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Stefan Bauberger: Was weiß die Wissenschaft? Wissenschaftstheorie Hochschule für Philosophie Wintersemester 2003/2004. Version vom 16. Oktober 2003

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Stefan Bauberger:

Was weiß die Wissenschaft?Wissenschaftstheorie

Hochschule für PhilosophieWintersemester 2003/2004.

Version vom 16. Oktober 2003

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 1

1 Einführung 31.1 Überblick über die Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Sinnesdaten als Grundlage der Erkenntnis 72.1 Carnap: Methodischer Positivismus und Physikalismus. . . . . . . . . . . . . . . . 72.2 Begriffe: Empirismus, Positivismus, Physikalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 102.3 Operationalisierbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.4 Empirische und nicht-empirische Erkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3 Induktion, Verifikation, Falsifikation 183.1 Hume und die Kausalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183.2 Popper: Falsifikationismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183.3 Die empiristische Antwort auf Popper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243.4 „Raffinierter“ Falsifikationismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253.5 Grenzen des Falsifikationsmus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283.6 Falsifizierbarkeit als Kriterium für Theorien,. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303.7 Bilanz und philosophische Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

4 Theorien 354.1 Lakatos und seine Forschungsprogramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354.2 Kuhn und seine Theoriendynamik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374.3 Feyerabend und seine anarchistische Erkenntnistheorie. . . . . . . . . . . . . . . . 394.4 Theoretizität von Begriffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404.5 Theorien: Praktische Konsequenzen für die Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . 434.6 Theorien: Philosophische Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434.7 Einfachheit von Theorien: Instrumentalismus oder Realismus?. . . . . . . . . . . . 444.8 Zusatzbemerkung: Paradigmen in den Geisteswissenschaften. . . . . . . . . . . . . 46

5 Erklärung 485.1 Das Hempel-Oppenheim-Schema und seine Vulgarisierung. . . . . . . . . . . . . . 485.2 Erweiterung: Statistische Erklärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525.3 Probleme und Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535.4 Erklären und Verstehen: Ein pragmatischer Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 555.5 Erklärung: Philosophische Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

5.5.1 Nebenbemerkung: Kausalität in der Physik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

1

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2 INHALTSVERZEICHNIS

6 Konstruktivismus 626.1 Methodischer Konstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636.2 Radikaler Konstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666.3 Sozialer Konstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686.4 Konstruktivismus: Praktische Konsequenzen für die Wissenschaft. . . . . . . . . . 706.5 Philosophische Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

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Kapitel 1

Einführung

Was ist Wissenschaftstheorie?

Die Frage der Wissenschaftstheorie ist, was Wissenschaft ist, v.a. wie sie funktioniert und was sieerkennt. Insofern die Wissenschaftstheorie selbst eine Wissenschaft sein will, wird die Frage zirkulär,denn es ist selbst eine Frage der Wissenschaftstheorie,was Wissenschaftstheorie ist.

Zwei Positionen dazu, was Wissenschaftstheorie ist und kann, können die Weite der Fragestellungaufzeigen:

1. Es gibt zwei Erkenntnisquellen, die grundlegend verschieden sind:

• empirische Erkenntnis (aus Sinnesdaten)

• und mathematisch/logische Analyse,

wobei die letztere Methode nur auf analytische Erkenntnis führt, d.h. sie lehrt nichts über dieBeschaffenheit der Welt. Daher besteht die einzige Aufgabe der Philosophie darin, über dieMethoden der empirischen Wissenschaften zu reflektieren. Eben diese Reflexion ist Wissen-schaftstheorie, die daher auch die einzig sinnvolle Form von Philosophie darstellt.

2. Wissenschaft ist ein soziales Phänomen. Innerhalb der Wissenschaft bilden sich verschiede-ne Fach- und Forschungsgebiete heraus. Jedes dieser Fächer und Gebiete ist durch gewisseFragestellungen und Denkansätze charakterisiert. Dabei kann der Zusammenhang ganz unter-schiedlich sein. Er kann sogar ein negativer sein, nämlich dass sich eine Generation von Wis-senschaftlern eines Forschungsgebietes gerade durch die Verneinung der Grundüberzeugungenihrer Vorgängergeneration zusammenfindet. Eines dieser vielen Forschungsgebiete ist die Wis-senschaftstheorie, die sich traditionell als Gebiet der Philosophie versteht.

Methode der Vorlesung

Die Spannbreite der Ansätze der Wissenschaftstheorie ist sehr weit. Eine rein historische Darstellungder Positionen trägt nicht viel zur Klärung bei. Eine Überzeugung, die dem Aufbau dieser Vorlesungzugrunde liegt, ist aber, dass viele Ansätze der Wissenschaftstheorie (auch wenn sich oft widerspre-chen), jeweils auf einer richtigen Intuition beruhen, die nur meistens in übertriebener Weise verabso-lutiert wird. Historische Betrachtungen haben daher einen großen Wert. Diese Vorlesung will einenmittleren Weg verfolgen zwischen einer historischen Darstellung der wissenschaftstheoretischen An-sätze und einer systematischen Behandlung.

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4 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

Nochmal: Was ist Wissenschaftstheorie?

Wissenschaftstheorie, wie sie in dieser Vorlesung verstanden wird, ist eine kritische Auseinanderset-zung mit den empirischen Wissenschaften. Dazu gehören zwei wichtige Fragebereiche:

• Die Methoden der empirischen Wissenschaft

• Die Geltung der empirischen Wissenschaft

Ein wichtiger Zugang zur Wissenschaftstheorie ist die Frage nach der Bedeutung und dem Geltungs-anspruch von „Theorien“.

Wozu Wissenschaftstheorie?

Wissenschaftstheorie wird in dieser Vorlesung mit zwei erkenntnisleitenden Interessen betrieben, dieden beiden dargestellten Fragebereichen entsprechen:

• Die Reflexion auf die Methoden der empirischen Wissenschaften dient einem praktischenZweck: Sie soll eine Hilfestellung liefern für das Betreiben dieser Wissenschaften.

• Die Reflexion auf die Geltung der empirischen Wissenschaften wird als genuin philosophischeFragestellung aufgefasst. Insofern die Wissenschaftstheorie zur Klärung dieser Frage beiträgt,berührt sie erkenntnistheoretische Fragestellungen der Philosophie.

Wenn hier der Anspruch erhoben wird, dass die Wissenschaftstheorie auch einen praktischen Wert fürdie Arbeit der empirischen Wissenschaften hat, dann kann das leider nicht ohne Klage stehen bleiben:Viele empirische Wissenschaftler interessieren sich in keiner Weise für Wissenschaftstheorie. Und siehaben recht damit, denn in der Praxis wird Wissenschaftstheorie vielfach ohne jeden Bezug auf dieRealität praktischer Forschung betrieben und verliert damit auch ihre Relevanz für diese. In dieserHinsicht ist das Schicksal der Wissenschaftstheorie paradigmatisch für das der Philosophie.

1.1 Überblick über die Vorlesung

Der systematische Aufbau der Vorlesung orientiert sich weitgehend an der historischen Abfolge, inder die behandelten Konzepte entwickelt wurden.

Anhand eines Textes von Carnap werden in Kap.2 einige Ideen des Positivismus behandelt, diegrundlegend für die Entwicklung der Wissenschaftstheorie sind. Diese Position ist ausdrücklich an-timetaphysisch. Daran schließt eine Darstellung des Konzepts der Operationalisierung von wissen-schaftlichen Begriffen an. Dies gehört zum Bereich der Methoden der empirischen Wissenschaft. ZurFrage der Geltung von Erkenntnis wird die Frage nach dem Verhältnis von empirischer und nicht-empirischer Erkenntnis betrachtet.

Kap.3 widmet sich dem Induktionsproblem. Die methodische Frage, die sich daran anschließt, istdie nach dem Konzept der „Falsifizierbarkeit“ als grundlegende Voraussetzung für wissenschaftlicheHypothesen. Die systematische Frage ist die nach der Geltung von induktiver Erkenntnis.

Das Kap.4 beschäftigt sich mit Theorien, insbesondere mit der Frage nach der Bedeutung und derGeltung von Theorien.

In Kap.5 wird der Begriff der wissenschaftlichen Erklärung kritisch analysiert.Die sehr verschiedenen Ansätze, die als „Konstruktivismus“ bezeichnet werden, stellt das Kap.6

vor. Diese Ansätze führen zu einer grundlegenden Infragestellung der Geltung von wissenschaftlicherErkenntnis.

Als einstündige Vorlesung konzipiert, kann zu allen behandelten Themen nur ein elementarerÜberblick gegeben werden.

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1.2. LITERATUR 5

1.2 Literatur

Das beste Buch

Hans Poser: Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Reclam 2001.

Allgemein

Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999.Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.): The philosophy of science. Massachusetts 1991.Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1996.Peter Janich: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997.Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. Stuttgart61978.Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 2. Stuttgart71986.Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 3. Stuttgart81987. (Es gibtauch noch einen vierten Band, der aber zur Wissenschaftstheorie wenig beiträgt.)Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990.

Zum Nachschlagen

Speck, Josef: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Bd. I-III. Göttingen 1980.Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philoso-phie. Bd I. Erklärung, Begründung, Kausalität. Berlin21983. (Zu: Erklärung)Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philoso-phie. Bd II,1. Theorie und Erfahrung Berlin 1974. (Zu: Wissenschaftssprache, empirische Signifikanz,theoretische Begriffe)Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philoso-phie. Bd II,2. Theorie und Erfahrung. Berlin 1973. (Zu: Theorienstrukturen und Theoriendynamik,Sneed und Kuhn)Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philoso-phie. Bd II,3. Theorie und Erfahrung. Berlin 1986. (Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit1973)Braun, Edmund und Radermacher, Hans: Wissenschaftstheoretisches Lexikon. Graz 1978.Mittelstraß, Jürgen: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1-4. Mannheim 1980,1984, Stuttgart 1995, 1996.

Ergänzende Lektüre

Janich, Peter: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Frankfurt 1996.Mittelstraß, Jürgen: Die Häuser des Wissens. Frankfurt 1998.Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis. Hamburg 1993.Popper, Karl R.: Lesebuch. Tübingen 1995.Van Fraassen, Bas: The Scientific Image. Oxford: Claredon Press 1980.Van Fraassen, Bas: The Empirical Stance. New Haven, London: Yale University Press 2002.Sneed, Joseph D.: The Logical Structure of Mathematical Physics. Dordrecht21979.Charpa, Ulrich: Grundprobleme der Wissenschaftsphilosophie. Paderborn 1996.Weingarten, Michael: Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik. Bonn 1998.Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Theorien, Modelle und Tatsachen. Frankfurt 1994.Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 21976.Hacking, Ian: Was heißt ‚soziale Konstruktion‘? Frankfurt 1999.

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6 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

Polanyi, Michael: Implizites Wissen. Frankfurt 1985.Fischer, Hans Rudi: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Heidelberg: Auer 1995.Seiffert, Helmut: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. I. München: Beck121996.Eberhard Kurt: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Stuttgart u.a.: Kohlhammer21999.

Grundlegende Texte, die im Skript oft zitiert werden:

Carnap, Rudolf: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis II,Leipzig 1931, S. 431-465.Bridgman, Percy: The Operational Character of Scientific Concepts. In:Richard Boyd, Philip Gasper,J.D. Trout (ed.): The philosophy of science. Massachusetts 1991. S. 57-69.Popper, Karl R.: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 85-116 (85-134).Hempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper,J.D. Trout (ed.): The philosophy of science. Massachusetts 1991. S. 299-304. (299-315)Lakatos, Imre: Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In:LakatosImre, Musgrave, Alan (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974, S. 271-311.Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt21976, S. 65-78,104-122.Stegmüller (Hauptströmungen, Bd. 2, vgl oben): S. 475-504.Feyerabend, Paul K.: Ausgewählte Schriften, Bd. I: Der wissenschaftstheoretische Realismus und dieAutorität der Wissenschaften. Braunschweig 1978, S. 339-350.Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 22-27 und 38-64.Harré, Rom: An Outline of the Social Constructionist Viewpoint. In:Harré, Rom (Hrsg.): The SocialConstruction of Emotions. Oxford 1986, S. 2-14.Glasersfeld, Ernst v.: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In:Foerster,Heinz v. und Glasersfeld, Ernst v. und Hejl, Peter M. und Schmidt, Siegfried J. und Watzlawick, Paul:Einführung in den Konstruktivismus. München21995, S. 9-39.

In Kürze wird erscheinen: Ein Buch des Verfassers über Naturphilosophie:

Bauberger, Stefan: Was ist die Welt? Stuttgart: Kohlhammer 2003.

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Kapitel 2

Sinnesdaten als Grundlage der Erkenntnis

2.1 Carnap: Methodischer Positivismus und Physikalismus

Dieses Kapitel beginnt mit einem Abschnitt über Carnaps Position des Positivismus und Physikalis-mus. Es wird dazu ein kurzer Text von Carnap zusammenfassend referiert.1 Die Ideen, die Carnapdort ausbreitet, sind grundlegend für die Entwicklung der modernen Wissenschaftstheorie.

Carnap schreibt mit einer für Philosophen vorbildlichen Klarheit, daher seien im Folgenden einigeAbschnitte aus dem betrachteten Artikel einfach zitiert:

Die Wissenschaft in ihrer herkömmlichen Gestalt bildet keine Einheit. Sie zerfällt inPhilosophie und Fachwissenschaften; die Fachwissenschaften zerfallen in Formalwis-senschaften (Logik und Mathematik) und Realwissenschaften; die Realwissenschaftenpflegt man zu zerlegen in Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Psychologie.Diese verschiedenen Wissenschaftsarten trennt man nicht nur aus praktischen Gründender Arbeitsteilung. Die allgemein verbreitete Ansicht geht vielmehr dahin, dass sie sichgrundsätzlich in Hinsicht ihrer Objekte, ihrer Erkenntnisquellen, ihrer Methoden unter-scheiden. Demgegenüber soll hier die Auffassung vertreten werden, dassdie Wissenschafteine Einheitbildet: alle Sätze sind in einer Sprache ausdrückbar, alle Sachverhalte sindvon einer Art, nach einer Methode erkennbar.2

Carnap beruft sich anschließend auf die „Entwicklung der neuen Logik, insbesondere der logi-schen Analyse der Sprache“3, um diese Behauptung bezüglich der Philosophie, der Logik und derMathematik zu rechtfertigen.

Die Sätze derLogik und Mathematiksind Tautologien, analytische Sätze, die allein aufGrund ihrer Form gültig sind. Sie haben keinen Aussagegehalt, d.h. sie besagen nichtsüber das Bestehen oder Nichtbestehen irgendeines Sachverhaltes. (. . .) Trotz ihres tauto-logischen, gehaltsleeren Charakters haben die logischen und mathematischen Sätze eineerhebliche wissenschaftliche Bedeutung, da sie zur Umformung der gehaltvollen Sätzeverhelfen.4

1 Carnap, Rudolf: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931,S. 432-465.

2Carnap, Rudolf: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931,S. 432.

3Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 432.4Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 433.

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8 KAPITEL 2. SINNESDATEN ALS GRUNDLAGE DER ERKENNTNIS

Diese konstruktivistische Auffassung der Mathematik liegt heute weitgehend der praktischen Weise,wie Mathematik betrieben wird, zugrunde (axiomatische Methode), wenngleich sie ist in der Phi-losophie der Mathematik nicht einfach Konsens ist. Interessanter ist Carnaps These bezüglich derPhilosophie:

(. . .) Diese Analyse ist schließlich zum Ergebnis gekommen, dass es nicht neben oderüber den Fachwissenschaften eine Philosophie als eigenes System philosophischer Sätzegeben kann. Vielmehr besteht die Tätigkeit der Philosophie in der Klärung der Begriffeund Sätze der Wissenschaft.

(. . .)

Die wissenschaftliche Arbeit betrifft entweder den empirischenInhalt der Sätze: manbeobachtet, experimentiert, sammelt und bearbeitet das Erfahrungsmaterial. Oder es gehtum Klarstellung derForm der Wissenschaftssätze, sei es ohne Rücksicht auf den Inhalt(formale Logik), sei es in Hinblick auf die logischen Beziehungen bestimmter Begriffe(Konstitutionstheorie, Erkenntnistheorie als angewandte Logik).5

In Carnaps Konzept ist Philosophie nur insoweit sinnvoll, als sie sich als Hilfswissenschaft auf dieempirischen Wissenschaften bezieht.

Sein Argument beruht auf zwei Voraussetzungen, die er als erfüllt ansieht:

• Ein Aufweis, dass die physikalische Sprache als Einheitssprache der Wissenschaft geeignet ist(Physikalismus).

• Eine sprachphilosophische Analyse, die streng zwischen einer „formalen“ und einer „inhaltli-chen“ Redeweise unterscheidet.

Die formale Redeweise, „die strenggenommen die einzige korrekte ist,“6 unterscheidet sich von derinhaltlichen, indem sie „von Wörtern anstatt von ‚Objekten‘ und von Sätzen anstatt von ‚Sachverhal-ten‘“7 spricht. Die Bedeutung von Wörtern wird durch Übersetzung oder Definition angegeben, nichtdurch irgendeinen Bezug auf eine Realität außerhalb der Sprache. Damit will dieser Ansatz alle me-taphysischen Probleme vermeiden, die er konsequent als Scheinprobleme versteht. Diese Problemeentstehen, weil wir gewöhnlich die inhaltliche Sprechweise verwenden, die aber nur als abkürzendeSprechweise verstanden werden darf. Und wenn die genannten Scheinprobleme auftreten, dann sollteman auf die formale Sprechweise zurückgreifen.8

Nehmen wir alsBeispieldie Sprache der Arithmetik. Die Charakterisierung dieser Spra-che in formaler Sprechweise würde etwa lauten: die arithmetischen Sätze sind aus Zei-chen der und der Art in der und der Weise zusammengesetzt; es gelten die und die Umfor-mungsregeln. Statt dessen mag man auch in inhaltlicher Redeweise sagen: die arithmeti-schen Sätze geben gewisse Eigenschaften von Zahlen und gewisse Beziehungen zwischenZahlen an. Eine derartige Formulierung ist, wenn auch ungenau, so doch verständlichund zulässig, wenn man sie vorsichtig handhabt. Man darf sich durch diese Formulierungnicht zu der Scheinfrage verleiten lassen, was diese „Zahlen“ denn nun für Gegenständeseien, ob sie real oder ideal, extramental oder intramental seien od. dgl. Bei Anwendungder formalen Redeweise, die überhaupt nicht von „Zahlen“, sondern nur von „Zahlzei-chen“ spricht, verschwindet diese Scheinfrage

5Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 432f.6Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 436.7Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 435.8Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 436.

