daß bei der individuellen Ausbildung die

typisch weiblichen Kunstbereiche, wie Tanz, Gesang und Musik bevorzugt

wurden. Eine Gleichberechtigung jedoch in materieller, politischer

oder verwaltungstechnischer Hinsicht wurde nie anerkannt. Und so ist

es auch zu erklären, ~aß das alte Indien außerordentlich geistreiche

und weise Frauen, wie V ISAVARA, GHOSHA und APALA, hervorbrachte, daß

es jedoch keine Frau gab im öffentlichen Leben, die in der VerHaltung

oder in irgendeinem Beruf hätte tätig sein können. Weil die indische

Frau durch den Ausweg in die geistige Tätigkeit die alltägliche Haus­

arbeit kompensieren konnte und - wir sprechen immer noch vom Zeitalter

1. RIGVEDA: Der größte Teil der Rigveda wurde 1500 bis 1000 v.ehr. geschrieben, der letzte Teil wurde vermutlich ein bis zwei Jahr­hunderte später beendet

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der Veden - mit ihrem Schicksal zufrieden war, gab es keinerlei Rich­

tungen von Frauenrechtlerinnen oder ähnliche Bel..regungen, die um Gleich­

berechtigung und Unabhängigkeit kämpften.

Der Ritus Sati - man versteht darunter die Verbrennung und Selbstopfe­

rung der Frau auf dem Scheiterhaufen des toten Gemahls - wurde bereits

im Zeitalter der Veden ausgeübt, übrigens in jedem Fall freiwillig; denn

gemäß dem Gesetz der Hindu-Ehe, die unter dem Ritus der sieben gemein­

samen Schritte geschlossen wurde, war sie ein Sakrament, das Leben und

Tod zugleich umschloß. Deshalb auch war eine Scheidung unbekannt. Ur­

sprünglich war die Einehe üblich; allerdings war die Vielweiberei unter

den Besitzenden, die es sich also leisten konnten, nicht unbekannt. In

diesem Zusammenhang mag es interessant sein, daß die Gesetzesabschnitte

des Dharma Sutra, die die soziale Stellung und das soziale Verhalten be­

treffen, die Heirat mit einer zl..rei ten Frau verbieten, wenn die erste

einen guten Charakter besitzt und dem Gatten Söhne geboren hat. Zu die­

sem ethisch-moralischen Grund tritt noch ein anderer Aspekt hinzu: Durch

das Gesetz kamen die F~auen wertmäßig versiegeltep Depositen oder gar

Haushaltsgegenständen gleich, was übrigens aber nicht die Möglichkeit

ausschloß, daß die Frauen einen gewissen Betrag an "Stridhana" in Form

von Juwelen oder Wertgegenständen besitzen durften, die sie auf die

Töchter weitervererben konnten. Immerh~n hatten sich zugunsten der Frauen

gewisse Schutzmaßnahmen als unbedingt erforderlich erwiesen.

Es war eine Form der Erstarrung der brahmanischen Gesellschaft zur Zeit

der Upnischades, daß die Frauen nunmehr als Wirtschaftsgut betrachtet

wurden. Eine Periode der Entrechtung begann; sie durften weder am

Stammesrat noch an Versammlungen teilnehmen und hatten keinen Anspruch

auf Unterhalt. Vielweiberei wurde nun ein oft geübter Brauch in den

höheren Gesellschaftsklassen und sogar Kinderehen wurden geSChlossen.

Das klassische Beispiel für die Polyandrie ist das "Mahabharat der

fünf Pandava-Brüder und Draupadi,,2).

Diese Periode wurde abgelöst vom Zeitalter des frühen Buddhismus mit

seiner liberaleren Einstellung. Jetzt fanden die Frauen Aufnahme in

Nonnenorden, wo sie Gelegenheit zu caritativer und sozialer Tätigkeit

fanden. Heute noch erzählen uns alte buddhistische Schriften von

2. MAHABHARATHA, bedeutendstes Epos der Hindus, enthält über 9000 Strophen und ist wahrscheinlich das längste Einzelgedicht der Welt­literatur, geschrieben in dem noch wenig erforschten Zeitalter der Maurya- und Guptareiche, zwischen 200 v.Chr. und 300 n.Chr.

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Prinzessinnen, die Gedichte schrieben und Missionsarbeiten übernahmen

Ein Beispiel ist die Erzählung von König ASHOKE's Kindern Mahindra und

Sanghamitra, die den Zweig des heiligen Bodhi-Baumes nach Ceylon trugen.

In einigen epischen Erzählungen des Hinduismus finden wir sogar Hinwei­

se auf "Swayamvaro", d.h. die Gattenwahl durch die Braut.

Obwohl auch noch im Gupta-Zeitalter3 ) die Königin eine bedeutendere

Stellung einnahm, waren die oben geschilderten Bräuche und Sitten im

allgemeinen nur für das Indo-Gangetic-Tal bezeichnend. Alte Münzen von

Chandra Gupta zeigen uns die Bilder des Königs und seiner Gemahlin,

Königin KUMARADEVI. Späterhin finden wir eindeutige BeHeise für herr­

schende Königinnen, z.B. in der Person der Königin DIDDA, der Herrseherin

von Kaschmir. In Kanarese nahmen Frauen sogar die Stellungen von Pro­

vinzstatthaltern und Dorfvorstehern ein. Ja, die Entwicklung drängte

bald dahin, daß religiöse Zeremonien und Opf&rdienste als unvollständig

betrachtet wurden, wenn keine Frau anwesend war. Eine Legende um den

gütigen Rama besagt, daß, als er dem "Ashyamdha Jagya,A\eiwohnte, eine

goldene Statue der verbannten Si ta an seiner Seite errichtet wurde,so

daß sie symbolisch an der Zeremonie teilnahm. Weitere Beweise für die

Stellung der Frau finden sich in den Aufzeichnungen von MEGASHEVES

über Chandragupta Maurya's Amazonen-Leibwache und Fahnenträgerinnen.

Nach dem Verfall des Gupta-Reiches breiteten sich Lethargie und Dekadenz

aus, die, wenn man von den frühen arabischen Einflüssen in der Provinz

Sind absieht, bis zur ersten Berührung mit den Mohammedanern anhielten.

Durch fortgesetzte fremde Agressionen und Invasionen wurde der indische

Geist gelähmt, und, ich zitiere ALBERON, "die Hindus glaubten, daß es

kein anderes Land gäbe als das ihre. Ihre Vorfahren waren nicht so eng­

stirnig wie die jetzige Generation". So geschah es, daß dem Frauentum

wiederum viele vernunftwidrige Gesetze auferlegt wurden, wie z.B. die

strenge Einhaltung des Witwentums ohne jede Rücksicht auf das Alter

der Frau.

3· GUPTA-ZEITALTER ist die Zeit zwischen 320 - 600 n.Chr., auch das "goldene Zeitalter des Hinduismus"genannt, der zu dieser Zeit seine größte Macht erreichte. Es brachte die politische Oberhoheit der Hindus und zeugt von künstlerischer und geistiger Regsamkeit

4· ASHYAMDHA JAGYA, eine Zeremonie, bei der indische Könige den mäch­tigsten unter sich als obersten Herrscher anerkannten

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Einen weiteren Rückgang des sozialen Gefüges und des sozialen Lebens

brachten die unsteten Lebensbedingungen mit sich, die aus der turko­

afghanischen Invasion resultierten. Strenger als je wurde die Frau ab­

geschieden, sie litt unter dem Purdah oder Schleiersystem einerseits,

das nur unter den Moslems üblich war, und unter der allgemeinen Unsicher­

heit dieser Epoche andererseits, die durch fremde Agressoren verursacht

wurde. Die Kultur der Frauen war, gemäß den verschiedenen Herkunftsklas­

sen, verschieden. Gute Beispiele für Frauen der oberen Klassen, die sich

in Kunst und Wissenschaft übten, sind RUPAMATI 5) und PADMAMATI. Wieder

wurden Kinderehen üblich sowie der Sati-Rituso), der in einigen Schich­

ten - vor allem im Stamm der Rajputs - weit verbreitet war. Dafür gab

es mancherlei Gründe: Die Eindringlinge zentralasiatischer Stämme hatten

gleiches oder doch ähnliches Brauchtum, und in den oberen Gesellschafts­

schichten, wie in der Kaste der Krieger, sah man solches Brauchtum als

Ehrensache und soziale Verpflichtung an. Als weiterer Grund kann hier

auch noch die sich immer weiter verbreitende Vielweiberei genannt wer­

den; denn der Freitod wurde oftmals von vielen Frauen dem harten Schick­

sal einer kinderlosen Witwe vorgezogen.

Da Südindien von Invasionen nahezu verschont geblieben ist, verlief dort

die soziale Entwicklung folglich auch viel ungestörter. Im Vijayenagar­

Reich7) nahmen Frauen oftmals hohe Positionen in der Gesellschaft ein.

Sowohl im literarischen und sozialen als auch im politischen Leben des

Landes spielten sie eine bedeutende Rolle. Die Schriften des zeitgenös­

sischen portugiesischen Reiseschriftstellers Nuniz sagen darüber: "Der

König von Vijayenagar besitzt Frauen, die ringen, und andere, die Astro­

logen und Wahrsager sind; und er besitzt Frauen, die Buch führen über

die täglichen Ausgaben und andere, deren Pflicht es ist, alle Begeben­

heiten im Königreich aufzuschreiben und ihre Bücher zu vergleichen mit

Schriften von außerhalb; desgleichen besitzt er Frauen, die Instrumente

spielen und singen. Sogar die Gemahlinnen der Könige sind gut unterrich­

tet in Musik. Er hat Richter und Amtsmänner und Wächter, die Nacht für

Nacht den Palast bewachen, und diese sind Frauen".

5. RUPAMATI, eine sehr schöne und gebildete Sängerin am Hofe von Bas Bahadur, dem berühmten König von Malwa im 16.Harhundert n.Chr.

6. SATI-RITUS, Verbrennung und Selbstopferung der Frau auf dem Scheiter­haufen des toten Gemahls

7. VIJAYENAGAR-REICH, 14. - 16.Jahrhundert n.Chr.

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Aus der Mughal-Zeit wird uns gleich eine ganze Galerie wohlerzogener

und gelehrter Frauen aus höfischen Kreisen überliefert. Beispiele fin­

den wir in GULBADAN BEGU!f), Autorin des "Humayunnamah", SALIMA SULTANA9),

Autorin mehrerer persischer Gedichte, Kaiserin NUR JAHAN10 ), MUMTAZ

M4HAL11 ), JAHANARA BEGUM12 ) und ZEB-UN-NISA13 ).

Auf verwaltungstechnischem Gebiet sind zu nennen RUDRAMABA, die Kaka­

teya-Königin, RAZIA BEGUM14 ) und CHANDBIBI von Abmednagar15 )) die die

Stadt vor Akbar's Angriff verteidigte, und AHAYABAI HOLKAR16 , die die

Grundsteine zu dem Maratha-Staat von Indore legte.

Im Volke selbst aber war,trotz Abkar's großer Bemühungen, das soziale

Los der Frauen zu erleichtern, eine spürbare Verbesserung nicht zu be­

merken. Die Abgeschlossenheit der Frauen war in den meisten Famil~en

gebräuchlich. Allerdings künden manche epischen Erzählungen von einem

8. GULBADAN BEGUM, Tochter von Balur, dem Gründer des Mugal-Reiches im 16.Jahrhundert n.Chr., sehr gebildet und begabt

9. SALlMA SULTANA, Tochter des berühmten Königs Akbar, lebte Ende des 16. bis Anfang des 17.Jahrhunderts n.Chr.

10. NUR JAHAN, Kaiserin (der Name bedeutet "Licht der Welt"), berühmte Gemahlin des Kaisers Jahangiri, Anfang des 17.Jahrhunderts, war von großer Schönheit und besaß sehr guten Geschmack; vor allem in der persischen Literatur, Poesie und Künsten bewandert

11. MU~AZ MAHAL, Gemahlin des Sha Jahan, Regierungszeit 1628 - 1658, sehr gebildet, starb schon 1631. Um ihrem Namen Unsterblichkeit zu verleihen, baute Sha Jahan über ihrem Grab das berühmte Taj Mahal in Agra, das unerreichte Denkmal ehelicher Liebe

12. JAHANARA BEGUM, Tochter des Kaisers Sha Jahan, sehr gebildet und belesen in der persischen und arabischen Literatur

13. ZEB-UN-NISA, Tochter des Aurangzeb, Regierungszeit 1658 - 1707, sprach arabische und persische Sprachen, Meisterin der Kalligraphie, nannte eine große Bücherei ihr eigen

14. RAZIA BEGUM, mohammedanische Königin, Regierungszeit 1236 - 1240, besaß beachtenswerte Talente, bewundernswerte Eigenschaften und alle für einen Herrscher nohrendigen Fähigkeiten. Der stolze mohammedanische Adel wollte sich jedoch keinem Feiblichen Herrscher unterordnen und führte ihre Absetzung in einer sChimpflichen Weise herbei

15. CHANDBIBI war die berühmte Dawagiar-Königin von Ahmed Nagar, eines der mittelalterlichen mohammedanischen Königreiche Dekkans am Ende des 16.Jahrhunderts, berühmt durch den Widerstand gegen die Mugal­Armee

16. AHAYABAI HOLKAR, berühmte Königin des Maratha-Staates von Holkar im 18.Jahrhundert, eine fähige Herrseherin vor allem auf dem Ver­waltungsgebiet

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freieren Leben, in dem die Frauen ihre Schleier ablegten und aus der

Abgeschiedenheit und der Einsamkeit ihrer Gemächer hervorkamen. Die

Einführung der englischen Erziehung und der Kontakt mit den freien

Ideen des Westens brachten im 19.Jahrhundert eine fühlbare Belebung auf

dem Gebiet des Geisteslebens mit sich und eine radikale Veränderung des

bisherigen sozialen und religiösen Lebens. Der wiedererwachte Geist der

indischen Frau war verkörpert in den mächtigen Reformatorinnen wie RAJA

RAI1 110HAN ROY, JUSTICE RANADE, SWAMI DAYANANDA SARASWATI, um nur einige

zu nennen. RAH MORAN ROY spielte im 19.Jahrhundert eine bedeutende Rolle

in der Bewegung, die die Aufhebung der Witwenverbrennung zum Ziele hatte.

Er half ihnen nicht nur weiterzuleben, sondern versuchte, ihre Stellung

ganz allgemein zu verbessern und trachtete darüber hinaus besonders da­

nach, ein günstigeres Erbrecht in der Hindugesetzgebung für sie zu er­

reichen. Energisch widersetzte er sich der Vielpeiberei und unterstütz­

te, wo er nur konnte, die Wiederverheiratung der Witwen. Die spätere

mächtige Bewegung, die die Emanzipation des indischen Frauentums in

vielen Bereichen zum Erblühen und zum Erfolg brachte, war die Folge sei­

ner Ideen.

So war die soziale und gesellschaftliche Änderung der Stellung der Frau

eng mit dem Erwachen des Landes zu Beginn des 20.Jahrhunderts verknüpft.

Wieder standen Frauen im öffentlichen Leben und traten, gestützt durch

ihre Organisationen, gegen die Machenschaften der vernunftwidrigen

Rechtgläubigkeit, Ungerechtigkeit und Diskriminierung auf. Die "Arya

Mahila Samaj,,1 7 ) schuf Bedeutendes und leistete echte Pionierarbeit

bei der Verbesserung des Loses der Frauen.

Der größte Inspirator indischen Frauentums in unserer Zeit war Mahatma

GANDHI, der die Frauen eindringlich aufforderte, am Aufbau der Nation

mitzuwirken. Kurze Zeit später veranlaßte die gegenwärtige Regierung

bemerkenswerte Fortschritte bei der Verbesserung der Hindu-Gesetznoten

und verkündete sie in ihren wesentlichen Punkten als Gesetze. Die Ver­

fassung Indiens sichert und anerkennt die Gleichheit aller, ungeachtet

des Geschlechts, der Religion, der Klasse oder des Glaubensbekenntnisses

in sozialer und anderer Hinsicht und enthält gleichzeitig besondere Be­

stimmungen für Frauen und Kinder. Das Hindu-Ehegesetz aus dem Jahre 1955

erlaubt nur die Einehe und untersagt die Heirat für Jungen vor dem 18.

17· ARYA MAHILA SAMAJ, eine Frauenorganisation, gegründet von Ramabai Ranade, die die Verbesserung des Loses der Frauen zum Ziele hatte

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und für Mädchen vor dem 15.Lebensjahr. Das Gesetz gestattet weiterhin

gesetzliche Trennung und Scheidung und, als vielleicht bedeutendsten

Fortschritt, ermöglicht ein besonderes Ehegesetz auch die Heirat zwischen

Partnern verschiedener Konfessionen, ohne Übertritt zu dem Glauben des

anderen oder die Abwendung vom eigenen Glauben.

Ein bedeutender Fortschritt in der Bestrebung nach Emanzipation und

Gleichberechtigung der indischen Frau war die Genehmigung des Hindu­

Erbfolgegesetzes, das die Erbberechtigung von Töchtern vorsieht. Das

Hindu-Adoptions- und Unterhaltsgesetz von 1956, das nunmehr auch die

Adoption eines Kindes für Frauen gestattet, regelt zugleich auch den

Unterhaltsanspruch für Frauen, die getrennt von ihren Männern leben.

Die Bedeutung der politischen Verantwortung der Frauen wurde durch den

Erfolg des Frauenstimmrechtes gerechtfertigt. Die Durchsetzung des

Frauenstimmrechtes begann im Jahre 1917 unter der geistigen Führung von

Mrs. SAROJINI NAIDU. Der Erfolg ihrer unermüdlichen Bemühungen zeigte

sich im Jahre 1935, als alle Frauen über 21 Jahre wahlberechtigt wurden.

Gewiß ein bedeutender Erfolg, wenn man bedenkt, daß England dieses Ge­

setz 1918 und Deutschland 1919 verabschiedeten und die Beteiligung an

den allgemeinen Wahlen groß ist.

Nun, da den indischen Frauen alle Berufe in voller Gleichheit mit den

Männern zugänglich sind, haben wir viele prominente und bedeutende Frauen

in den verschiedensten Bereichen des Lebens. Die indischen Frauen sind

stolz auf Persönlichkeiten wie VIJAYALAKSHMI PANDIT und RAJKUMARI AMRIT

KAUR, die als Repräsentantinnen unsere.s Landes bei internationalen Kon­

ferenzen präsidieren. Es gibt viele weibliche Minister bei der Zentral­

und Staatsregierung, und die Zahl der Frauen in der Ver1,'al tung und im

öffentlichen Dienst des Landes nimmt ständig zu.

Mit der Erweiterung des Erziehungsprogramms für die indische Frau wurde

u.a. angestrebt, auch indische Krankenschwestern auszubilden, um die

Not der Armen, Kranken und in Not Geratenen zu meistern. Das Lady

Hardinge Medical College in Delhi bildet indische Frauen in medizini­

schen Wissenschaften aus. Das Entbindungs- und Kinderwohlfahrtsbüro

arbeitet eng mit der indischen Rote-Kreuz-Organisation zusammen und

leistet wertvolle Dienste bei der Ausbildung der indischen Frau.

In der Literatur ist die Kurzgeschichte und die Novelle schöpferischer

Ausdruck indischen Frauentums unserer Zeit, sie werden in allen indi­

schen Sprachen geschrieben. LILA MAJUMDAR in Bengali, BASANTA KUMARI

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PUTNAYAK in Oriya, KRISHNA SAHATI in Hindi, SUBRAMANIAM GUHAPRIYA in

Tamil und RASHID JEHAN in Urdu nehmen neben RADllARANI DEVI, AMRITA

PRITAM und BALAMAN NAIR ihren Platz unter den ersten zeitgenössischen

Dichterinnen ein. Sogar in Englisch haben SAROJINI NAIDU und TORU DUTTA

sowie BHARATI SARABHAI rhapsodische Dichtungen verfasst. Eine berühmte

Prosa-Schriftstellerin ist Santha RAMA RAU, während KAI1ALA I~RKANDAYAS

Novellen in Englisch sogar im Ausland viel Erfolg gefunden haben.

In der Hindu-Theologie ist die Göttin ANNAPURNA die Geberin des tägli­

chen Brotes. Die Spenderin der Kraft ist SHAKTI MURTI-KALI (eine andere

Form von Durga, Sivas Gemahlin).

Der epische Dichter singt: "Wann immer wir Leid und Trauer empfinden

gleich den Müttern bringen sie Erleichterung". Bis zu einem gewissen

Grade sprechen aus den Eigenschaften der indischen Frauen und Mütter

sowohl die Göttin Annapurna als auch Shakti Murti Kali. Durch Jahrhun­

derte wurden sie weitergegeben und vererbt. Und so ist die Verehrung

der Frau im Heim verständlich und natürlich.

Abschließend darf man sagen, daß das Zeitalter der völligen Emanzipation

der indischen Frau bis zu einem Grade, den selbst kühne Geister nicht

erwarteten, angebrochen ist. Sie kann sich in allen Bereichen des Lebens

bewegen und sich zu allen Berufen entscheiden, sei es zu einer Minister­

stellung, zu der Leitung eines Heimes oder sogar zu einer männlichen

Aufgabe. Dieser Wechsel hält Schritt mit der gesamten wirtschaftlichen

und menschlichen Entwicklung. Ob diese Vorteile die zum Teil noch vor­

handenen Hindernisse überwinden werden, wird uns die Zukunft zeigen.

