Wissen, Kommunikation und Gesellschaft€¦ · Harald Dern Tatortbilder in der Fallanalyse ........

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Transcript of Wissen, Kommunikation und Gesellschaft€¦ · Harald Dern Tatortbilder in der Fallanalyse ........

  • Wissen, Kommunikationund GesellschaftSchriften zur Wissenssoziologie

    Herausgegeben vonH.-G. Soeff ner, Essen, DeutschlandR. Hitzler, Dortmund, DeutschlandH. Knoblauch, Berlin, DeutschlandJ. Reichertz, Essen, Deutschland

  • Wissenssoziologinnen und Wissenssoziologen haben sich schon immer mit der Beziehung zwischen Gesellschaft (en), dem in diesen verwendeten Wissen, seiner Verteilung und der Kommunikation (über) dieses Wissen(s) befasst. Damit ist auch die kommunikative Konstruktion von wissenschaft lichem Wissen Gegenstandwissenssoziologischer Refl exion. Das Projekt der Wissenssoziologie besteht in der Abklärung des Wissens durch exemplarische Re- und Dekonstruktionen gesell-schaft licher Wirklichkeitskonstruktionen. Die daraus resultierende Programmatik fungiert als Rahmen-Idee der Reihe. In dieser sollen die verschiedenen Strömungenwissenssoziologischer Refl exion zu Wort kommen: Konzeptionelle Überlegungen stehen neben exemplarischen Fallstudien und historische Rekonstruktionen stehen neben zeitdiagnostischen Analysen.

  • Michael R. Müller • Jürgen Raab Hans-Georg Soeffner (Hrsg.)

    Grenzen der Bildinterpretation

  • HerausgeberProf. Dr. Michael R. MüllerUniversität VechtaDeutschland

    Dr. Jürgen RaabUniversität Koblenz-LandauLandau, Deutschland

    Prof. Dr. Hans-Georg Soeff nerKulturwissenschaft liches Institut EssenDeutschland

    ISBN 978-3-658-03995-0 ISBN 978-3-658-03996-7 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-03996-7

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    Lektorat: Dr. Andreas Beierwaltes, Katharina Gonsior

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  • Inhalt

    Zur Einleitung

    I. (Un-)Übersetzbarkeit

    Gottfried BoehmBildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache . . . . . . . 15

    Wolfgang W. MüllerText und Bild: eine komplexe Beziehungsgeschichte. Anmerkungen eines Theologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    Hans-Georg SoeffnerZen und der » kategorische Konjunktiv « . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

    II. (Nicht-)Indexikalität

    Bernd StieglerConan Doyle, Visual History und das Indizienparadigma. Elfenfotografien als historische Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

    Felix KellerVerwischte Gesichter. Grenzen der Interpretation automatisch erzeugter Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

    Der Denkstil der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . 9... .. .. .

  • 6 Inhalt

    Roswitha BrecknerOffenheit – Kontingenz – Grenze ? Interpretation einer Porträtfotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    Harald DernTatortbilder in der Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

    III. (De-)Kontextualisierung

    Gunnar SchmidtAm Abgrund des Gesichts. Über medienkünstlerische Horrorszenarien . . . . . . . . . . . . . . . 171

    Michael R. Müller & Jürgen RaabDie Produktivität der Grenze – Das Einzelbild zwischen Rahmung und Kontext . . . . . . . . . . . . . 197

    Angela KepplerZeigen ohne zu sagen. Zur Rhetorik des Fernsehbildes . . . . . . . . . 223

    Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

  • Zur Einleitung

  • Der Denkstil der Grenze

    Wissenssoziologisches Denken hat sich schon immer zwischen zwei Polen bewegt: den Dispositionen der menschlichen › Natur ‹ und ihres evolutionären Erbes einer-seits und dem Verstehen und Erklären der Kulturbedeutung menschlichen Han-delns, Wissens und Produzierens andererseits. Bis zum Aufstieg der visuellen Kul-tur der Moderne, mit ihren Sehschulen der zentralperspektivischen Malerei und sich aus ihr entwickelnden Fotografie, dem Film, Fernsehen, Video und Inter-net, standen die visuellen Erkenntnisformen des Menschen und seine bildlichen Vorstellungsweisen von sich und der Lebenswelt noch weitgehend in unmittelba-rer Verbindung mit den natürlichen Anlagen und Grenzen seiner Körperlichkeit. Doch die technologisch-medialen Simulatoren und Stimulatoren verfeinern und überhöhen immer umfassender, was kulturell und sozial immer schon ausgebildet ist. So erfährt die anthropologische Disposition Sehen historische, kulturelle und soziale Ausprägungen, die in verschiedenen Medien unterschiedliche Ausdrucks-gestalten annehmen, dort als symbolische Formen › festgestellt ‹ sind und sich mit ihrer Rekursivität und Diskursivität der wissenssoziologischen Auslegung auf-drängen. Denn » wenn es wahr ist «, wie bereits Georg Simmel notierte, dass » die Kultur […] die Art bestimmt, wie wir die Natur sehen, wenn die spontane und subjektive Abstraktion aus der Wirklichkeit […] das scheinbar so unmittelbare sinnliche Bild derselben für unser Bewusstsein formt « (Simmel 2001: 615), welche Rückwirkungen haben dann die visuellen Medien der Gegenwart und ihre tech-nischen Bilder auf die kommunikative Darstellung, Wahrnehmung und Deutung von sozialer Wirklichkeit und sozialem Wissen ?