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2.1. CARNAP: METHODISCHER POSITIVISMUS UND PHYSIKALISMUS 9

Die Frage danach, was Zahlen sind, ist ein klassisches Problem der Philosophie der Mathematik,das eng mit dem Universalienproblem zusammenhängt. Existieren Zahlen (als platonische Entitätenin einem Reich der Ideen) und werden die Beziehungen zwischen ihnen (also die mathematischenRegeln) durch mathematische Forschung entdeckt oder sind Zahlen und ihre Verknüpfungsregeln einKonstrukt des menschlichen Geistes?

Es geht in dieser Vorlesung nicht um eine detaillierte philosophische Auseinandersetzung mit Car-naps Ansatz (so interessant dieser auch ist), sondern nur darum, einige Grundideen herauszuarbeiten,die für die Wissenschaftstheorie grundlegend sind. Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhangist der Begriff der „Protokollsprache“.

Die Protokollsprache

Es sollte deutlich geworden sein, dass Carnap alle wissenschaftlichen Sätze grundlegend auf Erfah-rung zurückführt. Dabei sind die letzte empirische Grundlage die sogenannten Protokollsätze:

Die Nachprüfung geschieht an Hand der „Protokollsätze“. Hierunter sind die Sätze ver-standen, die das ursprüngliche Protokoll etwa eines Physikers oder Psychologen enthält.Wir stellen uns hierbei das Verfahren so schematisiert vor, als würden alle unsere Erleb-nisse, Wahrnehmungen, aber auch Gefühle, Gedanken usw. sowohl in der Wissenschaftals auch im gewöhnlichen Leben zunächst schriftlich protokolliert, so dass die weitereVerarbeitung immer an ein Protokoll als Ausgangspunkt anknüpft. Mit dem „ursprüngli-chen“ Protokoll ist dasjenige gemeint, das wir erhalten würden, wenn wir Protokollauf-nahme und Verarbeitung der Protokollsätze im wissenschaftlichen Verfahren scharf von-einander trennen würden, also in das Protokoll keine indirekt gewonnenen Sätze aufneh-men würden. Das wirkliche Laboratoriumsprotokoll eines Physikers kann etwa folgendeForm haben: „Aufstellung der Apparate:. . .; Schaltungsschema:. . .; Zeigerstellung derverschiedenen Instrumente zu den verschiedenen Zeitpunkten:. . .; bei 500 V tritt Fun-kenentladung ein.“9

Carnap gesteht zu, dass es keine Einigkeit darüber gibt, was eigentlich ursprüngliche Protokollsät-ze sind. Es ist seiner Ansicht nach eine psychologische Frage, was die ursprünglichen Elemente derWahrnehmung ausmacht.10 Er betrachtet das nicht als großes Problem. Es hat sich aber im Laufder weiteren Entwicklung der Wissenschaftstheorie herausgestellt, dass die Auffassung, dass sich ur-sprüngliche, grundlegende Elemente der Wahrnehmung isolieren lassen, in grundsätzliche Problemeführt. Mehr dazu in den folgenden Kapiteln.

Antimetaphysische Grundeinstellung und die Frage nach der Philosophie

. . . die logische Analyse kommt zum Ergebnis (. . .), dass die sog. metaphysischen Sät-ze Scheinsätze sind, da sie in keinem Ableitungsverhältnis (weder einem positiven nocheinem negativen) zu den Sätzen der Protokollsprache stehen. Sie enthalten entweder Wör-ter, die nicht auf Wörter der Protokollsprache zurückführbar sind, oder sind aus zurück-führbaren Wörtern syntaxwidrig zusammengesetzt.11

Dasselbe gilt, so meint Carnap, allgemein für viele Begriffe in den Geisteswissenschaften:

Beispiele: „objektiver Geist“, „Sinn der Geschichte“, usw.12

9Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 437f.10Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 439.11Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 452.12Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 451.

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10 KAPITEL 2. SINNESDATEN ALS GRUNDLAGE DER ERKENNTNIS

Die antimetaphysische Einstellung von Carnap ergibt sich also aus seinem Prinzip, dass wissen-schaftliche Sätze auf die Protokollsätze zurückführbar sein müssen. Er bezeichnet dies als „methodi-schen Positivismus.“

Durch den Zusatz „methodisch“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich hierbeium Thesen handelt, die nur von der logischen Möglichkeit gewisser sprachlicher Umfor-mungen und Ableitungen reden, und nicht etwa von der „Realität“ oder „Nichtrealität“(„Existenz“, „Nichtexistenz“) des „Gegebenen“, des „Psychischen“, des „Physischen“.Derartige Scheinsätze kommen in den historisch vorliegenden Formulierungen des Posi-tivismus und des Materialismus gelegentlich vor. Sobald man sie als metaphysische Bei-mengungen erkennt, wird man sie ausschalten; das ist gerade auch im Sinn der Urheberjener Richtungen, die ja Gegner aller Metaphysik waren.13

Carnap argumentiert gar nicht inhaltlich gegen metaphysische Positionen. Sein Argument beschränktsich darauf, dass er Metaphysik als Scheinwissenschaft entlarven will, womit die inhaltliche Diskus-sion überflüssig wird. (Dieser Anspruch Carnaps lässt sich natürlich bezweifeln.) Die Philosophiewird damit, wie oben zitiert, auf eine „Klarstellung derForm der Wissenschaftssätze“ reduziert, „seies ohne Rücksicht auf den Inhalt (formale Logik), sei es in Hinblick auf die logischen Beziehungenbestimmter Begriffe (Konstitutionstheorie, Erkenntnistheorie als angewandte Logik).“14 Also ist Phi-losophie, sofern sie sinnvoll betrieben wird, reine Wissenschaftstheorie, d.h. eine Reflexion auf dieForm und auf die Methoden der empirischen Wissenschaft. Sie dient der empirischen Wissenschaftin ähnlicher Weise wie die Mathematik.

2.2 Begriffe: Empirismus, Positivismus, Physikalismus

Carnap bezeichnet seine Position als methodischen Positivismus.Diese philosophische Auffassung ist eine Spielart des Empirismus. „Empirismus“ bezeichnet

allgemein die erkenntnistheoretische Auffassung, dass alles menschliche Wissen (sowie auch jedeRechtfertigung für Überzeugungen) vorrangig in der Erfahrung gründet (also nicht im Denken). Essehr viele Weisen, wie diese Priorität der Erfahrung genau verstanden werden kann.

Der Begriff des „Positivismus“ wurde hauptsächlich von Auguste Compte (19. Jhdt) in die Phi-losophie eingeführt. Er bezeichnet seine Position als logischen Positivismus und meint damit eineVerschärfung des Empirismus, indem er prinzipiell die Möglichkeit verneint, dass es Erkenntnis überunbeobachtbare Objekte geben kann. Das beinhaltet eine grundsätzliche Kritik an jeder Metaphysik.

Carnap gibt dem Positivismus eine sprachphilosophische Wendung, die in der Unterscheidung von„inhaltlicher“ und „formaler Sprechweise“ zum Ausdruck kommt. Die Existenz oder Nicht-Existenzvon unbeobachtbaren Objekten interessiert ihn deshalb gar nicht, sondern nur, ob in einer formal kor-rekten Sprache darüber gesprochen werden kann, und diese Möglichkeit verneint er. Der Knackpunktseines Ansatzes ist, dass jedes wissenschaftlich korrekte Sprechen auf die „Protokollsätze“ aufbaut.Die Methode der Wissenschaft erlaubt es deshalb nicht, über Metaphysik (wissenschaftlich) sinnvollzu sprechen, daher sein Ausdruck „methodischer Positivismus“.

Carnap ist außerdem noch ein „Physikalist“, weil er annimmt, dass die physikalische Spracheals Einheitssprache der Wissenschaft geeignet ist. Das ist in dem Sinn zu verstehen, dass z.B. die Be-schreibung von biologischen Vorgänge prinzipiell auf physikalische Beschreibungen reduziert werdenkann, und dass dies auch das Ziel der Wissenschaft sein soll, so der Physikalismus.

13Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 461.14Carnap, Rudolf. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931, S. 432f.

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2.3. OPERATIONALISIERBARKEIT 11

2.3 Praktische wissenschaftstheoretische Konzepte: Operationa-lisierbarkeit von Begriffen

An diesen Abschnitt über Carnaps Physikalismus bzw. methodischen Positivismus (was einen me-thodischen Materialismus einschließt) kann sich die Behandlung eines grundlegenden Konzepts derWissenschaftstheorie anschließen, das sehr weitreichende Konsequenzen hat: das Konzept der Opera-tionalisierbarkeit von wissenschaftlichen Begriffen. Dieses Konzept setzt zwar Carnaps Philosophienicht voraus. Man kann es aber als eine praktische Umsetzung der von ihm gemachten Vorausset-zung verstehen, dass wissenschaftliche Sätze nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich auf Protokollsätzezurückführen lassen.

Es handelt sich hier zunächst um eine Frage der Methode der empirischen Forschung. Im nächstenAbschnitt soll dann gesondert die Frage betrachtet werden, inwieweit sich daraus erkenntnistheoreti-sche Konsequenzen ergeben.

Ein physikalisches Beispiel kann dazu dienen, dieses Konzept einzuführen: Die grundlegendenIdeen der speziellen Relativitätstheorie. Tatsächlich war Einstein bei seiner Entwicklung dieser Theo-rie von den (philosophischen) Ideen von Mach beeinflusst, der ein Vorläufer von Carnap im WienerKreis war.

Ein Begriff dieser Theorie genügt zur Erläuterung in diesem Zusammenhang: Die spezielle Re-lativitätstheorie führt zur Behauptung, dass der Begriff der Gleichzeitigkeit von Ereignissen relativzum Beobachter ist.15 Wenn zwei voneinander entfernte Ereignisse, zum Beispiel eines auf der Er-de, das andere auf dem Mond, für einen Beobachter, zum Beispiel für den auf der Erde, gleichzeitigstattfinden, dann sind sie für einen in geeigneter Weise relativ dazu bewegten Beobachter zeitlichzueinander versetzt. Je nach Bewegung findet das Ereignis auf der Erde vor dem auf dem Mondstatt oder umgekehrt. Dies widerspricht der Intuition. Tatsächlich gibt es auch heute immer wiedernoch Versuche von Pseudophysikern, die Relativitätstheorie zu widerlegen, weil sie dem gesundenMenschenverstand widerspricht, also „nicht wahr sein kann“. Angesichts der hervorragenden empi-rischen Bestätigung der Relativitätstheorie, und dem Fehlen jeglicher empirischer Gegenargumente,kann man das nur als unheilbare Krankheit bezeichnen.

Nebenbemerkung: Einer der schlimmsten Fehler in der Methode der Wissenschaft ist Immunisie-rung gegen Kritik (vgl. dazu Poppers Position in Kap.3). Unsinnig ist aber in Zusammenhang mit derRelativitätstheorie die Berufung auf den „gesunden Menschenverstand“. Es gibt viele Missverständ-nisse und ungerechtfertigte Vorwürfe zwischen Wissenschaften und „Pseudowissenschaften“, die ausder Spannung erwachsen,16

• dass es einerseits innerhalb einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern („scientific community“)deutlich ausgeprägte Authoritätsstrukturen gibt, und dass Abweichungen von gewissen Selbst-verständlichkeiten gar keiner Diskussion gewürdigt werden,

• dass aber andrerseits jeder Hinweis auf neue Erkenntnisse begierig aufgegriffen wird.

Diese Spannung wird im Abschnitt4.2aufgegriffen werden (Stichwort: Paradigmen).Einsteins Argument „gegen“ die Intuition beruht auf einer Fassung des Begriffs der Operationali-

sierbarkeit: Der Begriff der Gleichzeitigkeit von Ereignissen mag noch so selbstverständlich erschei-nen, ein wissenschaftlicher Gebrauch des Begriffs setzt jedoch voraus, dass eine Messmethode ange-geben werden kann, mit der überprüft werden kann, ob zwei Ereignisse gleichzeitig stattfinden. Die

15Vgl.: (in Vorbereitung:) S. Bauberger: Was ist die Welt. Stuttgart: Kohlhammer 2003, oder Standardwerke wie denDTV-Atlas Physik.

16Vgl. dazu Polanyi, der diese Spannung in einer sehr interessanten Weise erkenntnistheoretisch und metaphysischinterpretiert:Polanyi, Michael: Implizites Wissen. Frankfurt 1985. S. 61-65.

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12 KAPITEL 2. SINNESDATEN ALS GRUNDLAGE DER ERKENNTNIS

geeignete Methode, die Einstein zugrunde legte, beruht darauf, von beiden Ereignissen her Lichtstrah-len zu einem Punkt in der Mitte zwischen den Ereignissen laufen zu lassen. Wenn diese Lichtstrahlengleichzeitig ankommen, dann waren die Ereignisse gleichzeitig, vgl. Abb.2.1. Zusammen mit dem

Zwei Lichtblitze werden ausgesandt.

Ereignis A: Ereignis B:

Sie treffen sich in der Mitte:

Abbildung 2.1: Definition der Gleichzeitigkeit von zwei Ereignissen A und B.

(ebenfalls kontraintuitiven) Postulat, dass die Lichtgeschwindigkeit in allen gleichförmig bewegtenSystem gleich ist, folgt dann die Relativität der Gleichzeitigkeit (vgl. dazu das Skript zur Naturphilo-sophie bzw. [in Vorbereitung:] S. Bauberger: Was ist die Welt? Stuttgart: Kohlhammer 2003).

Begriffe: Eigenschaften oder Messmethoden

Der wissenschaftstheoretisch interessante Aspekt ist die Frage, worauf sich der Begriff der Gleichzei-tigkeit bezieht: Auf eine Messmethode oder auf eine Eigenschaft von Ereignissen. Die Unanschau-lichkeit der Relativitätstheorie beruht darauf, dass wir eine intuitive Auffassung von solchen Begriffenwie Gleichzeitigkeit haben, die aber nicht zutrifft. Es scheint selbstverständlich zu sein, was es bedeu-tet, dass ein Ereignis hier im Zimmer gleichzeitig zu einem im Nachbarzimmer stattfindet. Die naiveAuffassung ist nun: Begriffe entsprechen Eigenschaften (von Objekten oder Ereignissen), der Physi-ker sucht dann nach einer Methode, um zu messen, ob diese Eigenschaft vorliegt, ob also z.B. zweiEreignisse gleichzeitig stattfinden. Einsteins Argument kehrt die Richtung der Fragestellung aber um:Was Gleichzeitigkeit ist, lässt sich überhaupt nur in Bezug auf eine bestimmte Messmethode angeben.Die Messmethode definiert den Begriff der Gleichzeitigkeit. Wenn man diese Voraussetzung akzep-tiert, dann verschwinden alle Probleme der Unanschaulichkeit, nicht weil die Theorie anschaulichwird, sondern weil es einfach kein Problem mehr damit gibt, dass die Relativitätstheorie der Intuiti-on, dem „gesunden Menschenverstand,“ widerspricht. Dieser wird als Maßstab für die Bildung vonwissenschaftlichen Begriffen gar nicht benötigt.

Zusammengefasst: Die Bedeutung von wissenschaftlichen Begriffen geht nicht einer Festlegungvoraus, wie diese zu messen sind. Sondern das Verhältnis ist umgekehrt: Die jeweilige Messmethodedefiniert erst den jeweiligen Begriff. Daher müssen in Zusammenhang mit wissenschaftlichen Aussa-gen die Messmethoden, die den verwendeten Begriffen entsprechen, entweder standardisiert sein oderexplizit angegeben werden. Sonst sind die Aussagen sinnlos. Ontologisch formuliert: Wissenschaft-liche Begriffe beziehen sich nicht auf Eigenschaften von Objekten der Welt, für die Messmethodenkonstruiert werden. Sondern sie beziehen sich auf die jeweiligen Messmethoden.

Natürlich kannte die Wissenschaft, und insbesondere die Philosophie, immer schon das Problemder Willkür von Definitionen. Es ist wichtig, den Unterschied von Operationalisierung und Definition(im klassischen Sinn) zu verstehen:

• Definition (im alten Verständnis): Die Objekte der Welt haben bestimmteEigenschaften. Diesewerden durch Begriffe bezeichnet. Eine Definition ordnet die Begriffe den Eigenschaften zu.

• Eine Operationalisierung legt einen wissenschaftlichen Begriff dadurch fest, dass eine Mess-methode angegeben wird, mit der festgestellt werden kann, ob dem betrachteten Objekt dieserBegriff zugeordnet werden kann.

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2.3. OPERATIONALISIERBARKEIT 13

Der entscheidende Punkt ist, dass „Operationalisierung“ davon absieht, „Eigenschaften“ der Objektezu betrachten. Solche Eigenschaften werden nicht vorausgesetzt, und es gibt keinen Anspruch, dassBegriffe diesen entsprechen müssten. Es genügt der Bezug auf eine Messmethode. Das betrachteteBeispiel (Gleichzeitigkeit in der speziellen Relativitätstheorie) und die folgenden Beispiele sollen dieFruchtbarkeit dieses Konzepts zeigen. Um es noch einmal zu betonen: In diesem Abschnitt geht es zu-nächst nur um die pragmatische Frage, wie empirische Wissenschaft sinnvoll betrieben werden kann.Erkenntnistheoretische und ontologische Konsequenzen sollen in einem eigenen Abschnitt betrachtetwerden.

Eigenschaft

Begriff

Messmethode

Eigenschaft

Begriff

Messmethode?Operationalisierung:

Verständnis:Naives

Abbildung 2.2: Das Konzept der Operationalisierung.

Dabei muss man beachten, dass die „gewöhnliche“ Sprache der Wissenschaft das Konzept derOperationalisierung nicht explizit berücksichtigt. In Carnaps Ausdrucksweise (vgl. oben): Gewöhn-lich verwenden wir die inhaltliche Redeweise, die „Objekten“ bestimmte „Eigenschaften“ zuspricht.Dies ist aber eigentlich nur eine abkürzende Form für die formale Redeweise. Wenn es durch diefälschlich suggerierte Ontologie dieser Redeweise zu Problemen kommt, dann muss man auf die for-male Redeweise zurückgreifen. Dieses Konzept von Carnap ist die philosophische Entsprechung zumVerhältnis zwischen Operationalisierung und der gewöhnlichen Wissenschaftssprache.

Beispiel: Intelligenz

Die Forderung, dass wissenschaftliche Begriffe operationalisierbar sein müssen, bzw. dass sie ihrenSinn nur in Bezug auf eine bestimmte Operationalisierung haben, wurde anhand eines Beispiels ausder Physik, also der empirisch härtesten Naturwissenschaft eingeführt. Sie ist aber umso wichtiger, jeweniger hart empirische Wissenschaften sind.