(Aus dem Engl. übertragen)

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Der Anteil Deutschlands an der Ausweitung der indischen Eisen- und Stahl­

Industrie im zweiten Fünfjahresplan

Von Dr.-Ing. habil. H. HEINRICH, Geschäftsführer der Indien-Gemeinschaft

Krupp-Demag GmbH

Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Indien und Deutschland sind

schon sehr alt. Jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie besonders

eng. Nachdem Indien selbständig geworden war, ging die Regierung daran,

die Bodenschätze des Landes systematisch zu aktivieren und der Bevölke­

rung zugänglich zu machen. Der erste Fünfjahresplan lief von 1951 bis

1956 und diente hauptsächlich dazu, die Landwirtschaft zu fördern und

durch Entwicklung der Bewässerungsanlagen die Anbauflächen zu vergrößern,

um das Land von Lebensmitteleinfuhren unabhängig zu machen. Nebenher

liefen allgemeine Verbesserungen der Transportmöglichkeiten, der Sozial­

fürsorge, des Gesundheits- und Erziehungswesens. Dieser Aufbau wurde im

wesentlichen aus landeseigenen Mitteln bestritten. Das Ausland war an

den Kosten nur zu ca. 10% beteiligt. Das nationale Einkommen wurde durch

diesen Plan um ca. 11% erhöht. Es ist aber allgemein bekannt, daß wesent­

liche Verbesserungen des Lebensstandards nur durch eine gut entwickelte

Produktionsindustrie hervorgerufen werden. Deshalb legte man den Schwer­

punkt des zweiten Fünfjahresplanes auf den Ausbau der Rohstoff- und

Schwerindustrie, zumal hoch"rertige eigene Rohstoffe zur Verfügung stehen

(Abb. 1), deren Lagerstätten meistens kaum aufgeschlossen waren.

Indien ist reich an Eisen- und Manganerzen. Das Gesamtvorkommen an Eisen­

erzen mit über 60% Eisengehalt wird auf 6 Mrd. t geschätzt. Hinzu kommen

noch ungeschätzte Mengen mit einem Eisengehalt von unter 60%. Die Lager­

stätten befinden sich in der Hauptsache in Orissa und Bihar, also im

nordosten des Landes und bilden dort den sogenannten "iron belt". Weitere

Vorkommen sind in Zentralindien, und zwar in den Provinzen Madhya Pradesh

und Rajasthan sowie in Südindien in den Provinzen Madras, Mysore und

Andra Pradesh. Die bisherigen Hauptfördergebiete liegen im Bereich des

iron belt und in Südindien. Der iron belt selbst hat ein sicheres Vor­

kommen von über 3 Mrd. t mit einem Eisengehalt von über 60%. Unter Be­

rücksichtigung der Eisenerze unter 60% Eisengehalt erhöhen sich die Vor­

kommen auf mindestens 20 Mrd. t. Es handelt sich hier bei den hochwerti­

gen Erzen hauptsächlich um reine Hämatite mit Einsprengungen von Magnetit

und Marti t sowie um Lateri t.e und Jaspeti te mit einem EisengehaI t unter

60%. Die erzführenden Schichten treten in einem Gebiet von ca. 60 km

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O /f.II I , .. ........ 111 .

"' C"""6 N il · 1It ......... ~r oe ... . CrqfHH' C' . , ....... ".

A b b i 1 dun g 1

Länge und ca. 20 km Breite auf. Der Hauptzug erreicht Mächtigkeiten bis

über 300 m. Man hat Bohrungen bis zu einer Tiefe von ca. 250 m durch­

geführt, ohne die Erzschicht zu durchstoßen. Die tatsächlichen Vorkommen

können also bei einer genauen Aufschließung noch erheblich größer sein.

Die übrigen zentral- und südindischen Erzvorkommen bestehen ebenfalls

in der Hauptsache aus Magnetiten und Hämatiten. Die Förderung Indiens

geht aus der Tabelle (Abb. 2) hervor. Die Eisenerzförderung betrug 1950 ca. 3 Mill. t entsprechend 100% und steigerte sich bis zum Jahre 1957 auf 4,5 Mill. t, also um 50%. Das Förderziel des zweiten Fünfjahres­

planes beläuft sich auf 12,5 Mill. t. Die Erzausfuhr stieg von 900 000 im Jahre 1955 auf insgesamt 1,4 Mill. t im Jahre 1956. Das Ziel des

zweiten Fünfjahrespla~es ist es, eine zusätzliche Ausfuhr zu erzielen,

so daß insgesamt 2 Mill. t erreicht werden, die hauptsächlich nach Japan

gehen.

An Manganerzen besitzt Indien die zweitgrößten Vorkommen der Welt nach

der Sowjetunion. Sie Herden auf ca. 1,12 Mrd. t geschätzt mit einem Man­

gangehalt von 40 bis 50% und höher. Die Manganerze liegen in den Provin­

zen Madhya Pradesh, Mysore, Orissa und Andra Pradesh, also in denselben

Provinzen wie die Eisenerze. Die Förderung stieg von 883 000 t im Jahre

1950 auf 1 687 Mill. im Jahre 1956 an. Das ist eine Steigerung von 91%.

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Produktionszahlen der indischen ~rundstoffindustrie

Nr. Rohstoff Einheit t950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 Produktions-ziel des 2.Fünfjahres-Iplanes 1960/6 1

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

1.) Eisenerz Mill.metr. 3,005 3,700 3,998 3,907 4,000 4,328 4,272 4,500 12,500 t % 100 123 132 130 134 144 142 150 416

2.) Manganerz Mill.metr. 0,883 1,292 1,462 1,902 1,414 1,584 1,687 2,000 t % 100 146 166 215 160 180 191 227

3· ) Steinkohle !till.metr. 32,510 34,860 36,800 36,560 37,360 38,830 40,090 42,600 60,000* t % 100 101 113 113 115 119 1-23 131 184

4. ) Roheisen Mill.metr. 1,104 1,850 1,819 1,804 1,993 1,965 1,986 1,900 5,500 t % 100 109 110 106 111 116 111 112 324

5.) Rohstahl Mill.metr. 1,461 1,524 1,604 1,531 1 ,712 1,728 1,764 1,720 6,000 t % 100 104 1-10 105 117 118 120 118 410

*Hiervon ca.

16,5 Mill. t Kokskohle

A b b i 1 dun g 2

Das Ziel des zweiten Fünfjahresplanes ist es, 2 Mill. t zu fördern. Die

Ausfuhr lag 1955 bei 940 000 t, und das Ziel des zweiten Fünfjahrespla­

nes ist ein Export von rund 1,5 tüll. t, womit Indien der größte Mangan­

erz-Exporteur werden wird. An sonstigen Erzen sind nur noch Chrom- und

Kupfererzvorkommen zu erwähnen.

Um nun diese Erze zu verhütten, benötigt man bekanntlich Kohle. Auch

diese ist in Indien vorhanden (Abb. 1), wenn auch nicht in den für das

Eisenerz aequivalenten Mengen. Die Schätzungen über das Gesamtvorkommen

gehen jedoch \ .. ei tauseinander.

Wahrscheinlich liegen sie bei 60 Mrd. t, wobei leider der größte Teil

nicht verkokbar ist. Die Vorräte an Kokskohle werden auf 3 Mrd. t ge­

schätzt, sollen jedoch nach Angaben des Indian Bureau of Mines noch ,.le­

sentlich größer sein. Geographisch liegt die Kohle in denselben Provin­

zen wie die Erze, also transporttechnisch sehr günstig. Die Vorkommen

in West-Bengal und in Bihar sind die wichtigsten. Die Kokskohle (Abb.1)

kommt in West-Bengal und Bihar vor. Die übrigen Vorkommen, z.B. in

Madhya Pradesh, Rajasthan, Madras und Orissa bestehen größtenteils aus

nicht verkokbarer Kohle, Braunkohle und Ligniten.

Die bisherige Förderung geht ebenfalls aus der Tabelle (Abb.2) hervor.

Die Ausfuhr betrug bisher 2,5 Mill. t im Jahr an guter Kokskohle. Diese

wird wahrscheinlich bei der Ausweitung der indischen Industrie in Fort-

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fall kommen, und das Ziel des zweiten Fünfjahresplanes ist eine Steige­

rung der Förderung auf 60 Mill. t, das sind 184% bezogen auf den Stand

von 1950.

Auf diesen Rohstoffen basierend, hat sich in den letzten 50 Jahren be­

reits eine Eisen- und Stahlindustrie entwickelt (Abb. t), und zwar mit

Schwerpunkt:

1. Jamshedpur in der Provinz Bihar - Tata Iron & Steel Works,

2. Burnpur in der Provinz West-Bengal - Indian Iron & Steel Comp.,

3. Bhadravati in der Provinz Mysore - Mysore Iron & Steel Comp.

Die Rohstahlerzeugung dieser Werke (Abb. 2) betrug 1954 insgesamt 1,63 Mill. t pro Jahr, wovon allein 1,2 Millionen auf Tata entfielen. Einige

kleinere Eisen- und Stahlwerke haben sich zusätzlich noch in der Nähe

der Hauptverbraucherorte, nämlich der Großstädte Calcutta, Bombay und

Madras etabliert, so daß die gesamte Rohstahlerzeugung im Jahre 1954 bei

1,712 Mill. t gelegen hat. Diese Mengen haben sich in den folgenden Jah­

ren bis jetzt nicht wesentlich erhöht. Das Ziel des zweiten Fünfjahres­

planes ist es jedoch, die Rohstahlerzeugung auf 6 Mill. t zu steigern.

Das Erzeugungsprogramm der bisherigen Werke umfaßte alle Arten von Walz­

stahlprodukten einschließlich Edelstählen. Der Bedarf der eisenverarbei­

tenden Industrie und der Bauindustrie war aber der Erzeugung weit vor­

ausgeeilt, so daß zusätzlich ca. 1 Mill. t Fertigstahl jährlich einge­

führt werden mußten.

Der zweite Fünfjahresplan soll aber nicht nur diese Unterbilanz abdecken,

sondern darüberhinaus durch Schaffung von jährlich zwei Millionen Arbeits­

plätzen den Lebensstandard um je 5 x 5% pro Jahr, also um 25% insgesamt

heben. Wie bereits erwähnt, kann aber die Erhöhung des Lebensstandards

nur durch den Ausbau der Produktionsindustrie, und zwar zuerst der Grund­

stoffindustrie verwirklicht werden. Die Rohstahlerzeugung soll, Hie be­

reits gesagt, auf 6 Mill. t jährlich gesteigert werden, entsprechend

4,2 bis 4,5 Mill. t Walz1.,rerkerzeugnissen bzw. Fertig1"aren. Die Steigerung

sollte erreicht werden einmal durch den Ausbau der bestehenden Kapazitä­

ten auf insgesamt 3 Mill. t Stahl, und zum anderen faßte die Regierung

den Entschluß, selbst drei Stahlverke mit einer Kapazität von jährlich

1 Mill. t Rohstahl zu errichten, da die Investitionskosten so erheblich

und die erwartete Produktion so einschneidend für die Wirtschaft des

Landes sein würden, daß man die gesamte Ausweitung nicht dem privaten

Sektor allein zumuten konnte.

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Die Ausweitung der bestehenden Werke ging relativ einfach vor sich. Die

Firma Tata in Jamshedpur erweiterte in den Jahren 1955 bis 1958 ihre

Kapazität auf 2 Mill. t Rohstahl. Sie bediente sich der amerikanischen

Firma Kaiser Engineering als Consul tants. Die Kosten der Aus 1•1ei tung be­

liefen sich auf rund 84,9 Crores Rupees, das sind 750 Mill. DM. Darin

sind allein 50 Mill.$ oder 250 Mill. Rupees deutsche Lieferungen, im

wesentlichen von den Firmen Demag, Schloemann, Sack, Didier, Lurgi,

Collins, Ferrostahl und der Siemens-Schuckert-Werke enthalten. Die In­

dian Iron & Steel Company in Burnpur erweiterte ihre Kapazität auf ca.

800 000 t Rohstahl mit einem Kostenaufwand von 42,5 Crores = 375 Mill.DM.

Sie wurde beraten von der englischen Consulting Firma International

Construction Company. Der deutsche Lieferanteil beläuft sich auf rund

30 Mill. DM, woran ebenfalls die Firmen Demag, Siemag und Sack vornehm­

lich beteiligt sind. Für die Aus"eitung des Werkes der Mysore Iron & Steel Works in Bhadravati lieferte die Gutehoffnungshütte Sterkrade An­

lagen im Werte von mehreren Millionen DM und beriet die Firma im Ausbau

einer Röhrengießerei und im Ausbau ihrer Sinteranlage. In diesem Zusam­

menhang muß auch die Erstellung der Kokerei in Durgapur durch die Firma

Still in Recklinghausen mit einem deutschen Anteil von 25 bis 30 Mill.DM

erwähnt werden. Die Kokerei soll im nächsten Jahr fertiggestellt werden.

Erheblich sch,deriger als der Ausbau der vorhandenen Werke gestaltete

sich jedoch der Bau der drei neuen Stahlwerke. Vor allen Dingen war die

Standortwahl nicht einfach, weil jede Provinz mit Rohmateriallagerstät­

ten ein eigenes Hüttenwerk in Vorschlag brachte und auch beanspruchte.

Der Kampf ging besonders um den Standort des ersten Hütten1•rerkes, bei

dem dann die Wahl auf Rourkela im Staate Orissa fiel. Ich muß hier vor­

ausschicken, daß die Vorarbeiten für dieses Werk bis in das Jahr 1953,

also bis in den ersten Fünfjahresplan zurückreichen. 1953 schloß die in­

dische Regierung mit den Firmen Krupp und Demag einen Beratungsvertrag

über den Bau eines Hüttenwerkes von 500 000 t Kapazität pro Jahr ab. Die

Firmen Krupp und Demag gründeten zur Abwicklung dieses Vertrages die

Indien-Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH in Duisburg. Bei der Planung des

zweiten Fünfjahresplanes im Jahre 1955 wurde die Kapazität dieses Wer­

kes auf 1 Mill t Rohstahl verdoppelt. Das Werk sollte auf Grund des

vorhandenen Bedarfes ausschließlich auf Flachprodukte ausgelegt werden,

und zwar auf Grob-, Mittel- und Feinbleche. Auf Grund verschiedener in­

ternationaler Gutachten wurden damals von der indischen Regierung drei

Vorschläge für den Standort des ersten Hüttenverkes gemacht. Es handelte

sich hierbei um

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1. Durgapur in West-Bengal

2. Rourkela in Orissa und

3. Bhilai in Madhya Pradesh.

Die Standortvorschläge Rourkela und Bhilai beruhten auf der Erzbasis und

Durgapur auf der Kohlebasis. Außerdem war bei dem letzteren die Nähe von

Calcutta als größtem Verbraucherort wichtig. Die Indien-Gemeinschaft ent­

schloß sich, Rourkela in Orissa, 22° nördliche Breite, 85 0 Länge, als

Standort für das neue Hüttenwerk vorzuschlagen, da dieser Ort nicht nur

günstig für Rohstoffe, wie Erz, Kalk und Dolomit war, sondern weil auch

durch den Brahmani-Fluß die wichtige Wasserversorgung in der trockenen

Jahreszeit als gesichert angesehen werden konnte. Die notwendige Koks­

kohle muß allerdings 320 km transportiert werden. Sie sehen aus der Ab­

bildung 3, daß Rourkela an der Haupteisenbahnlinie Calcutta-Bombay liegt,

A b b i 1 dun g 3

verkehrstechnisch also erschlossen ist. Der Brahmani-Fluß wird durch

seine beiden Quellflüsse Koel und Sankh gebildet und führt ganzjährig

Wasser. Das Werksgelände umfaßt ca. 5 km2 und liegt auf einer Hochebene

235 m über dem Meeresspiegel mit Neigung zum Brahmani-Fluß. Neben dem

Werk mußte selbstverständlich auch eine entsprechende Stadt neu erbaut

werden.

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Um Stadt und Werk räumlich zu trennen, wurde die Stadt hinter eine Hügel­

kette gelegt, so daß sie vor evtl. Staubbelästigung durch das Werk ge-•

schützt ist. Über die dortige Landschaft, wie wir sie bei der Wahl des

Standortes vorfanden, geben Ihnen die Abbildungen 4 und 5 Aufschluß.

Nachdem der Standort Rourkela nunmehr festlag, war die Wahl der Stand­

orte für die beiden anderen Hüttenwerke nicht sehr schwer. Sie mußte

nach den vorliegenden Gutachten beinahe zwangsläufig auf Bhilai und

Durgapur fallen. Das Werk Bhilai wird mit Hilfe der UDSSR und das Werk

Durgapur mit Hilfe von englischen Firmen aufgebaut.

Die Erzbasis für Rourkela ist ebenfalls der iron belt, und zWar das

Taldih-Dandrahar-Vorkommen im Bonai-Gebiet. Abbildung 3 zeigt den süd­

lichen Teil des iron bel t '. welcher für Rourkela vorgesehen ist. Die

hauptsächlich vorkommenden Erze bestehen aus sechs Sorten, wie sie in.

der Tabelle (Abb. 6) aufgeführt sind. Die Analysen zeigen, daß das hart.e

Analysen des Dandrahar Blocks

Probe Nr. 1 2 3 4 5 6

Erzart Hartes Erz Hartes ge- Geschichte- Geschichtetes Weiches ge- Feinerz schicht.lj:rz tes Erz Erz (lateri- schicht. Erz

Massive Ore Compact Laminated tisch) Soft lamina- Blue dust laminated ore Laminated ore ted ore ore (lateritic)

Fe% 67.35 64.27 60.20 61.73 60.70 65.42

Si02% 1.66 2·31 1. 23 1.98 10·38 3·54

AL203% 1.67 3·22 6.49 4·89 1.90 1.87

Ti02% 0.007 0.052 0.215 0·320 0.047 0.038

MnO% 0.021 0.129 0.030 0.041 0.006 0.023

MgO% Spuren Spuren Spuren Spuren Spuren Spuren

Cao% 0.08 0.03 0.07 0.10 0.06 0.02

Cr203% 0.0082 0.0053 0.0100 0.0082 0.0037 0.0031

v2°lo Nil Nil Nil Nil Nil Nil

P% 0.038 0.017 0.037 0.039 0.026 0.028

S% 0.008 Spuren Spuren Spuren 0.010 0.008

A b b i 1 dun g 6

Erz reinster Hämatit in Fe 203-Gehalten von 96 bis 97% ist. Daneben gibt

es auch sog. gestreiftes Erz, das laminated ore, welches mehr Kiesel-

säure und Tonerde enthält, dessen Eisengehalt aber immer noch sehr hoch­

prozentig ist. Die an der Oberfläche liegenden Schichten zeigen mehr und

mehr Spuren der Verwitterung und damit Anreicherung von Tonerde und Kie­

selsäure. Die Erze sind sämtlich schHefel- und phosphorarm. Der in Ab­

bildung 6 zuletzt genannte blue dust ist Feinerz (hochprozentiger Hämatit),

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das nur in Form von Sinter dem Hochofenprozess zugeführt werden kann. Da

dieses Erz in ziemlichen Mengen vorkommt, ist eine Sinteranlage von

3 000 bis 4 000 t Produktion pro Tag für den späteren Ausbau des Hütten­

werkes vorgesehen. Das für das Hüttenwerk Rourkela vorgesehene Erzgebiet

erstreckt sich insgesamt auf eine Länge von über 20 km von der Grenze

Orissa/Bihar im Norden bis in das Bonai-Gebiet im Süden (Abb. 3).

Auf einer untersuchten Strecke von 3,5 km Länge mit einer Gesamtfläche

von 1,25 km2 wurden bis zu einer Tiefe von ca. 30 m - ohne daß die erz­

führende Schicht durchstoßen wurde - 76 Mill. t Eisenerz mit einem Eisen­

gehalt von 53 - 64% als sicher festgestellt. Hinzu kommen noch ungeschätz­

te Mengen von Erzen mit einem Eisengehalt unter 53%. Die Landschaft be­

steht größtenteils aus Dschungel und Wäldern, in denen wilde Elefanten,

Tiger, Leoparden, Bären und Büffel zu Hause sind. Die spärliche Bevöl­

kerung wird von den indischen Urbewohnern, den Tribes, gebildet die auch

heute noch mit Pfeil und Bogen als Jäger oder mit dem primitiven Holz­

pflug als Bauern ihren Unterhalt bestreiten. Durch den Aufschluß der

Minen und die Industrialisierung überspringt diese Bevölkerung eine Zi­

vilisation von fast zwei Jahrtausenden. Der Standort, von dem aus die

Erzminen erschlossen werden, ist Barsua am Kuhadi Nalla im Kurhadital.

Tensa weiter nördlich (Abb. 3) soll zur Bergarbeiterstadt ausge'bildet

werden. Für den Abtransport der Erze wird eine besondere Bahn von ca.

50 km Länge gebaut.