    Angesichts der massenhaften Verbreitung und alltäglichen kommunikati-ven Nutzung elektronisch-digitaler Medien zur Bildproduktion, zur Bilddistribu-tion und Bildrezeption ist immer wieder von der Omnipräsenz, der Ubiquität, ja von der Flut der Bilder die Rede. Zugleich aber geht der Eindruck, jede subjek-tive und gesellschaftliche Wirklichkeit könne und müsse zum Bild werden, mit

    M. R. Müller et al. (Hrsg.), Grenzen der Bildinterpretation, Wissen, Kommunikationund Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-03996-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

  • 10 Der Denkstil der Grenze

    der Klage einher, immer weniger › Eigentliches ‹, › Wahres ‹ und › Wirkliches ‹ fände auf diese Weise den Weg in die symbolischen Reservoirs gesellschaftlichen Wis-sens. Erkenntnistheoretisch gründlich irritiert wurde der – nur bedingt rationale – Glaube an die Objektivierbarkeit des Wissens allerdings schon lange vor dem so-genannten iconic turn, visual turn oder pictorial turn hin zu › neuen ‹, nun visuellen Wissensquellen: nicht nur durch die sokratische Ironie, die dem über sein Wis-sen reflektierenden Menschen die paradoxe Gewissheit schenkte, dass er über das Nicht-Wissen besser Bescheid wisse als über das Wissen (» Ich weiß, dass ich nicht weiß «), sondern auch durch den schon früh ausgesprochenen und selbst in der Aufklärung anhaltenden Zweifel, dass ein sicheres, › reines ‹, objektives Wissen nur schwer zu erreichen, Verunreinigung, Täuschung und illusionäre Gewissheit da-gegen der Normalfall sei. Störquellen entdeckte man (exemplarisch: Kant) in den Konstitutionsbedingungen menschlicher Erfahrung, in der Unzuverlässigkeit der Erinnerung und des Gedächtnisses, in den Einflüssen von Tradition, Sozialisation und vorgegebener sozialer Typik, und nicht zuletzt in den zentralen Vermittlungs- und Speicherungsmedien des Wissens: der Sprache (Nietzsche) und dem Bild.

    Die lange Zeit eher bildfernen Kultur- und Sozialwissenschaften haben sich des Symbolsystems Bild inzwischen – in durchaus auch abgemildert kulturpes-simistischer Haltung – angenommen. Sie haben begonnen, ihre theoretischen und vor allem ihre analytisch-interpretativen Ansätze des deutenden Verstehens und ursächlichen Erklärens (Max Weber) an die visuellen Medien und ihre tech-nischen Bilder anzulegen, sie an ihnen zu überprüfen und zu erweitern. Doch ihre rekonstruktiven Zugänge stoßen immer wieder auf methodologische Fra-gen und analytische Probleme, mithin an die Grenzen der methodisch kontrol-lierten Bildauslegung und des intersubjektiven Bildverstehens. Denn anders als die Routinen des alltagsweltlichen Bildgebrauchs und Bildverstehens werden wis-senschaftliche Bildanwendungen und Bildauslegungen regelmäßig ausgebremst und irritiert. Etwa wenn ikonische Besonderheiten (Abstraktionen, Modulatio-nen, Ornamentierungen etc.), neuartige technische Trägermedien (Displays) oder komplexe intermediale Verschiebungen oder Überschreitungen die wissenschaft-lichen Beobachterinnen und Beobachter auf Unzulänglichkeiten in den ihnen ver-fügbaren Prinzipien und Methoden zur Bildanalyse aufmerksam machen. Oder wenn sich ganz allgemein der Versuch einer » Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks « (Plessner 2003) den semantischen und syntaktischen Darstellungs-möglichkeiten einer wissenschaftlichen Sprache entzieht.

    An solchen Grenzen gerät indes nicht nur der Fluss wissenschaftlicher Aus-legungsroutinen ins Stocken. Entsprechende Grenzerfahrungen verweisen po-tentiell auch auf Problemlagen und Entwicklungen der gesellschaftlichen Kom-munikation und Konstruktion von Erfahrung, Wissen und Imagination (Berger/Luckmann 2004), in denen sich tradierte visuelle Evidenzen abschleifen oder

  • Der Denkstil der Grenze 11

    neue visuelle Formen herausbilden und sich die gesellschaftliche Bildproduk-tion verändert und weiter ausdifferenziert. Dort nämlich, wo in methodologischer Hinsicht die wechselseitige (Un-)Übersetzbarkeit von Bild und Sprache diskutiert wird (und werden muss), da haben rhetorische Techniken oder religiöse Diskurse längst die Grenzziehungen zwischen Bild und Sprache neu verhandelt, überschrit-ten oder befestigt und so das Gefüge gesellschaftlich verfügbarer Wissens- und Darstellungsformen verändert. Dort, wo die Bezugnahme fotografischer Medien auf die › wirkliche ‹ Welt: ihre (Nicht-)Indexikalität debattiert wird (und werden muss), da eröffnen bildtechnische Abstraktionen und Modulationen längst syste-matische Möglichkeiten und Freiräume der Skepsis und der Imagination und prä-formieren beispielsweise entsprechende kriminalistische oder wissenschaftliche Verfahren des Erkenntnisgewinns und der » Evidenzauszeichnung « (Jäger 2008: 312). Dort schließlich, wo das methodische Problem variabler Bildkontexte ver-handelt wird (und werden muss), da prägen gezielte Herauslösungen von Seh-erfahrungen und Bilddarstellungen aus ihrem » sympraktischen Umfeld « (Bühler 1965: 154) und überformen deren mediale Rekontextualisierungen längst die per-suasiven Symbolformen politischen Handelns, die Nachrichtenvermittlung, die Werbekommunikation und die Kunst.

    Schon der klassische Darstellungstypus des Einzelbildes trägt in den Begren-zungen und Rahmungen seines piktoralen Darstellungsfeldes die fraglichen Am-bivalenzen hinsichtlich Übersetzbarkeit, Indexikalität und Kontextualisierbarkeit medial in sich. Für bildhaftes Wissen scheint demnach grundsätzlich dasselbe zu gelten, wie für jedwedes gesellschaftliche Wissen: Wer es hervorbringt oder zum (interpretativen) Gegenstand macht, hat es immer schon mit der Dialektik von Wissen und Nichtwissen zu tun, mit dem Spannungsverhältnis von Evidenz und Täuschung, und mit dem Zugleich von rational erscheinender Intention auf der einen und irrationalen Motiven der Sehnsucht nach Wissen auf der anderen Seite. Die Ambivalenz des Wissens ist nicht nur eine methodologische Grenzerfahrung, sondern auch ein zentrales Wesensmerkmal dieses Wissens.