Ein Beispiel aus dem Gebiet der Psychologie: „Studenten der Philosophie sind intelligenter alsStudenten der Archäologie.“17 Dieser Satz mag umstritten sein. Lässt sich die Frage wissenschaftlichentscheiden? Dazu muss zuerst eine Methode festgelegt werden, wie Intelligenz gemessen werdenkann, also ein Intelligenztest. Es ist heute schon Allgemeinwissen, dass es viele verschiedene In-telligenztests gibt, die bei Vergleichen auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. (Bis hin zumodernen Begriffen wie „emotionale Intelligenz“.) Eine operationalistische Position sagt nun, dassdie zitierte Aussage gar keine wissenschaftlich sinnvolle Bedeutung hat, außer in Bezug auf eine be-stimmte Messmethode für Intelligenz. Wenn sie als wissenschaftliche Aussage formuliert wird, dannmuss sie also eigentlich viel umständlicher aussehen, z.B.: „Wenn die Intelligenz von Philosophiestu-denten mit dem Intelligenztest XY (der durch bestimmte Messverfahren charakterisiert ist) gemessen

17Das Beispiel geht auf eine Anregung zurück aus:H. Goller: Psychologie Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, S. 24.

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14 KAPITEL 2. SINNESDATEN ALS GRUNDLAGE DER ERKENNTNIS

wird, dann ergibt sich im Durchschnitt ein höherer Wert als bei Archäologiestudenten.“ Aber selbstdiese Redeweise suggeriert noch, es gäbe eine Eigenschaft „Intelligenz“, die durch einen bestimmtenTest gemessen werden kann. Streng genommen verzichtet man einfach darauf, den Begriff Intelligenzüberhaupt einer vorgegebenen Eigenschaft zuzuordnen, die Menschen in mehr oder weniger großemAusmaß haben, sondern die Messmethode definiert den Begriff. Damit ist natürlich die Möglich-keit offen, dass bei einer anderen Messmethode für Intelligenz das Ergebnis anders ausgeht. DieserWiderspruch ist ist nicht inhaltlich (sonst gäbe es Probleme mit der Logik), sondern er besteht nurauf der formalen Ebene, indem Begriffe verschieden definiert werden. Bei Philosophiestudenten undArchäologiestudenten ist die Aussage noch harmlos. Wenn aber behauptet wird (und das ist nichtkonstruiert), es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe im Schnittweniger intelligent seien als die mit weißer Hautfarbe, dann lässt sich die Brisanz des Konzepts derOperationalisierbarkeit erkennen.

Beispiel: Infrarot-Divergenzen

Nochmal ein physikalisches Beispiel, das ziemlich kompliziert ist: Bei bestimmten Berechnungen imBereich der Elementarteilchenphysik treten sogenannte Infrarotdivergenzen auf.18 Das bedeutet z.B.,dass eine Berechnung der Zerfallsgeschwindigkeit von Myonen ergibt, dass diese „unendlich“ schnellzerfallen. Das widerspricht nicht nur der Beobachtung, sondern ist schlichtweg sinnlos. Eine opera-tionalistische Betrachtungsweise rettet die Theorie: Ein Myon zerfällt normalerweise in ein Elektron,ein Myonneutrino und ein Antielektronneutrino. Das unsinnige Ergebnis ergibt sich, wenn man dieWahrscheinlichkeit für genau diesen Zerfall ausrechnet. Es gibt aber noch viele andere Möglichkeiten,wie das Myon zerfallen kann. Es kann zum Beispiel ein zusätzliches Photon erzeugt werden. Dieseskann beliebig energiearm sein. Jedes denkbare Messinstrument für Photonen wird unterhalb einerbestimmten Energieschwelle der Photonen versagen, also nichts mehr nachweisen. Der Zerfall einesMyons, bei dem zusätzlich zu den aufgeführten Zerfallsprodukten auch noch ein sehr leichtes Photonerzeugt wird, ist also nicht von dem ohne Erzeugung eines Photons zu unterscheiden. Daher ist essinnvoll, beide Prozesse zusammen zu betrachten, also für eine jeweilige Messanordnung den Beitragvon Zerfällen mit Photonen, deren Energie unterhalb der Nachweisgrenze liegt, und den Beitrag vonZerfällen ohne Erzeugung eines Photon zu addieren. Ein (zugegebenermaßen etwas trickreiches) Ver-fahren führt dann dazu, dass sich nicht nur eine endliche und damit sinnvolle Zerfallsgeschwindigkeitergibt, sondern dass das Ergebnis auch noch exakt mit dem Experiment übereinstimmt.

Vom Standpunkt der Operationalisierung aus gesehen liegt der Fehler der naiven Rechnung (dieauf das unsinnige Ergebnis führt) darin, anzunehmen, dass es die Zerfallsprodukte des Myons mitihren jeweils gemessenen Eigenschaften einfach so gibt, dass diese Objekte existieren und Eigen-schaften haben, die mit geeigneten Messinstrumenten erfasst werden. Eine konsequente Operatio-nalisierung der Begriffe betrachtet dagegen nur das, was die Messinstrumente erfassen. Von einerExistenz von Teilchen und von ihren Eigenschaften zu sprechen, ist streng genommen nur eine abkür-zende Redeweise, die im betrachteten Beispiel zu Widersprüchen innerhalb der (sehr gut bestätigten)Theorie führt. Rechnet man dagegen mit der Theorie nur das aus, was die Messinstrumente anzeigen,dann ergibt sich ein sinnvolles und richtiges Ergebnis.

Beispiel: Wohlstand

Nochmal ein interessanteres und ziemlich brisanteres Beispiel: „Eine Wirtschaftspolitik der Dere-gularisierung führt zu mehr Wohlstand.“ Eine konsequente Anwendung des Anspruchs der Ope-rationalisierbarkeit führt zur Frage, was denn Wohlstand sei. Ist das Durchschnittseinkommen der

18Es gibt auch sogenannte UV-Divergenzen, aber die sollen hier unterschlagen werden.

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2.4. EMPIRISCHE UND NICHT-EMPIRISCHE ERKENNTNIS 15

Bevölkerung eines jeweiligen Landes der richtige Indikator, oder die Lebenserwartung oder die Ein-kommensverteilung oder der kulturelle Standard oder was sonst? Es sollte inzwischen deutlich sein,dass die Aussage gar keine Bedeutung hat, außer in Bezug auf einen bestimmten Wohlstandindika-tor (der natürlich komplex sein kann, und mehrere der angeführten Kriterien berücksichtigen kann).Es gibt keine Eigenschaft „Wohlstand“, die durch bestimmte Messmethoden mehr oder weniger gutfestgestellt wird, sondern die Messmethoden definieren den Begriff. Die zitierte Aussage ist wederwahr noch falsch, sondern einfach sinnlos, außer in Bezug auf eine bestimmte Operationalisierungdes Begriffs „Wohlstand“.

Pseudowissenschaftliche Fragen

Das Konzept der Operationalisierung führt zum Ergebnis, dass manche Fragen pseudowissenschaft-lich, d.h. im wissenschaftlichen Sinn eigentlich gar nicht sinnvoll, sind. Ein klassisches Beispiel dazuist folgende Behauptung: „Gestern um soundsoviel Uhr wurden gleichzeitig alle Gegenstände imUniversum um fünf Meter in die gleiche Richtung verschoben, ohne dass dabei Trägheitskräfte auf-getreten sind.“19 Es gibt keinerlei Messmethode, mit der man absolute Positionen im Raum feststellenkann. Die Frage, ob diese Behauptung wahr ist, ist daher sinnlos. Die Welt, in der diese Behauptungstimmt, unterscheidet sich in keiner beobachtbaren Weise von der Welt, in der sie nicht stimmt.

Im Bereich der Psychologie ist Operationalisierung ein Kampfbegriff geworden. Die empirischePsychologie wirft der Psychoanalyse vor, ihre Begriffe seien nicht operationalisierbar, daher handlees sich nicht um Wissenschaft. Die Aussagen der Psychoanalyse seien sinnlos. In diesem Zusammen-hang treten mehrere Fragen auf:

• Sind die Begriffe der Psychoanalyse wirklich nicht operationalisierbar? Dies ist eine psycholo-gische Fachfrage, die sinnvoll diskutiert werden kann und diskutiert wird.

• Müssen wissenschaftliche Begriffe operationalisierbar sein? Der (gut begründete) Anspruch derempirischen Psychologie beruht darauf, dass einerseits nur die Operationalisierung Begriffe in-tersubjektiv nachprüfbar macht, und dass andererseits (das zeigen die betrachteten physikali-schen Beispiele) scheinbar intuitiv selbstverständliche Begriffe täuschen können.

• Gibt es verschiedene Arten von Wissenschaft? Empirische Wissenschaften, die sich dem An-spruch der Operationalisierbarkeit unterwerfen, und nicht-empirische Wissenschaften, die an-dere Erkenntnisformen haben (in der Psychologie zum Beispiel Introspektion)?

Damit ergibt sich schon eine Brücke zur philosophischen Analyse im folgenden Abschnitt.

2.4 Philosophische Konsequenzen: Was ist empirische Erkennt-nis? Gibt es nicht-empirische Erkenntnis?

Die Forderung, dass alle in der Wissenschaftssprache verwendeten Begriffe operationalisierbar seinmüssen, hat eine große praktische Bedeutung für die empirischen Wissenschaften. Dieses Prinzip hatsich hervorragend bewährt, das sollten die betrachteten Beispiele zeigen. Hat es auch philosophischeKonsequenzen?

Um es deutlicher zu sagen:Es bewährt sich in den empirischen Wissenschaften, das Sprechen vonEigenschaften von Objekten der Welt als eine vereinfachende und zusammenfassende Sprechweise zubetrachten, die aber in schwierigen und zweifelhaften Fällen auf die eigentlich richtige Sprechweisezurückgeführt werden sollte, die Begriffe ausschließlich Messergebnissen zuordnet.

19NachP. Bridgman, die es vonClifford hat:P. Bridgman: The Operational Character of Scientific Concepts. In: Boyd,Richard, Gasper, Philip, Trout, J.D. (ed.): The philosophy of science. Massachusetts 1991. S. 67.

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16 KAPITEL 2. SINNESDATEN ALS GRUNDLAGE DER ERKENNTNIS

Damit stellen sich zwei philosophische Fragen:

• Sind Eigenschaften von Dingen empirisch überhaupt erkennbar?

• Noch weitergehend: Ist der Begriff von Eigenschaften von Dingen überhaupt sinnvoll? Führt ernicht in Scheinprobleme, die sich (das sollten die betrachteten Beispiele zur Operationalisierungzeigen) auflösen, wenn man statt von „Eigenschaften“ nur noch von Beobachtungen spricht?

Die letzte These knüpft an Carnaps Metaphysikkritik oder allgemein an seine Kritik der Philosophieund der Geisteswissenschaften an. Allerdings war Carnaps Ausgangspunkt die Sprachanalyse. Diepraktische Bewährung des Konzept der Operationalisierung scheint seine Kritik zu stützen.

Erkennt empirische Erkenntnis Eigenschaften von Dingen? Ist der Begriff der „Eigenschaft“eines Objekts überhaupt sinnvoll?

Es ist unzweifelhaft, dass die praktische Bewährung des Konzepts der Operationalisierung ein Argu-ment gegen eine realistische Erkenntnisauffassung ist. Umgekehrt ist das Argument noch stärker: DasVersagen der realistischen Auffassung bei scheinbar offensichtlichen Begriffen wie dem der Gleich-zeitigkeit stellt ihren Geltungsanspruch in Frage.

Diese Frage kann hier nicht abschließend diskutiert werden. Es sollte aber darauf hingewiesenwerden, dass es sich um ein pragmatisches Argument handelt, nicht um ein prinzipielles. Dass DingeEigenschaften haben, die wir prinzipiell erkennen können, wird durch die Bewährung des Prinzip derOperationalisierung nicht widerlegt, nur ernsthaft in Frage gestellt.

Ein wichtiges Gegenargument, das dem Stoff schon vorausgreift, ist, dass sich in der Theoriebil-dung dann umgekehrt das Sprechen von Eigenschaften von Objekten gerade wieder bewährt, selbstwenn man alle konzeptuellen Probleme von Theorien berücksichtigt. (Vgl. Kap.4.)

Es stellt sich aber noch eine weitere wichtige Grundfrage: Gibt es nicht-empirische Erkenntnisbzw. nicht-empirische Wissenschaft?

Auch diese Frage knüpft an Carnaps Ausführungen an. Sie kann hier natürlich nicht auf die Schnellebeantwortet werden. Ein strenger Operationalist müsste auf diese Frage in gleicher Weise antwor-ten wie Carnap: Nicht-empirische Erkenntnis erkennt entweder rein logische (=tautologische) Zu-sammenhänge oder sie beschäftigt sich mit „der Klärung der Begriffe und Sätze der [empirischen]Wissenschaft.“20

Diese Position ist formal verwandt mit der von Kant, der Metaphysik nur eine Erkenntnis über dieForm der empirischen Erkenntnis zuzugestehen. Ein erkenntnistheoretisch absolut gesetzter Opera-tionalismus verschärft aber Kants Position, insofern der Philosophie nur eine reine Dienstfunktion fürdie empirische Wissenschaft zugestanden wird. Der Positivismus lässt sich philosophiegeschichtlichwie folgt verstehen: Es ist ein von allen metaphysischen Resten gereinigter nachkantianischer Ansatz.

Erkenntnis jenseits der empirischen Wissenschaft: Ein Ansatz

Es sei hier gewagt, einen Begründungsansatz für Philosophie zu versuchen, der sozusagen durch diereinigende Mühle des Positivismus durchgegangen ist, sich aber nicht damit zufrieden gibt, nur dieForm von empirischer Erkenntnis zu betrachten.

Ein erster Ansatzpunkt ist der Rückgriff auf Kants Argument, aber in einer anderen Wendung. Esgibt Formen der empirischen Erkenntnis, die, das hat Kant versucht zu zeigen, jedem Inhalt dieserErkenntnis vorausgehen. Die moderne Transzendentalphilosophie hat diesen Gedanken aufgegriffen,

20Carnap, Rudolf: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931,S. 432.

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2.4. EMPIRISCHE UND NICHT-EMPIRISCHE ERKENNTNIS 17

ihm aber auch eine bestimmte (problematische, vgl. unten) Wendung gegeben. In dieser Linie kannman die Philosophie in der Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der empirischen Wis-senschaft so begründen: Es gibt Bedingungen der Möglichkeit von empirischer Wissenschaft, z.B.dass man anerkennt, dass es Wahrheit gibt. Diese Bedingungen der Möglichkeit sind selbst nichtmehr der Inhalt der empirischen Wissenschaften, daher hat eine Wissenschaft, nämlich die Philoso-phie, die sich damit beschäftigt, eine eigenständige Begründung neben und sogar vor der empirischenWissenschaft.

Dieses transzendentale Argument führt allerdings leicht zu Fehlschlüssen, wie Kant gezeigt hat.Die Fehlschlüsse entstehen, so kann man in einer modernen Terminologie sagen, weil man (das istdurch die Sprache vorgegeben) über die Form der empirischen Erkenntnis genauso spricht wie überihren Inhalt, und deshalb leicht die entsprechenden Begriffe auf die gleiche Stufe stellt wie empiri-sche Begriffe. Das heißt, dass man ihnen Objekte zuordnet, in gleicher Weise wie man empirischenBegriffen Objekte zuordnet, und meint, dass diese Objekte in gleicher Weise „existieren“. Kant führtals Beispiele an: Der Begriff „Ich“ (als Bezeichnung für das Subjekt), der Begriff der Kausalität, derGottesbegriff, usw. Von Kant kann man lernen, dass große Vorsicht angebracht ist beim Gebrauch dertranszendentalen Argumente, Vorsicht und sehr präzise Unterscheidungen bezüglich der Folgerun-gen, die man aus dem Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erkenntnis zieht. DieTranszendentalphilosophie geht da manchmal sehr unkritisch vor.

Ein zweiter Ansatzpunkt für eine eigenständige Philosophie ist die Betrachtungsweise, dass esverschiedene Ebenen oder Bereiche der Wirklichkeit gibt, oder auch nur verschiedene Weisen, dieWirklichkeit zu beschreiben, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Die empirische Wissenschaftkann (wenn man dieser Auffassung folgt) aufgrund ihrer Methode nur bestimmte Bereiche der Wirk-lichkeit erkennen, die die Wirklichkeit aber nicht ausschöpfen. Z.B. kann man mit der Hilfe der Physikund der Neurobiologie genau beschreiben,21 was passiert, wenn jemand Musik hört. Die Beschrei-bung spricht von Schallschwingen, Nervenreizungen, usw. Diese Beschreibung kann aber niemalsdas Phänomen erfassen, dass die Musik „schön“ ist (philosophisches Stichwort: „Qualia“). Vielleichtwird die Neurophysiologie irgendwann operationalisierbare Begriffe entwickeln, bei welchen Erre-gungszuständen im Gehirn die Menschen davon sprechen, dass Musik oder sonst etwas „schön“ ist.Aber das eigentliche Phänomen Schönheit ist damit nicht erfasst. Ähnliches gilt für Aussagen wie:Etwas ist gut, etwas ist wahr,. . ..

Das Problem ist, dass diese Prädikate nicht operationalisierbar sind. Sind sie aber damit einemrationalen Diskurs entzogen? Dies ist die Behauptung, die dem Positivismus zugrunde liegt. Daswichtigste Argument, das sich für diese Behauptung anführen lässt, ist das weitgehende Versagen derPhilosophie, wenn es darum geht, einen gesicherten und allgemein anerkannten Erkenntnisfortschrittzu erzielen. Es lässt sich in der Philosophie, das zeigt die Geschichte, nicht einmal Einigkeit darübergewinnen, was die Methoden und Begriffe dieser Wissenschaft ausmacht, geschweige denn über dieInhalte. Und der entscheidende Vorsprung der empirischen Wissenschaften beruht zum großen Teilauf der konsequenten Anwendung des Konzepts der Operationalisierbarkeit. Aber es ist eine willkürli-che Entscheidung des Positivismus, zu behaupten, dass nur operationalisierbare Begriffe Gegenstanddes rationalen Diskurses und der Wissenschaft sein können.