Für die Kokskohle wurden die Felder von Kargali, Bokaro, Giridih und

Korba zur Verfügung gestellt. Das Korba-Vorkommen liegt in Madhya Pra­

desh und wird gerade erst erschlossen. Inwieweit die Kohle verkokbar

ist, muß noch festgestellt werden. Sie scheidet für Rourkela jedoch vor­

erst aus. In Bokaro, einem der zur Verfügung stehenden Felder, steht

die Kohle in 30 m Dicke an (Abb. 7). Sie ist aschereich und muß auf

einen Aschegehalt von 14 bis 15% gewaschen werden, damit ein Koks mit

ca. 20% Asche daraus hergestellt werden kann. Die Abbaubedingungen im

Tagebau sind sehr einfach. Die Kohle wird, nachdem sie mit der Handhacke

abgehackt worden ist, zum Teil mit Hand bis zu den Wagen befördert. Die­

selben einfacnen Abbaubedingungen gelten für die ebenfalls im iron belt

gelegenen Erzgruben der Firma Tata. Die Klassierung der Erze erfolgt mit

Handsieben. Für die Rourkela-Anlage ist jedoch eine moderne Brech- und

Siebanlage im Bau. Es wird sich aber wohl nicht verhindern lassen, vor­

erst die alten primitiven Abbaumethoden anzuwenden. Die gleichen Verhält­

nisse wie in Bokaro gelten auch für die Grubenfelder von Kargali. Die

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Kohle von Kargali ist ebenfalls aschereich und muß gewaschen werden.

Eine entsprechende Kohlenwäsche befindet sich zur Zeit noch im Bau. Die

beste Kokskohle liegt jedoch eindeutig bei Giridih im Bihar-Gebiet. Sie

wird im Untertagebau aus einer Tiefe von ca. 200 bis 300 m gefördert.

Sie braucht nicht gewaschen zu werden. In Rourkela wird voraussichtlich

ein Gemisch aus diesen Kohlevorkommen zur Verkokung gebracht werden.

Kalk- und Dolomitvorkommen befinden sich rund um Rourkela in einer Ent­

fernung bis zu 20 km in ausreichender 11enge.

Nachdem nun der Standort und die Rohstoffbasen für das IIütten1.rerk Rour­

kela geklärt waren, wurden die "'ei teren Arbeiten der technischen Beratung

durchgeführt. Entsprechend der verlangten Produktion von 1 Mill. t Roh­

stahl im Jahr wurden die Hauptkapazitäten der einzelnen Betriebe fest­

gelegt und zuerst die Erdarbeiten in Angriff genommen. Abbildung 8 zeigt

ein amerikanisches Gerät, welches eingesetzt wurde, um das Werksgelände

zu planieren. Der Einsatz dieser Geräte eignet sich jedoch nicht überall,

sondern es mußte zum Teil nach alter indischer Sitte ausschließlich mit

Menschenkraft gearbeitet werden. Aus der Abbildung 9 kann man ersehen,

wie mühselig mit Handarbeit der Fels losgebrochen werden muß und wie es

bei weicherem Erdreich schon erheblich besser geht. Der Abtransport des

losgebrochenen Materials findet in Körben, meistens auf dem Kopf, statt

und wird größtenteils von Frauen durchgeführt. Die Kinder werden dann

einfach in einem um Hals und Schulter gebundenen Tuch mitgeführt. Sämt­

liche Erdarbeiten, Straßenbau- und auch Betonarbeiten werden nach diesen

uralten Methoden ausgeführt.

Die Erd-, Bau- und Betonarbeiten werden von indischen Contractoren nach

Zeichnungen, die aus Deutschland beigestellt werden, ausgeführt. Die

entsprechenden Arbeiten für das Walzwerk werden von einer indisch-deut­

schen Tiefbaufirma, nämlich der indischen Firma Gammon und der deutschen

Firma Hochtief, erstellt. Die Ausführung erfolgt in jedem Fall durch

indische Arbeitskräfte, die aus dem ganzen Land angeworben werden und

zum Teil mit den Familien zur Arbeitsstätte kommen. Diese bauen sich in

der Nähe der Arbeitsstätte eine Laubhütte, um dort '~ährend dieser Zeit

zu leben. Rund um Rourkela und auf der Baustelle befinden sich solche

Ansiedlungen, die nach Erstellung des Werkes wieder verschwinden.

Im einzelnen kommen in Rourkela folgende Betriebe zur Ausführung:

Die Kokerei ist für einen Durchsatz von 1,64 Mill. t Kohle pro Jahr aus­

gelegt; sie besteht aus sechs Gruppen zu je 35 Kammern und wird von der

Firma Dr.C. Otto in Bochum geliefert. Zusätzlich zu der Kokerei gehört

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ein Gasbehälter von 50 000 cbm Inhalt, der von der Firma Klönne erstellt

wird. Die Abbildung 10 zeigt Ausschnitte aus der Montage der Kokerei.

Die erste Gruppe von 35 Kammern wurde am 8. September und die z, ... ei te Grup­

pe am 22.September angeheizt. In den ersten Dezembertagen wird der erste

Koks gedrückt werden.

Die Nebengewinnungsanlagen sind entsprechend ausgelegt und werden von der

Firma Heinrich Koppers in Essen erbaut. Abbildung I I zeigt Ausschnitte

aus dem Baustadium September t958.

Die nächste größte Betriebseinheit bilden drei Hochöfen zu je 1 000 t

Tagesproduktion. Der Erbauer der Hochofenanlage ist die Gutehoffnungs­

hütte in Sterkrade. Die dazugehörige Gichtgasreinigung mit einer Kapazi­

tät von 500 000 cbm/h wird von der Firma Lurgi geliefert. Für das Hoch­

ofenvTerk wurde bisher noch kein Gasometer vorgesehen, da das ausgedehnte

Leitungsnetz eine gute Speichermöglichkeit bietet. Die Abbildungen 12

und 13 zeigen Ausschnitte der Montage der Hochofenanlage sowie der Gicht­

gasreinigung. Hieraus kann man den gewaltigen Baufortschritt von April

bis September 1958 erkennen. Die Bunkeranlagen für den ersten Hochofen

sind fertig, und die Winderhitzer, der Schrägaufzug und das Windenhaus

ebenso wie das Gießhaus für den ersten Hochofen sind im Bau. Die Montage

des zweiten Hochofens ersieht man aus Abbildung 14.

Neben dem eigenen Verbrauch zur Aufheizung der Winderhitzer wird das

Gichtgas auch zur Beheizung der Koksofenbatterien und im Kraft"'erk zur

Beheizung der Kessel verwendet. Den für die Hochofenanlage erforderli­

chen Gebläsewind liefern Dampfturbinengebläse, welche in dem von der

Firma Siemens-Schuckert-Werke erbauten Dampfkraftwerk aufgestellt werden.

Das Kraftwerk hat eine Leistung von 75 MW, die durch drei Turbogenera­

toren von je 25 MW erzeugt werden. Die Gesamtenergie, welche für den

Vollbetrieb des HüttenHerkes benötigt Hird, beträgt 125 MW. Die Differenz

zur Eigenerzeugung in Höhe von 50 MW wird durch das nahegelegene Wasser­

kraftHerk Hirakud sichergestellt.

In dem Dampfkraftwerk sind vier Hochdruckdampfkessel mit einer Kapazität

von je 125 - 150 t Dampf pro Stunde und einem Druck von 67 atü von den

Firmen Steinmüller und Babcock als Unterlieferanten der Firma Siemens­

Schuckert-Werke aufgestellt worden. Die Abbildung 15 zeigt Ausschnitte

aus der Montage des Kraftwerkes.

Es ist nun das Bestreben der indischen Regierung, möglichst schnell ein

verkaufsfähiges Produkt zu erzeugen. Deshalb wird die Fertigstellung der

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ersten Koksofenbatterien, des Kraftwerkes und des ersten Hochofens vor­

wärtsgetrieben, da mit diesem Teil,durch die Erzeugung von Roheisen, be­

reits das erste verkaufsfähige Produkt erzeugt werden kann. Wie bereits

erwähnt, sind zwei Koksofengruppen mit 70 Kammern, das ist ein Drittel

der Gesamtanlage, im September angeheizt worden und werden iQ den ersten

Dezembertagen den ersten Koks erzeugen. Das KraftFerk und der erste Hoch­

ofen werden voraussichtlich Ende Dezember bzw. im Januar 1959 so weit

fertig sein, daß sie den Betrieb aufnehmen k~nnen. Dieses Vorwärts treiben

des ersten Bauabschnittes bedeutet jedoch nicht, daß die anderen Anlagen

hinsichtlich ihrer Dringlichkeit in der Fertigstellung vernachlässigt

werden.

Der erste Siemens-Martin-Ofen des Stahlwerkes wird Mitte nächsten Jahres

in Betrieb genommen. Die Stahlerzeugung ist zu 75% auf Sauerstoff-Blas­

stahl nach dem LD-Verfahren und zu 25% auf SM-Stahl abgestellt. Die Er­

bauer des Stahlwerkes sind in Arbeitsgemeinschaft die Firmen Fried.Krupp

in Essen und die Vereinigten Österreichischen Stahlwerke (VOEST) in Linz.

Die Kapazität der vier SM-Öfen beträgt je 80 t, die drei Konvert.er haben

ein Fassungsverm~gen von je 40 t. Als Roheisenspeicher besitzt das Stahl­

werk zwei Mischer von je 1 100 t. Den Sauerstoff für das LD-Verfahren

liefert eine von der Firma Linde erbaute Anlage. Der Lieferanteil kommt

zu 50% aus England und zu 50% aus Deutschland. Die Montage des Stahlwer­

kes wird in den Abbildungen 16 und 17 gezeigt. Auch hier ist der große

Baufortschritt von April bis November 1958 zu erkennen.

Den gr~ßten Komplex auf der Baustelle bildet jedoch das Walzwerk. Es be­

steht aus:

1. einer 1200er Block- und Brammenstraße von der Firma Sack, Düsseldorf,

2. einer halbkontinuierlichen Breitbandstraße 66" mit zwei Vorgerüsten,

von denen eines reversierbar ist und sechs Fertig~erüsten sowie dazu­

geh~rigen Scherenanlagen und Bundwicklern von der Firma Demag, Duis­

burg,

3. einer 3,1 m Quarto-Grobblechstraße mit Stützwalzen von 1 500 mm

Ballendurchmesser und Arbeitswalzen von 1 000 mm Ballendurchmesser,

Lieferant Fried.Krupp, Essen.

Die Adjustageeinrichtung hinter der Grobblechstraße und hinter der Brei't­

bandstraße werden von der Firma Schloemann, Düsseldorf geliefert. Die

40 000 Tonnen Eisenkonstruktion, welche für die Hallen der Walzwerke

ben~tigt werden, liefert ein Consortium deutscher Stahlbaufirmen, beste­

hend aus den Firmen Demag AG., Duisburg; Fried.Krupp, Rheinhausen;

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Rheinstahl-Union-Brückenbau, Dortmund; C.H. Jucho, Dortmund; Hein Leh­

mann, Düsseldorf und Siegener AG. in Siegen. 42 Kräne werden für das

Walzwerk von den Firmen Krupp-Ardelt, Wilhelmshaven; Demag AG. in Duis­

burg und Kampnagel AG. in Hamburg beigestellt. Die Ofenanlagen des Warm­

\Valzwerkes werden von drei Firmen geliefert. Die Firma Westofen in Wies­

baden baut die Tiefofenanlage , die Firma OFU in Düsseldorf liefert d-ie

Stoßöfen und die Firma OFAG in Düsseldorf liefert einen Normalisierofen.

Die elektrischen Einrichtungen liefern die Firmen Siemens-Schuckert­

\Jerke in Erlangen und AEG in Berlin. Die Beleuchtung für das gesamte

Walzwerk ist bei der Firma BBC in Mannheim in Auftrag gegeben worden.

Das Kaltwalzwerk besteht aus je zwei Arbeits- und zwei Dressiergerüsten

von 1 700 und 1 200 mm Ballenlänge und soll Karosserie- und Weißbleche

herstellen. Der Lieferant der Durchlaufbeize ist die Firma Siemag in

Dahlbruch mit Unterlieferanten Dr. Otto Säurebau. Die Kaltwalzeinrich­

tungen werden von der Firma Siemag selbst geliefert, die elektrischen

Antriebe dazu von der Firma BBC in Mannheim und die Glüheinrichtungen

liefert die Firma Matthias Ludwig, Ofenbau, Essen. Die Verzinnungsanlage

für die Weißbleche im Kaltwalzwerk wird von der Firma Demag gebaut.

Die Walzendreh- und Walzenschleifbänke für das gesamte Walzwerk liefert

die Firma Waldrich in Siegen.

Abbildungen 18 und 19 geben Ihnen Aufschluß über den Fortgang der Bau­

und Montagearbeiten im Walzwerk.

Es werden wöchentlich 500 bis 700 t Stahlkonstruktion mit Mobilkranen

montiert. Dadurch ist auch dieser gewaltige Montagefortschritt in der

kurzen Zeit und bei den klimatischen Verhältnissen nur möglich.

Die Montage der Tiefofenhalle geht über die Tieföfen selbst him~eg. An

den Menschen, die unten in der Grube tätig sind, kann man die Ausmaße

der Hallen und Fundamente erkennen (Abo. 19).

Neben diesen Hauptanlagen gehört zum Betrieb eines Hüttemlerkes bekannt­

lich noch eine Unmenge von anderen Einrichtungen • U~ter diesen sind

die Transporteinrichtungen noch als wichtigste zu nennen. Das umfang­

reiche Eisenbahnnetz besteht aus rund 110 km Gleislänge und wurde von der

Indien-Gemeinschaft geplant und zum Teil mit indischen Schienen von den

Indern selbst verlegt. Die Kreuzungen und Weichen sowie ein Großteil des

rollenden Materials werden von der Firma Krupp geliefert.Außerdem ist die

Firma Brüninghaus, Hesthofen i.Westf. an der Waggonlieferung beteiligt.

Den Hauptanteil der Rohranlagen liefert die Firma Mannesmann-Rohr}eitungs-

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bau in Düsseldorf. Meß- und Regeleinrichtungen sind bei den Firmen

Siemens & Halske in Karlsruhe sowie bei Hartmann und Braun in Frankfurt

und Askania in Berlin bestellt worden. Es würde zu weit führen, sämtli­

che Firmen namentlich zu nennen, die am Aufbau des Hütten~·rerkes beteiligt

sind. Wir können nur eins sagen: daß 35 deutsche Großfirmen Direktauf­

träge mit einem F.O.B.-Lieferwert von 850 Mill. DM insgesamt abgeschlos­

sen haben. Mit Unterlieferanten sind ca. 3 000 bis 4 000 deutsche Fir­

men an der Lieferung für Rourkela beteiligt.

Abbildung 20 zeigt einen Stofflußplan. Hieraus ist zu ersehen, daß aus

rund 1,39 Mill. t Erz und rund 813 000 t Koks zusammen mit den anderen

Zuschlägen 918 000 t Roheisen erschmolzen werden. Dieses Roheisen wird

im Stahlwerk einschließlich des Umlaufschrotts aus dem Walzwerk zu

1 Mill. t Rohbrammen verarbeitet. Die Brammen werden im Walzwerk zu

720 000 t Fertigprodukten gewalzt, und zwar zu

200 000 t Grobblechen wovon 30 000 t auf der Breitbandstraße gefertigt werden

300 000 t Mittel- und Breitbandblechen in Form von Bunden

170 000 t Karosserie- und Feinblechen, sowie

50 000 t Weißblechen, diese werden im Kaltwalz­werk gefertigt.

Abbildung 21 zeigt, wie das Werk demnächst einmal nach der Fertigstel­

lung aussehen soll, und zWar mit Blick von der Hügelkette, welche das

Werk von der Stadt trennt. Links im Bild liegt die Kokerei und Kohlen­

wertstoffanlage, die Mitte wird von den drei Hochöfen, dem Kraftwerk

und dem Stahlwerk beherrscht. Rechts liegt der große Walzwerkskomplex,

davor die Reparatur1rerkstatt und eine Eisengießerei. Selir gut ist- auf

diesem Bild die Lösung des Transportproblems zu erkennen. Der Rohstoff­

transport führt in einer großen Schleife zu den Bunkeranlagen des Hoch­

ofenbetriebes und zu den Bunkeranlagen der Kalk- und Dolomitbrennerei,

ohne die übrigen Verkehrswege im Werk zu stören. Die Schrottzufuhr er­

folgt über einen Hochlauf direkt auf die Bühne des Stahlwerkes. Sehr

klar ersieht man auf dem Bild den Kreisverkehr rund um das Werk mit den

Anschlüssen zu den einzelnen Betrieben.

Zu der technischen Beratung, die, wie bereits oben geschildert, in der

Planung des Werkes, in der Auswahl der Rohstoffe und des Standortes,

in den Ausschreibungen, in der Hilfe bei der Auftragsvergabe sowie der

Abnahme der zu liefernden Einrichtungen beim Hersteller, besteht, gehört

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auch die Bauaufsicht auf der Baustelle. Ein Resident Engineer mit einem

Stab von deutschen und indischen Mitarbeitern beaufsichtigt auf der Bau­

stelle den Fortgang der Bau- und Montagearbeiten.

Zum Bau des Werkes gehört auch der Ausbau einer entsprechend großen Wohn­

siedlung. Die Stadt Rourkela liegt vom Werk 6 - 7 km entfernt, und zwar,

wie bereits erwähnt, zwischen einer Hügelkette und dem Koel-Fluß. Sie

i~rde im Rahmen des Beratungsvertrages von der Indien-Gemeinschaft zu­

sammen mit dem Kruppschen Kleinwohnungsbau für 100 000 Einwohner geplant.

Der Gedanke der räumlichen Trennung von der Arbeitsstätte war für die

Wahl der Lage des 12 km2 großen Geländes ausschlaggebend. Das Verkehrs­

problem wurde durch den Bau einer Ringstraße mit Anschlüssen an die zwan­

zig Wohnbezirke gut gelöst. Fünf verschiedene Typen von Einfamilien­

häusern mit Gärten werden bevorzugt gebaut. Insgesamt werden 7 500 Häuser,

von denen bereits 2 300 fertig sind und 4 000 sich im Bau befinden, er­

stellt. Monatlich werden 100 - 150 Häuser bezugsfertig. Im Zentrum der

Stadt befinden sich die Verwaltungs- und Geschäftshäuser. Aus der Menge

der Häuser ragen das Fitters Hostel, in deo die Monteure zur Zeit unter­

gebracht sind, sowie die Gebäude des deutschen und indischen Kranken­

hauses hervor. Zur Zeit leben etwa 800 bis 1 000 Deutsche teilweise mit

ihren Familien in Rourkela. Abbildung 22 zeigt einige Bungalows mit

Grünanlagen. Die Abbildung 23 zeigt das sogenannte Fitters Hostel, im

Hintergrund ist die Hügelkette zu sehen. Dort wurde im Härz 1957 noch

der letzte in Freiheit lebende Bär getötet.

Mit diesen Ausführungen und den gezeigten Bildern hoffe ich, einen Über­

blick über den deutschen Einsatz in den letzten Jahren sowohl auf der

Baustelle als auch in der Stadt Rourkela gegeben zu haben. Die Beratung

wäre aber nicht vollständig, wenn sie nicht auch die Ausbildung von

Führungskräften und Arbeitern umfassen würde. Seit 1954 sind bisher in

ein- bzw. mehrjährigen Programmen jüngere und auch bereits erfahrene

ältere indische Ingenieure in Deutschland mit den modernsten Arbeitsme­

thoden vertraut gemacht worden. In den nächsten Monaten werden weitere

Führungskräfte in Deutschland erwartet, welche als Vorarbeiter und erste

Leute im Hüttenv7erk Rourkela arbeiten sollen. Insgesamt sollen 250 bis

300 indische Ingenieure und Facharbeiter in Deutschland ausgebildet

werden.

Es wurde bereits gesagt, daß die F.O.B.-Kosten der deutschen Lieferungen

für das Hüttem.rerk Rourkela sich auf 850 Mill. DM belaufen. Die Montage­

beträge belaufen sich zusätzlich auf 110 Mill. DM. Die Gesamtkosten

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werden auf ca. 1,5 Mrd. DM geschätzt. Sie liegen durchaus im Rahmen, da

für Werke in dieser Größe 350 bis 400 $ pro Jato (Tonnen pro Jahr) Roh­

stahl als Investitionskosten in Ansatz zu bringen sind. Für die Finan­

zierung dieses Objektes allein hat die deutsche Regierung einen Kredit

von 660 Mill. DM für drei Jahre zur Verfügung gestellt. Für andere Ob­

jekte des zweiten Fünfjahresplanes hat der Vizekanzler, Herr Prof.Erhard,

bei seinem kürzlichen Besuch in Indien die Möglichkeit eines weiteren

deutschen Kredites in Höhe von 100 Mill. t in Aussicht gestellt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Deutschland durch das zur Ver­

fügung gestellte technische Wissen, durch den Einsat.z fast der gesamten

Fertigungsindustrie für die Herstellung und Montage des Hüttenwerkes und

seiner Einrichtungen, durch die Ausbildung von Ingenieuren und Arbeitern

für das Hütten1"erk Rourkela und anderer Objekte und nicht zuletzt durch

die Gewährung von Krediten an der Erfüllung des zHeiten indischen Fünf­

jahresplanes und damit zur Hebung des Lebensstandards des gesamten uns

befreundeten indischen Volkes einen wesentlichen Beitrag leistet.