    Der vorliegende Band nimmt sich daher bewusst und gezielt unterschied liche (analytisch zunächst durchaus unliebsame) » Grenzen der Bildinterpretation « zum Thema. Seine Autorinnen und Autoren verpflichten sich darauf, aus den Per-spektiven der Soziologie, der Theologie, der Geschichts- und der Medienwissen-schaft die jeweiligen Grenzen ihrer Interpretationsverfahren und ihrer Interpreta-tionserfahrungen als methodisch eindrückliche Manifestationen der symbolischen und kommunikativen Besonderheit gesellschaftlicher Bildproduktionen zu sondie-ren und zu erörtern. Weder hegen die Autorinnen und Autoren des Bandes also die paradoxe Absicht, eine vermeintliche › Unsagbarkeit ‹ des Ikonischen zu be-nennen, noch folgen sie der ambitionierten Fiktion einer endgültigen interpreta-tiven Objektivierbarkeit gesellschaftlichen Bildwissens. Statt dessen verfolgen sie

  • 12 Der Denkstil der Grenze

    einen – im Kern methodologischen – Denkstil, der bildinterpretative Grenzer-fahrungen immer auch als mögliches » Widerstandsaviso « (Fleck 2011: 227) gegen tradierte Definitionen des Deutungsgegenstandes › Bild ‹ und seiner Deutungs-möglichkeiten auffasst. Ein solcher Denkstil wird die genannten Ambivalenzen des Mediums Bild nicht nur aufgreifen, sondern fallanalytisch rekonstruieren und theoretisch vertiefen. Ihm geht es um die Analyse der kulturellen Konstitutions-bedingungen und der sozialen Anlässe ebenso, wie der historischen Einbettungen und der technischen Kommunikationsformen von gesellschaftlichem Bildwissen.

    In diesem thematischen Zuschnitt versteht sich der vorliegende Band als im Grundsatz wissenssoziologisch fundiertes, zugleich aber interdisziplinär orien-tiertes Projekt zur Diskussion der gesellschaftlich-kommunikativen Funktions-weisen bildhafter Darstellungen einerseits und der Bedingungen und Möglich-keiten sozial- und kulturwissenschaftlichen Bildverstehens andererseits. Die nachfolgend versammelten Beiträge machen deutlich, dass die Weiterentwick-lung einer sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Hermeneutik des Bildes weit weniger, wenn überhaupt, die Produktion weiteren, methodisch standardi-sierten Rezeptbuchwissens erfordert, als vielmehr vertiefte Auseinandersetzun-gen mit den in der symbolischen Konstitution und Formung von Bildern angeleg-ten Besonderheiten medialer Darstellungen. Die zu gewinnenden Einsichten und Kenntnisse stellen neue Möglichkeiten der wissenschaftlichen Bildauslegung wie auch des alltagsweltlichen Bildverstehens in Aussicht.

    Michael R. Müller, Jürgen Raab & Hans-Georg Soeffner

    Literatur

    Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (200420, zuerst 1967): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main.

    Bühler, Karl (1965), Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart.Jäger, Ludwig (2008), » Indexikalität und Evidenz. Skizze zum Verhältnis von referentieller

    und inferentieller Bezugnahme «, in: Wenzel, Horst/Jäger, Ludwig (Hg.), Deixis und Evidenz, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien, S. 189 – 315.

    Fleck, Ludwik (2011, zuerst 1935), » Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahr-nehmung im allgemeinen «, in: ders., Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schrif-ten und Zeugnisse, hgg. von Sylwia Werner u. Claus Zittel, Frankfurt am Main, S. 211 – 238.

    Plessner, Helmuth (2003, zuerst 1967), » Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks «, in: ders., Ausdruck und menschlich Natur, Gesammelte Schriften VII, Frankfurt am Main.

    Simmel, Georg (2001, zuerst 1900), Philosophie des Geldes, Frankfurt am Main.

  • I. (Un-)Übersetzbarkeit

  • Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache

    Gottfried Boehm

    I Ekphrasis und Deskription

    Der alte Name der Ekphrasis, mehr als zwei Jahrtausende im Gebrauch, lässt an einer Gleichung zwischen der Sprache und den Bildern keinerlei Zweifel auf-kommen. Als rhetorische Disziplin oder literarische Gattung zeugt die Ekphra-sis von der Bildkraft der Sprache und von ihrer Fähigkeit, Bilder zu erzählen (vgl. Graf 1995, Halsall 1992). Sie gesellt sich anderen kulturellen Phänomenen hinzu, welche Synthesen zwischen verschiedenen Sinnesleistungen ausmünzen, wie das Schauspiel, die Oper, der Tanz u. a. Die lange und verwickelte Geschichte der Ek-phrasis beweist, dass das treffende Wort gefunden wurde, so sehr sich zwischen Homers Schild des Achilleus, den spätrömischen Eikones des Philostrat, byzan-tinischen Ekphrasen, Vasaris Rückgriffen und Erneuerungen und der kunsthis-torischen Bildbeschreibung bei Winckelmann, Burckhardt oder Panofsky Wand-lungen der Funktion und der Struktur eingestellt haben. Bis ins 20. Jahrhundert stand nicht in Frage, dass Bild und Sprache in ein Verhältnis zueinander geraten könnten, in welchem sich ihre wechselseitige Verwandtschaft als brüchig erweist. Der alte Wetteifer zwischen den Künsten, wie ihn die horazische Formel ut pic-tura poesis oder die paragone-Literatur belegen, basierte auf ihrer prinzipiellen Vergleichbarkeit. An einen möglichen Abbruch der Referenz zwischen Wort und Bild dachte niemand.