Oben war die Frage gestellt worden, ob es nicht-empirische Erkenntnis gibt. Die Ausführungenhier führen dazu, diese Frage zu präzisieren:Gibt es rationale Erkenntnis über nicht-operationalisier-bare Begriffe?Das wichtigste Argument, das der Positivist anführen kann, ist, dass sich die Rationa-lität auf diesem Gebiet nicht bewährt habe. (Vgl. oben: Kein „Erkenntnisfortschritt“.) Andrerseits istes eine Verabsolutierung dieses Arguments und eine willkürliche Setzung, die Rationalität allein denempirischen Wissenschaften zuzusprechen.

21Natürlich ist die Neurobiologie praktisch nicht so weit, die Darstellung hier ist sehr idealisiert.

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Kapitel 3

Induktion, Verifikation, Falsifikation

Die moderne Wissenschaftstheorie hat das Induktionsproblem nicht erfunden. Es wurde aber zu einerihrer zentralen Fragen, und insbesondere Popper hat einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieser Fra-gen geleistet. Die praktische Konsequenz seiner Analysen, die Forderung nach einer Falsifizierbarkeitwissenschaftlicher Hypothesen, ist heute im Prinzip generell anerkannt und von großer Bedeutung.

3.1 Hume und die Kausalität

Um Hörern der Philosophie den Einstieg zu erleichtern, sei hier an Humes Skepsis bezüglich derErkennbarkeit von Kausalität angeknüpft (auf die auch Popper zurückgreift), allerdings ohne dasshier die (oft missverstandenen) ontologischen und erkenntnistheoretischen Folgerungen Humes imDetail betrachtet werden.

Hume stellte die Frage, wie wir Vorhersagen über die Zukunft machen können, bzw. kausaleZusammenhänge erkennen können. Seit es Menschen gibt, ist jeden Morgen die Sonne aufgegangen.Und wir gehen selbstverständlich davon aus, dass das auch am nächsten Morgen um eine bestimmteUhrzeit der Fall sein wird. Aber: Ist diese Vorhersage logisch notwendig? Es gibt keinerlei logischenGrund, von der beobachteten Regelmäßigkeit darauf zu schließen, dass dieselbe Regelmäßigkeit auchin Zukunft gelten wird. Auch eine kausale Erklärung (durch die Erddrehung) unterliegt im logischenSinn derselben Willkür.

Im Prinzip ist damit das logische Problem der Induktion schon klar dargestellt:

• Induktion, also der Schluss von beobachteten Regelmäßigkeiten bzw. regelmäßigen Verknüp-fungen von Ereignissen auf zukünftige Regelmäßigkeiten, also auf „Naturgesetze“, ist ein selbst-verständlicher Bestandteil unseres Lebens und insbesondere der empirischen Wissenschaften.Tatsächlich ist in der Wissenschaft die Zahl der beobachteten Fälle, mit denen man ein Gesetzbegründet, sogar oft erstaunlich klein, was von einem großen Vertrauen in Induktion zeugt.

• Gleichzeitig gibt es aber keine logische Rechtfertigung für Induktion.

• Dieses Problem wird zu einem Widerspruch, wenn man die naive empiristische Auffassungvertritt, dass Naturgesetze nur durch Beobachtungen erkannt werden.

3.2 Popper: Falsifikationismus

Popper tritt mit dem unbescheidenen Anspruch auf, das Induktionsproblem gelöst zu haben. Dabeilegt er großen Wert darauf, mehrere Prinzipien aufrecht zu erhalten:

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3.2. POPPER: FALSIFIKATIONISMUS 19

• Den Empirismus, den er in folgender Formulierung vertritt: Die Wissenschaft soll über dieempirische Erkenntnis hinaus keine Zuflucht nehmen zu irgendeinem metaphysischen Prinzip.Popper sagt über dieses „metaphyische Prinzip“ sehr spitz, er habe von ihm „bis heute keineFormulierung zu Gesicht bekommen (. . .), die auch nur etwas versprach und nicht von vorne-herein unhaltbar war.“22

• Den „Realismus des Alltagsverstandes; das ist die Ansicht, dass es eine wirkliche Welt gibt, diewirkliche Menschen, Tiere und Pflanzen, Autos und Sterne enthält.“23

Poppers Lösung besteht darin, die Notwendigkeit von Induktion schlichtweg zu leugnen. Dann löstsich der dargestellte Widerspruch auf:

Wir begreifen das sofort, wenn wir uns klarmachen, dass die Wissenschaft ein Naturge-setz oder eine Theorieimmer nur vorläufigakzeptiert; das heißt, dass alle Gesetze undTheorien Vermutungen oder vorläufigeHypothesensind (ich habe diese Anschauungs-weise manchmal als „Hypothetizismus“ bezeichnet); und dass wir ein Gesetz oder eineTheorie aufgrund von neuen Tatsachen verwerfen können, ohne deshalb die alten Tat-sachen aufgeben zu müssen, die uns ursprünglich bewogen hatten, das Gesetz oder dieTheorie zu akzeptieren. (. . .)

Das Grundprinzip des Empirismus (. . .) können wir uneingeschränkt aufrechterhalten, dadas Schicksal einer Theorie, ihre Annahme oder Ablehnung, durch Beobachtung und Ex-periment entschieden wird durch das Ergebnis von Prüfungen. Solange eine Theorie dieschwersten Prüfungen besteht, die wir uns ausdenken können, wird sie akzeptiert; wennnicht, wird sie verworfen. Aber sie wird niemals, in irgendeinem Sinn, aus empirischenTatsachen abgeleitet. Es gibt weder eine psychologische noch eine logische Induktion.Nur die Falschheit einer Theorie kann aus empirischen Tatsachen abgeleitet werden, unddiese Ableitung ist rein deduktiv.24

Hypothetischer Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis

Popper meint, der entscheidende Schritt sei, den„Vermutungscharakter der menschlichen Erkennt-nis“25 anzuerkennen, also den hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis. Als Beispielführt er die Newton-Mechanik an, die sich mehr als 200 Jahre lang hervorragend bewährt hatte, alsoeine bestmögliche induktive Bestätigung erfahren hätte, falls es eine solche gäbe. Sie wurde aber im20. Jahrhundert durch die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie abgelöst.

Und fast alle Physiker finden jetzt, dass die klassische Newtonische Mechanik nichtsweiter ist als eine erstaunliche Vermutung, eine merkwürdig erfolgreiche Hypothese, undeine verblüffend gute Annäherung an die Wahrheit.26

Den Ursprung des Missverständnisses sieht Popper in der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes,die er ironisch als „Kübeltheorie“ bezeichnet:

Dabei geht es um das Problem, wie wir Erkenntnis über die Welt erlangen. Die Lösungdes Alltagsverstandes ist: indem wir unsere Augen und Ohren öffnen.Unsere Sinne sinddie wichtigsten, wenn nicht die einzigen, Quellen unserer Erkenntnis.27

22Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 85.23Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 89f.24Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 86.25Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 88.26Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 89.27Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 90.

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20 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

Der Geist wird dabei wie ein „Kübel“ aufgefasst, in dem sich die Erkenntnisse ansammeln, die durchdie Sinne in ihn eindringen.

Woher stammt dann die menschliche Erkenntnis, wenn nicht von den Sinneswahrnehmungen?Popper geht von der logischen Überlegung aus, dass Erfahrung niemals eine Theorie (logisch) be-stätigen, sondern immer nur widerlegen kann. Und kommt damit zu folgender „methodologischerRegel“:

Du sollst kühne Theorien mit großem informativem Gehalt ausprobieren und anstreben;und dann lass diese kühnen Theorien konkurrieren, indem du sie kritisch diskutierst undstrengen Prüfungen unterziehst.28

Naturgesetze werden also nicht durch Erfahrung erkannt, sondern sie sind eine konstruktive Leistungdes menschlichen Geistes. Die Erfahrung dient nur dazu, falsche Hypothesen auszumerzen. Es gibtdabei zwei wesentliche Kriterien für gute Hypothesen:

• Jede Hypothese, die durch die Erfahrung widerlegt wird, die also einer Beobachtung wider-spricht, muss definitiv verworfen werden.

• Wenn nur dieses erste Kriterium gilt, dann sind aber diejenigen Hypothesen die besten, die nichtoder nur sehr schwer durch Erfahrung widerlegt werden können. Diese Hypothesen sind abergleichzeitig nichtssagend. Daher kommt noch eine Forderung hinzu:

Wir wollen neue und interessante Wahrheit. So gelangen wir zu der Ideedes Wachs-tums des informativen Gehalts,und besonders desWahrheitsgehalts.Das heißt, wirgelangen zu dem folgendenPrinzip der Bevorzugung: Eine Theorie mit einem gro-ßen informativen Gehalt ist im Großen und Ganzen, sogar bevor sie geprüft wurde,interessanter als eine Theorie mit wenig Gehalt. Zugegeben, wir müssen möglicher-weise die Theorie mit dem größeren Gehalt, oder, wie ich sie auch nenne, die küh-nere Theorie, aufgeben, wenn sie Prüfungen nicht standhält. Aber selbst in diesemFall haben wir vielleicht mehr von ihr gelernt, als von der Theorie mit wenig Gehalt,denn falsifizierende Prüfungen können manchmal neue und unerwartete Tatsachenund Probleme zum Vorschein bringen.29

Popper beruft sich ausdrücklich auf den Vorrang der logischen Lösung des Induktionsproblems ge-genüber der psychologischen. Damit meint er, dass der richtige Ausgangspunkt die logische Un-möglichkeit jeden Induktionsbeweises ist (wie von Hume dargestellt), nicht aber die psychologischeFrage, warum Menschen der Induktion praktisch trauen. Das zweite Kriterium Poppers für gute Theo-rien (informativer Gehalt) ist aber gar kein logisches, sondern es lässt sich letztlich nur mit Rückgriffauf Pragmatik begründen. Logische Argument führen nicht dazu, Theorien mit größerem Informa-tionsgehalt (soweit dieser Begriff überhaupt logisch präzise definiert werden kann) zu bevorzugen.Der Grund ist letztlich handlungstheoretisch, und implizit greift Popper auch auf eine entsprechendeArgumentation zurück:

(. . .) Das führt uns zu denpragmatischen Problemen der Induktion,die wir erst einmalso formulieren könnten:

(1) Auf welche Theorie sollten wir uns von einem rationalen Standpunkt aus für daspraktische Handeln verlassen?

(2) Welche Theorie sollten wir von einem rationalen Standpunkt aus für das praktischeHandeln bevorzugen?

28Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 97.29Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 97.

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3.2. POPPER: FALSIFIKATIONISMUS 21

Meine Antwort auf (1) ist: Von einem rationalen Standpunkt aus sollten wir uns auf keineTheorie „verlassen“, denn keine Theorie hat sich als wahr erwiesen, oder kann sich alswahr erweisen (oder als „zuverlässig“).

Meine Antwort auf (2) ist: Wir sollten die bestgeprüfte Theorie als Grundlage für unserHandelnbevorzugen.30

Popper führt diese Argumentation nicht fort, aber in diesem Rahmen ergibt sich natürlich problemlosein Argument für die Bevorzugung von Theorien mit großen informativem Gehalt: Theorien sindumso nützlicher für das Handeln, je größer ihr informativer Gehalt ist.

Das Leitbild des mutigen Wissenschaftlers

Die Position Poppers wird vielleicht am deutlichsten anhand eines Leitbildes, das er den Wissen-schaftlern vor Augen stellt: Einstein als Forscher, der die Allgemeine Relativitätstheorie als Theorieder Gravitation entwickelte, und damit Newtons Theorie ablöste.

(. . .) es war diese Theorie, die mich zur Wissenschaftstheorie führte. Was mich so sehr anEinsteins Gravitationstheorie beeindruckte, waren die folgenden Punkte.

(1) Es war eine sehr kühne Theorie. Sie wich in ihrer Grundanschauung stark von New-tons Theorie ab, die zu jener Zeit äußerst erfolgreich war. (Die kleine Abweichung desPeriheliums von Merkur beunruhigte im Lichte des fast unglaublichen Erfolges der Theo-rie in anderer Hinsicht niemanden ernstlich. Ob sie jemand beunruhigen hätte sollen, isteine andere Frage.)

(2) Vom Standpunkte der Theorie Einsteins aus war die Theorie Newtons, obwohl falsch,eine ausgezeichnete Annäherung (ebenso, wie vom Standpunkt der Theorie Newtons ausdie Theorien Keplers und Galileis, obwohl falsch, ausgezeichnete Annäherungen waren).Es ist also nicht ihre Wahrheit, die über den wissenschaftlichen Charakter einer Theorieentscheidet.

(3) Einstein verdankt seiner Theorie drei wichtige Vorhersagen von erheblich unterschied-lichen beobachtbaren Wirkungen; zwei davon waren niemandem vor ihm in den Sinngekommen, und alle drei widersprachen der Theorie Newtons, so weit man sagen kann,dass sie überhaupt in das Anwendungsgebiet dieser Theorie fielen.

Aber was mich am meisten beeindruckte, waren die folgenden zwei Punkte.

(4) Einstein erklärte, dass diese Vorhersagen entscheidend sind: wenn sie nicht mit sei-nen genauen theoretischen Kalkulationen übereinstimmen, würde er seine Theorie alswiderlegt betrachten.

(5) Aber sogar, wenn sie wie vorhergesagt beobachtet würden, erklärte Einstein,sei seineTheorie falsch.Er sagte, dass sie eine bessere Annäherung an die Wahrheit sei als New-tons, aber er gab Gründe an, warum er seine Theorie nicht als wahr betrachten würde,selbst wenn alle Vorhersagen richtig wären.

(. . .)

Einsteins Theorie wurde erstmals durch das berühmte Experiment von Eddington anläss-lich der Sonnenfinsternis von 1919 überprüft.31 Obwohl er nicht an die Wahrheit seinerTheorie glaubte, obwohl er glaubte, dass sie nur eine neue wichtige Annäherung an die

30Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 99.31Die Allgemeine Relativitätstheorie sagte voraus, dass das Licht von Sternen im starken Gravitationsfeld der Sonne so

stark abgelenkt wird, dass die Ablenkung beobachtbar ist. Dies kann aber nur bei Sonnenfinsternissen überprüft werden,

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22 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

Wahrheit war, zweifelte Einstein niemals daran, wie das Ergebnis dieses Experimentsausgehen würde; der innere Zusammenhang, die innere Logik seiner Theorie überzeug-ten ihn davon, dass sie ein Schritt vorwärts war, selbst wenn er wusste, dass sie nicht wahrsein konnte.32

An einer anderen Stelle beschreibt Popper das Idealbild des Wissenschaftlers wie folgt:

(. . .) es sind Menschen mit mutigen Ideen, die aber ihren eigenen Ideen gegenüber höchstkritisch sind; sie versuchen herauszufinden, ob ihre Ideen richtig sind, indem sie versu-chen herauszufinden, ob sie nicht vielleicht falsch sind. Sie arbeiten mit kühnen Vermu-tungen und strengen Widerlegungsversuchen ihrer eigenen Vermutungen.33

Grundüberzeugungen

Oben wurde schon erwähnt, dass eine von Poppers Grundüberzeugungen das Festhalten am „Rea-lismus des Alltagsverstandes“ ist. Die zweite Grundüberzeugung ist die von der Unvollkommenheitaller Erkenntnis, die Popper aber nicht im Sinn einer grundlegenden Skepsis, sondern eines nicht ganzerfüllten Strebens nach einer Annäherung an die Wahrheit versteht. Als dritte Grundlage kann manseine Vorstellung ansehen, dass diese Annäherung durch einen Prozess der mutigen Konstruktion vonTheorien und der Auslese unter diesen vorangetrieben wird. Diese dritte Grundlage korrespondierteinerseits mit Poppers liberal-demokratischer Grundeinstellung, dass Wahrheitssuche auf möglichstfreier und kreativer Diskussion beruht, andererseits mit einer evolutionären Auffassung:

(. . .) [Die] bevorzugten Vermutungen sind das Resultat der Auslese, des Kampfes um dasÜberleben der Hypothesen unter dem Druck derKritik, die einen künstlich verstärktenAuslesedruck darstellt.34

Popper bezeichnet dies ausdrücklich als das „Darwinische Verfahren der Selektion von Überzeugun-gen und Handlungen“.35

Ein wichtiger Punkt soll dem praktischen Teil (vgl. Abschnitt3.6) schon vorweggenommen wer-den: Falsifizierbarkeit ist nach Poppers Vorstellung das wichtige Abgrenzungskrititerium zwischenwissenschaftlichen Aussagen und metaphysischen Aussagen, die er als pseudowissenschaftlich an-sieht. Falsifizierbarkeit bedeutet, dass eine wissenschaftliche Aussage so formuliert sein muss, dasssie durch konkrete Beobachtungen widerlegt werden kann. Im Idealfall macht eine neue („kühne“)Theorie Vorhersagen, die vor der Erfindung diese Theorie niemand je erwarten konnte. Ein empiri-scher Test dieser Vorhersagen ist dann das Kriterium, ob die Theorie beibehalten werden soll (vgl.oben das Beispiel mit Einsteins Theorie der Gravitation). Falsifizierbarkeit hat zwei Dimensionen:

• Die logische Dimension: Jede wissenschaftliche Aussage muss prinzipiell (und möglichst auchpraktisch) durch eine konkret angebbare Beobachtung widerlegbar sein.

• Die praktische Dimension: Eine solche Widerlegung muss dann auch akzeptiert werden.

Natürlich lässt sich noch sehr viel über Popper sagen. Zwei wichtige Punkte werden unten nochaufgenommen: Im praktischen Teil über die Falsifizierbarkeit als wissenschaftstheoretisches Prinzip

weil das Licht von Sternen direkt neben der Sonne ansonsten vom Sonnenlicht überstrahlt wird. Die Theorie von Newtonsagte, je nachdem, welche Theorie des Lichts mit ihr verbunden wird, entweder keine oder eine kleinere Ablenkung desLichts im Gravitationsfeld voraus.

32Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 106f.33Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 104.34Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 98.35Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 98.

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3.2. POPPER: FALSIFIKATIONISMUS 23

(vgl. Abschnitt3.6) werden die Fragen nach Immunisierungsstrategien und nach den PopperschenAbgrenzungskriterien von empirischer Wissenschaft behandelt. Im Rahmen der philosophischen Dis-kussion (vgl. Abschnitt3.7) soll dann auch noch auf die erkenntnistheoretischen Konsequenzen derPopperschen Theorie eingegangen werden.

Zusammenfassung

Popper geht von der logischen Unmöglichkeit eines Induktionsbeweises für Hypothesen der empiri-schen Wissenschaft aus. Er zieht den Schluss, dass das induktive Verfahren durch ein deduktives zuersetzen ist.

• Popper lehnt die Auffassung ab, dass wissenschaftliche Sätze aus der Erfahrung abgeleitet wer-den.