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Transportprobleme beim Bau des Hüttenwerkes Rourkela

Von A. TOPPE, Geschäftsführer der Indien-Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH

Mit dem Begriff "Problem" ist im allgemeinen eine Fragestellung verbun­

den, auf die eine genaue , hierauf bezogene Anhlort verlangt wird und mit

dem sich fast immer die Vorstellung von Schwierigkeiten verschiedener

Arten und Grade verbindet. In dem Maße, in welchem diese überwunden wer­

den, wird das Problem einer Lösung näher geführt. Unter Zeitdruck stehend,

muß häufig das empirische Verfahren teilweise übersprungen und nach

weiteren Mitteln und Wegen für Lösungen gesucht werden. Solche liegen

hier im Bereich der Improvisationen und des Mutes zum kühnen Wagen,

fußend auf sorgfältigem Abwägen und auf dem festen Willen, die Aufgabe

zu meistern.

Wenn im folgenden von den 1~esentlichen Schwierigkeiten als dem Problem

schlechthin gesprochen wird, die unsere indischen Freunde und wir ein­

zeln und beide gemeinsam hier und drüben auf dem Gebiete des Transportes

zu überwinden hatten und noch haben werden, so sind das Feststellungen

von Tatsachen, frei von jeder kritischen Wertung.

Worin besteht nun das Hauptproblem? Einfach darin, daß in einem Zeit­

raum von zweieinhalb bis drei Jahren ein Transportvolumen von ca.350 000 t

Anlagenmaterial und ca. 6 000 t 110ntagegerät von Europa nach Rourkela

auf die Baustelle befördert werden muß. Dazu sind aus Indien selbst noch

ca. 250 000 bis 300 000 t Bau- und Zuschlagstoffe auf der Schiene nach

Rourkela zu bewegen. Somit stellt sich das Gesamtvolumen auf ca. 600 000 t.

Erhöhungen, die sich erfahrungsgemäß bei jedem Neubau ergeben, können

bis zu 10% eintreten. Innerhalb dieses Problems ist die Aufgabe zu lösen,

das Anlagenmaterial im einzelnen so auf den langen Weg zu bringen, daß

es möglichst ohne Zwischenlagerung zur Montage rechtzeitig auf der Bau­

stelle eintrifft. Somit stehen Abgang und Empfang in engster Wechselbe­

ziehung. Hieraus folgt, daß der zur Verfügung stehende Transportraum

jeweils anteilmäßig so ausgenutzt werden muß, daß alle Lieferfirmen in

die Lage versetzt werden, ihre vertraglichen Verpflichtungen zeitlich

sowie art- und mengenmäßig erfüllen zu können.

Ein weiteres Problem liegt in dem Tr~nsport von überdimensionierten und

Schwerstgütern. Der Abtransport aus Europa einschließlich Schiffsverla­

dung bereitet im allgemeinen keine besonderen Schwierigkeiten. Dagegen

mußten für Indien Vorkehrungen getroffen werden, die bei einem ausrei­

chenden Grad von Transportsicherheit, unter Berücksichtigung von Art und

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Anzahl der vorhandenen Spezialfahrzeuge sowie unter Beachtung der indi­

schen Bestimmungen für Eisenbahntransporte, die Durchführung sicher­

stellen. Für 284 einzelne Werkstückarten mit insgesamt 1171 Einzelstücken

mußten in sehr mühseliger Kleinarbeit für jede Stückart die Transport­

genehmigung für Profilüberschreitungen bei mehreren indischen Dienststel­

len eingeholt werden. Hierbei m5ge nicht unerwähnt bleiben, daß erst vbr

kurzer Zeit das metrische System eingeführt wurde. Bis dahin waren durch

das Umrechnen auf den verschiedenen Bearbeiterebenen Fehlerquellen nie

zu vermeiden gewesen. Rückfragen und Verz5gerungen sind dann die nicht

angenehmen Folgen. Die große Anzahl der zu prüfenden Anträge erforderte

ein für alle Firmen verbindliches Meldesystem mit entsprechenden Unter­

lagen, die von der Indien-Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH. zusammengestellt

und über die Hindustan Steel Private Ltd. - abgekürzt HSPL - an die be­

troffenen indischen Eisenbahngesellschaften, nicht eine, sondern mehrere,

weitergeleitet wurden. In umgekehrter Reihenfolge waren die Firmen über

die von den Eisenbahngesellschaften ausgesprochenen Genehmigungen zu

unterrichten. In einigen Ausnahmefällen ergaben sich dabei Schwierigkei­

ten, die entweder durch Umbau von Spezialwagen, Konstruktionsänderungen

des betreffenden Werkstückes, Zerlegen des Gesamtstückes, soweit dies

vom technischen Standpunkt vertretbar war, oder durch andere Hilfsmaß­

nahmen behoben werden konnten.

Der Transport von Schwerstgütern, wie z.B. den Walzenständern mit einem

Eigengewicht von 125 - 165 t, bildete ein ganz besonderes Problem, das

erst durch einen eigens hierfür gelieferten Tieflader behoben werden

konnte.

Die Abbildung 1 zeigt einen solchen Walzenständer bei Übernahme an Bord

in Bremen mit schiffseigenem Ladegeschirr. Zu beachten ist die Neigung

des Schiffes beim Anheben der schiJeren Last von dem Tieflader der Bundes­

bahn. Es gilt, den Walzenständer so im Laderaum zu verstauen, daß der

SchHerpunkt m5glichst tief liegt.

Bisher sind ca. 1 000 Stück an überdimensionierten und Schwerstgütern

in Indien angekommen und werden laufend auf die Baustelle weiterbef5r­

dert. Mit dem Abtransport der SchHerstgüter über 40 bis 165 t Einzelge­

wicht wurde im Oktober begonnen.

Neben den Problemen der überdimensionierten und Schwerstgüter sind die

klimatischen Bedingungen des Landes zu berücksichtigen, wobei der in den

11:onaten Mai bis September auftretende Monsun eine entscheidende Rolle

spielt. Hierdurch können Transportverzögerungen oder gar Unterbrechungen

en.:tstehen.

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So wurde während des letzten Monsuns die einzige Eisenbahnbrücke am Ein­

gang zum Werksgelände unterspült und fortgerissen (Abb. 2), womit die

Zulieferung zum Werk um knapp zwei Wochen unterbrochen wurde. Eine andere

Verbindung in das Werksgelände bestand zu der damaligen Zeit noch nicht.

Bezüglich der Empfindlichkeitsgrade des zu befördernden Materials schäl­

ten sich drei Kategorien heraus, nämlich:

1. Unempfindliches Material wie z.B. Stahlkonstrtlktionen, unbearbeitete

bzw. grobbearbeitete Gußteile, Behälter ohne Ventile, Rohrleitungen,

Kabel und Schwungräder,

2. empfindliches Material wie z.B. Getriebe, bearbeitete Maschinenteile,

Elektromotore, Lager und Walzen und

3. hochempfindliches Material, wie beispielsweise Gleichrichter, Schalt­

schränke, Meß- und Regelanlagen.

Abgesehen von der in aller Welt praktizierten see- und tropenfesten Ver­

packung, durch die im allgemeinen ein Schutz bis zu sechs Monaten gewähr­

leistet ist, mußte im Hinblick auf die Möglichkeit einer längeren Trans­

portdauer besonders für hochempfindliche Güter eine gewisse Konservierung

erwogen werden. Für solche Teile bietet das sogenannte Einspinnen eine

besonders gute Sicherheit. Dieses Verfahren besteht darin, daß die zu

verpackenden Teile nach Abpolsterung scharfer Kanten mit einer Flüssig­

keit bespritzt werden, die an der Luft sofort zu einem zähen Gewebe er­

starrt und nach mehrmaligem Spritzen eine nahezu gasundurchlässige Haut

bildet. Diese Kokonhaut ist unempfindlich gegen aggressive Bestandteile

der umgebenden Atmosphäre und ist stoß- und Bchlagfest, sofern nicht

Eindrücke mit spitzen Gegenständen erfolgen. Gegenüber den einfachen

Korrosionsschutzmitteln ist das Kokonverfahren mit 1Veit größeren Aus­

gaben verbunden.

Von dem Transportgut her darf der Blick nur auf die Transport1Vege und

-zeiten gerichtet werden. Während der Suezkrise gingen die Transporte um

das Kap der Guten Hoffnung. Die durchschnittliche Reisedauer betrug hier

etwa vier Monate. Nach der Krise erfolgte die Verschiffung wieder durch

den Suezkanal, wodurch eine erhebliche Verkürzung des Seeweges und eine

Reduzierung der Reisedauer auf durchschnittlich zwei Monate erreicht

wurde, bezogen auf Calcutta. Für Schnell transporte von Einzelstücken

mit geringem Gewicht wurde außerdem der Passagierdienst von Genua bzw.

Triest nach Bombay vorgesehen, wobei die Reisedauer mit ungefähr z'''ei

bis drei Wochen nach den bisherigen Erfahrungen in AnsaMI zu bringen ist.

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Und letzten Endes ist der Lufttransport zu erwähnen. Jedoch kommt er, da

mit erheblichen oder sogar sehr beträchtlichen Kosten verbunden, nur in

ganz dringenden Fällen in Frage, wie z.B. für eilige Ersatzlieferungen

oder wichtige Einzelteile, von deren rechtzeitigem Eintreffen auf der

Baustelle die Inbetriebnahme einer Anlage abhängig sein kann. Grundsätz­

lich hat man sich in Indien für den Hafen Calcutta als für die Anlandung

des Anlagenmaterials entschieden, und zwar für die beiden Werke Rourkela

und Durgapur. Aber auch die für das- Werk Bhilai bestimmten Schwerstgüter

werden über Calcutta geleitet. Der kürzere Eisenbahnweg vom Hafen Cal­

cutta zum Standort der Werke hat dabei den Ausschlag gegeben, da Bombay

etwa 1 000 km entfernt ist. Die Entfernung zwischen Calcutta und Rourkela

beträgt insgesamt 277 Meilen. Die Strecke war bisher an mehreren Stellen

eingleisig. Der Ausbau im Rahmen des zweiten Fünfjahresplanes ist jetzt

so weit gediehen, daß nur noch das Teilstück zwischen Tatanagar und

Khargpur mit etwa 100 Meilen eingleisig ist. Die Planung ist fertig,

und mit dem Ausbau dieser Strecke wurde begonnen.

Bei der Betrachtung der überdimensionierten und der Schwerstgüter wurden

bereits die Transportmittel erwähnt. Hier stellen die Spezialwaggons in

Indien nach Verfügbarkeit und Art einen Engpaß dar. Für den Transport

einzelner Werkstücke wie z.B. einiger Walzenständer (Abb. 1), die keines­

falls zerlegt werden konnten, war in Indien kein Eisenbahnfahrzeug vor­

handen. Daher mußte wenigstens ein besonderer Tieflader für ein Nutzlast­

gewicht von 180 t beschafft werden. Die Firma Fried.Krupp lieferte

dieses Fahrzeug, das seit Mitte des Jahres als bisher einziges seiner

Art in Indien, und wahrscheinlich sogar in ganz Asien, eingesetzt ist.

Einige Daten mögen hierbei vielleicht interessieren. Die Gesamtlänge be­

trägt 34,9 m, das Eigengewicht 77,3 t, die Tragebrücke allein ist 22,1 m

lang und die Tragfähigkeit, wie schon gesagt, 180 t, mit zwei ZWischen­

brücken zu je zwei Laufwerken mit drei- bzw. vierachsigem Drehgestell,

also insgesamt vierzehn Achsen. Der Wagen wurde in Bremen mit einem dort

stationierten Schwimmkran als Decklast auf den Dampfer "Indian Trader"

nach Calcutta verladen.

Abb~ldung 3 zeigt einen moderne~ Schiffstyp der Hansa-Linie, der durch

die neuartige Anordnung seiner besonders tragfähigen Ladebäume unabhängig

ist von örtlichen Hafenkranen und daher für den Transport von Schwerst­

gütern nach Calcutta besonders geeignet ist.

Es wurde eingangs von den Wechselbeziehungen zwischen Abgang aus Europa

und Empfang auf der Baustelle gesprochen. Hierin liegt bei Entfernungen

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von über 8 000 km selbst bei Planung und Durchführung in einer Hand

schon eine erhebliche Problematik. Diese vergrößert sich zwangsläufig,

wenn, wie im vorliegenden Fall Rourkela, die Bereiche getrennt sind,

d.h. bis einschließlich Lieferung auf das Schiff die deutsche, von da ab

bis zur Baustelle die indische Seite und ab Übernahme auf der Baustelle

die deutsche Montagefirma verantwortlich ist. Es wird hierdurch verständ­

lich, daß die Probleme der notl'endigen Koordinierung und Regulierung,

die von der Indien-Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH. zu lösen sind, den

materiellen, regionalen und menschlichen Bereich treffen. Unsere indi­

schen Freunde haben das Vertrauen zu uns, daß wir von hier die Kraft­

quelle so speisen, wie es die Kraftäußerung, d.h. die Montage auf der

Baustelle erfordert. Wir wiederum mußten uns mit den Verhältnissen und

Gegebenheiten in Indien so vertraut und uns diese so 2U eigen machen,

daß ein möglichst genauer, gemeinsamer Nenner erreicht wurde. Das konnte

natürlich nicht mit dem Rechenschieber geschehen, sondern nur durch

ständige, gegenseitige Abstimmung und intensive Zusammenarbeit. Ein

Schema hierfür gibt es nicht. Imponderabilien treten immer auf, die je

nach ihrer Eigenart aufgelöst werden müssen. Daher wuchs diese Aufgabe

von Anbeginn tiber den einfachen wenn auch schwierigen Rahmen des reinen

Versandes hinaus, weil fast wöchentlich und monatlich auf Grund verän­

derter neuer Lagen gemeinsam Dispositionen getroffen werden mußten und

vielleicht noch müssen.

Damit kommen wir in den Bereich der dem Versand übergeordneten Trans­

portführung. Die Zusammenarbeit der einzelnen Stellen spielt sich wie

folgt ab: Aufgabe der Indien-Gemeinschaft ist es, die technische Abnahme

des Materials durchzuführen, ferner die Grundlage für die Errechnung des

benötigten Schiffsraumes, den Tonnagebedarf der Firmen, zusammenzustel­

len, und zWar im groben im voraus ftir ein Jahr und in der Feineinstellung

für vier Monate, um die nötigen Buchungen dann auf dem Schiffsmarkt

durchführen zu können. Die Koordinierung der Transporte ist eine beson­

ders schwierige Aufgabe und richtet sich selbstverständlich nach den Be­

dürfnissen der Montage auf der Baustelle, wobei betont Herden darf, daß

bei den Entfernungen und den Laufzeiten der Schiffe selbstverständlich

eine heute gefällte Entscheidung sich auf der Baustelle erst in vier bis

fünf Monaten richtig oder falsch auswirkt. Daher ist Planung und Orga­

nisation mit 1Jeit vorausschauendem Blick ein erstes und dringendes Er­

fordernis gewesen. Aufgabe der High Commission in London, einer Stelle

der Hindustan Steel Private Ltd. und der indischen Regierung ist es,

durch die von ihr beauftragte Seespeditionsfirma in Deutschland, als

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Shipping Agent bezeichnet, den Schiffs transport im großen bereitzustel­

len, die Tonnage im einzelnen zu buchen und den Abgang des Materials aus

Europa zu überwachen, d.h. festzustellen, daß es tatsächlich abgegangen

ist. Aufgabe der Hindustan Steel Private Ltd. ist es, die in Indien ein­

treffenden Waren im Hafen zu löschen, sowie den Umschlag in Calcutta

und den Weitertransport nach Rourkela bis zum Montageplatz zu veranlas­

sen. Hierzu stehen der HSPL verschiedene Speditionsfirmen in Calcutta

sowie von seiten unseres Resident Engineers und der Firmen Transportbe­

rater in Calcutta und Rourkela zur Verfügung. Die Verantwortung der

HSPL beginnt mit der Übernahme der Ware im Schiff; auch die Seetrans­

portversicherung fällt in ihre Zuständigkeit.

Eine horizontale Gliederung mit verschiedenen, eigenständigen Verant­

wortungsbereichen enthält meistens von Haus aus schon einige Schwierig­

keiten. Diese zu überwinden, verlangt eine besonders enge Zusammenarbeit

aller beteiligten Stellen und erfordert ein hohes Maß an gegenseitigem

Einfühlungsvermögen.

INDIAN RA/LWAYS ROUTE COlcvllO _ Rovrk. IO

-<i R,.~r Hooghll~ D. lto w, rh Sondh,ods

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Die Eisenbahnlinie von Calcutta nach Rourkela führt über Rourkela hinaus

nach Bombay (Abb. 4). Von dieser Bahnlinie führte, bei Rourkela abzwei­

gend, bisher nur ein einziges Stichgleis zur Baustelle, dessen Unterbre­

chung während des letzten Monsuns bereits erwähnt worden ist (Abb. 2).

Das Vorhandensein eines einzigen Stichgleises War natürlich ein

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unhaltbarer Zustand, der dem zu beHältigen Transportvolumen nicht ge­

wachsen sein konnte.

Es war daher von Anfang an geplant, für Rourkela einen eigenen Verschiebe­

bahnhof zu bauen, der über Bondamunda mit der Hauptstrecke verbunden

werden sollte. Das ist inzwischen in diesem Sommer geschehen. Die jetzt

in Betrieb genommenen Gleisanlagen erlauben unabhängig vom Bahnhof

Rourkela eine Zusammenstellung und Aufgliederung der Züge. Es ist hier­

bei zu berücksichtigen, daß neben den noch &nzufahrenden Anlagenteilen

die Rohmaterialbevorratung des Werkes jetzt anläuft.

Noch ein Blick auf den Hafen Calcutta (Abb. 5). Als wesentliche Anlagen

sind hier zu erwähnen das King George Dock mit dem im August vergangenen

Jahres in Betrieb genommenen stationären Zweihundert-Tonnen-Hammerkran der

Firma Jucho.Einen Schwimmkran mit dieser Leistung gibt es in Calcutta nicht

Dieses Dock dient vornehmlich dem Umschlag der Sch",erstgüter der drei

\verke Rourkela, Durgapur und Bhilai. Dementsprechend uird man das Vor­

recht des Lösehens und Abtransportes von übergeordneter Warte aus zu

bestimmen haben. Die beiden Kidderpur-Docks, die ausgedehnte Lösch- und

Liegeplätze haben, dienen dem Umschlag der übrigen Güter. Die indische

Regierung ist sich angesichts der industriellen Entwicklung ihres Landes

darüber im klaren, daß für fast alle Häfen Erweiterungen und Verbesse­

rungen erforderlich sind. Der indische Transportminister sagte in diesem

Zusammenhang unlängst in Madras, daß man beabsichtige, geeignetes Gelände

für einen zweiten Uberseehafen in der Nähe von Calcutta zu suchen, offen­

bar in der Erkenntnis, daß selbst ein Ausbau der vorhandenen Anlagen

den noch steigenden Anforderungen nicht geHachsen sein wird und auch

wahrscheinlich viel teurer ist, als wenn man neu und ganz modern baut.

Aber auch auf der Baustelle selbst sind noch Transportprobleme, und zwar

solche des Abladens und der Umfuhr auf dem Gelände zu oewältigen. Man

bedient sich ausrangierter Fahrgestelle ehemaliger Personenwagen als

einer Improvisation, um beispielsweise Konstruktionsteile innerhalb des

Werksgeländes zu den 110ntageplätzen usw. zu bringen. \Viederum verfügt

die HSPL auch über moderne Hilfsmittel wie Vierzig-Tonnen-Eisenbahnkrane,

die besonders dort notwendig sind und überall eingesetzt werden, wo man

anfangs noch nicht über die erforderlichen Hallenkrane verfügte.

Während des Monsuns sind die meisten Wege auf der Baustelle, so weit sie

nicht schon befestigt sind, so grundlos, daß auch die LKW-Transporte

selbst mit geringer Ladung zum Problem werden können. Wer außerhalb der

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Wege im Gelände zu tun hat, fährt zweckmäßigerweise mit einem Jeep, der

sich auch in Rourkela wieder als besonders tüchtig erwiesen hat.

Wenn heute schon eine Zwischenbilanz über die tatsächliche Lösung der

Probleme erlaubt ist, so darf dies mit der Feststellung geschehen, daß

es den gemeinsamen Anstrengungen aller beteiligten indischen und deut­

schen Stellen gelungen ist, innerhalb der vergangenen 20 Monate rund

80% des Anlagenmaterials von Europa nach Indien abzutransportieren. Da­

mit ist trotz aller Transportschwierigkeiten - von denen manche auch

nach Erledigung dieser Aufgabe noch weiterbestehen werden, wie z.B. die

klimatischen Einflüsse, die Leistungsfähigkeit des Hafens von Calcutta

und et'~aige Hafenstreiks - der Abtransport nach Rourkela im allgemeinen

flüssig, wenn auch nicht regelmäßig abgelaufen. Noch ist die Aufgabe

nicht bewältigt. Lange Transportwege sind immer anfällig gegen alle mög­

lichen EinHirkungen, die niemand vorausahnen kann. Wir können jedoch

mit der Feststellung schließen, daß alle bisher notwendigen 11aterialien

auf der Baustelle bzw. in Calcutta eingetroffen sind, deren Fertigmon­

tage uns den schönen Tag gemeinsam erleben läßt, an welchem das erste

Roheisen in Rourkela fließen wird.