    Warum auch sollte das Bild verstummen und die Rede erblinden ? Wo sie sich doch wechselseitig so glänzend zu erhellen und zu ergänzen vermochten ? Er-klärt diese kulturelle Prämisse bereits auch, warum wir zwar über eine reiche Ge-schichte der Bildbeschreibungen verfügen, sehr viel weniger aber über Reflexio-nen darüber, was die Konvergenz von Bild und Wort trägt und ermöglicht ? Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts erwachte ein Problembewusstsein, das sich seit-dem – insbesondere unter Vorzeichen der vorgerückten Moderne – verschärfte:

    M. R. Müller et al. (Hrsg.), Grenzen der Bildinterpretation, Wissen, Kommunikationund Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-03996-7_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

  • 16 Gottfried Boehm

    bis zum Widerspruch, zur völligen Weglosigkeit. Es erfasst auch die Künstler in ihrem Tun. Sie folgten solchen ästhetischen Maximen, die auf die Scheidung des Verbundenen zielten. Die Forderung nach Reinigung und Reinheit, beispielsweise, führte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dazu, dass sich die Malerei um ein » rein visuelles « Bild bemühte, das allen Ballast der Sprache abwarf, die Fäden zu den Bedeutungswelten des tradierten Sprachhumanismus (zu Mythos, Reli-gion oder Historie) zu kappen suchte, sie in ein Bildgewebe zurückband, das › rein malerische ‹ oder › impressive ‹ Zugänge zur Wirklichkeit eröffnete. Auch andere Zeugnisse belegen den Prozess einer Sprachskepsis, die das Bild als etwas › Un-sagbares ‹ versteht, die Poesie als extrem vieldeutig und von der diskursiven Spra-che weitgehend losgekoppelt. Diese Verschärfung der Gegensätze eröffnet auf die literarische Gattung der Ekphrasis einen ganz anderen Blick. Die Bildbeschrei-bung erscheint nicht länger als ein peripherer historischer Stoff oder eine rhetori-sche Übung, sie markiert jetzt vielmehr das zentrale erkenntniskritische Problem besonders derjenigen Disziplinen, die mit Bildern oder Bildtexten umgehen: den mit materieller Kultur befassten Kunstwissenschaften auf der einen, der Philolo-gie bzw. Literaturgeschichte auf der anderen Seite. Auch eine Themenstellung wie die des vorliegenden Bandes1 ist erst jetzt möglich, die darauf zielt, die Untersu-chung von Bildbeschreibungen mit der Erkundung ihrer Voraussetzungen zu ver-binden. Die Geschichte der Moderne vermittelt uns ein Bewusstsein davon, dass die Grenzen zwischen Bild und Sprache einen ambivalenten Bezug repräsentie-ren – sie trennen und sie verbinden.

    Die erkenntniskritische Rolle der Beschreibung ist freilich nicht nur eine mo-derne Entdeckung. Sofern die Philosophie mit Problemen der Sprache befasst war, gehörte die Unterscheidung von verbalen Zeichen und Bildern bzw. von Beschrei-bung, Bericht oder Erzählung zu ihren angestammten Aufgaben. Bereits die Über-setzung des griechischen Wortes Ekphrasis ins Lateinische schloss eine Bedeu-tungsverschiebung ein. Die Kategorie descriptio gewann danach eine Weite und Wichtigkeit, die – wie wir sehen werden – den Bereich der humaniora überschritt. Dennoch hat sich das Bewusstsein von der Sprachabhängigkeit, beispielsweise des kunsthistorischen Tuns, bis heute noch kaum etabliert. Was immer der Interpret eines bildnerischen Werkes methodisch im einzelnen herausarbeiten mag: ob ihn historische Prämissen, philologische Kritik, ikonographischer Gehalt oder die äs-thetische Physiognomie beschäftigen, das Nadelöhr seiner Arbeit ist die sprach-liche Erfassung des Phänomens. Erst in der Sprache gewinnt der Wissenschaftler eine Instanz, die zur Kontrolle und Kritik seiner Einsichten geeignet ist. Erst in ih-rem Lichte lässt sich die erforderliche Präzision erzielen und eine Verständigung, die das Wahrscheinliche vom Inplausiblen zu unterscheiden vermag.

    1 Der Beitrag erschien zuerst in Boehm/Pfotenhauer (1995: 23 – 40).

  • Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache 17

    Die ältere Tradition der descriptio führt uns nicht nur ins Feld der Rheto-rik und der Kunsttheorie, sie erschließt – über die griechische Ekphrasis hinaus – auch die Bereiche des exakten Wissens. Schon seit der Antike spricht man (bis in den heutigen Schulunterricht) von der » Beschreibung einer Kurve «. Die Katego-rie der descriptio meint jetzt weder ein rhetorisches Sprachbild noch die sprach-liche Darlegung eines Gemäldes, sondern das bildbezogene Tun des Mathemati-kers. Es bezieht sich auf die vorgängige Erzeugung eines geometrischen Gebildes, nicht auf seine nachträgliche Betrachtung und Erfassung. Die Sprache ist jetzt die der Zahlen, die vermittels mathematischer Gleichungen etwas Sichtbares allererst hervorbringen. Übrigens hat dieses mathematische Erzeugungsmodell auch auf die Geschichte des Bildes eingewirkt. In ihr vereinigen sich rhetorische und eukli-disch-pythagoräische Traditionen. Von Villard de Honnecourt über Leonardo da Vinci bis zu Kandinsky oder Klee gab es ein Bewusstsein davon, dass sich das Bild auf die Handlung der Linie zurückführen lässt, die aus dem Punkt die Dimen-sion der Fläche und des dargestellten Raumes hervortreten lässt (vgl. Boehm 1985: 45 ff., Kandinsky 1926, Klee 1925, 1964: 19 ff., 103 ff.). Diese mathematische descrip-tio (als eine Erzeugungsregel) lässt sich von der eigentlichen Ekphrasis, die das fertige Bild zu beschreiben trachtet, stets klar unterscheiden.

    Diderot spricht in der Enzyklopädie anlässlich der descriptio ganz generell von einem » Handeln, welches eine Linie zieht «, wobei er zwei Arten unterschei-det, eine vermöge kontinuierlicher Bewegung, eine andere vermittels mehrerer Punkte. Die Deskription in den » Belles-Lettres « sehe dagegen völlig anders aus. Sie sei eine unvollkommene und wenig exakte Definition, bei der es darum gehe, eine Sache vermittels einiger Eigenschaften und Umstände kenntlich zu machen, so weit, dass eine Idee davon entstehe, um sie von anderen zu unterscheiden – ohne dass deren Natur oder Wesen entwickelt würde. Diese skeptische Einschät-zung der Deskription in der Enzyklopädie hat Diderot (1754: 878) freilich nicht daran gehindert, die literarische Bildbeschreibung in seinen » Salons « (1759 – 81) besonders subtil zu kultivieren.2

    Damit berühren wir aber auch eine philosophische Debatte, die – vor allem unter neuzeitlichen Vorzeichen – darüber geführt wurde, ob und inwieweit Be-schreibungen überhaupt in das Wesen einer Sache einzudringen vermögen. Wenn sie die Sache nicht hervorbringen (wie im reinen Fall der Geometrie) scheinen sie etwas Nachträgliches und Unvollkommenes zu bleiben; einen geminderten Er-kenntniswert zu behalten. In der polemischen Entgegensetzung von Beschreibung versus Erklärung übertrug sich dieses Problem auch auf den Paragone zwischen

    2 Eine andere Art der Deskription bietet noch die Naturgeschichte, die es mit den » Produktio-nen der Natur « zu tun hat. Zu den » Salons « (1759, 1761, 1763, 1765, 1767, 1769, 1775 und 1781) und ihren Bildbeschreibungen vgl. Langen (1948).