• Dagegen setzt er: Wissenschaftliche Sätze sind immer hypothetisch. Sie werden konstruiert,und dann anhand der Erfahrung getestet. Die Empirie kann aber die Sätze niemals bestätigen,sondern immer nur widerlegen, „falsifizieren“.

Damit wird das empiristische Wahrheitskriterium, dem sich auch Popper verpflichtet weiß, umfor-muliert: Die Erfahrung kann wissenschaftliche Aussagen nicht bestätigen. Dennoch gründen sie sichinsofern auf Erfahrung, als sie durch Erfahrung und nur durch Erfahrung widerlegt, „falsifiziert“ wer-den können.

Kritik

Es gibt viele berechtigte Kritikpunkte an Poppers Falsifikationismus. Einige dieser Punkte hat erselbst noch in Form von erweiternden Modifikationen seiner Vorstellung berücksichtigt. Hier zunächsteine Aufzählung von Argumenten gegen Popper, von denen die meisten im Folgenden noch nähererläutert werden:

• Ein logisches Argument: Manche Aussagen, die „offensichtlich“ empirisch sinnvoll sind, fallenunter Poppers Verdikt, nicht falsifizierbar zu sein.

• Argumente gegen das empiristische Sinnkriterium: Es gibt keine reinen Beobachtungsaussagen,die eine Theorie falsifizieren könnten, denn Beobachtungsaussagen sind

– fehlbar

– und selbst theorieabhängig.

• Die Aussagen einer Theorie sind miteinander derart untrennbar verbunden, dass sie niemalseinzeln durch eine Beobachtung widerlegt werden können. Im Prinzip wird immer die Theorieals Ganzes widerlegt, nicht nur irgendein Teil derselben. (Theorienholismus)

• Es gibt keinen objektiven Maßstab dafür, wie „mutig“ Hypothesen sind, was aber ein entschei-dendes Kriterium für Popper ist.

• Praktische Argumente: Eine konsequente Anwendung der Popperschen Methode ist wissen-schaftsfremd. Man kann zeigen, dass sie in vielen Fällen die Entwicklung der Naturwissen-schaft erheblich behindert hätte.

Diese Aufzählung von Gegenargumenten scheint auf den ersten Eindruck vernichtend für PoppersPosition zu sein. Es muss aber festgehalten werden:

• Poppers Ideen haben die weitere Entwicklung der Wissenschaftstheorie entscheidend befruch-tet.

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24 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

• Trotz berechtigter systematischer Kritik an Poppers Konzept führt dieses doch auf einige Krite-rien, die heute zu Recht als grundlegend angesehen werden, für die praktische Vorgehensweiseder empirischen Wissenschaft.

3.3 Die empiristische Antwort auf Popper

Obwohl sich Popper, wie oben zitiert, ausdrücklich zum Empirismus bekennt, hat z.B. Carnap diePoppersche Fassung des Empirismus nicht akzeptiert.36 Carnap geht von den logischen Argumentengegen die Falsifizierbarkeit aus. Dazu zwei Beispiele (von Stegmüller) für offensichtlich sinnvollewissenschaftliche Aussagen, die aber prinzipiell nicht empirisch falsifiziert werden können:

• Reine Existenzhypothesen, „(z.B. die Hypothese von der Existenz eines neuen und bisher imFernrohr noch nicht beobachteten Planeten) (. . .) um einen Existenzsatz zu falsifizieren, müss-te man das ganze Universum durchstreifen und am Ende dieser Durchforschung feststellen,dass es ein Objekt von der angegebenen Eigenschaft darin nicht gibt.“37 [Und das ist natürlichpraktisch nicht möglich.]

• Es gibt sogar empirische Sätze, die empirisch weder falsifizierbar, noch verifizierbar sind: „Essei etwaa ein beobachtbares Einzelobjekt. Die EigenschaftM soll diesem Dinga genau dannzukommen, wenn es ein (konkretes) Objekt gibt, das vona weiter entfernt ist als alle übrigenObjekte vona entfernt sind. Da die hier verwendete Relationseigenschaft ‚z ist von x weiterentfernt alsy von x entfernt ist‘ sicher etwas Beobachtbares zum Inhalt hat, wird man auch dieEigenschaftM als eine beobachtbare Eigenschaft anerkennen müssen. Die Behauptung, dassadiese EigenschaftM hat, ist aber mit Hilfe von endlich vielen Beobachtungen weder beweisbarnoch widerlegbar; die Verfikation ist ausgeschlossen wegen des im Definitionssatz vonM vor-kommenden ‚alle‘ und die Falsifikation ist ausgeschlossen wegen des darin vorkommenden ‚esgibt‘.“ 38

Man kann diese Kritik am Falsifikationismus so kennzeichnen: Popper hat zu Recht darauf hingewie-sen, dass eine vollständige Verifikation von wissenschaftlichen Hypothesen nicht möglich ist. Er hataber übersehen, dass es sinnvolle Hypothesen der empirischen Wissenschaft gibt, die sich auch einervollständigen Falsifizierbarkeit entziehen. Carnap schlägt vor, die Forderung der „Bestätigungsfähig-keit“ als Abgrenzungskriterium für empirische Aussagen zu betrachten. Dabei

• ist keine vollständige Bestätigungsfähigkeit gefordert (sonst wären Aussagen wie oben vonCarnap zitiert nicht möglich),

• und keine vorgängige Prüfbarkeit, das heißt es müssen nicht schon irgendwelche experimen-tell real durchführbaren Prüfungsmethoden angegeben werden, die der Zuschreibung eines be-stimmten Prädikats korrespondieren (vgl. Operationalisierbarkeit, die dazu in einer Spannungsteht).39

Damit reduziert sich das Abgrenzungskriterium darauf, dass die Bestätigung einer Aussage „zurück-führbar ist auf die einer endlichen Klasse von Beobachtungssätzen,“40 eine Formulierung, die CarnapsOption für einen Primat der Sprachanalyse entspricht.

36Die folgenden Ausführungen stützen sich aufWolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie.Bd. 1. Stuttgart61978, S. 402-411.

37Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. Stuttgart61978, S. 403.38Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. Stuttgart61978, S. 403f.39Vgl. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. Stuttgart61978, S. 408f.40Vgl. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. Stuttgart61978, S. 408.

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3.4. „RAFFINIERTER“ FALSIFIKATIONISMUS 25

Carnaps Reaktion führt zu einer wichtigen Modifikation bzw. Ergänzung von Poppers Ideen, hatsich aber ansonsten nicht als fruchtbar für die weitere Entwicklung der Wissenschaftstheorie erwie-sen. Diese hat eher die anderen Kritikpunkte an Poppers Konzept zum Ausgangspunkt genommen,was im folgenden Abschnitt ausgeführt wird.

3.4 „Raffinierter“ Falsifikationismus

Der „raffinierte Falsifikationismus“41 nimmt einige der erwähnten Kritikpunkte auf, und verfeinertPoppers Konzept entsprechend.

Fortschritt der Wissenschaft

Oben wurde als Kritikpunkt angeführt:

• Es gibt keinen objektiven Maßstab dafür, wie „mutig“ Hypothesen sind, was aber ein entschei-dendes Kriterium für Popper ist.

Diese Schwierigkeit lässt sich weitgehend vermeiden, wenn man nicht den „informativen Gehalt“(Ausdruck von Popper) von einer einzelnen Theorie betrachtet, sondern aufeinanderfolgende Theori-en miteinander vergleicht. Betrachtet wird also der Fortschritt der Wissenschaften. Dazu Chalmers:

Im Allgemeinen wird man darin übereinstimmen, dass auf den Vorschlag einer neuenTheorie erst dann eingegangen werden sollte, wenn sie falsifizierbarer als ihre konkur-rierende Theorie ist und insbesondere, wenn sie ein neues Phänomen vorhersagt, das vonder konkurrierenden Theorie nicht berührt wurde.42

Ein Beispiel dafür, das aber sehr konstruiert ist (Im Allgemeinen wird die Situation in realen Proble-men der Wissenschaft nicht so klar sein.):

So ist zum Beispiel die Aussage „Alle Körper ziehen sich gegenseitig mit einer Kraft an,die sich umgekehrt proportional zu dem Quadrat ihres Abstandes verhält“ falsifizierbarer[Sie hat einen höheren informativen Gehalt.] als die Aussage „Die Planeten unseres Son-nensystems ziehen sich gegenseitig mit einer Kraft an, die sich umgekehrt proportionalzu dem Quadrat ihres Abstandes verhält“.43

Ad-hoc-Modifikationen und Hilfshypothesen

Ein Problem der Falsifikationsmethode ist, dass sich Theorien der Falsifikation entziehen können,indem sie einfach so abgewandelt werden, dass das beobachtete empirische Datum, das zur Widerle-gung dient, durch Zusatzannahmen nachträglich zu einer Vorhersage der Theorie gemacht wird. Dazuein Beispiel (nach Chalmers):

Die Anhänger der traditionellen Kosmologie waren aufgrund von einer Behauptung des Aristo-teles der Meinung, dass alle Himmelskörper perfekte Kugeln seien. Galilei beobachtete im 17. Jahr-hundert, dass der Mond Krater hat, also keineswegs ganz rund ist. Mitnichten wurde dadurch diealte Auffassung falsifiziert: Gegen Galilei wurde einfach die Behauptung gesetzt, der Mond sei mit

41Bezeichnung von Chalmer, auf dessen Ausführungen sich dieser Abschnitt neben Poppers Texten weitgehend stützt:Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 53-61.

42Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 53.43Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 53f.

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26 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

einer unsichtbaren Substanz bedeckt, die alle Krater und Berge überdeckt, so dass er doch perfektkugelförmig sei.44

Ein weiteres Beispiel für eine Ad-Hoc-Modifikation einer Theorie ist sehr lehrreich, wenngleiches nicht genau dem üblichen Schema entspricht:45 Zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Allge-meinen Relativitätstheorie untersuchte Einstein (1917) die Konsequenzen dieser Theorie für die Kos-mologie, also für die langfristige und großräumige Entwicklung des Kosmos. Er kam zum Ergebnis,dass ein langfristig stabiler Kosmos mit seiner Theorie in ihrer ursprünglichen Form nicht verein-bar ist. Einstein war (wie die meisten Physiker seiner Zeit) aber so sehr davon überzeugt, dass derKosmos seit Ewigkeit existiert, dass er diese Konsequenz nicht ziehen wollte. Er modifizierte lieberseine Theorie durch eine zusätzliche Komplikation, die Einführung der kosmologischen Konstante.Damit entging ihm die Chance, seiner Theorie die richtige Vorhersage zu entnehmen, nämlich dassder Kosmos vor einer gewissen Zeit (ca. 14 Mrd. Jahre) entstanden ist, was einige Jahre später auchexperimentell (zumindest grob) bestätigt werden konnte. Die kosmologische Konstante, wie Einsteinsie eingeführt hatte, ist eine typische Ad-Hoc-Modifikation der Allgemeinen Relativitätstheorie.

Von den Ad-Hoc-Modifikationen einer Theorie sind Hilfshypothesen zu unterscheiden. Ein Bei-spiel, das auch Popper in diesem Zusammenhang anführt, ist die Entdeckung von Unregelmäßigkeitenin der Umlaufbahn des Uranus, also des siebten Planeten des Sonnensystems, im 19. Jahrhundert. Wardamit die newtonsche Gravitationstheorie widerlegt? Keineswegs, man rettete sich damit, die Exis-tenz eines achten Planeten, des Neptun, vorherzusagen. Damit konnten die Abweichungen erklärtwerden. Man konnte mit dieser Hilfshypothese, dass ein achter Planet für diese Abweichungen ver-antwortlich ist, sogar dessen Position genau vorhersagen, was in einen triumphalen Erfolg, nämlichdie Entdeckung des Neptun, mündete.

Unterscheidung von Hilfshypothesen und Ad-hoc-Modifikationen

Was unterscheidet Hilfshypothesen genau von Ad-Hoc-Modifikationen? Es sollte schon klar ge-worden sein, dass Hilfshypothesen erlaubt sind, sogar sehr hilfreich sein können, dass Ad-Hoc-Modifikationen aber abzulehnen sind. Popper nennt folgendes Kriterium:

Ich bezeichne eine Vermutung als„ad hoc“ , wenn sie (. . .) eingeführt wird, um einebesondere Schwierigkeit zu erklären, wenn sie jedoch (im Gegensatz zu ihr)nicht unab-hängig überprüft werden kann.46

Von Hilfshypothesen fordert Popper im Gegensatz dazu, dass sie unabhängig überprüfbar sind, wasim Beispiel der Existenz des Planeten Neptun offensichtlich der Fall war.

Mit einem zweiten Beispiel verdeutlicht Popper, dass diese Unterscheidung in der Praxis nichtscharf durchgeführt werden kann: Als man Anfang der 30er-Jahre den radioaktivenβ-Zerfall, das istder Zerfall eines Neutrons (meist innerhalb eines Atomkerns) in ein Proton und ein Elektron unter-suchte, wurde deutlich, dass das entstehende Elektron nicht die ganze Energie und den ganzen Impulsforttrug, die bei diesem Prozess entstehen. Der Energie- und der Impulserhaltungssatz waren damit inFrage gestellt. Der Glaube der Physiker an diese Prinzipien war aber so stark, dass W. Pauli 1933 dieExistenz eines neuen, unbekannten, Teilchens postulierte, das bei diesem Prozess zusätzlich entsteht.Dieses sollte die fehlende Energie und den fehlenden Impuls fort tragen. Dabei ergab sich, dass diesesTeilchen, das er Neutrino taufte, solche Eigenschaften haben sollte, dass seine experimentelle Entde-ckung aussichtslos erschien, und Pauli war in dieser Hinsicht selbst sehr skeptisch. Es zeigte sich

44Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 54f.45Vgl. dazu das Skript Naturphilosophie: Grenzfragen der Physik bzw. (in Vorbereitung:) S. Bauberger: Was ist die

Welt. Stuttgart: Kohlhammer 2003.46Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 115.

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3.4. „RAFFINIERTER“ FALSIFIKATIONISMUS 27

aber mehr als 20 Jahre später (1956), dass man diese Teilchen bei Experimenten an Kernreaktoren di-rekt nachweisen kann, und heute gehören sie zum Standardrepertoire der Elementarteilchenphysiker.Popper folgert:

Wir haben hier also das Beispiel einer Ad-Hoc-Hypothese, die mit zunehmender Erkennt-nis ihren Ad-Hoc-Charakter ablegte. Und wir haben hier eine Warnung, kein zu strengesEdikt gegen Ad-Hoc-Hypothesen auszusprechen (. . .)47

Bewährung

Popper spricht vom Ideal der falsifizierbaren kühnen Vermutungen (Hypothesen). Chalmers ergänztdazu (und er hat damit recht), dass einerseits nicht nur Widerlegung, sondern auch die Bewährung,Bestätigung von Theorien praktisch relevant ist. Andererseits sind es gerade nicht die kühnen Vermu-tungen, deren Falsifikation einen hohen Erkenntniswert hat.

Der Versuch, die Theorie von Newton mit einer spektakulären Hypothese zu retten - einVersuch, der unabhängig überprüfbar war - hatte Erfolg, weil die Hypothese durch dieEntdeckung des Planeten Nepton bekräftigt wurde und nicht, weil sie falsifiziert wurde.

(. . .) Bedeutsame Fortschritte werden durch dieBewährungvon kühnenVermutungenoder durch dieFalsifikationvonbehutsamenVermutungen gekennzeichnet. (. . .) Die Ent-deckung des Neptun, der Radiowellen und Eddingtons Bestätigung von Einsteins gewag-ter Vorhersage, dass Lichtstrahlen in starken Gravitationsfeldern gebeugt werden, bildenalle einen entscheidenden Fortschritt dieser Art. [durch Bestätigung] Die Falsifikationvon behutsamen Vermutungen ist deswegen aufschlussreich, weil sie den Nachweis er-bringt, dass das, was unproblematisch als Wahrheit betrachtet wurde, in Wirklichkeitfalsch ist. Der Beweis von Russell, dass die naive Mengenlehre, die scheinbar auf na-hezu selbstevidenten Sätzen beruht, in sich widersprüchlich ist, ist ein Beispiel für ei-ne aufschlussreiche Falsifikation einer Vermutung, die anscheinend kein Risiko in sichbirgt. Hingegen lehrt uns dieFalsifikationeinerkühnenVermutung oder dieBewährungeinerbehutsamenVermutung nur wenig. Wenn eine kühne Vermutung falsifiziert wird,dann ist alles, was man daraus lernt, dass sich wieder eine verrückte Idee als falsch er-wiesen hat. Die Falsifikation der Spekulation von Kepler, dass die räumliche Lage derPlanetenbahnen durch die platonischen Körper erklärt werden könnte, bildet zum Bei-spiel nicht gerade einen der bedeutsamsten Meilensteine in der Entwicklung der Physik.Ebenso ist die Bewährung von behutsamen Hypothesen nicht aufschlussreich. DerartigeBewährungen beweisen lediglich, dass eine gutbegründete Theorie, die für unproblema-tisch gehalten wurde, wieder einmal mit Erfolg Anwendung fand. So wäre zum Beispieldie Bewährung der Vermutung, dass sich Eisenstücke, die durch ein neuartiges Verfah-ren aus Eisenerz gewonnen werden, ebenso wie andere Eisenstücke ausdehnen, wenn sieerhitzt werden, von nur geringer Bedeutung.48

Popper hat, geblendet durch die logische Stimmigkeit seiner Position zum Induktionsproblem, diepraktische Seite übersehen, dass sowohl Bewährung als auch Falsifikation zur Methode der empi-rischen Wissenschaft gehören. Der „raffinierte Falsifikationismus“ erkennt beide Seiten an, leugnetaber nicht die logische Priorität der Falsifikation.

47Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 115.48Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 57.

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28 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

Theorienholismus

Auf das Problem, dass die einzelnen Aussagen einer Theorie vielfach nur im Rahmen dieser Theorieeinen Sinn machen, also durch Beobachtung nicht widerlegt werden können (vgl. oben die Erklärungim Kap.4), antwortet Popper am Beispiel der Newton-Mechanik:

Newtons Theorie ist ein System.Wenn wir es falsifizieren, falsifizieren wir das ganze Sys-tem.Vielleicht beschuldigen wir damit nur das eine oder andere seiner Gesetze. Aber dasbedeutet nur, dass wirvermuten, dass ein bestimmtes Alternativsystem eine Verbesserungsein wird, eine bessere Annäherung an die Wahrheit.