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Die Entwicklung der technischen Zusammenarbeit auf dem Gebiete des

Lokomotivbaues zwischen Tata Locomotive & Engineering Company,Jamshedpur

und Krauss-Maffei AG. München

Von Dipl.-Ing. P.H. von MITTLERWALLNER, Vorstandsmi=tglied der Krauss-l-1affei AG.

Bevor ich auf das eigentliche Thema meines Vortrages eingehe, möchte ich

als Einführung einige Probleme Indiens streifen - selbst auf die Gefahr

hin, daß diese Themen schon in anderem Zusammenhang in den Aachen~r Vor­

trägen behandelt wurdena

Zur politischen und wirtschaftlichen Situation Indiens

Indien, eine der ältesten Kulturnationen der Welt; Indien, fast so groß

wie Europa ohne Rußland, mit ca. 15 000 km Landesgrenze gegenüber West­

pakistan, Tibet, China, Burma und schließlich Ostpakistan, mit fünfein­

halbtausend Kilometer Seeküste; Indien, im Norden abgeschirmt durch den

Himalaja mit fast 2 000 km Länge von Gebirgszügen zwischen dem Indus im

Westen und dem Brahmaputra im Osten und südlich dieser Himalajak~tte

parallel dazu das fruchtbare Tal, durchzogen vom Ganges. Indien, mit

380 Millionen - weit mehr als Rußland - nach China mit 650 Millionen das

Land mit der zweitgrößten Bevölkerungszahl , liegt praktisch z1..rischen

China und Rußland. Es ist daher verständlich, daß der große Prime Mini­

ster Pandit NEHRU sich nicht nur nach der westlichen Politik ausrichten

kann, sondern auch auf seine asiatischen großen Nachbarvölker aus poli­

tischen, nationalen und wirtschaftlichen Gründen Rücksicht nehmen muß.

Das indische Volk, beseelt von einem gesunden Nationalgefühl, bemühte

sich seit Jahrzehnten um seine Freiheit; gerade als Großbritannien als

Sieger aus dem Z,..rei ten Weltkrieg hervorging, zog sich diese Großmacht

England aus Indien zurück. Dadurch blieb im indischen Volk keine Bitter­

nis gegenüber England zurück. Durch die Teilung Indi'ens und Pakistans

im Jahre 1948 verlor Indien dabei reiches Land im Westen und Osten mit

fast 80 Millionen Menschen an Pakistan. So wurde am 26.Januar 1950

Indien als souveräner Staatenbund ausgerufen. Aus den großen wirtschaft­

lichen Problemen greife ich heraus:

1. Die Bevölkerungsfrage und den hohen Geburtenüberschuß,

die Ernährung dieser Menschen und das Problem, für ltillionen von

Menschen neue Arbeitsplätze zu schaffen.

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2. Die Intensivierung der Landwirtschaft, um dieses große Volk möglichst

aus eigenen Kräften und unabhängig von den Witterungseinflüssen zu

ernähren.

Die Wasserkraft- und Bewässerungsfrage, einerseits, um Kraftwerke zu

erstellen und zum anderen, um die Felder zu bewässern.

3. Die Industrialisierung, um sich von den bisher notHendigen devisen­

verschlingenden Importen von Maschinen und Investitionsgütern mög­

lichst freizumachen und schließlich

4. das Transportproblem.

Dieses vierte Problem führt uns direkt zn dem Thema meines Vortrages:

Die Bedeutung des Transportproblems, vor allem auf der Schiene, aber

auch auf der Straße, zu Wasser und in der Luft, geht aus den Planungen

des ersten und zweiten Fünfjahresplanes der Indischen Regierung klar

hervor:

Wenn man schon im ersten Fünfjahresplan fast ein Viertel für "Transport

und Communications" verwendete, wurde der Transportposten in der Planung

des zweiten Fünfjahresplanes fast verdreifacht, mit ca. 15 Mrd.Rupees,

im Gesamtplan von 48 Mrd. Rupees (1 Rp. = 0,88 DM). So hat die indische

Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg weit über tausend Lokomotiven aus

dem Ausland eingeführt, um überalterte Lokomotiven außer Dienst zu

stellen und die notwendige Verdichtung, vor allem des Güterverkehrs, zu

fördern.

Es ist daher um so verständlicher, daß der Railway Board der indischen

Regierung mit seinem Sitz in New Delhi und mit seinem Central Standard

Office in Chi tt.aranjan immer seine größte Aufmerksamkeit dem Bau von

Waggons und Lokomotiven im Lande schenkte. Da keine Werksanlagen für den

Lokbau zur Verfügung standen, mußte eine vorhandene Waggonfabrik erwei­

tert und eine neue Lokomotivfabrik erbaut werden. Die Fabriken mußten

aber auch mit Maschinen, zumeist aus dem Ausland, eingeric·htet werden,

und der Railway Board war sich klar darüber, daß diese Fabriken für

einen schnellen und wirtschaftlichen Anlauf Berater benötigen, sei es

an Ingenieuren, sei es an Facharbeitern und sei es schließlich die Kon­

struktion und den Bau von Lokomotiven betreffend.

Ich begab mich aus freiem Entschluß, wohl als einer der ersten Deutschen

nach dem Zweiten Weltkrieg, im Herbst 1948 nach Indien - man vergesse

nicht: zu einer Zeit, in welcher durch die damalige USA-Militärregierung

noch Enbricklungs- und Bauverbot für Lokomotiven jeder Art bestand!

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Wir durften nur Lok-Reparaturen betreiben. Allein auf mich als Ingenieur

gestellt, ohne Devisen, ohne diplomatische Vertretung, als Deutscher nach

dem Zweiten Weltkrieg mehr oder minder diskriminiert, war dies eine mei­

ner schwierigsten Aufgaben. Ich erhielt in Indien in wenigen Wochen Ein­

blick in das Eisenbahnwesen, insbesondere in das Lokomotivbeschaffungs­

programm. Es war klar zu erkennen, daß es hier große Arbeit zu vollbrin­

gen hieß. Ich schlug der indischen Regierung - in Verbindung mit einem

großen Lokomot~vauftrag - für den Anlauf und für den Ausbau einer natio­

nalen Lokomotivfabrik ein technisches Hilfsabkommen vor, wobei wir uns

bereit erklärten, unsere Erfahrungen im Lokomotivbau zur Verfügung zu

stellen, technische Spezialisten zur Unterstützung nach Indien zu ent­

senden und indisches Personal in Deutschland anzulernen - um so mehr,

als wir auf über hundertjährige Erfahrung im Lokomotivbau zurückblicken.

Ich erfuhr erst später, daß Berater aus anderen Ländern einen solchen

Plan nicht guthießen und dem Railway Board sogar abrieten, Lokomotiven

in Indien zu bauen, indem sie auf die großen Schwierigkeiten in der

Materialbeschaffung und auf die Notwendigkeit, über geschultes Personal

zu verfügen, hinwiesen. Ich machte dem Railway Board hingegen positive

Vorschläge für _diese Zusammenarbeit. Auf Einladung des damaligen Chief

Commissioner des Railway Boards wurde ich zu Weihnachten unter Beglei­

tung eines Generaldirektors der Bahnverwaltung und einiger Ingenieure

mit einem Salonwagen von Calcutta nach Asansol gebracht. Von dort ging

es mit dem Auto ' ... ei ter auf eine große, leicht hügelige Steppe, wo die

ersten Spatenstiche für den Bau des staatlichen Lokomotivwerkes bereits

getan waren.

Am 6.Januar 1949 konnte mit dem Railway Board der indischen Regierung

ein Vertragsentwurf unterzeichnet 1~erden, der diese Zusammenarbeit fest­

legte. Die erste Reaktion in der Heimat bestand aus Bedenken; auch in

Industriekreisen wurde mit Besorgnis befürchtet, daß die doutsche Loko­

motivindustrie damit Risiken einginge und die zukünftigenLokomotiv-Ex­

portgeschäfte gefährde. Ein solcher Vertrag wurde jedoch einige Monate

später aus politischen Gründen nicht mit uns, sondern mit einer engli­

schen Lokfabrik abgeschlossen.

So wurde die staatliche Lokomotivfabrik, bei Gründung unter dem Namen

Mihijam, später mit dem Namen Chittaranjan, aufgebaut und zu einer der

größten und besteingerichteten Lokomotivfabriken entwickelt. Man darf

sagen, daß die damals fast kühnen Planungen schnell und \drtschaftlich

erfüllt wurden.

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Der Gedanke an diesen Plan der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und

Indien ließ uns jedoch nicht ruhen. Schon ein halbes Jahr später lernte

ich J.R.D. TATA, den Chairman des größten indischen Industriekonzerns,

kennen, einen Mann, den ich im Laufe der Jahre näher kennen und schätzen

lernen durfte. Wer jemals Indien bereist hat, kennt den Namen TATA von

seinen großen Leistungen her, die Industrialisierung betreffend, mit

seiner besonderen Liebe für soziale Wohlfahrt und Hilfsbereitschaft für

seine Arbeiter und Angestellten. Er ist auch der Chef des bekannten,

bisher größten Stahlwerkes, der Tisco-\lerke in Jamshedpur, die in diesem

Jahr noch einen Ausstoß von 1,5 Mill. t Stahl erreichen. Im Tata-Konzern

arbeiten heute ca. 135 000 Menschen in mehreren l~schinenfabriken, in

chemischen- und Textil-Fabriken, in Wasserkraftwerken, in der Öl- und

Seifen-Industrie. Tata betreibt Forschungsinstitute und Laboratorien in

Indien, mehrere große Hotels, wie z.B. das bekannte TAJ MAHAL in Bombay

und schließlich gehören caritative Einrichrungen und Hospitäler zu dem

Konzern.

Mr. J.R.D. TATA war der erste Pionier der Luftfahrt mit der Pilot-Licence

Nummer 1, er hat seinerzeit die nationalen und internationalen Luftlinien

der Air India ins Leben gerufen und sie zu leistungsfähigen Luftlinien

mit internationalem Ruf gestaltet.

Im Sommer 1950 gelang es, mit Tata Industries Limited - mit Zustimmung

der indischen Regierung - ein Technical Help Agreement für den Bau von

Dampflokomotiven abzuschließen. Für die Fertigung von Lokomotiven wurde

die frühere Waggonfabrik bestimmt, mit dem Namen Tata Locomotive and

Engineering Company Jamshedpur (TELCO), in der gleichen Stadt, ca. 150

11eilen westlich von Calcutta, in der sich die Tisco-Stahlwerke befinden.

tlelche Gründe be,·regten beide Vertragspartner, so ein "Technical Help

Agreement" zwischen einer indischen und einer deutschen Privat fabrik

abzuschließen?

Die indischen Interessen liegen auf der Imnd:

Wie schon eingangs erwähnt, wußten die indischen Ingenieure,

- daß sie für den Bau von Lokomotiven ein mit Werkzeugmaschinen gut

eingerichtetes Werk benötigen,

- daß sie aber auch Konstruktionsunterlagen und Arbeitsplätze zur Hand

haben müssen,

- daß ihnen Betriebsmittel, Werkzeuge, Vorrichtungen, Gesenke, Modelle

an die Hand gegeben werden müssen.

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All das kann man schließlich kaufen und importieren!

Vor allem muß aber etwas - das Wichtigste - erreicht werden:

für diese Lokfabrik brauchte man Experten für die Beratung, um kostspie­

lige und zeitraubende Versuche im Anlauf der Produktion zu vermeiden -

es müssen vor allem Arbeiter angelernt und zu Facharbeitern des Lokomo­

tivbaues in Indien und im Partnerland ausgebildet werden.

Aber auch die Gründe von der deutschen Perspektive aus gesehen waren

naheliegend, wenn man die dortigen Verhältnisse und den enormen Bedarf

an Lokomotiven, Waggons und anderen Eisenbahnausrüstungen kannte.

Wir wußten, daß Indien zum Aufbau und Ausbau seines Schienentransportes

in den nächsten Jahren einige Tausend Lokomotiven benötigt. In Indien

ist der Schienenweg für den Transport der Massengüter über weite Strecken

vorhanden und daher viel wirtschaftlicher als der Transport mit dem

Lastwagen, wobei zu berücksichtigen ist, daß in Indien das Straßennetz

viel weitmaschiger ist als beispielsweise in Europa. Wir wußten, daß

bei dem großen Bedarf an Lokomotiven Indien mindestens in den ersten

zehn Jahren Hunderte von Lokomotiven pro Jahr importieren muß. So war

auch die Überlegung richtig, daß, wenn wir unsere technische Hilfe nicht

zur Verfügung stellen, eine andere Fabrik oder ein anderes Land sich

um diese technische Zusammenarbeit bewirbt. Die Verwirklichung von

Technical-Help-Abkommen wurde seit dieser Zeit oft wiederholt. Selbst

heute treten noch Firmen in der Welt an Indien heran, um Technical-Help­

Abkommen mit anderen oder noch nicht erbauten Fabriken in Indien abzu­

schließen. Heute, acht Jahre später, kann man wohl sagen, daß auch die

deutschen Interessen erfüllt werden konnten: haben wir doch im Verlauf

dieser Jahre ca. 450 Lokomotiven und viele Zulieferteile an Telco in

Auftrag erhalten und nach Indien exportiert - allerdings mußten diese

indischen Lokaufträge immer schl~er erkämpft werden, da es sich vor der

Auftragserteilung ausnahmslos um öffentliche Ausschreibungen handelte,

die von der Welt-Lokomotivindustrie, meist von 30 Lokomotivfabriken,

bedient wurden. Während wir anfangs mit scharfer Konkurrenz von USA

und England zu rechnen hatten, erwuchs in den späteren Jahren die stärk­

ste Konkurrenz von seiten Japans, Österreichs und einiger Ostblockländer

gegenüber unseren Angeboten.

Die Werksanlagen bei Telco in Jamshedpur umfassen ein modernes, bestens

eingerichtetes, leistungsfähiges Werk mit ca. 60 000 qm überbauter Werk­

statthallen-Fläche, davon steht etwas mehr als die Hälfte dem Lokomotiv­

bau zur Verfügung.

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Die Werkshallen sind in Shed-Xonstruktion errichtet bei sorgfältiger

Abhaltung der Sonnenbestrahlung. Natürlich braucht man dort keine Hei­

zung, aber gute Lüftung in den Werkstätten und Air-Condition, also Klima­

Anlagen in den Büros. Alle Hallen und Werkstraßen sind schienendurch­

zogen für die hauptsächlichsten Spurweiten Indiens, der Breitspur mit

1616 mm und der Meterspur. Das Werk verfügt über eigene Dampferzeugung

durch Ölfeuerung. Der Strom wird zugeliefert wie bei Tisco.

Die Wasserversorgung erfolgt aus einem in der Nähe Jamshedpurs gelegenen

See mit Zwischenschaltung von Speicherreservoirs. Der Sauerstoff wird

flüssig zugeliefert. Pressluft wird im eigenen Werk erzeugt. Das Werk

Telco dürfte heute über einen durchweg modernen Werkzeugmaschinenpark

von ca. 2 000 Stück verfügen, der für die mechanische Bearbeitung für

alle Produktionsprozesse, für den Lokbau und für den später hinzugekom­

menen Automobilbau ausreichend ist. Die Werkzeugmaschinenaufstellung

ist wohl durchdacht und nach Bearbeitungsgruppen aufgeteilt. Speziell

für den Lokbau, für den Kesselbau, Tenderbau, die Blechbearbeitung und

Schweißkonstruktionen sind gute Einrichtungen vorhanden. So werden auch

die Radsätze und Stangen und alle anderen Mechanteile bei Telco erstellt

bzw. bearbeitet, es steht eine Frei- und Formschmiede, eine Kümpelei

für die Kesselbleche und eine Federnwerkstätte zur Verfügung. Aufbau

und Beratung dieser Fabrik erfolgte durch deutsche, englische, amerika­

nische und belgische Firmen. Die Lieferungen von Maschinen und Einrich­

tungen erfolgten aus Deutschland, England und USA.

Wenn der Ingenieur durch das Werk geht, bekommt er sofort den Eindruck,

sich in eineT modernen Groß-Maschinenfabrik zu befinden, die sich mit

modernen europäischen und amerikanischen Fabriken messen kann. Später

wurde auch eine moderne Stahl- und Metallgießerei hinzugefügt, die heute

einen Ausstoß von 300 t pro Monat Stahlguß und 100 t Spezialgrauguß für

die eigene Produktion bewältigt.

Das Produktionsprogramm Telcos, dessen Lieferungen in erster Linie Be­

dürfnisse des Staates für Schiene und Straße zu erfüllen hat, ist. sinn­

voll gestaltet. Neben Lokomotiven wurden in den ersten Jahren Güterwagen

hergestellt. Einige Jahre später nahm Telco in dem gleichen Werk, im

Rahmen eines ähnlichen Technical Help Agreements, den Bau von Lastwagen

und Omnibussen in Gemeinschaft mit Mercedes auf, die unter der Firmierung

Tata-Mercedes-Benz seit Jahren überall im Lande zu treffen sind.

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Für den später vorgesehenen Auslauf des Dampflokbaues wurde als sinn­

volle Ergänzung der Behälterbau und der allgemeine Apparatebau aufge­

nommen, vor allem, um die seinerzeit freiFerdende Kapazität für den

Kessel- und Tenderbau, die Kesselschmiede und die Schweißerei aufzu­

fangen. Nach dem Kriege wurde kurze Zeit der Bau von Dampfstraßen1valzen

betrieben, der später in andere Fabriken verlegt wurde.

Der Anlauf der Arbeiten bei Telco im Lokomotivbau

Es war verständlich, daß man sich in der ersten Zeit mit Montagen von

fertiggelieferten Lokomotivbaugruppen begnügen mußte. Später Furde der

Teilebau, insbesondere im Tenderbau, in der SchFeißerei und im Kessel­

bau aufgenommen. Relativ schnell lief die mechanische Bearbeitung bei

Telco an, wo sich jedoch aus Quantitätsgründen in den ersten Jahren

häufig Engpässe ergaben, die 1·Ji'ederum von dem deutschen Partner zu über­

brücken waren. Die Zulieferungen von Teilen, insbesondere von bearbei­

teten Zylindern, endeten erst vor kurzem. Als letzter erfolgreicher

Schritt der Selbständigkeit werden bei Telco nun auch die Dampfzylinder

und Radsätze in der eigenen Stahlgießerei erstellt und in den mechani­

schen Werkstätten vollständig bearbeitet. \lährend der Überbrückungszei t

galt es jahrelang, die Kessel, insbesondere die Stehkessel und Feuer­

büchsen, von Deutschland anzuliefern. Telco ist nun seit einigen Jahren

in der Lage, selbst schwerste Kessel mit 33 t Eigengewicht einschließ­

lich der schHierigen Kümpelarbeit und der vollgeschweißten und geröntg­

ten Feuerbüchsen im eigenen Werk zu bauen. Nebenbei sei ervähnt, daß

Telco auch über ein Lehrenbohrwerk aus der Schweiz mit optischer Ablesung

in einem Raum mit voller Klimaanlage mit einem Wert von dreiviertel

11illionen Sch\leizer Franken verfügt.

So ist Telco im Lokomotivbau seit zwei Jahren in der Lage, jährlich

100 große Dampflokomotiven und 40 Ersatzkessel zu fertigen - für den re­

lativ kurzen Anlauf und für die dortigen Verhältnisse eine beachtliche

Leistung.

Bleche und Knüppel werden von der Sch"esterfirma Tisco angeliefert. An­

deres Material und Ausrüstungsteile kommen aus anderen Werken Indiens,

und geringe Ausnahmen wie Geräte, Instrumente, Rollenlager sowie Eng­

passteile werden noch von Europa zugeliefert. Es war für Telco sicher­

lich eine große Hilfe, daß wir auch die Laufkarten, welche die Arbeits­

prozesse und Arbeitszeiten festhalten und Unterlagen über Fabrikations­

oethoden zur Verfügung stellten, und daß wir darüber hinaus Werkzeuge,

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Kümpelgesenke, Vorrichtungen, Gußmodelle und Spezialwerkzeuge, natürlich

gegen Bezahlung, anliefern konnten.