  • 18 Gottfried Boehm

    Natur- und Geisteswissenschaften. Dilthey wies in diesem Sinne einer geisteswis-senschaftlichen Psychologie das Verfahren der Beschreibung zu, der exakten Na-turwissenschaft dagegen die Hypothesenbildung, die nach zwingenden Regeln der Kausalität das Erscheinungsbild der Dinge erklären (weil herleiten) könne (vgl. Angehrn 1995, Hilmer 1995, Orth 1995).

    Edmund Husserls » Kunst der Betrachtung «, genannt Phänomenologie, kann als der großangelegte Versuch gewertet werden, jene unbefriedigende Diskrepanz zwischen einem erkenntnisschwachen Beschreiben und einem phänomenfer-nen Erklären aufzulösen. Das von ihm entwickelte Verfahren einer » reinen « Be-schreibung arbeitet an der Sache selbst ihre wesentliche Gestalt, ihre apriorischen Konstitutionsbedingungen im Akt des Betrachtens heraus.3 Husserl erneuert, so gesehen, auf die Antike zurückgehende Traditionen, in denen die sprachliche Be-schreibung wirklichen Sachaufschluss bietet, das » genaue Selbst « (auto to akri-bes) benannt wird (Platon 1988: 284-e ff.). Wie vermittelt auch immer: Auch die großen Kritiker der neuzeitlichen Naturwissenschaft (mit ihren mathematischen Erzeugungsmodellen) schlagen sich auf die Seite der Beschreibung, suchen de-ren Erkenntniskraft zu stärken. Nicht zuletzt der Anti-Newtonianer Goethe oder Alexander von Humboldt, dessen » Kosmos « eine physikalisch-physiognomische Erdbeschreibung zu liefern trachtet, die den emphatischen Titel seines Buches rechtfertigen soll ?4

    II Die Distanz von Wort und Bild in der Moderne

    Der Verlust des Selbstverständlichen öffnet, nicht eben selten, die Augen. In die-sem Sinne wollen wir unsere Fragestellung an dem präzisieren, was man die histo-rische Lehre der Moderne nennen könnte. Sie besteht in der wachsenden Distanz, die Wort und Bild zu- und füreinander einnehmen. Die Ursachen dieses Vorgangs lassen sich an dieser Stelle nicht diskutieren, doch spricht einiges dafür, dass es

    3 Husserl unterscheidet die phänomenologische Deskription von der geometrischen, wel-che deduktiv vorgeht. Der Geometer arbeite mit » Ideal-Begriffen «, die auch festhalten, was » man nicht sehen kann «, der Phänomenologe dagegen arbeite mit den Abschattungen der sichtbaren Dinge, gehe über die Modalitäten ihres Erscheinens auf deren Wurzeln und Prä-missen, d. h. auf Konstitutionsbedingungen zurück (Husserl 1950: 168 ff., §§ 73 ff.).

    4 Zu Goethes Bildbeschreibungen, den Grundlagen seiner Beschreibungskunst, vgl. Oster-kamp (1991). Alexander von Humboldt suchte den » bisher unbestimmt aufgefassten Begriff einer physischen Erdbeschreibung « durch eine » erweiterte Betrachtung «, » durch das Um-fassen alles Geschaffenen im Erd- und Himmelsraume in den Begriff einer physischen Welt-beschreibung « überzuleiten (1844: Vorrede). Seine Betrachtungen schließen die Kategorie des » Naturgenusses « ein, unternehmen es » den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt « (1844: Einleitung).

  • Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache 19

    das moderne Bestreben nach Erfahrungserweiterung (im quantitativen wie qua-litativen Sinne) gewesen ist, welches dazu führte, die einzelnen Sinnesvermögen (und ihre Ausdrucksformen) zu thematisieren, sie voneinander zu scheiden, ihre genuinen Potentiale zu erkunden. Die im 19. Jahrhundert rezente Tendenz zu Syn-ästhesien, aber auch das Konzept des Gesamtkunstwerkes reagieren bereits auf diese Vereinzelung und suchen sie zu überwinden bzw. zu überhöhen.

    In der Geschichte der Malerei war es ein Schlüsselereignis, als die französi-schen Impressionisten die künstlerische Annäherung an die sichtbare Natur unter der Devise betrieben, dasjenige, was man am jeweiligen Motiv sah, von dem zu trennen, was man von ihm wusste. Diese Scheidung eines konstatierenden Wahr-nehmens (dessen Einsichten sprach- und begriffsförmig, d. h. beschreibbar sind), von einem sich realisierenden Sehen, das sich wenig an dingliche Sachverhalte hält, sondern die freien visuellen Latenzen am Gegebenen vollzieht, bedeutet auch für die Kunst der Beschreibung einen Einschnitt. Max Imdahl hat diese – theore-tisch von Konrad Fiedler vorbereitete5 – Differenz in die begriffliche Formel vom » wiedererkennenden und sehenden Sehen « gebracht und sie vor allem an Paul Cézannes Malerei entwickelt (vgl. Imdahl 1996). Das sehende Sehen ist sprach-fern, weil es sich nur im Vollzug entfaltet. Es stellt nicht fest, sondern involviert den Betrachter in einen Prozess, in dem er nicht Sichtbares wahrnimmt, sondern die Sichtbarkeit – nach Maßgabe der vom Künstler formulierten Spielräume – al-lererst entwickelt. Das Bild wird zu einer Welt des Auges, die sich jenseits bekann-ter Erfahrungsräume öffnet. Der Verlust an Wiedererkennbarkeit, die Fremdheit der künstlerischen Physiognomie wird ausgewogen durch die Aussicht, in eine neue und unbekannte Realität vorzudringen. Die Sonde für dieses malerische Ex-periment ist die artifizielle Konzentration auf visuelle Daten oder malerische Ele-mente. Im modernen Bedürfnis, die Kunst auf ihre Grundlagen, auf ihre » Buch-staben « und Mittel zurückzuführen, spiegelt sich auch das Bemühen, sie von allem Vorwissen, aller literarischen und begrifflichen Einbindung abzutrennen, sie zu reinigen. Für die Beschreibung bedeutet dies, dass sich das dargestellte Su-jet nicht mit dem Universum des Erzählten bzw. Erzählbaren verbinden, von dort her verständlich machen lässt. Solange die bildende Kunst die Verbindung mit der geistigen Welt des Sprachhumanismus (eminenten Mythen, religiösen Offenba-rungen und historischen Ereignissen) aufrechterhält, ließen sich ihre Produkte mit diesem Kontext in Verbindung bringen. Moderne Bilder – vom Impressio-nismus über die › Rein Malerischen ‹ (Leibl, Trübner, Schuch) bis zu den Puristen