3.5 Grenzen des Falsifikationsmus

Auf zwei Einwände gegen Poppers System wurde bisher nicht eingegangen. Tatsächlich stößt dasSystem da an Grenzen. Die beiden Einwände seien noch einmal wiederholt:

• Argumente gegen das empiristische Sinnkriterium: Es gibt keine reinen Beobachtungsaussagen,die eine Theorie falsifizieren könnten, denn Beobachtungsaussagen sind

– fehlbar

– und theorieabhängig.

• Praktische Argumente: Eine konsequente Anwendung der Popperschen Methode ist wissen-schaftsfremd. Man kann zeigen, dass sie an manchen Punkten der Entwicklung der Naturwis-senschaft diese erheblich behindert hätte.

Kritik am empiristischen Sinnkriterium: Grenzen von Falsifikation

Diese Kritik hat zwei Ausgangspunkte: Erstens die Fehlbarkeit und zweitens die Theorieabhängigkeitvon Beobachtungsaussagen. Die Fehlbarkeit ist ein offensichtliches Faktum und hat sowohl logischeals auch praktische Konsequenzen für den Falsifikationismus:

[Das logische Argument:] Es ist durch nichts gerechtfertigt, dass es immer die Theoriesein muss, die zurückgewiesen wird, wenn sie mit einer Beobachtungsaussage unverein-bar ist. Es kann aber auch sein, dass eine fehlbare Beobachtungsaussage zurückgewiesenwird und die fehlbare Theorie, mit der sie unvereinbar ist, beibehalten wird. [Ein Beispielfür die praktischen Konsequenzen:] Dieser Sachverhalt beschreibt genau die Situation,als die Theorie von Kopernikus beibehalten wurde, während die mit ihr im Widerspruchstehenden Beobachtungen mit bloßem Auge, dass sich die Venus in ihrer Größe im Laufedes Jahres nicht nennenswert ändert, zurückgewiesen wurde.49

Der zweite Ausgangspunkt ist die Theorieabhängigkeit von Beobachtungsaussagen, die im fol-genden Kapitel genauer erklärt wird. Dieses Konzept soll hier aber schon einmal ganz grundlegendeingeführt werden. Es ist eine grundlegende Kritik an dem Anspruch Carnaps und aller verwandterPhilosophen, es gäbe eine Art Protokollsprache, die unmittelbare Wahrnehmungen beschreibt, undauf die sich wissenschaftliche Theorien beziehen können. In der Praxis sind dagegen wissenschaft-liche Aussagen und selbst ganz alltägliche Aussagen mit einem hohen Maß an Theorie verwoben.Dazu soll das oben zitierte Beispiel Carnaps für ein Laboratoriumsprotokoll analysiert werden:

49Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 63f.

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3.5. GRENZEN DES FALSIFIKATIONSMUS 29

„Aufstellung der Apparate:. . .; Schaltungsschema:. . .; Zeigerstellung der verschiede-nen Instrumente zu den verschiedenen Zeitpunkten:. . .; bei 500 V tritt Funkenentladungein.“50

Dazu im Einzelnen:

• „Aufstellung der Apparate:. . .“: Ein Laie wird nur einen Verhau von Kabeln und Kästen sehen,aber keine wissenschaftlichen Apparate. Allein schon das Erkennen und richtige Benennen derApparate setzt ein erhebliches Vorwissen voraus. Man stelle sich vor, dass Aristoteles (der inseiner Zeit ein hervorragender Naturwissenschaftler war) plötzlich in unsere Zeit versetzt würdeund die Versuchsanordnung beschreiben sollte. Seine Beschreibung würde erheblich von dereines heutigen Wissenschaftlers abweichen.

• „Zeigerstellung der verschiedenen Instrumente zu den verschiedenen Zeitpunkten:. . .“: DasAblesen von „Zeigerstellungen“ ist erst einmal ein recht komplexes Konzept und außerdemein schwieriger Prozess, der gelernt werden muss. Jeder Mensch unserer Kultur kann zwar einTachometer ablesen, aber das genaue Ablesen von Skalen ist eine eigene Kunst, das erfährtjeder Physiker im Grundpraktikum.

• „bei 500 V tritt Funkenentladung ein“: Spätestens hier wird die Theoriedurchtränktheit dieserSprache deutlich. Ein gebildeter Mensch der Antike und selbst der beginnenden Neuzeit würdeeinfach nicht verstehen, was damit gemeint ist. Von „bei 500 V“ zu sprechen, setzt die Theo-rie der Elektrizität voraus. Funken sind dem Menschen, der nicht mit Elektrizität vertraut ist,vielleicht von Steinen, die aufeinander geschlagen werden, ein Begriff. Aber was soll „Funken-entladung“ sein, wenn man nicht mit Elektrizität vertraut ist?

• Zur Erläuterung ein Beispiel, wie elektrische Phänomene vor der modernen Theorie der Elek-trizität beschrieben wurden, mit Begriffen, die heute völlig inadäquat sind: „Die ersten Forscherauf diesem Gebiet berichteten von elektrisch geladenen Stäben, die ‚klebrig‘ wurden, was deut-lich darin zum Ausdruck kam, dass kleine Papierschnitzel an ihnen haften blieben.“51

Ein weiteres Beispiel aus der (heutigen) Alltagssprache:

(. . .) wenn ein Frühaufsteher, der ein starkes Verlangen nach Kaffee verspürt, klagt, dassdas Gas nicht angeht, dann geht er davon aus, dass es Stoffe in der Welt gibt, die unterden Begriff „Gas“ einzuordnen sind und dass wenigstens einige von ihnen sich entzün-den. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es den Begriff „Gas“ nicht schon zu jeder Zeitgegeben hat. Er existiert erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Joseph Black zeigte,das Kohlendioxid (CO2) durchwegs von normaler Luft zu unterscheiden sei. Bis dahin„glaubte man, zwei Gasproben unterschieden sich nur durch ihre Verunreinigungen“.52

Das folgende Kapitel über Theorien wird dieses Argument vertiefen. Bei der Untersuchung von „theo-retischen Begriffen“ zeigt sich, dass die Theorieabhängigkeit von Beobachtungsaussagen ein syste-matisches Phänomen in jeder einigermaßen komplexen Theorie ist, und dass sie logisch sauber ver-standen werden kann.

50Carnap, Rudolf: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis II, Leipzig 1931,S. 438.

51Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 35f.52Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 33. Das letzte Zitat im Zitat ist aus:T.S. Kuhn: Die

Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp41979, S. 83.

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30 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

Die praktischen Argumente gegen Poppers Konzept

Das praktische Argument, dass nämlich in der praktischen Handhabung der Wissenschaft glückli-cherweise das Poppersche Verfahren nicht konsequent angewandt wird, soll anhand einiger Beispieleerläutert werden:

In ihrem Anfangsstadium wurde Newtons Gravitationstheorie durch Beobachtungen derUmlaufbahn des Mondes falsifiziert. Es dauerte fast fünfzig Jahre um diese Falsifikationauf andere Ursachen als auf Newtons Theorie zurückzuführen.

(. . .)

[Ein weiteres] Beispiel betrifft die Theorie der Kinetik und birgt den Vorteil, dass die Fal-sifikation bereits bei ihrer Entstehung von ihrem Urheber eingeräumt wurde. Als Maxwelldie ersten Details der kinetischen Gastheorie im Jahre 1859 veröffentlichte, bestätigte erim gleichen Aufsatz die Tatsache, dass die Theorie durch Messungen der spezifischenWärme von Gasen falsifiziert wurde (. . .) Alle entscheidenden Fortschritte innerhalb derkinetischen Gastheorie fanden nach dieser Falsifikation statt. Auch diesmal kann manvon Glück sprechen, dass die Theorie angesichts der Falsifikation durch die Messungender spezifischen Wärme von Gasen nicht verworfen wurde, worauf zumindest der naiveFalsifikationist hätte bestehen müssen.53

Die kinetische Gastheorie ist eine außerordentlich erfolgreiche physikalische Theorie und eine Lö-sung für die Probleme mit der spezifischen Wärme von Gasen ergab sich erst im 20. Jahrhundert imRahmen der Quantentheorie.

Die Einwände gegen den Falsifikationismus, die in diesem Kapitel diskutiert wurden, werdenpositiv aufgenommen in dem System von Lakatos, das unten diskutiert werden soll.

3.6 Praktische wissenschaftstheoretische Konzepte: Falsifizier-barkeit als Kriterium für Theorien, Immunisierungsstrate-gien, Ad-Hoc-Hypothesen, Hilfshypothesen

Nach all dieser Kritik soll aber nicht untergehen, dass Popper einen erheblichen Beitrag zur Wis-senschaftstheorie geleistet hat. Seine Ideen haben nicht nur die weitere Entwicklung entscheidendgeprägt, sondern die grundlegenden Konzepte sind auch von großer praktischer Bedeutung für dieempirische Wissenschaft.

Falsifizierbarkeit als Kriterium für empirische Wissenschaft

Jede gute Theorie der empirischen Wissenschaft soll dem Kriterium der Falsifizierbarkeit genügen.Dabei wird abgesehen von den oben erwähnten Ausnahmen, also von Existenzaussagen. In der Praxisspielen diese Ausnahmen keine wesentliche Rolle, sie widerlegen nur den Anspruch Poppers, dass dasPrinzip der Falsifikation das logische Problem der Induktion löst. Eine Theorie, die durch keinerleiBeobachtungen zu widerlegen ist, hat keinen informativen Gehalt und ist daher wertlos. Es ist einewissenschaftliche Tugend, das hat Popper richtig erkannt, aus der eigenen Theorie möglichst vielemöglichst unerwartete Folgerungen abzuleiten, die tatsächlich empirisch getestet werden können.

Ein Kampfbeispiel, das Popper anführt, ist die Psychoanalyse (schon wieder die arme Psycho-analye, die oben schon in Zusammenhang mit dem Konzept der Operationalisierung erwähnt wordenwar):

53Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 69.

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3.6. FALSIFIZIERBARKEIT ALS KRITERIUM FÜR THEORIEN, . . . 31

Sie ist eine interessante psychologische Metaphysik (und zweifellos enthält sie einigesan Wahrheit, wie das bei metaphysischen Ideen so oft der Fall ist), aber sie war nie eineWissenschaft. Vielleicht gibt es viele Menschen, die Fälle sind im Sinne von Freud oderAdler: Freud selbst war offensichtlich ein Fall im Sinne Freuds, und Adler ein Fall imSinne Adlers. Aber was verhindert, dass ihre Theorien in dem hier beschriebenen Sinnewissenschaftlich sind, ist ganz einfach, dass sie kein psychologisch mögliches Verhaltenausschließen. Was immer jemand tut, ist im Prinzip im Sinne Freuds oder Adlers erklär-bar. (. . .) Ob ein Mann sein Leben opferte, um ein ertrinkendes Kind zu retten (ein Fallvon Sublimation), oder ob er das Kind ermordete, indem er es ertränkte (ein Fall vonUnterdrückung), konnte durch Freuds Theorie ganz unmöglich vorhergesagt oder ausge-schlossen werden:die Theorie war mit allem, was geschehen konnte, vereinbar(. . .)54

Den Psychologen sei die Diskussion überlassen, ob die Psychoanalyse tatsächlich ohne jeden Vorher-sagewert ist.

Immunisierungsstrategien

Eine zweite wichtige praktische Konsequenz von Poppers Überlegungen ist die berechtigte Warnungvor Immunisierungsstrategien gegen Widerlegungen einer Theorie. Als Beispiel dafür führt Popperden (wissenschaftlichen) Marxismus an:

Der Marxismus war einmal eine wissenschaftliche Theorie: er sagte voraus, dass der Ka-pitalismus zu wachsendem Elend führen würde und, durch eine mehr oder weniger sanfteRevolution, zum Sozialismus; er sagte voraus, dass das zuerst in den technisch höchstent-wickelten Ländern passieren würde; und er sagte voraus, dass die technische Entwicklungder „Produktionsmittel“ zu sozialen, politischen und ideologischen Entwicklungen füh-ren würde, und nicht umgekehrt.

Aber die (so-genannte) sozialistische Revolution kam zuerst in einem der technisch rück-ständigsten Länder. Und statt dass die Produktionsmittel eine neue Ideologie hervorbrach-ten, war es die Ideologie von Lenin und Stalin, dass Russland mit seiner Industrialisie-rung vorwärts dringen müsse („Der Sozialismus ist die Diktatur des Proletariats plus dieElektrifizierung“), welche die neue Entwicklung der Produktionsmittel förderte.

Man kann also sagen, dass der Marxismus einmal eine Wissenschaft war, aber eine, diedurch die Tatsachen, die nun einmal mit ihren Vorhersagen kollidierten, widerlegt wurde.(Ich habe hier nur einige wenige dieser Vorhersagen erwähnt.)

Der Marxismus ist jedoch keine Wissenschaft mehr; er verletzte die methodologischeRegel, dass wir die Falsifikation akzeptieren müssen, und er immunisierte sich gegen dieoffensichtlichsten Widerlegungen seiner Vorhersagen.55

Die Warnung vor Immunisierung ist ein berechtigtes Anliegen Poppers. Die angeführten Beispieleim vorherigen Abschnitt, dass sehr gute naturwissenschaftliche Theorien zum Glück nicht gleich beider ersten Falsifikation aufgegeben wurden, sollte aber zur Vorsicht mahnen, wenn es darum geht,praktisch festzustellen, ob eine solche Immunisierungsstrategie tatsächlich vorliegt.

Ad-Hoc-Modifikationen einer Theorie und Hilfshypothesen

Dazu kann auf die obigen Ausführungen zu diesem Thema verwiesen werden. Die Ablehnung vonAd-Hoc-Modifikationen von Theorien ist ein Standard in der empirischen Forschung. Zumindest wer-

54Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 113f.55Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 113.

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32 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

den solche Modifikationen nur als letzter Ausweg betrachtet, bzw. als Hinweis, dass die Theorie aneinem grundlegenden Punkt modifiziert werden muss. Es soll aber auch noch einmal in Erinnerunggerufen werden, dass selbst Popper zugestand, dass die Grenze zwischen Ad-Hoc-Modifikationenund Hilfshypothesen nicht scharf gezogen werden kann, weshalb ein gewisses Ausmaß an Toleranzgefordert werden muss.

3.7 Bilanz und philosophische Reflexion

Um auf den Anfang des Kapitels zurückzugreifen: Popper beansprucht nicht weniger, als dass erdas Induktionsproblem gelöst hat. In formaler Sprache der Logik besteht diese Problem darin, dassAllsätze nicht durch singuläre Aussagen bewiesen werden können. Und Beobachtungsaussagen sindimmer singulär. Poppers formale Lösung lässt sich auf zwei Punkte reduzieren:

• Im Gegensatz zum Beweis einer Allaussage aus Einzelaussagen ist die Widerlegung einerAllaussage durch eine Einzelaussage logisch korrekt. Daher: Beobachtungen können eine Hy-pothese nicht beweisen, aber widerlegen. (Falsifikation)

• Damit korrespondiert die Ersetzung von Induktion durch Deduktion: Es ist eine falsche Auf-fassung von Wissenschaft, dass aus Beobachtungen Hypothesen abgeleitet werden. Richtig ist,dass Hypothesen immer nur Vermutungen sind, aus denen Beobachtungsaussagen abgeleitetwerden (deduktiv), die dann mit wirklichen Beobachtungen verglichen werden können.

Der präzise Aufweis dieses einfachen logischen Zusammenhangs bzw. die Anwendung auf die Me-thode der empirischen Wissenschaft ist unzweifelhaft eine bleibende Leistung Poppers.

Philosophisch vertritt Popper einerseits einen ontologischen Realismus, andererseits eine gemä-ßigte erkenntnistheoretische Skepsis.

Der Realismus Poppers hat platonische Züge: Die eigentliche Wirklichkeit ist hinter der uns zu-gänglichen Wirklichkeit (die deshalb aber nicht unwirklich ist) verborgen:

Es gibt eine Wirklichkeit hinter der Welt, wie sie uns erscheint, möglicherweise einevielschichtige Wirklichkeit, von der die Erscheinungen die äußersten Schichten sind. Dergroße Wissenschaftler stellt nun kühne Vermutungen, riskante Schätzungen darüber an,wie diese inneren Realitäten beschaffen sind. (. . .) Der Mut kann an der Distanz zwischender Welt der Erscheinungen und der vermuteten Realität, der erklärenden Hypothese,gemessen werden.56

Man kann Popper nur sehr eingeschränkt als erkenntnistheoretischen Skeptiker zu bezeichnen. Erspricht enthusiastisch vom Streben nach Wahrheit und davon, dass sich Theorien der Wahrheit „an-nähern“. Aber er hält doch am logischen Prinzip der Falsifikation fest:

Wir bemerken, dass die Theorie nur über die Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeitenetwas aussagt. (Sie behauptet die Falschheit aller ihrer Falsifikationsmöglichkeiten.) Überdie anderen, die erlaubten Basissätze [singuläre Sätze], sagt sie nichts aus; insbesonderesagt sie nicht, dass diese Sätze etwa „wahr“ sind.57

Die diskutierte Kritik an Poppers Position führt zu einer differenzierteren Auffassung. Was zuerstbleibt, ist, dass nur der Weg der Deduktion von Einzelaussagen aus Theorien logisch korrekt ist, nichtaber der Weg der Induktion.

Das zweite logische Argument, dass die Falsifikation und nur die Falsifikation von Theorien kor-rekt ist, nicht aber die Verifikation, muss in drei Schritten korrigiert werden:

56Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 107.57Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 133.

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3.7. BILANZ UND PHILOSOPHISCHE REFLEXION 33

• Eine Falsifikation von Allaussagen durch Einzelaussagen ist zwar formal logisch korrekt, inder konkreten empirischen Wissenschaft ist die Falsifikation durch Beobachtungsaussagen aberlogisch nicht korrekt, weil

– Beobachtungsaussagen fehlbar sind

– und weil es keine „reinen“ Beobachtungsaussagen gibt (Theorieabhängigkeit).

• Diese logische Inkorrektheit ist aber gar kein Problem, wenn man Poppers tatsächlichen Maß-stab für gute Hypothesen zugrundelegt: Diese sind immer nur eine zur Zeit bestmögliche An-näherung an die Wahrheit. Eine gewisse Unschärfe bezüglich des Maßstabs der Widerlegungist insofern gar kein prinzipielles Problem.

• Wenn eine solche Unschärfe bezüglich der Widerlegung von Hypothesen akzeptiert wird, dannstellt es auch kein Problem dar, neben der Falsifikation auch eine Bestätigung von Theorien zuerlauben. Eine solche Bestätigung ist zwar nie ein logischer Beweis, aber doch in vielen Fällenein gutes Argument für eine Theorie.