Es ist kein Geheimnis, daß dieses Technical Help Agreement zur Zufrie­

denheit beider Partner seit acht Jahren läuft. Beide Teile haben daher

ins Auge gefaßt, ein zweites Technical Help Agreement über den Bau von

dieselhydraulischen Lokomotiven abzuschließen. Auch dieser Vertrag wird

die Zustimmung des Railway Boards voraussetzen. Für Telco wird es nach

meiner Auffassung ein leichtes sein, die Mechanteile unserer Dieselloko­

motiven bald selbständig bauen zu können. Vorerst wird Telco wohl jahre­

lang auf die Zulieferung von Lok-Teilen, von Motoren, hydraulischen

Getrieben, Achstrieben, Großzahnrädern und sonstiger Ausrüstung aus dem

Ausland angewiesen sein. Wir haben mit der Lieferung von dieselhydrau­

lischen Rangierlokomotiven nach Indien bereits eine gewisse Vorarbeit

für die wirtschaftliche Verdieselung geleistet. Dem Lizenzbau durch Tata

im Rahmen des erwähnten Technical Help Agreements steht damit nichts im

Wege. Die indische Regierung weiß ebenso gut wie andere Ver1Jaltungen,

daß es um!irtschaftlich ist, also viele Jahre Entwicklungszeit und viel

Geld kostet, eigene Typen von Diesellokomotiven zu entwickeln. Auch

andere europäische Bahnverwaltungen beschreiten heutzutage gerne den

Weg, moderne Diesellokomotiven auf dem 1izenzwege nachzubauen, um diese

ca. fünf jährige Entwicklungszeit bis zur Serienreife einzusparen.

Selbstverständlich kommen dabei nur Diesellok-Typen in Frage, die in

jahrelangem Einsatz, beispielsweise bei der Deutschen Bundesbahn mit

vielen Millionen Laufkilometern, ihre Bewährungsprobe erfolgreich bestan­

den haben. Jeder Ingenieur und jedes Vorstandsmitglied einer Fabrik wird

sich hüten, Loktypen auf dem Lizenzwege oder im Rahmen eines Technical

Help Agreements in das Ausland, noch dazu in das ferne Ausland, zum

Nachbau zu vergeben, wenn durch den jahrelangen Bewährungseinsatz nicht

erwiesen ist, daß keine Rückschläge zu erwarten sind.

Wenn auch Lizenz-Verträge und Technical-Help-Abkommen nicht das gleiche

bedeuten, sind sie doch miteinander verwandt. Mit einem Lizenzvertrag

wird der Nachbau von Loktypen des einen Partners dem anderen Partner

an Hand zu übergebencer Bauunterlagen ge\'Jährt. Im Technical-Help-Ver­

trag kommt die technische Hilfe hinzu, den Partner beim Bau der Lokomo­

tiven anzulernen.

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Auf Grund der langjährigen Bewährung der für die Bundesbahn von uns ent­

wickelten V 200 Diesel-hydraulischen Streckenlokomotiven hat eine große

europäische Bahnverwaltung Nachbaurechte dieser Lokomotiven für ihre

eigenen Werkstätten und für zwei große Privat-Lokomotivfabriken erworben.

Da dieses Land, ebenso wie Deutschland, seit über hundert Jahren Lokomo­

tiven erzeugt, war die Gewährung eines Technical-Help-Abkommens natür­

lich nicht erforderlich, aber auch die Bahnverwaltung dieses Landes

erkannte, daß durch den Lizenzbau bewährter Lokomotiven jahrelange, kost­

spielige Entwicklungsarbeit eingespart wird.

Telco verfügt zur Zeit über 7 000 Arbeiter und Angestellte (Techniker

und Kaufleute), einschließlich des Automobilbaues und der Gießerei. Von

den 6 200 Arbeitern dürften ca. 1 000 als "skilled", also als Facharbei­

ter anzusprechen sein.

Wir haben im Rahmen des Technical Help Agreements über mehrere Jahre hin­

durch in München ca. 150 indische Meister und Arbeiter in unseren Werk­

stätten und Ingenieure in unseren Büros ausgebildet und sie mit allen

Arbeitsprozessen im Lokbau vertraut gemacht.

Diese indischen Meister und Vorarbeiter kamen für ca. sechs Monate in

Gruppen von ca. fünfzehn Mann zu uns ins Werk. Sie wohnten bei uns in

dem später nach ihnen genannten India Bungalow, erhielten dort, soweit

sie es wünschten, auch auf indische Art zubereitete Nahrung und verbrach­

ten den Abend gerne im Kreise ihrer deutschen Freunde.

Wir unterhielten bei Telco in Jamshedpur seit Unterzeichnung des Tech­

nical Help Agreements ein bis zwei Dutzend Spezialisten, also Ingenieure

und Meister, um das dortige Personal in schwierige Arbeitsprozesse ein­

zulernen.

Es ist charakteristisch, daß sich bei der Entsendung unserer deutschen

Berater der englische Ausdruck "Demonstrator" bildete, d.h., daß diese

Spezialisten die Arbeitsvorgänge den indischen Arbeitern mit ihren Hän­

den vormachen mußten, bis der Angelernte sie beherrschte. Auch der Lei­

ter der Telco-Werke, der technische Generaldirektor, war jahrelang ein

deutscher Ingenieur. Ich kann mit großer Genugtuung feststellen, daß

seit ca. einem Jahr die technische Oberleitung der Telco-Werke in

Jamshedpur von einem hervorragenden indischen Ingenieur übernommen wurde.

Sein Name, Mr. DA COSTA, hat in vielen Ländern der Welt in Lokomotiv­

und Industriekreisen einen guten Klang.

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Noch schnell ein Wort zur Arbeiterschaft und zu sozialen Problemen:

Die Arbeiter in Jamshedpur setzen sich aus Hindus, Mohammedanern, Sikhs

und einigen Parsees zusammen. Sie kommen vor allem aus den Provinzen

Bihar, Benghal und dem Punshab. Man kann wohl sagen, daß das Gebiet

Bihar-Benghal, im Osten Indiens liegend, etwa mit dem Ruhrgebiet in

Deutschland zu vergleichen ist.

Dort steht hochwertiges Eisenerz und gute Kohle in großem Umfang relativ

nahe an den Verarbeitungsstätten und dem Verschiffungshafen Calcutta

zur Verfügung. Das waren die Gründe, warum der Gründer, J.N.TATA, in

den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gerade an dieser Stelle Jamshedpur

- sein Vorname lautete Jamshed und pur heißt Stadt - gegründet hat und

in wenigen Jahren aus Urwald und Steppe eine blühende, moderne Industrie­

stadt schuf. Es muß anerkannt werden, daß die Arbeitsintensität, gemes­

sen an den verfahrenen Produktionsstunden einer Lokomotive in Indien

in wenigen Jahren stark angestiegen ist: während ursprünglich die Ar­

beitsintensität eines indischen Arbeiters mit 1 : 4,5 gegenüber Deutsch­

land oder England zu bewerten war, ist sie, immer wieder gemessen an der

Leistung in dieser Fabrik, auf 1 : 2,3 gestiegen. Dabei darf nicht ver­

gessen werden, daß der Lohn einschließlich des dort gewährten Bonus (der

etwa dem deutschen Akkordzuschlag entspricht) nur ein Drittel vom deut­

schen Lohndurchschnitt beträgt.

Die Genügsamkeit der indischen Bevölkerung ist sprichwörtlich. Aus Grün­

den der Religion essen die meisten Inder weder Fleisch noch Fisch, son­

dern Gemüse, Früchte und Brot. In den meisten Provinzen herrscht voll­

ständige Prohibition. Diese Regierungsmaßnahme ist um so verständlicher

für die Bevölkerung, wenn man weiß, daß Alkohol unerschwinglich ist.

Ebenso bekannt ist der Kinderreichtum des Inders. Sieben Köpfe in einer

Familie entspricht dem Durchschnitt. Familien mit über einem Dutzend

Kindern sind häufig.

Der Einfluß der parteipolitischen Gewerkschaften bei Telco Jamshedpur

dürfte im Durchschnitt dem der Gewerkschaften in Europa entsprechen.

Organisierte Streiks sind kaum durchführbar, da die Gewerkschaften über

keine eigenen Fonds verfügen. Wilde Streiks mit Gewalttätigkeiten, wohl

auch unter Einfluß inoffizieller kommunistischer Elemente, werden immer

seltener. Interessant ist, daß die Staatslokomotivfabrik in Chittaran­

jan ohne Gewerkschaft arbeitet - so war es jedenfalls bis zum März 1958.

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Telco stellt seinen Angestellten Bungalows und Wohnstätten für fast die

Hälfte der Arbeiterfamilien zur Verfügung. Jedem Europäer, der nach In­

dien reist und Jamshedpur besucht, fällt auf, welch großzügige Wohlfahrts··

einrichtungen TATA für seine Angestellten zur Verfügung stellt: Clubs,

Swimming Pools, Freilichtkinos, Golfplätze und Tennisplätze, großzügige

ärztliche Betreuung mit kostenloser Behandlung selbst für die Familien

durch Tata-Ärzte und Tata-eigene Hospitäler. Das gleiche gilt für das

Entbindungsheim.

Das Klima ist für indische Verhältnisse in Jamshedpur fast angenehm.

Immerhin sind im Sommer Temperaturen von 45 0 im Schatten und nachts nicht

unter 37 0 an der Tagesordnung. Die Viermonatsperiode der Monsunzeit

bringt den bekannten Dauerregen.

Zum Abschluß sei erwähnt, daß Indien über das viertgrößte Eisenbahnnetz

der Erde verfügt. Seit Indiens Unabhängigkeit (im Jahre 1947/48) ist der

Verkehr auf den indischen Eisenbahnen um fast 40% gestiegen. Die Zahl

der von der indischen Eisenbahnverwaltung beschäftigten Personen soll

etwas über eine Million betragen, damit ist dieses Unternehmen das größte

volkseigene Unternehmen Indiens und die zweitgrößte Staatsbahnverwaltung

der Welt.

Indien verfügt über ca. 9 000 Lokomotiven, davon zwei Drittel für Breit­

spur und ein Drittel für Meterspur auf Nebenlinien.

\Vie fast in der ganzen Welt, wird sich auch in Indien der \vandel in der

Traktion abwickeln, d.h., daß von der Dampflokomotive auf die elektri­

sche oder Diesel-Traktion, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, über­

gegangen werden muß. Dies geschieht auch in Ländern, wo Kohle in reich­

lichem Maße an Quantität und Qualität zur Verfügung steht und wo Strom

durch Wasserkraftwerke oder Kohle erzeugt werden muß, und in Ländern,

"0 das Öl für die Dieseltraktion sogar importiert werden muß. Auch in

Indien bestehen ähnliche Transportprobleme - wie in anderen Ländern der

Welt - so daß neben der Umstellung auf die Dieseltraktion das Netz um

die Großstädte und für besonders dicht befahrene Eisenbahnstrecken elek­

trifiziert wird. So ist es mir eine Freude und Genugtuung festzustellen,

daß wiederum in der Zusammenarbeit zwischen Indien und europäischen Län­

dern vor kurzem ein Auftrag auf 100 vollelektrische Lokomotiven sozusa­

gen als Einführungsauftrag einem deutsch-französischen Konsortium er­

teilt wurde, an welchem wir mit Lieferungen partizipieren.

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Han kann annehmen, daß aus diesem Bedarfsfall "der Elektrifizierung"

verschiedener indischer Strecken ein weiteres Technical Help Agreement

zwischen indischen Interessenten und europäischen Lokomotiv- und Elektro­

Fabriken entsteht.

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Deutsch-indische Zus~mmenarbeit in Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft

Von Dr. J.M. HUNCK1 ), Chefredakteur vom"Handelsblatt" Düsseldorf

Das Thema meines Referates ist sehr weit gespannt. Es könnte naheliegen,

daß ich mit diesem zugleich letzten Referat Ihrer Tagung versuchen würde,

all das über Indien und die Zusammenarbeit mit Deutschland zu sagen, was

bislang nicht erwähnt worden ist. Haben Sie bitte aber keine Angst, daß

ich so weit aushole·n werde.

Wer jemals begonnen hat, sich mit dem Thema Indien zu befassen, wird

bald festgestellt haben, daß es unerschöpflich ist. In diesem Sinne ver­

wies kein Geringerer als NEHRU selbst bei Eröffnung der ersten nationa­

len Ausstellung "India 1958" auf sein früheres Buch "Die Entdeckung

Indiens" und fügte mit der ihm eigenen Selbstbescheidung hinzu, auch

nach so langen Jahren des Forschens wüßte er nicht, was Indien sei oder

was Indien sein werde.

Niemand wird jedoch von deutsch-indischer Zusammenarbeit in der Vergan­

genheit sprechen können, ohne wenigstens mit einem Satz der wissenschaft­

lichen und kulturellen Beziehungen zu gedenken - von der Tatsache, daß

Inder und Deutsche derselben Abstammung sind, gar nicht zu reden. Die

Indologie erreichte im vorigen Jahrhundert ihre Blüte, die meisten

deutschen Dichter und Denker haben sich insbesondere damals mit Indien,

seiner Weisheit und Kultur,befaßt. Daß diese engen Verbindungen noch

heute bestehen, zeigt etwa der 100.Todestag Joseph von EICHENDORFFS,

der im November vorigen Jahres von der Deutsch-Indischen Kulturgesell­

schaft in Bombay festlich begangen wurde. Gedichte EICHENDORFFS wurden

bei dieser Gelegenheit in Hindi und Deutsch rezitiert. Diese alte· kul­

turelle Zusammenarbeit wurde seit der Unabhängigkeit Indiens durch un­

getrübte politische und immer engere wirtschaftliche Zusammenarbeit er­

gänzt. Indien war der erste Staat, der den Kriegszustand mit dem deut­

schen Volk beendete. Das verwandte Schicksal beider Völker hat viel

Sympathie geweckt. Auch Indien wurde nach dem Krieg geteilt, in einer

Form, die besonders unglücklich ist. Zwischen Ost- und Westpakistan

liegen an der engsten Stelle immer noch 1 500 km. Beide Landesteile sind

1. VgI. das vom gleichen Verfasser erschienene Buch: "Indiens lautlose Revolution. Möglichkeiten und Grenzen einer deutsch-indischen Zusam­menarbeit", Düsseldorf 1957; kürzlich auch in englischer Sprache er­schienen unter dem Titel: "India's silent revolution".

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klimatisch und wirtschaftlich völlig unterschiedlich. Militär, Erziehung

und Politik sind in Westpakistan konzentriert. Das bedingt einen starken

Verkehr von Waren und Personen durch Indien. Fortschrittliche Pakistani

träumen von einer Wirtschaftsföderation mit Indien.

Der Flüchtlingsstrom aus Pakistan nach Indien ist im Umfang etwa derselbe

wie der deutsche aus Mittel- und Ostdeutschland. Und Miß NAIDU, die kluge

Gouverneurin von Westbengalen, sagte uns einmal, Indien habe zunächst

seine politische Freiheit erhalten und kämpfe nun um die volle wirt­

schaftliche Freiheit, während die Bundesrepublik umgekehrt zuerst die

wirtschaftliche Freiheit besaß. Auch der Vorschlag Nehrus, wir sollten

außenpoltisch einen neutralen Kurs steuern, ist aus der Vorstellung

eines gleichlaufenden Schicksals entstanden. Nehru erklärte einmal in

einem Interview, an dem ich teilnahm, er sei der festen Auffassung, die

Furcht der Russen vor den Deutschen - das sind heutzutage lediglich die

Westdeutschen - sei keineswegs geschwunden. Irgendein konstruktiver Vor­

schlag von unserer Seite, der diese Furcht bannen könnte, würde uns,

wie Nehru hinzufügte, nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch eine

größere außenpolitische Beweglichkeit ermöglichen. Ich erwähne diesen

Vorschlag Nehrus - immerhin eines der größten lebenden Staatsmänner -

nicht deshalb, weil mir seine Verwirklichung einfach oder möglich er­

scheint, sondern weil aus ihm das Gefühl spricht, man müsse guten Freun­

den hin und wieder auch einen guten Rat geben.

Ich möchte aber nun ohne Umschweife den Kern meiner Ausführungen an­

steuern. Bis Kriegsausbruch beschränkte sich die wirtschaftliche Zusam­

menarbeit Deutschlands mit Indien auf den Austausch indischer Rohstoffe

gegen deutsche Verbrauchsgüter. Über die Hälfte dieses Handels lief je­

doch über dritte Länder, vor allem über England. Inzwischen geht In­

dien seinen eigenen wirtschaftlichen Weg. NEHRU sagte hierzu auf der

bereits erwähnten Ausstellung "India 1958", die anläßlich der Weltbank­

tagung in Neu-Delhi eröffnet \l1urde: "Alle Menschen Indiens sind Wegge­

nossen. Einst waren sie es auf der Reise in die Freiheit und Unabhängig­

keit Indiens. Es gab aber kein Ausruhen am Ziel. Wir sind aufgebrochen

zu einem neuen Ziel, nämlich dem des Aufstiegs von Millionen Menschen.

Von 1950/51 bis 1955/56 wurde der erste Fünfjahresplan erfolgreich ver­

wirklicht. Indien befindet sich jetzt mitten im zweiten Plan. Der Weg

ist steiler und beschwerlicher geworden".

Duldende Wunschlosigkeit hat die Inder viele Jahrhunderte ein unvorstell­

bares Elend ertragen lassen. Jeder, der Indien besucht, wird davon

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e~griffen sein. Schon vor 40 Jahren meinte TAGORE jedoch: Indien müsse

die Fenster weit öffnen, um Luft aus allen Ländern hereinzulassen. Nicht

nur aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und finanzieller Bedrängnis wer­

den die Fünfjahrespläne in enger Zusammenarbeit mit vielen Nationen ver­

wirklicht. Es steht dahinter die Einsicht Tagores, man könne draußen

viel lernen.

Das System der indischen Wirtschaft hingegen ist nicht von draußen über­

nommen. Es entspricht vielmehr der einmaligen Situation. Die Unruhe der

l1assen, die erwacht sind; empfindlicher Mangel an Unternehmern im euro­

päischen Sinn; fehlendes Sparkapital. Sozialistische Grundzüge sind mit

liberalen Aspekten verknüpft. Wiederholt hat NEHRU betont, er sei kein

unbedingter Anhänger einer staatlich gelenkten Wirtschaft, schon weil

sie zentralistisch und mit erheblichem Reibungsverlust arbeite. Doch

könne der gewaltige Aufbau nicht ohne staatliche Mitwirkung gelöst wer­

den. Man müsse ferner verhindern, daß sich wirtschaftliche Macht - noch

mehr als bislang schon - in den Händen weniger zusammenballe.

Ein weiteres Mißverständnis lassen Sie mich gleich zu Anfang aufklären.

Die indischen Planungen beziehen sich nicht vorzugsweise auf monumentale

Stahl werke, von denen man bei uns so viel hört. Ihren Sch,,,erpunkt haben

sie vielmehr im Dorfe, in der kleinen und mittleren Industrie. Professor

ERHARD hat den indischen zweiten Plan in einem Interview mit der größ­

ten indischen Zeitung "Times of India" als durchaus abgewogen bezeichnet.

"Insbesondere sind die Vorkehrungen zur Modernisierung der LandHirt­

schaft sowie zur Ausdehnung der Kleinindustrie, der Genossenschaftsbe­

wegung und der technischen Ausbildungsmöglichkeiten im Verhältnis zu den

großen Projekten gut ausgeglichen", hob der Bundeswirtschaftsminister

hervor.

Typisch für die Erschließung Indiens und seiner weiten Gebiete sind

wahrscheinlich die großartigen Mehrzweckprojekte, die Überschwemmungen

verhindern, bewässern, sowie elektrische Energie bereitstellen sollen.

Der von den Besuchern am meisten bestaunte Bhakra-Nangal-Damm am Fuße

des Himalaja wächst 250 m hoch in die Felsen hinein. Er ist der höchste

Betonschüttdamm der Welt, dem 5 000 km Bewässerungskanäle angeschlossen

sind. Deutsche Firmen liefern hier Kräne, Fluttore, Telefonanlagen und

vieles mehr. Ein anderes Beispiel ist das Koyna-Projekt im Staat Bombay.

Ein Stausee von 34 km Länge soll 1 l~d. cbm Wasser fassen. Kraftwerke

werden 1/2 Mrd. kW erzeugen und damit die südliche Hälfte des Staates

Bombay ausreichend versorgen. Hier sind ausschließlich deutsche Spezial-

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firmen beschäftigt. Für zahlreiche andere Großanlagen dieser Art liefern

wir Bagger, Turbinen und Generatoren, Pumpen, Schaltanlagen us"r.

Die Nutzbarmachung des Grundwassers ist nicht minder wichtig. Allein im

Staat Uttar Pradesh hat ein deutsches Unternehmen im Flußgebiet des

Ganges und seiner Nebenflüsse 850 Brunnen gebohrt. Ich erwähne dies be­

sonders, weil es gleichzeitig erkennen läßt, daß es sich bei den deut­

schen Aufträgen für Indien nicht einfach um "Lieferungen" handelt. Da

die Industrie Indiens, ebenso wie alles andere, was mit rationeller Wirt­

schaft zu tun hat, noch in den Kinderschuhen steckt, ist damit jeweils

die Einarbeitung indischer Fachkräfte verbunden. Sie erfordert von den

deutschen Ingenieuren und Werkmeistern Geduld, Einfühlungsvermögen und

manche Entbehrung.

So war es z.B. beim Brunnenbohren. Die zunächst 35 deutschen Ingenieure,

Bohrmeister und Kaufleute wohnten mit ihren indischen Kollegen allen

Unbilden der Witterung zum Trotz in Zelten, um möglichst nahe der Bau­

stelle zu sein. So rasch konnten die Inder angelernt werden, daß von

den acht Bohrkolonnen, die Mitte 1953 eingesetzt wurden, bei Abschluß

der Arbeiten im letzten Jahr die Hälfte nur mit indischen Kräften arbei­

tete.