    5 Konrad Fiedlers Theorie der Sichtbarkeit unterscheidet ein entwickeltes Sehen, von einem anderen, das mit Begriffen, Vorstellungen, Affekten durchmischt, nicht zu seiner eigent-lichen Erkenntnisfähigkeit durchgedrungen ist (vgl. Fiedler 1991, insb. die weiteren Hinwei-se in der Einleitung des Herausgebers, S. LXIII, LXVI, LXXVIII).

  • 20 Gottfried Boehm

    der Visualität (wie z. B. Piet Mondrian) – sind deswegen nicht völlig unbeschreib-bar. Sie favorisieren stattdessen einen anderen Typ sprachlicher Zuwendung, der sich seiner eigenen Grenzen sehr viel bewusster ist. Wenn sich das Bild im visu-ellen Vollzug erschließt, sein künstlerisches Sein sich erst im Akt der Wahrneh-mung erfüllt, dann kann die Beschreibung nicht hoffen, in Worten ein stabiles Äquivalent, eine Art sprachliches Abbild zu schaffen. Wohl aber ist sie imstande, die Elemente, die Ausgangsbedingungen, die Tempi, die Rhythmen und Richtun-gen zu kennzeichnen, die sich für den Betrachter des Bildes ergeben, auch die semantisch fassbaren Momente vermag sie zu benennen. Dass sich der Betrach-ter in Mondrians abstrakten Bildern der zwanziger Jahre in einer Welt bewegt, in der ein klares Bewusstsein ihrer Bauglieder und ihrer Erzeugungsregeln herrscht, in der subtile Momente anschaulicher Irritation zu Impulsen werden, welche die scheinbar eindeutige Konstruktion zu einem unerschöpflichen visuellen Gleich-nis machen – dergleichen ist beschreibbar. Beschrieben wird dabei nicht nur, was das Bild jeweils › ist ‹, sondern welche visuellen Dispositionen sich in ihm manifes-tieren. Beschrieben werden kann schließlich auch der Effekt, der sich aus der An-ordnung von Farbe und Form herausbildet: im Falle Mondrians konvergiert er mit einem anschaulichen Gehalt, in dem sich die höchste Luzidität und Einfachheit eines sinnlichen Universums vermittels eines scheinbar kontingenten Ausschnitts enthüllt. Die Differenz zwischen bildlicher Faktizität und dem darin enthaltenen anschaulichen Dispositiv bietet, wie wir später noch sehen werden, einer moder-nen Bildbeschreibung wichtige Ansatzpunkte.

    Es wäre freilich nicht genug, wenn wir die Lehre der Moderne allein mit der Ästhetik der Reinigung identifizierten. Gewiss ist es wahr, dass sich an ihr die Di-stanzierung der Visualität vom Wort besonders deutlich verfolgen lässt, beson-ders dann, wenn man sie an der Theorie Konrad Fiedlers erläutert, der das kanti-sche Projekt einer Reinigung der menschlichen Erkenntnisvermögen (für welches die Kritik der reinen Vernunft bzw. die drei Kritiken insgesamt stehen), auf das Feld einer Theorie des Bildnerischen verschob. Es ging ihm um die Abscheidung des Sehens, von allem interferierenden Wissen, Fühlen und Erinnern. Nur diesem entwickelten Sehen, in dem sich die künstlerische Ausdrucksbewegung zu rei-ner Sichtbarkeit fortgestaltete, billigte er Erkenntniswert zu (vgl. Fiedler 1991). In Fiedlers eigener Perspektive hatte diese Einsicht universellen Geltungsanspruch, sie bezog sich auf die alte Kunst (seit den Griechen und Römern), ebenso wie auf die zeitgenössische (die er bekanntlich in Künstlern wie Adolf von Hildebrand und Hans von Marées authentisch vertreten sah). Die Inanspruchnahme seiner Theorie für die Kunst der modernen Avantgarden hatte er selbst – schon aus chro-nologischen Gründen – nicht intendiert.

    Wie schon die Konzeption Fiedlers zeigt, ist die bis zur Abstraktion gerei-nigte Kunst nicht das einzige Exempel, um die Distanzierung des Wortes vom

  • Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache 21

    Bild zu belegen. Max Beckmann z. B. stärkte die sprachferne, die betont anschau-liche Ausdruckskraft seiner Bilder nicht durch die Vermeidung von allem Wieder-erkennbaren, von Figuren, Zeichen oder Erzählungen. Und doch erwehren sich auch seine Gemälde – zum Leidwesen vieler seiner Interpreten – allen Versuchen, sie in einen sprachlichen Kontext einzubinden, in dem sich das Sichtbare gleich-sam entschlüsselt, in seiner Bedeutung voll heraustritt. Offenbar hat Beckmann Elemente seiner Biographie, mythologische Erzählungen, historische Ereignisse usw. in einer labyrinthischen Weise kombiniert, sie mit einer Vieldeutigkeit ausge-stattet, die das Auge nährt und beschäftigt, dem Zugriff von Beschreibungen Bar-rieren entgegenstellt.