Es sollte nicht vergessen werden, dass die angeführten historischen Beispiele für die Unzulänglich-keit des reinen Falsifikationismus eine solche aufgeweichte Auffassung des Deduktionsverhältnisseszwischen Theorie und Beobachtung stützen.

• Formal logisch erweist sich damit Poppers Falsifikationsmus als korrekt, aber in der Anwen-dung auf das Verhältnis von Theorie und Beobachtung nicht als geeignet, um die Geltung vonempirischer Wissenschaft (in einem erkenntnistheoretischen Sinn) zu begründen.

• Für das Kausalitätsproblem (vgl. oben die Position von Hume zur Nichterkennbarkeit von Kau-salität) kann Popper also keine wirklich logische Lösung bieten. Mit allen angebrachten Kor-rekturen und Erweiterungen bietet er aber eine pragmatische Lösung, nämlich eine Antwortdarauf, „welche Theorie (. . .) wir von einem rationalen Standpunkt auf für das praktische Han-deln bevorzugen“ sollten.58

• Praktisch sind seine Prinzipien von großer Relevanz, dürfen aber nicht verabsolutiert werden(vgl. Abschnitt3.6).

• Wie empirische Wissenschaft konkret funktioniert, hat Popper nur unzulänglich erfasst.

• Die Überlegungen zur Theorieabhängigkeit der Beobachtung relativieren Poppers Position. Siesind aber vor allem ein durchschlagendes Argument gegen den Positivismus. Für diesen istdie scharfe Unterscheidung zwischen den „Protokollsätzen“ und den darauf aufbauenden theo-retischen Ableitungen so grundlegend, dass er durch diese inzwischen allgemein akzeptierenAnalysen als widerlegt gelten muss.

Die weitere Entwicklung der Wissenschaftstheorie lässt sich als Reaktion auf die kritischen Punkte inPoppers System verstehen:

• Zum Begründungsproblem von empirischer Wissenschaft gibt Popper schon einen wichtigenHinweis, insofern er auch handlungstheoretische Argumente anführt, wenngleich er nicht zu-gesteht, dass diese den logischen gleichrangig sind. Diese Argumentationsschiene wird vomKonstruktivismus aufgegriffen.

• Die praktische Handhabung von Poppers Prinzipien wurde oben schon behandelt (vgl. Ab-schnitt3.6).

58Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 99, vgl. oben.

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34 KAPITEL 3. INDUKTION, VERIFIKATION, FALSIFIKATION

• Das konkrete Funktionieren von Wissenschaft, insbesondere was die Bildung und Begründungvon Hypothesen angeht, wurde zum Ausgangspunkt einer Reihe von wissenschaftstheoreti-schen Ansätzen, die im folgenden Kap.4 betrachtet werden sollen.

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Kapitel 4

Theorien

4.1 Lakatos und seine Forschungsprogramme

Den Beitrag von Lakatos zur Wissenschaftstheorie kann man als direkte Fortführung von PoppersIdeen betrachten. Daher wird sein Ansatz hier vor dem von Kuhn behandelt, obwohl er zeitlich aufKuhn folgt, und obwohl seine Ideen sogar als eine Synthese der Systeme von Kuhn und Popperbetrachtet werden können.

Lakatos überwindet die Schwierigkeiten von Poppers Programm, indem er den Ansatzpunkt er-weitert. Statt nur die logische Frage der Begründung von wissenschaftlichen Aussagen zu betrachten,will Lakatos auch die reale Weise stärker berücksichtigen, wie in der empirischen Wissenschaft vor-angegangen wird. Das große Stichwort ist: „Theorie“. Und dieses Stichwort ist bestimmend für einenganzen Forschungszweig der Wissenschaftstheorie, innerhalb dessen sehr unterschiedliche Positionenvertreten werden. Das Verbindende dieser Positionen ist, dass die empirische Wissenschaft als eineAbfolge oder Entwicklung von Theorien betrachtet wird. Das Schwergewicht wird also verlagert wegvon der Frage nach der Begründung der wissenschaftlichen Sätze durch die Beobachtung (vgl. z.B.Carnap) hin zu einer Betrachtung von Theorien als Strukturen. Im Kap.6 wird aufgezeigt werden,dass diese starke Ausrichtung auf Theorien allerdings auch ihre Einseitigkeiten hat, wenn man derrealen Arbeitsweise der Wissenschaft gerecht werden will.

Dennoch: im Vergleich zu Popper bleibt Lakatos sicher näher an der realen Geschichte der Wis-senschaft. Das ist auch sein ausdrücklicher Anspruch. Er paraphrasiert Kant:

Wissenschaftsphilosophie ohne Wissenschaftsgeschichte ist leer; Wissenschaftsgeschich-te ohne Wissenschaftsphilosophie ist blind.59

Die Grundidee von Lakatos’ Konzept kann man auf dem Hintergrund der schon betrachteten Theorie-abhängigkeit der Beobachtung verstehen. Diese betrifft einerseits die Begriffe, mit denen die Ergeb-nisse von Experimenten beschrieben werden, andrerseits aber auch die Durchführung von Experimen-ten. Vielfach erlaubt erst eine Theorie, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn man einen Alchemistender beginnenden Neuzeit durch einen Zeitsprung in ein modernen chemisches Laboratorium verset-zen würde, so könnte er auch mit den besten Instrumenten keine sinnvollen Experimente durchführen.Im Rahmen seiner alchemistischen Vorstellungen und ohne Kenntnis der modernen Chemie könnte ernur planlos irgendwelche Stoffe mischen. Jedenfalls wäre das Ergebnis planlos im Sinn der modernenChemie, während es im Rahmen seiner Chemie durchaus sinnvoll sein könnte.

Die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen sowie die Tatsache, dass erst Theorien es erlauben,gewisse Fragen richtig zu stellen, geben einer Theorie ein weit größeres Beharrungsvermögen ge-gen widersprechende Beobachtungen, als es Popper zugestehen konnte. In der Praxis zeigt sich, dass

59Lakatos, Imre: Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In:Lakatos Imre, Musgrave,Alan (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974, S. 271.

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36 KAPITEL 4. THEORIEN

Wissenschaftler bewährte Theorien nur sehr ungern aufgeben, und Lakatos hat versucht, dieses Phä-nomen begrifflich zu fassen und zu begründen. Eine ganz kurze Zusammenfassung seines Konzeptsvon Wissenschaft lautet wie folgt:

Nach meiner Methodologie sind die größten wissenschaftlichen Errungenschaften For-schungsprogramme, die sich aufgrund progressiver und degenerativer Problemverschie-bungen bewerten lassen; und wissenschaftliche Revolutionen bestehen darin, dass einForschungsprogramm ein anderes aufhebt (im Verlaufe des Fortschritts überholt). DieseMethodologie bietet eine neue rationale Rekonstruktion der Wissenschaft.60

Theorien definieren „Forschungsprogramme“: Dieses Begriff drückt aus, dass eine Theorie nicht nureinen formalen Inhalt hat, sondern auch einen pragmatischen Gehalt: Die Theorie gibt vor, was sinn-voll erforscht werden kann, und mit welchen Methoden, und in welcher Sprache die Beobachtungenund Forschungsergebnisse beschrieben werden können. Dabei hat jede Theorie, jedes Forschungspro-gramm verschiedene Elemente (die nicht unbedingt scharf voneinander abgegrenzt sind):61

• Eine negative Heuristik, das ist ein harter Kern, an dem innerhalb dieser Theorie auf jedenFall festgehalten wird. Ein Aufgeben des harten Kerns, also der Grundvoraussetzungen einerTheorie, kommt einem Aufgeben des ganzen Forschungsprogrammes gleich. Der harte Kernbesteht aus sehr allgemeinen und grundlegenden Hypothesen.

• Um den harten Kern gibt es einen Schutzgürtel, der aus „expliziten Hilfsannahmen, die denharten Kern ergänzen [besteht, sowie] (. . .) auch aus Annahmen, die der Beschreibung der An-fangsbedingungen und ebenso den Beobachtungsannahmen zugrunde liegen.“62

Wenn Beobachtungen einer Theorie widersprechen, dann versuchen die Wissenschaftler, denWiderspruch innerhalb dieses Schutzgürtels zu lokalisieren, und evtl. Hypothesen in diesemBereich zu modifizieren oder zu ergänzen. Das verleiht der Theorie eine gewisse Immunitätgegen Widerlegungen, solange das Verfahren nicht zu großen Komplikationen führt.

• Wichtig ist auch noch die positive Heuristik einer Theorie. Sie „enthält grobe Richtlinien, dieangeben, wie das Forschungsprogramm entwickelt werden könnte.“63

Eine weitere Erläuterung verdient die Unterscheidung zwischen „progressiven und degenerativen Pro-blemverschiebungen“:

Forschungsprogramme sindprogressivoderdegenerativ, je nachdem ob sie erfolgreichzu der Entdeckung neuartiger Phänomene führen oder ob ihnen dies immer wieder miss-lingt.64

Mehrere Forschungsprogramme können sinnvoll nebeneinanderher bestehen. Das sind dann konkur-rierende Theorien. Die Beobachtungen erlauben eben oft keine eindeutige Unterscheidung, welchesProgramm das besser ist. Letztlich entscheidet nicht eine formale Übereinstimmung oder Nichtüber-einstimmung von Theorie und Beobachtung (die es, wie gezeigt, praktisch nicht gibt), sondern obein Programm erfolgreich ist, ob es also zu neuen Entdeckungen führt, die um den harten Kern derjeweiligen Theorie sinnvoll angeordnet werden können.

Wer mit Wissenschaftsgeschichte vertraut ist, wird erkennen, dass Lakatos die Praxis der Wissen-schaft gut beschrieben hat. Auf Beispiele soll hier verzichtet werden, sie finden sich in den Textenvon Lakatos und Chalmers:

60Lakatos, Imre: Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In:Lakatos Imre, Musgrave,Alan (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974, S.

61Darstellung in Anlehnung an:Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 82f.62Darstellung in Anlehnung an:Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 82.63Darstellung in Anlehnung an:Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 82.64Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999, S. 82.

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4.2. KUHN UND SEINE THEORIENDYNAMIK 37

• Lakatos Imre, Musgrave, Alan (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974.

• Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Berlin41999.

4.2 Kuhn und seine Theoriendynamik

Nach der etwas drögen Beschreibung der Methodologie der empirischen Wissenschaft durch Lakatoshaben die Ideen von Kuhn etwas erfrischend Revolutionäres an sich. Es sei allerdings gleich gewarnt,dass Kuhn sich sehr missverstanden fühlte, wenn mit Berufung auf seine Analysen manchmal derempirischen Wissenschaft jeder Wahrheitsanspruch abgesprochen wurde. Kuhns Ausgangspunkt istein ganz anderer. Er analysiert das Geschehen der Wissenschaft eher als ein soziologisches Geschehenund kommt zu Ergebnissen, die nicht wenige Wissenschaftler schockierten. Andere empfanden seineAnalysen aber als befreiend.

Kuhn unterscheidet zwischen der normalen Wissenschaft und den wissenschaftlichen Revolutio-nen. Das entspricht in etwa dem Unterschied zwischen dem Arbeiten innerhalb eines Forschungspro-gramms nach Lakatos und der Ablösung eines Forschungsprogramms durch ein Neues.

Paradigmen

Eine Theorie oder zunächst noch grundlegender eine Forschungsrichtung ist nach Kuhn durch einsogenanntes „Paradigma“ gekennzeichnet, das in etwa dem harten Kern einer Theorie nach Lakatosentspricht. Es scheint nicht leicht, die beiden Begriffe zu unterscheiden, aber ein Erfassen des Un-terschieds von Lakatos’ und Kuhns Begriff ist grundlegend für ein Verständnis von Kuhns Analysen.Kuhn betont, dass ein Paradigma grundlegend ist für die Begriffsbildung und für eine bestimmte Auf-fassung von der Welt. Was innerhalb eines Paradigmas ausgesagt und erforscht wird, kann innerhalbeines anderen Paradigmas ganz und gar sinnlos bzw. unverständlich sein. Ein Paradigma legt über-haupt erst fest, was es an Objekten in der Welt gibt, was erforschbar ist, und was als Erklärung fürBeobachtungen herangezogen werden kann. Paradigmen sind (nicht immer, aber manchmal) inkom-mensurabel, können also nicht aufeinander zurückgeführt oder miteinander verglichen werden.

Man könnte zunächst meinen, dass ein Paradigma, wenn es eine so grundlegende Rolle für dieForschung spielt, besonders gut begründet sein muss. Aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, unddafür gibt es einen rationalen Grund: Das Paradigma liefert erst die Kriterien für eine von der For-schergemeinschaft akzeptierte Begründung innerhalb eines Forschungsgebietes. Ein Paradigma wirdinsofern nicht primär logisch oder durch direkte Beobachtung begründet, sondern dadurch, dass essich darin bewährt, ein Forschungsgebiet zusammenzuhalten und zu befruchten. „Paradigma“ heißtBeispiel und ein Paradigma begründet ein Forschungsgebiet weniger, indem es einen logischen Auf-bau vorgibt, als durch seine beispielhafte Rolle an der sich die Forscher orientieren können.

Beispiele für Paradigmen sind: Die Kopernikanische Astronomie, die Aristotelische Dynamik, dieNewton-Mechanik, die Evolutionslehre. Ein Beispiel, das Kuhn selbst genauer ausführt, betrifft dieEntwicklung der Elektrizitätslehre im 18. Jahrhundert. Es gab Anfang des 18. Jahrhunderts eine Füllevon Beobachtungen, die mit Elektrizität zu tun hatten, aber keine einheitliche Erklärung dafür. Einige„Elektriker“, wie sich die Erforscher dieser Phänomene nannten, nahmen die Anziehungskräfte, diedurch Reibung erzeugt werden können, zum Ausgangspunkt. Andere die Polarität von Anziehungs-und Abstoßungskräften. Andere betrachteten Elektrizität als eine Art von Flüssigkeit. Diese Vorstel-lungen konnten alle nur jeweils einige der beobachteten Phänomene erklären. Franklin gelang dannim 18. Jahrhundert die eigentliche Begründung der Elektrizitätslehre. Er ging von der Vorstellungaus, dass jeder Stoff eine normale Menge an „Elektrizität“ enthält, die zwischen den Stoffen hin undher fließen kann, wodurch diese eine positive oder negative Ladung annehmen. Auch Franklins Ideen

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38 KAPITEL 4. THEORIEN

sind aus heutiger Sicht noch ziemlich unvollkommen, aber ihm gelang eine Vereinheitlichung, diealle „Elektriker“ unter diesem einen Paradigma zusammenführte.

Ein weiteres Beispiel für ein Paradigma ist durch den Begriff des „Paradigmas“ selbst bezeichnet,weil dieser einen ganzen Forschungszeig der Wissenschaftstheorie nach Kuhn prägte.

Normale Wissenschaft und wissenschaftliche Revolutionen

Die Tätigkeit der normalen Wissenschaft bezeichnet Kuhn als Rätsellösen: Im Rahmen eines Paradig-mas wird geforscht, es werden Experimente gemacht, Erklärungen gesucht, Hypothesen aufgestellt.

Der interessante Aspekt ist, wie die wissenschaftlichen Revolutionen vor sich gehen, also die Para-digmenwechsel. Alles beginnt mit einer „Anomalie“: Irgendeine Beobachtung passt nicht ins Schema.Solange wie möglich wird versucht, diese Anomalie wegzuerklären (Immunisierung) oder zu igno-rieren. Schließlich kommt irgendwann ein Wissenschaftler oder eine Gruppe von Wissenschaftlernund präsentiert ein neues Paradigma. Aber mitnichten werden nun alle freudig dieses neue Paradigmaübernehmen. Die normale Praxis der Wissenschaft ist, dass die Mehrzahl der alten Wissenschaftlerbei ihrem alten, bewährten Paradigma bleiben wird. Und dieses Verhalten hat auch gute rationaleGründe. Das alte Paradigma hat sich vielfach bewährt, und in aller Regel wird das neue Paradigmanoch längst nicht so gut ausgearbeitet sein, dass es mit dem alten konkurrieren kann. Dazu kommt,dass die beiden Paradigmen nicht wirklich miteinander vergleichbar sind. Jedes Paradigma begründetsozusagen seine eigene Welt. Die Ablösung des alten Paradigmas durch das neue ist daher kein ratio-nal gesteuerter Vorgang, sondern sie geschieht eher in der Form eines Generationenwechsels. In derRegel wird ein kleiner Teil der alten Wissenschaftler und ein größerer Teil der neu heranwachsendenWissenschaftler im neuen Paradigma forschen, und irgendwann sind die ausgestorben, die im altenParadigma zu Hause waren.

Paradigmenwechsel: Beispiel

Als ein Beispiel für einen solchen Paradigmenwechsel kann die Ablösung der klassischen Mechanikdurch die Quantenmechanik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienen.

Im Rahmen der klassischen Mechanik, die auf Newton zurückgeht, und die von Einstein im Rah-men der Relativitätstheorie erweitert wurde, gibt es einige grundlegende Begriffe wie Masse, Mas-senpunkt65, Kraft. Man sollte noch darauf hinweisen, dass diese Begriffe, so wie sie Newton verwen-det hat, überhaupt nur innerhalb seiner Theorie definiert sind. Die Theorie behandelt die Dynamik(Bewegung) von Massenpunkten, und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, was aber Masse undKraft genau sind, wird erst durch die Theorie definiert (vgl. unten: Theoretizität von Begriffen). Fürdie Newton-Mechanik wurden dann abstraktere mathematische Formulierungen entwickelt, z.B. dieLagrange-Mechanik. Diese Formulierungen und ihre Begriffe lassen sich aber exakt ineinander über-setzen. Zweifellos hat die Entwicklung der Newton-Mechanik ein beispielloses Forschungsprogrammzur Folge gehabt. Dieses Paradigma hat sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen.

Aber schon im 19. Jahrhundert ergaben sich Anomalien, die sich allerdings erst im Rückblickals solche erkennen lassen. Das frühste Beispiel wurde oben schon erwähnt: Maxwells kinetischeGastheorie (eine Erklärung der Eigenschaften von Gasen mittels der Newton-Mechanik) war nichtmit den Messungen der spezifischen Wärme von Gasen vereinbar. Die Anomalien häuften sich, undals die Erforschung der Eigenschaften von Atomen am Anfang des 20. Jahrhunderts begann, wuchsdas Bewusstsein unter den Physikern, dass eine grundlegend neue Theorie gefragt war. Gleichzei-tig wuchs die Hilflosigkeit. Als die Quantenmechanik dann entwickelt wurde, zeigte sich, dass sieneue Konzepte enthielt, die in keiner Weise in das alte Paradigma übersetzbar waren: Der Begriff des

65Das ist eine Abstraktion: man stellt sich die Masse eines hinreichend kleinen Körpers als in einem Punkt konzentriertvor.