Ich möchte Ihnen noch einige weitere Beispiele gerade aus der Landwirt­

schaft anführen, weil sie bei der Betrachtung leicht vernachlässigt

wird.

Die ersten Schritte zu einer modernen Milchwirtschaft mit deutscher

Assistenz sind getan. Obwohl es über 200 Mill. Stück Rindvieh und Was­

serbüffel gibt, und dies etwa ein Fünftel des Rinderbestandes der Welt

darstellt, ist die durchschnittliche Milchversorgung der Bevölkerung

bislang völlig ungenügend. Sie beträgt nur ein Drittel des Mindestver­

brauchs, der für eine ausgeglichene Ernährung empfohlen wird.

In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren soll sie daher um etwa 40%

erhöht werden. Ein erster Schritt wurde in Bombay mit der Zusammenfas­

sung des herumlaufenden und größtenteils verwahrlosten Rindviehs zu

ein€r Milchkolonie getan. Die Viehhalter wurden zu einer Milchgenossen­

schaft zusammengeführt. Die Milchkolonie von Bombay versorgt bereits

50% der Zweieinhalb-Millionen-Stadt. Diese Kolonie liefert frische Milch

mit gleichbleibendem Fettgehalt. Nachdem die Milch früher nur pasteuri­

siert wurde, um sie einige Zeit aufzubewahren, ist Mitte 1958 eine

Sterilisierungsanlage deutscher Fertigung in Betrieb genommen, wodurch

sich die gute Qualität sechs bis acht Monate erhalten läßt.

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Diese Anlage, einschließlich Vorrichtung zur Flaschenabfüllung, wurde

vom Internationalen Kinder-Notfonds der Vereinigten Nationen geschenkt.

Derartige Milchkolonien haben in Indien auch deshalb eine große Zukunft,

weil der Genuß alkoholischer Getränke durchweg verboten ist, also die

Herstellung von Milchgetränken aller Art sehr lohnt.

Zuckerrohrpflanzungen sind eine wichtige Basis der landwirtschaftlichen

Kaufkraft. Schon heute wird Zucker exportiert. Von 1930 bis Kriegsende

wurden 150 Zuckerfabriken errichtet. Seitdem sind weitere dreißig be­

stellt, die zu Beginn der Saison 1958/59, also gerade jetzt, in Betrieb

gehen. Von einschlägigen deutschen Firmen sind in den letzten Jahren

nicht lIeniger als neunzehn vollständige Zuckerfabriken in Auftrag genom­

men worden, deren Auftragswert bei rund 100 Mill. DM liegt. Die Vera+­

beitungskapazität beläuft sich jeweils auf etwa 1 000 t Rohr in 24 Stun­

den. Auch zur Modernisierung bestehender Betriebe werden deutsche Lie­

ferungen gern herangezogen, da Zuckerrohrmühlen, kontinuierliche Filter

und Zentrifugen, die deutsche Firmen entwickelten, sehr geschätzt und

vom Zuckerinstitut in Kanpur mit dem höchsten Lob bedacht worden gind.

Zusammen mit einem indischen Unternehmer errichtet eine deutsche Firma

bei Poona eine Fabrik, die Maschinen fürZuckerfabriken baut. Damit hat

die indische Industrie einen weiteren Schritt zur Selbstversorgung getan.

Im Bereich der Düngemittelversorgung sind von deutscher Seite seit Jah­

ren steigende Mengen von Ammoniumsulfat und Harnstoff eingeführt worden.

Die deutsche Wirtschaft beteiligt sich auch an der Errichtung von Dünger­

fabriken, deren Ausgangsstoffe von Kokerei- und Kohlenwertstoffgewin­

nungsanlagen bereitgestellt werden.

Die Kleinindustrie und vor allem die dörfliche Heimindustrie, die über

die Spinnerei und Weberei hinaus en+'wickelt werden soll, stellt eine

zusätzliche Einnahme für die bäuerliche Bevölkerung dar, die wegen der

Monsunperioden nur einen Teil des Jahres beschäftigt ist. Sie braucht

vor allem einfache und billige Maschinen, die man besser "maschinelle

Vorrichtungen" nennt. Wartung und Ersatzteildienst dürfen keinen beson­

deren Aufwand erfordern.

Die indische Regierung könnte es deutschen Unternehmern, die derartige

l1aschinen schon vielfach geliefert haben, übrigens einfacher machen, wenn

sie deutschen Beauftragten den Aufenthalt ohne Schwierigkeit genehmigen

oder verlängern würde, damit sich diese an Ort und Stelle gründlich in­

formieren können und auch Zeit haben, die notwendigen Erklärungen und

Anweisungen abzugeben.

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Eine Industrie kann auf dem Lande nur ausnahmsweise angesiedelt werden,

weil von 560 000 Dörfern nur 4 500, also nicht einmal eins unter hundert,

Elektrizität haben. Bis 1961 sollen es 10 000 sein. Es kann daher nur

eine hand' ... erkliche Betätigung als Zusatzerwerb aufgezogen werden, i.eil

es keinen Strom gibt. Spinnen, Weben, Streichhölzer herstellen, Öl pres­

sen, Seife machen, Schuhe anfertigen sind I1öglichkeiten, die systema­

tisch gefördert werden. Leider läßt die Qualität zu wünschen übrig; denn

bei größeren Lieferungen sind die Stücke nicht gleichmäßig, so daß jedes

einzelne geprüft werden muß. Es geht in Indien eben vorläufig :1icht

darum, Arbeitskräfte zu sparen, sondern möglichst viele zu beschäftigen.

Jeder, der eine indische Baustelle gesehen hat, weiß das.

Landwirtschaft, verbunden mit Heimindustrie, ist die erste - und ich

möchte ausdrücklich sagen wichtigste - Säule der wirtschaftlichen Ent­

wicklung Indiens. Die zweite Säule ist der Verkehr im weitesten Sinn.

Auch hier sind deutsche Unternehmen in zahlreichen Fällen liefernd und

beratend beteiligt.

Eine Lübecker Werft fungiert als technische Beraterin der staatlichen

Hindustan Shipyard in Visakhapatnam, nachdem eine französische Beratungs­

firma dort Schiffbruch im wahrsten Sinne des Wortes erlitten hat. Ins­

gesamt lieferten deutsche \lerften seit 1954 siebzehn Schiffe mit je

durchschnittlich 7 000 BRT. Auch im Hafenbau stehen Deutsche nicht zu­

rück;" es sei nur an den Ausbau des Hafens Kandla im Nordwesten erinnert,

d~r als sechster großer Hafen des Landes Karachi ersetzen soll. Die Pla­

nung geht auf ein Gutachten von Professor Dr. AGATZ, Bremen, zurück. Die

erste Baustufe, die einen Umschlag von fast 1 I1ill. Jato, darunter die

Hälfte Öl, ermöglicht, wurde bereits 1957 abgeschlossen. Die Arbeiten

werden von einer deutschen Tiefbaufirma zusammen mit einem indischen Un­

ternehmen durchgeführt. Das Gesamtprojekt liegt bei 120 Mill. DM. Wahr­

zeichen des Hafens Calcutta ist ein 48 m hoher Kran von 200 t Tragkraft

deutscher Herstellung, der Juli 1957 der Hafenbehörde betriebsfertig

übergeben ''''urde.

Herr von MITTERWALLNER hat Ihnen über die Tätigkeit seines Unternehmens

in Indien berichtet. Ein anderes Unternehmen der Branche, das ebenfalls

schon vor dem Kriege Ersatzkessel in großer Zahl für Indien gebaut hat,

lieferte seit 1953 rund 300 Lokomotiven. Zahlreiches Schienenmaterial,

ferner hydraulische Getriebe, 90 Rahmenwagen für schwere Dampflokomoti­

ven, viele Treibstangen und Radsätze kamen in den letzten Jahren aus

der Bundesrepublik . Bemerkensi·rert ist der Auftrag auf 100 Elektro-Loko-

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motiven, der vor Jahresfrist an ein europäisches Konsortium von Elektro­

firmen vergeben wurde, von denen fünfzig in der Bundesrepublik herge­

stellt und ausgerüstet warden.

Gemeinsam mit der Hindustan Aircraft Ltd. baut ein deutsches Unternehmen

selbsttragende Ganzstahl-Waggons. Dasselbe Unternehmen hat zahlreiche

Triebwagenzüge für Hafenbahnen abgeliefert. Es würde zu weit führen, die

zahllosen Betriebe zu nennen, die auf deutscher Seite als Zulieferer für

indische Eisenbahnen bzw. für Eisenbahnwerkstätten, darunter vor ~llem

die Integral Coach Factory in Perambur bei Madras und die Chittaranja

Locomotive Works in Chittaranja bei Calcutta tätig sind.

Neben Landwirtschaft und Verkehr steht die Industrie als dritte Aufbau­

säule. Auch hierüber haben Sie bereits Wichtiges gehö:r:t. Die Großi'ndu­

strie ist erst im zweiten Plan richtig angelaufen. Für sie sind nahezu

10 Mrd. DM oder das Dreieinhalbfache der im ersten Plan genannten Summe

vorgesehen.

Nicht weniger als 88% der Hütten- und Walzwerkeinrichtungen, die 1957 angeliefert wurden, kamen aus der Bundesrepublik; ähnlich ist der deut­

sche Anteil bei BergFerksmaschinen. Daß die Bundesrepublik ferner

zu drei Vierteln an den aus den bedeutendsten Konkurrenzländern bezoge­

nen Papiermaschinen beteiligt ist, ersc.heint ebenso aufschlußreich

wie die zwei Drittel aller nach Indien gelieferten Zementnaschinen, die

aus der Bundesrepublik stammen.

Immer wieder haben deutsche Firmen Leistungen auf neuen Gebieten voll­

bracht. Sie liefern Anlagen zur Aufbereitung von Bambus für die Zell­

stofferzeugung, hydraulische Pressen für Sperrholz- und Hartfaserplatten.

Nicht weniger als hundert kleinere und mittlere Sperrholzfabriken gibt

es, die ihre Wirtschaftlichkeit durch moderne Einrichtungen steigern

' ... ollen.

Gut eingeführt haben sich Furniertrockner, welche die Tee-Exporteure

mit Kisten versorgen. Voraussetzung hierfür war der Übergang von der

Sonnentrocknung zur künstlichen. Allein von 1955 bis 1957 hat ein deut­

sches Unternehmen 40 Fabriken, die Teekisten bauen, mit derartigen

Trockenanlagen ausgerüstet. Ein weiterer Schritt zur Förderung des indi­

schen Tee-Exports bestand in der deutschen Lieferung automatiGcher Ver­

packungsmaschinen, insbesondere für Teestaub-Packungen. Auf diese Weise

tragen wir unmittelbar zur Hebung des indischen Exports bei.

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Ein weites Feld, das in Zukunft immer wichtiger werden wird, ist die

deutsch-indische Gemeinschaftsproduktion. Sollte doch die deutsche Hilfe

für Indien in erster Linie - wie Professor ERHARD in Neu-Delhi betonte -

über private Investitionen erfolgen. NEHRU sagte uns einmal: "Wir sind

nicht gegen Gemeinschaftsgründungen mit Auslandsfirmen, obwohl wir aus

Erfahrung ein instinktives Mißtrauen gegen jeden Einfluß von draußen

haben".

Im Dezember 1957 eröffnete Industrieminister SHAH ein Werk für Gruben­

lampen und Transformatoren, das ebenso eine deutsch-indische Gemein­

schaftsproduktion darstellt, wie ein solches für Kolbenringe; Zündkerzen

und Einspritzpumpen werden in Bangalore von einer Gemeinschaftsfirma

seit einigen Jahren produziert.

Beispielhaft ist die enge Zusammenarbeit im Werkzeugsektor. Die staat­

liche Hindustan Machine Tools hat mit einem Berliner Unternehmen vor

etwa zwei Jahren einen Vertrag auf Zusammenarbeit geschlossen, der die

ungünstigen Erfahrungen ausschalten sollte, die Hindustan machte, als

versucht wurde, die ersten Drehbänke ganz aus heimischen Teilen zu bauen.

Inzwischen hat Hindustan I~chine Tools sein Produktionsprogramm we~ent­

lieh erweitert; mit einem Kölner Unternehmen wurde ein zusätziicher

Lizenzvertrag für Radialbohrer geschlossen. Qualität und Preis der in

Bangalore gebauten \verkzeugmaschinen sind bereits international kon­

kurrenzfähig geworden.

Der Ausbau einer staatlichen chemischen Industrie wird von der Entwick­

lungsabteilung im Ministerium für Schwerindustrie gesteuert, die von Dr.

NAGARAJO RAO, der in Charlottenburg als Chemiker promoviert hat, gelei­

tet wird. Die Kohlen1Vertstoffe der Hüttenindustrie dienen als Ausgangs­

rn,aterial der organisch-chemischen Industrie. Ferner wird eine eigene

Zwischenproduktion für Farbstoffe und Heilmittel aufgebaut, wobei eine

staatlich kontrollierte Gesellschaft mit führenden deutschen Firmen der

Farbstoffindus~rie in Partnerschaft gehen dürfte.

Auf der diesjährigen Tagung der indischen Pharmazeutik betonte Dr. K.A.

HAMIED, Gründer und Leiter eines der größten Unternehmen der Branche,

der sich ebenfalls in Deutschland seinen Doktorgrad erworben hat, Indien

werde sich bemühen, nicht hinter anderen Nationen zurückzubleiben. Auch

auf diesem Gebiet sind inzwischen Gemeinschaftsunternehmen für pharma­

zeutische Chemikalien, Pflanzenschutzmittel, Farbstoffe sowie Kunststoffe

zusammen mit einschlägigen deutschen Firmen gegründet worden.

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Diese Zusammenarbeit hat nicht nur materie-lle Gründe, ist also nicht

etwa lediglich eine Folge der Devisenknappheit und des damit verbundenen

Unvermögens, ausländische Anlagen zu kaufen, sondern geht - wie immer

wieder betont werden muß - viel stärker auf die damit verbundene Schulung

und Forschung zurück. Es kann sogar behauptet werden, daß die Ausrüstung

mit Fachleuten wichtiger ist als diejenige mit Kapital, die lediglich

aus zeitbegründetenÜberlegungen im Vordergrund steht.

Ministerpräsident NEHRU hat in seiner ebenso klaren wie anschaulichen

Art wiederholt erklärt, die Welt ändere sich rasch und jedes Land zer­

störe sich selbst, das nicht Schritt mit der Zeit halte. Durch politi­

sche Ideologien lasse sich im Gegensatz zum erfinderischen Genius kein

Wohlstand erzeugen. Das hat Indien seit der Unabhängigkeit am eigenen

Leibe bitter erfahren. Auf der einen Seite besteht ein immer mehr wach­

sendes geistiges Proletariat, das politischen Zündstoff zusammenträgt;

auf der anderen fehlt es dringend an Ingenieuren und Technikern für

neue Industriebetriebe. Nur in praktischer Ausbildung kann der junge

l1ensch das Gefühl für Material, für die VerHendungsfähigkeit von Kunst­

stoffen bekommen.

Im Frühjahr 1955 verpflichtete sich die Bundesrepublik in einem Abkommen,

technische Kenntnisse, wissenschaftliche Erfahrung sowie Möglichkeiten

der technischen Ausbildung zur Verfügung zu stellen. Bereits seit 1952

läuft eine deutsch-indische Zusammenarbeit in Form der Vermittlung von

Praktikantenstellen und Studienplätzen in der Bundesrepublik, die inzwi­

schen immer mehr ausgeweitet worden ist. Hierzu hat die mit Lieferungen

an Indien beschäftigte Industrie viel beigetragen.

Zahlreiche deutsch-indische Freundschafts-Organisationen hüben und drüben,

es mögen insgesamt 30 sein, sorgen für enge persönliche Fühlung, ohne

die eine Ausbildung, die auch die menschlichen Beziehungen pflegt, gar

nicht durchzuführen ist. Im übrigen ist die Bundesrepublik dasjenige

europäische Land, das seit einigen Jahren die meisten Hittel zur Ausbil­

dung von Fachkräften oder zur Forschung in Entwicklungsländern bereit­

stellt •

Han unterscheidet in Bonn folgende fünf Gruppen von Vorhaben, bei denen

Indien jeweils an bevorzugter Stelle berücksichtigt wird:

1. Ausbildungsstätten in Entwicklungsländern, insbesondere Schulen auf

wirtschaftlich technischem Gebiet

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2. Mustereinrichtungen, wie Prototyp-Werkstätten, landwirtschaftliche

Musterbezirke oder Mustergüter

3. Entsendung deutscher Sachverständiger

4. Aufnahme von Praktikanten und Stipendiaten

5. Volkswirtschaftliche Vorplanungen wie Anlage von Häfen, Förderung

von Bodenschätzen, Projekte des Gesundheitswesens.

Im zweiten FünfJahresplan soll die Zahl der technischen Lehranstalten

nach der Art unserer Ingenieurschule von 128 auf 153 erhöht werden. In

Kharagpur, das mitten im indischen Ruhrgebiet liegt, welches sich land­

einwärts Calcutta anschließt, wo auch Rourkela oder Jamshedpur, Sindri

und Chittaranja, Durgapur und Bokaro zu finden sind, wurde 1951 mit

deutscher Beteiligung die erste Technische Hochschule, das "Indian In­

stitute of Technology" gegründet. Hierbei hat Professor Dr.Ing.R.A.KRAUS

tatkräftig mitgewirkt. Außerdem trafen wir dort 1957 zwei weitere deut­

sche Professoren.

Es werden nun drei weitere Technische Hochschulen gebaut bzw. geplant.

Die eine ersteht im Süden bei Madras mit deutscher Unterstützung, die

andere im Westen unter den Fittichen der UNESCO mit russischer Beteili­

gung, die dritte soll in Kanpur, also im Norden, wahrscheinlich mit

amerikanischer Hilfe entstehen.

Für das sogenannte Deutsche Institut hat die Bundesregierung 15 Mill.DM

für die Ausrüstung, Laboratorien, Werkstätten, Zeichenbüros usw. be­

willigt. Sie stellt außerdem zHanzig Lehrkräfte und vier Werkmeister auf

drei bis fünf Jahre zur Verfügung. Es werden neun wissenschaftliche Ab­

teilungen und eine Anzahl von Werkstätten, darunter eine solche für

Instrumentenmacher, errichtet, auf die Indien größten Wert legt, da es

sie dort bislang noch nicht gibt.

Im Juli 1959 soll diese technische Lehranstalt, die von deutscher Seite

durch den bereits er'vähnten Professor KRAUS vorbereitet wird, eröffnet

werden. Wenn sie nach fünf Jahren voll in Betrieb ist, befinden sich

2 000 Studenten gleichzeitig in der Ausbildung. Der Andrang zum Studium

ist ungeheuer. Bereits in Kharagpur wurde mir gesagt, daß von 4 000

Bewerbern jeweils nur 350 angenommen werden können. Einige Lehrkräfte

in Madras werden Studenten aus Kharagpur sein, die damals auch Deutsch

lernten, dann in die Bundesrepublik gingen, hier als Konstrukteure aus­

gebildet wurden und nun mit reichem theoretischen und praktischen Wissen

in ihre Heimat zurückkehren. Das Institut in Madras bzw. die großzügige

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Page 87: Wirtschaftliche, technische und soziale Probleme im neuen Indien: Vortr¤ge zur Er¶ffnung der Deutsch-Indischen Ausstellung in Aachen am 14. November 1958

deutsche Unterstützung hierfür wurde Premierminister NEHRU als Geschenk

bei seinem Besuch in der Bundesrepublik Mitte 1956 angeboten.

Auch in der z\.rei ten Gruppe der Bonner Hilfe für Entwicklungsländer, näm­

lich den Muatereinrichtungen, ist Indien vertreten. Bundesaussenminister

von BRENTANO hat NEHRU bei einem Besuch in Neu-Delhi im März 1957 das

Projekt einer Prototyp- und Lehrwerkstätte als Geschenk überreicht. Die­

ses Projekt wird ein bedeutsames Zentrum im Rahmen der fünfzig "Indu­

strial Estates" sein, die Industrieminister SITAR für den zweiten Fünf­

jahresplan vorgesehen hat. Es entsteht in Okhla am südlichen Stadtrand

von Neu-Delhi und wird sich vor allem, wie schon der Name andeutet, mit

der praktischen und theoretischen Ausbildung von Fachkräften für die

Kleinindustrie befassen. Die Aufgaben sind im wesentlichen

a) Prototypen zu entwickeln

b) ihre Weitergabe an die Kleinindustrie zum Nachbauen

c) Ausbildung von Technikern

d) Durchführung gewisser sehr feiner Arbeiten, welche die Klein­

industrie vorerst noch nicht leisten kann.

Deutsche Spezialfirmen der Werkzeugmaschinenindustrie liefern die not­

wendigen Maschinen. Die Bundesregierung hat rund 4,5 Mill. DM bereit­

gestellt für Geräte und Maschinen, sowie sechzehn deutsche Fachleute

als Lehrer und Werkmeister.