    In der Kunst René Magrittes vertiefen sich diese Barrieren zu unauslotbaren Abgründen. In den früheren › Sprachbildern ‹ kollidiert ein lapidarer bildlicher Sachverhalt mit einem eingeschriebenen Wort, das › falsch ‹ bezeichnet. Wenn ein Bild (» La clef des songes «, 1927, vgl. Abb. 1) seiner visuellen Logik nach z. B. eine Tasche zeigt, widerspricht ihm die Schrift mit dem Wort Himmel (Le ciel). Die bildliche Koexistenz des ikonischen Zeichens und des bedeutungstragenden Wor-tes bringt eine Verbindung ins Spiel, die sich doch niemals einlösen lässt. Nur eines der vier dargestellten Dinge ist – offenbar zufällig – was es bezeichnet: ein

    Abbildung 1 René Magritte, La Clefs des songes, 1927

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    Schwamm (L’éponge). In welche Welt werden wir versetzt ? Welche Wahrheiten gelten in ihr ? Der » Verrat der Bilder « (La trahison des images, 1929, vgl. Abb. 2) umspielt die Kluft zwischen der Evakationskraft des Ikonischen und der Aussage-fähigkeit der Sprache noch intensiver.6 Der Satz: » Das ist keine Pfeife « bestreitet, was das Gemälde doch zeigt. Mit welchem Recht ? Mit dem Recht eines Satzes, der auf die bildliche Darstellung reflektiert. Tatsächlich handelt es sich lediglich um das Bild einer Pfeife. Die lapidare Wahrheit des Satzes und die nicht weniger la-pidare Evidenz der Darstellung verfügen über keine gemeinsame Ebene. Was wir wirklich sehen, benennt die sprachliche Aussage in keiner Weise. Was wir wirklich lesen, bestätigt wiederum das Auge nicht.

    Magritte war es sicherlich nicht darum zu tun, erkenntiskritische Probleme mit den Mitteln der Malerei zu illustrieren – so sehr ein Teil der intellektuel-len Debatte, die sich um seine Arbeit rankt, diesen Eindruck erwecken mag. Es ging ihm darum, in der sichtbar gewordenen Lücke, dort wo die Differenz zwi-

    6 Zu den Sprachbildern von René Magritte vgl. Schreier (1985); zur Kategorie des Mysteriums vgl. Magritte (1981).

    Abbildung 2 René Magritte, La Trahison des images, 1929

  • Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache 23

    schen ikonischen Zeichen und bezeichneter Sache aufklafft, die Erfahrung einer entgrenzten, schlechterdings vorsprachlichen Wirklichkeit zu stimulieren. Kein Gemälde, aber auch kein Satz wird dieses totum je umgrenzen. Beide scheitern daran, wobei Magritte freilich das Bild als das Operationsfeld wählt, um dieses Andere –  jenseits der Sprache des Auges – zu evozieren. Er nennt diesen ande-ren Zustand der Realität das » Mysterium «. Seiner logischen Struktur nach ist er kein irrationaler Ausbruch, sondern jenes Ganze, das sich dann zeigt, wenn wir über die Grenzen von Bild und Sprache, vom Künstler kundig gelenkt, einen kur-zen Blick hinaus tun. Die Störung der Referenz, die bis zur Kluft vertiefte Distanz von Wort und Bild bedeutet für Magritte (und darin ist er ein typischer Moder-ner) eine Erkenntnischance, eine Erweiterung der bekannten Welt. Bilder werden in Bezug zu jenem unbetretbaren Ganzen, dem paradoxen Mysterium zu indirek-ten und mittelbaren Unternehmungen. Bildbeschreibungen stehen in ihren Vor-aussetzungen und Möglichkeiten in Frage.

    III Das treffende Wort

    Wann trifft das beschreibende Wort ? Was zeichnet den Sachverhalt › Bild ‹ gegen-über anderen Dingen aus ?

    Zweifellos sind Bilder auch Dinge. Wären sie freilich nur Dinge, die Auf-gabe der Beschreibung hätte sich bald erledigt. Sie könnte sich auf wenige pro-tokollierende Sätze beschränken, die Eigenschaften der Größe, der Farbe, des Ortes, der Lage etc. feststellten. Bilder entziehen sich diesem Zugriff, sind selbst Dar-stellungen (nicht Fest-stellungen), sie weisen über ihr faktisches Dasein hin-aus. Ihre Eigenschaften kleben nicht an ihnen, wie der Lack am Küchenstuhl. Bil-der sind nicht nur be-, sie sind auch ge-malt. Die Erweckung eines Ausdrucks, von Sinn und Form, inmitten der Materie (in Holz, Stein, Papier, Leinwand, Farbe etc.) ist gewiss eines der tiefen Geheimnisse der menschlichen Gattung, das sie beglei-tet, seitdem sie Kultur und Geschichte hat. Was diesen sinnlichen Sinn bedingt, ist deswegen keineswegs klar. Die Analogie zur Sprache oder Schrift liegt nahe, doch die » Sprache der Bilder « ist ebenso sehr bedeutungserweckend wie unübersetzbar. Ihre Darstellungsmodi öffnen sich primär dem Wahrnehmungsfeld des Auges, sie folgen völlig anderen Regeln, als denjenigen der gesprochenen oder geschriebe-nen Sprache. Diese prinzipielle Andersheit des Bildes verliert man leicht aus dem Blick, wenn man die Wiedererkennbarkeit, die ikonographische Vertrautheit sei-ner Inhalte zum Maßstab nimmt: so sehr sie die Bildnerei jahrhundertelang auch durchformt haben. Die Beschreibung muss mehr leisten, als die dem Bild impli-ziten Sprachgehalte zu reverbalisieren. Sie hat es mit einem visuellen Feld zu tun, mit einer Fülle von Zeichen, die ebenso sehr nacheinander wie zugleich wahrge-

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    nommen werden wollen. Die Teile des Bildes verschränken sich zu einem totum, das in der Regel sofort und problemlos präsent ist.