Dieses Zentrum bei Okhla soll beispielgebend für andere werden. Jede

einzelne Werkstatt wird so eingerichtet, daß sie entweder selbst Muster

für einen kl~inen Fertigungsbetrieb ist oder mit ver~randten Werkstätten

zusammengefaßt einen genossenschaftlichen Betrieb bilden kann.

Entscheidend sind die Lehrwerkstätten. Um die Vorbereitung und Durch­

führung hat sich der Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten verdient

gemacht. Als deutscher Direktor, der für Ausbildung und Produktion ver­

antwortlich ist, wurde Dr. Walter MISCHKE, Direktor der Vereinigten Tech­

nischen Lehranstalten in Koblenz, als indischer Direktor, der vor allem

für die Verwaltung zuständig ist, Professor BOHRA bestellt. Die gewerb­

lichen Gebäude entstehen übrigens aus vorfabrizierten Betonplatten, wo­

durch gleichzeitig die Anregung zu einem neuen Industriezweig in Indien

gegeben werden soll. Etwa Mitte nächsten Jahres soll der Lehrbetrieb

aufgenommen werden.

Es gibt noch manche anderen Wege, auf denen sich die Bundesrepublik an

der früher schon behandelten "Aktivierung des Dorfes" beteiligt. Eine

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Delegation landwirtschaftlicher Experten unter Führung von Professor

Dr. Hans SCHILLER von der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim

prüft z.B.,wie sich Unternehmen der Bundesrepublik mit ihren Erfahrungen

an den dörflichen Projekten, den sogenannten Community Projects, mög­

lichst intensiv beteiligen können.

Diese außerordentlich starke Beteiligung an der Entwicklung Indiens

bewirkt, daß Indien nach USA unser stärkster überseeischer Abnehmer ist.

Der deutsche Aktivsaldo im Handel mit Indien hat sich von 1956 auf 1951

um etwa 40% erhöht. Er dürfte für das laufende Jahr rund 1 Mrd. DM aus­

machen. Soviel kaufte Indien in diesem Jahr; mit anderen Worten: mehr

von uns, als wir von ihm.

Dieses krasse Mißverhältnis ist der eine Grund der indischen Devisen­

misere. Wie läßt sie sich mildern?

Zunächst müssen sich die Inder mehr bemühen, den deutschen Markt und

seine Bedürfnisse kennenzulernen. Es gibt nicht mehr als drei indische

Geschäftsleute in der Bundesrepublik gegenüber einigen Tausend in Groß­

britannien. Deutschen Kaufleuten müßten Visum und Aufenthalt für Indien

einfacher als bislang gegeben werden. Die Bundesrepublik hat Absatz­

delegationen eingeladen und Marktexperten nach drüben geschlckt.

Die deutsche Einfuhr ist bis auf wenige Ausnahmen liberalisiert. Indien

muß also grundsätzlich konkurrieren. Über Kontingente klagt Indien bei

pflanzlichen Ölen, Jutewaren, Baumwolltextilien. Der Zoll für Jutegewebe

beträgt 20%, für handgefertigte Baumwollgewebe 1%. Außerdem ist der

Rückgang der Rohstoffpreise (Tee, Kaffee, Glimmer, Erze usw.) für den

Devisenmangel Indiens verant~ortlich. Hierzu sagte Professor ERHARD in

einem Vortrag vor dem Indian Council of World Affairs in Neu-Delhi u.a.:

Vor allem müssen die Industrieländer auch bereit und in der Lage sein,

die Landesprodukte der Entwicklungsländer in zügigem Fluß abzunehmen.

Eine weltweite Stabilisierung der Konjunktur würde gerade den Entwick­

lungsländern Schutz und Sicherheit bieten. Ähnlich hat sich die in Genf

tagende Konferenz des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) aus­

gesprochen und wörtlich in eine:ftl Gutachten erwähnt: "Es mag eine natür­

liche und wirtschaftlich sinnvolle Entwicklung sein, daß relativ arme

und dichtbevölkerte Länder wie Indien und Hongkong arbeitsintensive

Industriewaren ausführen sollten, um Nahrungsmittel wie Weizen aus hoch­

entwickelten Ländern wie Kanada, Australien oder USA einzuführen". Man

kann einen Schritt weitergehen und einen neuartigen Güteraustausch z1~i­

schen Entwicklungsländern und alten Industrieländern sich entfalten

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sehen. Übersee liefert einfache Industriegüter, die viel Handarbeit

erfordern, wir dagegen solche von hoher Präzision und Leistung. Vergessen

wir nicht, daß die Kaufkraft eines Entwicklungslandes wie Indien noch

riesige Reserven birgt. Es wird sich eine ganz neue Nachfrage herausbil­

den, die man selbstverständlich nur dann in Form von Lieferungen befrie­

digen kann, wenn man dem Land entsprechende Güter abnimmt. Außenhandel

war noch immer eine Zweibahnstraße. Umstellungen sind im Einzelfall

schmerzlich, im Außenhandel aber doch an der Tagesordnung, wenn wir nur

die unaufhaltsame Verlagerung unserer Ausfuhr von Konsum- auf Investi­

tionsgüter betrachten. Den mit einem Protektionismus heute wieder stark

liebäugelnden Teilen unserer Wirtschaft möchte man nicht die verheerenden

Folgen eines Exportrückganges um - sagen wir - nur 20 bis 30% wünschen.

Soll man wegen der Zukunft Indiens besorgt sein? Gewiss sollte man es.

Wenn aber der Westen seine moralische Verpflichtung fühlt, wird Indien,

dessen Wirtschaft im Kern gesund ist, seine Planungen verwirklichen

können. Wir dürfen besonders optimistisch sein im Anschluß an Äusserun­

gen führender Vertreter des Westens auf der Weltbanktagung in Neu-Delhi.

Professor ERHARD reiste nicht zuletzt nach Südasien, um für die künfti­

gen Beratungen der Bundesregierung zur Entwicklungshilfe Eindrücke und

Erfahrungen zu sammeln.

Lassen Sie mich zum Schluß und als Ausblick auf die Zukunft der deutsch­

indischen wirtschaftlichen Beziehungen kurz einige Fakten sowie Thesen

umreißen, die Professor ERHARD bei verschiedenen Gelegenheiten in Indien

äußerte und die uns auf weitere fruchtbare Beziehungen hoffen lassen:

1. Professor ERHARD hat das indische Wirtschaftssystem nicht nur ver­

standen, sondern auch gutgeheißen. Er sagte, "Dem einzelnen Menschen muß

die Chance der Entfaltung gegeben werden, und es muß ihm der Lohn der

Bewährung zufließen. In diesem Sinne bejahe ich den zweiten Fünfjahres­

plan, der den Aufbau im wesentlichen von unten her besorgt."

2. Professor ERHARD befürwortet deutsche Investitionen in Indien. Indien

habe, so sagte er, einen guten Ruf. Aussichten für Investierungen seien

daher günstig. Kreditgeber müßten das Gefühl der Sicherheit haben. Immer­

hin sei Indien die letzte Demokratie Südasiens. Als ideal hält Professor

ERHARD Beteiligungen in Betrieben zwischen 50 und 200 Beschäftigten.

Wie früher schon erwähnt, ist hier das betriebliche und technische Know

How am besten zu vermitteln.

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Page 90: Wirtschaftliche, technische und soziale Probleme im neuen Indien: Vortr¤ge zur Er¶ffnung der Deutsch-Indischen Ausstellung in Aachen am 14. November 1958

3. Man sollte den Aufbau einer Nadelindustrie in Indien nicht kritisie­

ren, '''eil keine Fachleute vorhanden seien. Wo >varen sie vorhanden, als

es anfing? Aus einer solchen Kritik spricht Protektionismus. Was sollten

wir bei einem Exportüberschuß von in diesem Jahr wieder 5 Mrd.DM anderes

tun, als unseren Partnern großzügig zu helfen? Die Inder haben Professor

ERHARD wiederholt gesagt, daß sie mehr Ausbildung wünschen. Deutsche

Firmen lehnen jedoch gelegentlich indische Trainees ab, um sich keine

Konkurrenz zu schaffen! Im übrigen versucht Indien mit möglichst wenig

Devisen viele Fachkräfte auszubilden. So erhalten z.B. Ägypter als Trai­

nees bei einem großen deutschen Werk einen Monatswechsel im Gegenwert

von 1 000 DM, Inder dagegen nur 350 DM. (Daß die Ägypter mit Kühlschrän­

ken usw. reich ausgestattet sind, sei nur am Rande bemerkt.)

4. Der Prozess der Befreiung des Menschen aus Not und Armut würde im

Zuge der normalen wirtschaftlichen Selbsthilfe zu lange dauern. Ange­

sichts des maßlosen Elends und des Entwicklungstempos in benachbarten

kommunistischen Ländern sind die Hestlichen Demokratien, wie Professor

ERHARD es ausdrückte, aus moralischer Verantwortung und Verpflichtung

ebenso wie aus politischer Zweckmäßigkeit zu helfen bereit.

5. Welcher Hilfsbetrag ist im zweiten Fünfjahresplan von draußen nötig?

Der Voranschlag war im öffentlichen Sektor rund 10 11rd. $ oder 40 Mrd.DM,

davon 7 11rd. DM als Devisenkredit. Im privaten Sektor sind 21 11rd. DM

vorgesehen. Aus den 7 I1rd. DM sind 10,5 I1rd. DM ge"lorden, so daß ein

Viertel der Plankosten von draußen finanziert wird; davon kommen fünf

Sechstel aus westliGhen Ländern.

6. Zu finanzieren sind noch rund 1 11rd • .$ (genau 950 Millionen). Davon

wurden im Augu.st in Washington auf Einladung der viel tbank 350 Millionen

als Soforthilfe für Zahlungen bis Ende März 1959 von den Hauptgläubigern

übernommen. Die Bundesrepublik übernahm 40 Mill. $, von den weiteren

600 Mill. $ will sie - wie Professor ERHARD in Neu-Delhi bestätigte -

60 Mill. $ übernehmen.

7. Großzügige Hilfen stellte in Neu-Delhi die Weltbank mit ihren Insti­

tuten in Aussicht. Das haftende'Kapital der Weltbank soll um 100% er­

höht werden. Bisher hat sie 3,2 Mrd. $ an Entwicklungsländer gegeben,

darunter 420 Millionen allein an Indien. DeI' WeltHährungsfonds, der

schwache Währungen vorübergehend stützt, will seine Quoten um 50% herauf­

setzen. Das kommt vor allem Entwicklungsländern, also den Schwächeren

zugute, die von der Einzahlung 1·'eniger tragen, dafür aber von Fall zu

Fall mehr erhalten werden.

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8. In einem Interview mit der "Times of India" sprach Professor ERHARD

von deutschen Anschlußkrediten über fünf Jahre hinaus, wobei das politi­

sche Risiko durch besondere Versicherung zu decken wäre. Hierbei würden

~or allem Länder profitieren, in denen dieses Risiko relativ gering ist,

z.B. Indien. Der Bundestag muß ein entsprechendes Gesetz noch gutheißen.

Zusätzliche Haushaltmittel werden für diese Kredite, um das noch kurz

zu sagen, grundsätzlich nicht gewährt. In Anspruch genommen werden soll

a) der freie Kapitalmarkt

b) der Fonds aus rückfließenden ERP-Mitteln mit insgesamt 260 Mill. DM;

im Hesentlichen für Anschlußkredite und Zinsverbilligungen.

Der Bundeshaushalt 1958 gibt ferner die Möglichkeit, Kredite bis zu

500 Mill. DM umzuschulden. Hierbei kann man an Rourkela denken. Unter

Einschluß dieser Umschuldungsmöglichkeit handelt es sich insgesamt um

einen Komplex von 1 Mrd. DM, der in dieser Höhe vom Bundeswirtschafts­

minister in Indien genannt wurde. Im übrigen geht es im wesentlichen um

Garantien und Bürgschaften, die erst dann zur Inanspruchnahme von Haus­

haltmitteln führen wür~en, wenn Geschäfte notleidend werden.

9. Entscheidend wird es sein, kurzfristige Kredite an Indien langfristig

zu konsolidieren, damit sie sich aus den Anlagen, für die sie gegeben

sind, bezahlt machen. Das Rourkela-Projekt z.B. hat ein Volumen von

1,2 Mrd. DM. Davon wurde im Frühjahr ein Prolongationskredit auf nur drei

Jahre gegeben. 1961 - 1965 kommen auf Indien Kredite im Gegenwert von

nicht "eniger als 4,5 Mrd. DM zu! Sinnvoll ist daher eine Regelung, wie

sie bei den erwähnten 40 Mil!. $ bzw. 168 Mil!. DM getroffen ,.urde, von

denen die letzte Rate erst in z,.anzig Jahren fällig 1.ird. Man muß reali­

stisch sein, auch in seinen Zugeständnissen.

Diese aus der Reise Professor ERHARDS nach Asien, insbesondere nach

Indien, gewonnenen Eindrücke ','erden nunmehr von den zuständigen Gremien

verarbeitet. Sie lassen keine Zweifel daran, wie heute wohl schon gesagt

werden kann, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Indien auch in

Zukunft ebenso freundschaftlich und nützlich wie bisher sein 1.ird, und

daß es uns durchaus möglich ist, den indischen Markt als bedeutsamen

Lieferanten, insbesondere aber als früheren Abnehmer zu erhalten.

Ob wir es können, haben wir von Fall zu Fall zu beweisen! !

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Page 92: Wirtschaftliche, technische und soziale Probleme im neuen Indien: Vortr¤ge zur Er¶ffnung der Deutsch-Indischen Ausstellung in Aachen am 14. November 1958

FO RSCH UN GS BERI CHTE

DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN

HEFT 124 Pmf. Dr. R. S..,ff.rl, Köln Wege und Kosten der Distribution der Hausratwaren im Lande Nordrhcin-Westfalen

1955, 74 S.ihn, 25 Tab.llm, DM 9,-

HEFT 217 Rationalisiertlllgskliratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW), Frankfurt/Main Typenvielzahl bei Haushaltgeräten und Möglichkeiten einer Beschränkung

1956,328 Seilen, 2 Abb., 181 Tabellen, DM 49,50

HEFT 222 Dr. L. Köllner, MÜlls/er muI Dipl.-Vol/emlirl M. Kaiser, Bochum Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der west­deutschen Wollindustrie

1956,214 Seilen, 5 Abb., DM 39,50

HEFT 288 Dr. K. Briicker-Steinleuhl, Düsse/dorf Anwendung mathematisch-statischer Verfahren in der Industrie

1956, 103 Seiten, 27 Abb., 14 Tabellen, DM 24,20

HEFT 323 Prof. Dr. R. Seyfferl, Köln Wege und Kosten der Distribution der Textilien, Schuh­und Lederwaren

1956,98 Seiten, 37 Tabellen, 1 Faillafel, DM 12,-

HEFT 353 Forschungsinstitutfür Rationalüiertlllg, AbI. D.leumentation, Aachen Schlagwortregister >ur Rationalisierung

1957,376 Seilen, DM 56,-

HEFT 364 Prof. Dr. Th. Beste, Köln Die Mehrkosten bei ,der Herstellung ungängiger Er­zeugnisse im Vergleich zur Herstellung vereinheitlich­ter Erzeugnisse

1957,352 Seiten, DM 50,-

HEFT 365 Prof. Dr. G. Ipsen, Dr. W. Christaller, Dr. W. Köttmann muI Dr. R. Mackensen, SoZialjorschungsstelle an der Uni­versilät MÜIIsler Zu Dortmmul Standort und Wohnort

1957, Textband : 350 Seiten, 28 Karlen, 73 Tab. Anlageband : 15 Karlen, 21 Tab., DM 99,-

HEFT 437 Dr. l. M..,er, Köln Geldwertbewußtsein und Münzpolitik. - Das soge­nannte Gresham'sche Gesetz im Lichte der ökonomi­schen Verhaltensforschung

1957, 80 Seilen, DM 20,30

HEFT 451 Prof. Dr. G. Schmölders, Köln Rationalisierung und Steuersysrem

1957, 78 S.it.n, DM 17,15

HEFT 469 Dr. sc. agr. F. Riemann muI Dipl.- Vol/eml. R. Hengslenberg, GÖltingen Zur Industrialisierung kIeinbäuerlicher Räume

1957, 130 Seiten, 5 Karten, 23 Tabellen, DM 27,-

HEFT 477 Sozialjorschungsstelle an der UniverJitäl MÜllster Zu Dortmund Beittäge zur Soziologie der Gemeinden. Teil I: Dr. K. Utermann, Dortmmul Freizeitprobleme bei der männlichen Jugend einer Zechengemeinde

1957,56 Seiten, DM 12,75

Herausgegeben durch das Kultusministerium

WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN

HEFT 563 Sozia/forschungsstelle an der Universität MÜllster Zu Dort­mmul Beittäge zur Soziologie der Gemeinde im Ruhrgebiet. Teil II: Dr. D. v. Oppen, Dortmmul Familien in ihrer Umwelt

1958, 104 Seiten, DM 26,10 HEFT 564 Sozialforschungls/.lle an der Unikrsität MÜllster Zu Dort­mmuI Beittäge zur Soziologie der Gemeinde im Ruhrgebiet. Teil III: H. Croon, Dortmmul Probleme der Gemeindeverfassung in der industriellen Gesellschaft in Vorbereitung

HEFT 565 SozialjorschungJStelle an der Universitöl MÜllster Zu Dort­mmul Beiträge zur Soziologie der Gemeinde im Ruhrgebiet. Teil IV: Dr. K. Hahn muI Dr. R. Maclemmr, Dorlmmul Die kommunale Neuordnung des Ruhrgebietes, dar­gestellt am Beispiel Dortmunds

1958, 154 Seiten, 14 Karten, DM 42,80

HEFT 566 Dr. H. Klages, Dorlmmul Der Nachbarscbaftsgedanke und die nachbarliche Wirk­lichkeitinderGroßstadt 1958,256 Seilen, DM 47,-

HEFT 572 Dipl.-Kfm. Dipl.-Vol/eml. Dr. ].-B. Feiten, Köln Wert und Bewertung Fer Unternehmungen unter besonderer Berücksichtigung der Energiewirtschaft

in Vorbereitung

HEFT 591 Dr. Schalrer, Köln Aufgabe, Struktur und Entwicklung der Stiftungen

1958, 50 Seiten, DM 16,40

HEFT 592 Verein zur Fördertlllg des Forschungsinstituts für Rationali­siertlllg an der Rhein.-WestJ. Technischen HOCbSChuk Aachen Das Forschungsinstitut für Rationalisierung an der Rhein.-Wesrf. Technischen Hochschule Aachen

in Vorbereitung HEFT 601 W. Barho muI E. Stiller, Köln Die Lage des Technisch-Wissenschaftlichen Nach­wuchses und der Technisch-Wissenscbaftlichen Hoch­schulen in der Bundesrepublik

in Vorbereitung

HEFT 602 H. v. Steblll, Köln Die Hochschulen in der AufwärtsentwickIung West­deutschlands

in Vorbereitung HEFT 604 Dipl.-Ing. H. Gröltrup, Aachen Studienanalyse balbautomatischer Dokumentations­sclektoren

1958,112 S.iten, 50 Abb., DM 28,50

HEFT 607 Dr. H. Scblachter, MÜllster Die Wettbewerbslage der westdeutschen Juteindustrie

1958,137 Seiten, 3STab., DM 32,-

HEFT 624 Prof. Dr. G. Schmölders, Köln Progression und Regression

HEFT 636 Dr. phi!. S. Baden, Aachen

in Vorbereitung

Richtwerte für Zeitaufwand und Kosten von Doku­mentationsarbeiten

1958,68 Seiten, DM 16,20

HEFT 641 Dr. phi!. M. Gnielinslei, Aachen Die industrielle Produktivität in neuerer Sicht

in Vorbereitung HEFT 658 Dipl.-Kfm. Dr. H. Grupe, Köln Public Relations in der öffentlichen Energieversorgung

HEFT 677 Dr. sc. agr. Fritz Riemann, Dipl.- Vol/eml. R. Hengsten­berg, Dipl.-UIV. G. Bunge, Göttingen Der ländliche Raum als Standort industrieller Fertigung

HEFT 678 Dipl.-Vol/eml. Dr. O. Blume, Dipl.-Volm. I. Heider­mann, Dipl.-Handelslehrer Dr. E. Kuhlmeyer, Köln-Linden­thai Wirtschaftsorganisatorische Wege zum gemeinsamen Eigentum und zur gemeinsamen Verantwortung der Arbeitnehmer, I. Teil und 11. Teil

Ein Gesamtverzeidmis der Forschungsberichte, die folgende Gebiete umfassen, kann bei Bedarf vom Verlag angefordert werden:

Acetylen I Schweißtechnik - Arbeitspsychologie und -wissenschaft - Bau I Steine I Erden - Bergbau - Biologie - Chemie - Eisenverarbeitende Industrie - Elektro­technik I Optik - Fahrzeugbau I Gasmotoren - Farbe I Papier I Photographie - Fertigung - Gaswirtschaft - Hüttenwesen I Werkstoffkunde - Luftfahrt I Flug­wissenschaften - Maschinenbau - Medizin I Pharmakologie I Physiologie - NE-Metalle - Physik - Schall I Ultraschall - Schiffahrt - Textiltechnik I Faserforschung I Wäschereiforschung - Turbinen - Verkehr - Wirtschaftswissenschaften.