    Das Bild etabliert einen wahrnehmbaren Kontrast zwischen der Fläche und den darauf erkennbaren Eigenschaften, zwischen einem › Nacheinander ‹ und ei-nem › Aufeinmal ‹, das anders als in Texten oder Musikstücken, seine Präsenz im Nu enthüllt (solange man sich auch in das Studium von Details versenken mag). Die logische Struktur des Bildes basiert auf einer nur visuell erschließbaren, einer ikonischen Differenz. Deren historischer Gestaltwandel kann nicht darüber hin-wegtäuschen, dass bildlicher Sinn und sprachlicher Sinn sich auf verschiedene Weise manifestieren. Bildbeschreibungen können sich z. B. nicht darauf beschrän-ken, das Repertoire der jeweils dargestellten Dinge zu erstellen. Das sorgfältigste Verzeichnis alles dessen, was an Details auf einem Bild » drauf « ist, wäre doch keine Beschreibung des Bildes. Es würde ihm eine parataktische Ordnung sup-ponieren, seine internen Verschränkungen: seine ihm eigentümlichen Hypotaxen und den Inbegriff seiner syntaktischen Möglichkeiten verdrängen. Gelingende Beschreibungen verstricken sich in eine doppelte Aufgabe: sie sagen, was » ist «, sie sagen zugleich aber auch wie es » wirkt «, sie rekurrieren auf Sachverhalte und auf die dem Bild eigentümliche Form des Vollzugs. Ohne Rücksicht auf das Fak-tische käme der manifeste Gehalt zu kurz, ohne Rücksicht auf den Prozess wür-den die Latenzen, der ikonische Zeigegestus ausgeblendet. Das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Verifizierbarkeit hat die Kunstgeschichte zu Beschreibungsfor-men veranlasst, die weniger dem Bild in seiner Gesamtheit, als den signifikanten Einzelaspekten desselben gerecht werden wollten. Wenn der liebe Gott im Detail steckt (nach einem Wort Aby Warburgs), dann sollte die sorgfältige Beschreibung gerade einer isolierten bildlichen Einzelheit aussagekräftig sein können, nicht nur für den untersuchten › Buchstaben ‹, sondern auch für den › Geist ‹ des Werkes (sei-nes Urhebers, seiner Zeit).7 Auch Erwin Panofskys Aufsatz » Über die Beschrei-bung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst « verfolgt die Strate-gie einer Versachlichung, einer Kontrolle des Beschreibungsvorgangs (1964: 85 ff., 95). Er wendet sich indirekt gegen die ästhetisierende Einfühlung und die divi-natorische Intuition, die sich des Werkes ohne Umschweife bemächtigen wollen. Panofsky wählte ein schrittweises Verfahren, in dem sich das Bild in verschie-dene Schichten zerlegt, die untereinander in einer Folgeordnung stehen. Sein Mo-dell besteht aus einem Korrespondenzverhältnis. Einer Einstellung auf Seiten des Betrachters entspricht die Wahrnehmung und Beschreibung einer bestimmten Schicht im Bild. Unter dem Blickpunkt der » Daseinserfahrung « (dem Inbegriff unvoreingenommener Zuwendung) enthülle sich der vordergründige » Phäno-mensinn « eines Bildes, unter demjenigen des » literarischen Wissens « sein » Be-

    7 Daniel Arasse (1992) hat diese Perspektive systematisch entwickelt.

  • Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache 25

    deutungssinn « und in der Optik des » weltanschaulichen Urverhaltens « zeige sich der » Wesenssinn «. An der Abfolge Phänomensinn – Bedeutungssinn – Wesens-sinn erkennt man leicht, dass der Betrachter Bilder durch gesteigerte sprach liche Vorgriffe zum Sprechen bringen soll. Visualität ist ein sehr provisorisches und überholungsbedürftiges erstes Stadium der Beschreibung.

    Panofskys Modell besitzt das unzweifelhafte Verdienst, die Beschreibung auf ein Erkenntnisverhältnis zu gründen, auf eine jeweilige » Einstellung « zur » Sache «. Die fotografietechnische Nebenbedeutung der Kategorie » Einstellung «, besagt dass es keine Betrachtung aber auch keine Beschreibung ohne Vorgriffe gibt. Diese durch die Phänomenologie in ihrer anschaulichen Beschaffenheit sorg-fältig analysierte Einsicht war in den zwanziger Jahren, der Entstehungszeit von Panofskys Beitrag, zu einer gängigen Münze geworden. Panofsky zerlegte freilich den Konstitutionsprozess des Bildes im Akt der Beschreibung in jene drei ver-schiedenen Strata. Er liefert sich damit aber auch einem Dilemma aus, das er selbst nicht zu lösen vermochte. Die Abfolge dreier Schichten im Bild kann niemals ein wirkliches Äquivalent für seine Komplexität sein. Suchte man die drei Schichten untereinander zu verbinden, so könnte das nicht wiederum durch eine Schicht ge-schehen. Hier versagt sein Konzept. Die Verschränkung der diversen herausprä-parierten Schichten wäre ihrerseits zu beschreiben. Erst dann würde den starren analytischen Präparaten jene Qualität zurückgegeben, die der Betrachter auf den ersten Blick schon entdeckt hatte: den » Phänomensinn « des Bildes, seine leben-dige Physiognomie.

    IV ENARGEIA. Vasari und die Tradition der Rhetorik

    Wer sich mit älteren Bildbeschreibungen beschäftigt, sollte sie an ihren eigenen Voraussetzungen und Absichten messen. Sie unterscheiden sich von der moder-nen kunsthistorischen Methodenkritik, wie wir sie am Beitrag Panofskys soeben diskutiert haben. Jeder Leser der » Viten « Vasaris hat Ekphrasen kennengelernt, er weiß aber auch, dass sie im Gefüge seiner Künstlerbiographien nur eine Neben-rolle spielen. Die Kunstgeschichte hat die Bildbeschreibungen (wie den übrigen Text) vor allem als historische Quelle gelesen und kritisiert. Erst in jüngerer Zeit kam die Frage auf, welche Prämissen der Autor teilt, welche sprachlichen Mittel er einsetzt und was er damit beabsichtigt.8 Mit der Entdeckung der rhetorischen Basis Vasaris konnte auch dem gängigen Vorurteil entgegengetreten werden, ihm sei es um das Hörensagen, die Anekdote, das Künstlerlob und weniger um eine

    8 Wichtige Anstöße hierzu durch den Aufsatz von Svetlana Alpers (1960), deutsche Überset-zung in: Boehm/Pfotenhauer (Hg.) (1995: 190 – 215).