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4.3. FEYERABEND UND SEINE ANARCHISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE 39

Zustandsvektors bzw. der Wellenfunktion, die besondere Rolle des Messvorgangs, der prinzipielleIndeterminismus. Die ganze mathematische Struktur der Theorie war völlig verschieden von der derNewton-Mechanik. Und tatsächlich haben sich viele Physiker damals nicht mit dieser neuen Theorieanfreunden können. Selbst Pioniere der Entwicklung dieser Theorie wie Max Planck und Albert Ein-stein blieben ihr gegenüber immer skeptisch, zumindest in der Form der Kopenhagener Deutung, diesich langsam durchsetzte. Heute lernt jeder angehende Physiker diese Begriffe in seiner Grundaus-bildung kennen und handhaben. Er wächst in diesem Paradigma auf. Die Quantenmechanik ist zumbestimmenden Paradigma geworden.

4.3 Feyerabend und seine anarchistische Erkenntnistheorie

Während Kuhn ausdrücklich darauf verzichtet, aus seiner Analyse eine prinzipielle Wissenschaftss-kepsis abzuleiten,66 hat Feyerabend diese Richtung weiterverfolgt. Sein Ansatz soll hier nicht langdiskutiert sondern nur kurz erwähnt werden. Das große Schlagwort ist: „anything goes“, „alles istmöglich“. Gegen ein weitverbreitetes Missverständnis, das ihm zum Vorwurf macht, diesen Sloganzu propagieren, führt er allerdings selbst an:

Das Schlagwort „anything goes“ aber ist nicht eine methodologische Regel, dieich emp-fehle, sondern eine schmerzhafte Beschreibung der Situationmeiner Gegnernach Ver-gleich ihrer Regeln mit der wissenschaftlichen (ethischen, politischen) Praxis.67

Feyerabend will also nicht eine neue Methodologie aufstellen, sondern er kritisiert die Methodolo-gien, die die Wissenschaftstheorie vorstellt. Er kritisiert die arrogante und autoritäre Intoleranz deretablierten Wissenschaft. Woher nimmt sie ihre Autorität, wenn ihre Konzepte doch recht willkürlichsind, und letztlich rational nicht begründet werden können? Deshalb plädiert Feyerabend für einenmöglichst großen Pluralismus, für eine „Wissenschaft für freie Menschen“.68 Der sehr polemischeTon vieler Schriften von Feyerabend sollte nicht dazu führen, sein ernsthaftes praktisches Anliegen,sowie dessen philosophische Verankerung von vorneherein nicht ernst zu nehmen:

Der Slogan „anything goes“ erhält (. . .) einen ganz bestimmten und sehr konkreten Sinn:eine Forschungsrichtung, die den fundamentalsten Prinzipien des Denkens einer bestimm-ten Zeit widerspricht und die also irrational ist, kann im Forschenden eine neue Idee derVernunft aufleuchten lassen und so am Ende höchst vernünftig erscheinen (. . .). Alles dasist nicht neu. Dialektische Philosophien haben das Verhältnis von Forschung und Ratio-nalität immer schon so gesehen.69

Feyerabends Anliegen, ein Plädoyer für Toleranz, lässt sich aufgrund von Kuhns Ansatz allerdings ineiner rationaleren Form begründen. Und Feyerabends Ansatz ist selbst nur innerhalb des Paradigmasder dialektischen Philosophie sinnvoll verständlich.

66Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, dass diese auch nicht notwendig daraus folgt.67Feyerabend, Paul K.: Ausgewählte Schriften, Bd. I: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der

Wissenschaften. Braunschweig 1978, S. 343.68Feyerabend, Paul K.: Ausgewählte Schriften, Bd. I: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der

Wissenschaften. Braunschweig 1978, S. 349.69Feyerabend, Paul K.: Ausgewählte Schriften, Bd. I: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der

Wissenschaften. Braunschweig 1978, S. 343.

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40 KAPITEL 4. THEORIEN

4.4 Die Theoretizität von Begriffen und das strukturalistischeTheorienkonzept

Die Ansätze von Lakatos und von Kuhn beschäftigen sich mit Theorien. Sie behandeln die Methodo-logie der Theoriebildung bzw. Theorienentwicklung. Dabei versucht Lakatos eine rationale Rekon-struktion der Wissenschaft, während Kuhn die außerrationale Komponente betont. Ein ganz andererAnsatz, nämlich das strukturalistische Theorienkonzept, kann als Ergänzung der Kuhnschen Gedan-ken gelten, und in diesem Sinn versteht ihn Stegmüller. Dabei geht es nicht um Methodologie, sondernum die Begründungsfrage der empirischen Wissenschaft. Man kann die Frage wie folgt verstehen:Wie ist im Rahmen der Kuhnschen Analyse ein rationaler Vergleich zwischen konkurrierenden Theo-rien möglich?

Formale Fassung des Begründungsproblems: „Theoretische Begriffe“

Dazu muss allerdings zuerst das Begründungproblem, das Kuhn aufgezeigt hat, formal gefasst wer-den. Der Ausgangspunkt ist: Eine wissenschaftliche Revolution, also die Ablösung eines alten Para-digmas durch eine neues, kann gar nicht streng rational begründbar sein, weil die Paradigmen nichtmiteinander vergleichbar sind. Ihre Begriffe sind nicht ineinander übersetzbar. Ja, sie leben insofernin ganz verschiedenen Welten, als ein Paradigma überhaupt erst festlegt, was Objekte der Welt sind,die von der Wissenschaft behandelt werden. Einen Sprung des „Zustandsvektors“ im Messvorganggibt es in der klassischen Mechanik nicht, während heute jeder Physiker weiß, was mit diesem Begriffgemeint ist.

Die formale Fassung dieses Problems, von der Stegmüller ausgeht, ist das Konzept der „theo-retischen“ Begriffe einer Theorie. Stegmüllers Gewährsmann ist Sneed, der allerdings sehr formalarbeitet:Sneed, Joseph D.: The Logical Structure of Mathematical Physics. Dordrecht21979.

„Theoretische Begriffe“ sind solche, die überhaupt nur innerhalb dieser Theorie sinnvoll definiertsind, bzw. die in einer Weise verwendet werden, die nur innerhalb der Theorie Sinn macht. Als Bei-spiel wurden schon die Begriffe „Masse“ und „Kraft“ in der Newton-Mechanik, sowie einige derBegriffe der Quantenmechanik genannt.

In aller Regel ist diese sogenannte Theoretizität von Begriffen nicht die Ausnahme, sondern allezentralen Begriffe der Theorie sind davon betroffen. Damit treten zwei formale Probleme auf:

• Was bedeutet die Überstimmung oder Nicht-Übereinstimmung einer Theorie mit den von ihrvorhergesagten oder erklärten Beobachtungen, wenn die Beobachtungen selbst in theoretischenBegriffen beschrieben werden, die nur innerhalb der Theorie Sinn ergeben?

• Wie kann die Erklärungskraft bzw. die Überstimmung von Theorien mit Beobachtungen ver-glichen werden, wenn ihre Paradigmen derart inkomensurabel sind?

Das Schema in Abb.4.1soll vorweg die wichtigsten Interpretationslinien zusammenfassend verdeut-lichen. Dabei stützt die logische Analyse des strukturalistischen Theorienkonzepts eine instrumen-talistische Auffassung, dass nämlich Theorien nicht die Wirklichkeit in irgendeiner Form repräsen-tieren, sondern dass sie nur zur Vorhersage des Verhaltens der Natur dienen. Diese Vorhersagbarkeitsteht letztlich im Dienst der Nutzbarmachung der Welt für den Menschen.

Als weitere Beispiele für theoretische Begriffe seien (im Sinn einer Steigerung der Theoretizität)der „Spin“ von Elementarteilchen und die sogenannten „Geistfelder“ genannt. Der Spin ist so etwaswie, dass sich Teilchen um sich selbst drehen. Aber dies ist nur eine sehr grobe Veranschaulichungmit Begriffen der klassischen Mechanik. Man betrachtet diese Teilchen nämlich als punktförmig,was kann sich dann noch drehen? Letztlich ist es eine Eigenschaft, die den Teilchen im Rahmen derTheorie der Quantenmechanik zugesprochen wird. Wenn nun in einem Experiment der Spin einesElektron (als Beispiel) gemessen wird, dann stellt sich die Frage, was man wirklich gemessen hat:

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4.4. THEORETIZITÄT VON BEGRIFFEN 41

Einem theoretischenBegriff entspricht ein

Element der Wirklichkeit

Ein theoretischer Begriffnähert sich einem

Element der Wirklichkeit

Beliebigkeit(Feyerabend) Rationalität von Theorien

ohne Anspruch aufÜbereinstimmung mit der "Wirklichkeit"

Strukturalistisches Theorienmodell:

Ein theoretischer Begriffdient dazu, richtige

Vorhersagen zu machen.

Theorienrealismus: Hypothetizismus: Instrumentalismus:

Abbildung 4.1: Über die Bedeutung von theoretischen Begriffen.

• Hat dieses Elektron eine Eigenschaft, die die Theorie „Spin“ nennt, und die durch diese Mes-sung festgestellt wird?

• Oder ist „Spin“ nur etwas, was innerhalb der Theorie überhaupt sinnvoll definiert ist, dem manaber nicht eine wirkliche Eigenschaft der Teilchen zuordnen kann?

Offensichtlich hat die Frage nach der Bedeutung von theoretischen Begriffen eine Entsprechung imKonzept der Operationalisierung.

Ein noch deutlicheres Beispiel sind die „Geistfelder“. Der Begriff hat nichts mit esoterischen Spe-kulationen über physikalische Betrachtungen des menschlichen Geistes zu tun, sondern es ist nur eineschlechte Übersetzung des englischen Begriffs „ghost fields“. Das sind Felder, die bei bestimmten Be-rechnungen im Rahmen der Elementarteilchentheorie als Hilfsgrößen eingeführt werden, wobei mansich bewusst ist, dass diesen Feldern, in Unterschied zu anderen Feldern, keine Teilchen entsprechen,die irgendwie beobachtbar wären. Es ist eher so etwas wie ein Rechentrick. Entspricht diesen Feldernetwas in der Wirklichkeit? In diesem Fall liegt es wirklich nahe, eine instrumentalistische Betrach-tungsweise vorzuziehen, und diese Felder nur als ein Hilfsmittel zur Vorhersage des Verhaltens derNatur zu sehen.

Kann man irgendwo eine Grenze ziehen, wenn Begriffe immer theoretischer werden, dass mandiese ab einem bestimmten Punkt nur instrumentalistisch versteht? Oder ist es besser, Theorien vonvorneherein so zu verstehen?

Strukturalistisches Theorienkonzept

Im Verständnis von Stegmüller ist die Analyse der theoretischen Begriffe die formale Fassung desProblems, das sich aus Kuhns Analysen des Funktionierens der Wissenschaft ergibt. Seine Antwortist das strukturalistische Theorienkonzept. Die beiden wichtigsten Elemente sind:

• Ein konsequent holistisches Theorienverständnis,

• sowie die sogenannte Ramsey-Lösung des Problems der theoretischen Begriffe.

Das konsequent holistische Theorienverständnis betont, dass es sinnlos ist, die Übereinstimmung voneinzelnen Aussagen bzw. Hypothesen einer Theorie mit Beobachtungen überprüfen zu wollen. EineÜberprüfung setzt die fragliche Theorie immer schon voraus, ist also stets eine Überprüfung derganzen Theorie. (Im Prinzip hatte das auch Popper schon so gesehen, vgl. oben.)

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42 KAPITEL 4. THEORIEN

Formale Lösung des Problems der theoretischen Begriffen

Die Lösung für das Problem der Bedeutung der theoretischen Begriffe wird von Stegmüller ziem-lich formal dargestellt (und von Sneed noch formaler). Hier soll der Versuch unternommen wer-den, diese Lösung einfacher darzustellen, es bleibt aber ein schwieriges Konzept. Ein grundlegendesMissverständnis besteht darin, dass z.B. die Messung einer Kraft im Rahmen der Newton-Mechanikvoraussetzt, dass eine reale Eigenschaft „Kraft“ von Objekten bestimmt wird. Nur die Theorie alsGanze macht Vorhersagen. Man misst streng genommen keine Massen und Kräfte, sondern im Rah-men der Newton-Mechanik macht man Beobachtungen und berechnet daraus Massen von Körpernund Kräfte zwischen diesen Körpern. Aus diesen Messungen lassen sich dann Vorhersagen für Beob-achtungen machen, die getestet werden können. Die theoretischen Begriffe haben haben damit ihrenSinn sozusagen nur innerhalb der Theorie, und dennoch ist die Theorie im strengen Sinn anhand vonBeobachtungen überprüfbar. (Vgl. die Parallele zur Operationalisierbarkeit von Begriffen.)

Man kann die Theorie sozusagen wie eine „black box“ verstehen. Von außen gesehen, auf derEbene der Beobachtungen, spielt es gar keine Rolle, ob es Massen und Kräfte, oder auch kompli-ziertere theoretische Begriffe, überhaupt gibt. Sondern diese Begriffe haben ihren Sinn nur innerhalbder black box. Dennoch lässt sich die Theorie empirisch testen: Beobachtungsaussagen werden indie black box eingespeist, innerhalb derer die theoretischen Begriffe zur Anwendung kommen, undVorhersagen ermöglichen.

In formaler Logik formuliert besteht diese Lösung darin, fragliche theoretische Begriffe in derFormulierung der Theorie durch Variablen mit Existenzquantoren zu ersetzen. Also z.B.:

• Ersetzt wird folgende Behauptung: Im Rahmen der Newton-Mechanik kann man messen, dassdie Kraft einer Stahlfeder bei einer bestimmten Ausdehnung so und so groß ist, und damitvorhersagen, mit welcher Frequenz ein daran angehängtes Gewicht schwingt. (Damit setzt manvoraus, es gäbe eine Entität „Kraft“, die empirisch erfasst wird, und kommt in Schwierigkeitmit Theorien mit inkommensurablen Paradigmen, die dasselbe ohne diese Entität erklären.)

• An die Stelle dieser Behauptung tritt die Aussage: Im Rahmen der Newton-Mechanik gibt eseine Variable, die Kraft genannt wird, und die bestimmten Relationen zwischen Objekten die-ser Theorie zugeordnet ist. Aus Beobachtungen einer Stahlfeder ergibt sich für diese Variablebei einer bestimmten Ausdehnung ein bestimmter Wert. Daraus lässt sich die Frequenz einerSchwingung vorhersagen, wenn ein bestimmtes Gewicht (selbst auch wieder ein theoretischerBegriff!) an die Feder gehängt wird. Diese Frequenz wird von der Theorie richtig vorhergesagt.

• Damit wird also nicht etwa die „Kraft“ einer Feder bei einer bestimmten Ausdehnung bestimmt,sondern es wird nur die Geltung der Newton-Mechanik an einem konkreten Fall ihrer Anwen-dung überprüft.

Damit ist das sehr interessante strukturalistische Theorienkonzept noch keineswegs vollständig be-schrieben. Die Darstellung hier beschränkt sich auf den Aspekt der Lösung des Problems der theore-tischen Begriffe. Diese Lösung ermöglicht es, einerseits mit Kuhn die Inkommensurabilität verschie-dener Paradigmen anzuerkennen, andererseits aber damit die Rationalität von wissenschaftlichen Re-volutionen nicht zu leugnen. Der konkrete Vorgang solcher Revolutionen mag oft irrational sein, weilMenschen nicht rational handeln, aber prinzipiell sind auch inkommensurable Theorien miteinandervergleichbar: Vergleichbar ist die mehr oder weniger gute Übereinstimmung von Vorhersagen derTheorie mit Beobachtungen.

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4.5. THEORIEN: PRAKTISCHE KONSEQUENZEN FÜR DIE WISSENSCHAFT 43

4.5 Theorien: Praktische Konsequenzen für die Wissenschaft

Lakatos

Was Lakatos schreibt, ist alles sehr richtig. Es bleibt aber weitgehend auf der beschreibenden Ebenestehen, obwohl sein Anspruch auch methodologisch ist. Letztlich tragen seine Begriffe wenig dazubei, bestehende und konkurrierende Forschungsprogramme gegeneinander abzuwägen. Erst im Rück-blick wird man praktisch feststellen können, welches Programm das progressivere war. Ein Kriteriumverdient allerdings festgehalten zu werden. Es entspricht gut der Realität der bewährten empirischenWissenschaft, wird aber methodologisch oft unterschätzt:

• Das erfolgreichere Forschungsprogramm unterscheidet sich vom weniger erfolgreichen meistweniger durch eine formal bessere Übereinstimmung mit den Beobachtungen (sonst könntensich neue Programme nur selten durchsetzen, die noch keinen großen Hilfsgürtel von Hypo-thesen aufbauen konnten), sondern dadurch, dass seine positive Heuristik den Weg zu neuenEntdeckungen weist.

Kuhn, Strukturalistisches Theorienkonzept

Eine Konsequenz, die sich aus Kuhns Analysen ergibt, ist zunächst ein Appell zur Toleranz. Es gehörtzu den normalen Vorgängen einer empirischen Wissenschaft, dass unterschiedliche Forschergruppendieselben Phänomene mit verschiedenen Paradigmen untersuchen und sich unter Umständen nichtoder kaum verständigen können, weil sie ganz unterschiedliche Begriffe verwenden. Daraus folgtnoch nicht, dass einer dieser Ansätze „falsch“ sein muss.

• Die Analyse der empirischen Bedeutung von theoretischen Begriffen lässt einerseits die Mög-lichkeit offen, dass selbst Theorien, die mit völlig unterschiedlichen Begriffen arbeiten, welchenicht ineinander übersetzbar sind, gleich gut mit den Beobachtungen übereinstimmen können.Denn die theoretischen Begriffe haben ihren Sinn immer nur innerhalb der jeweiligen Theorie.

• Andererseits zeigt diese Analyse, dass die Theorien nicht dadurch miteinander konkurrierenbrauchen, dass sie die Richtigkeit ihrer Begriffe gegeneinander behaupten, sondern sie konkur-rieren nur hinsichtlich ihrer Anwendung:

– Welche Theorie ist erfolgreicher in ihren Erklärungen und Vorhersagen?

– Welche Theorie hat einen weiteren Anwendungsbereich?

Eine Konsequenz dieser Überlegungen sollte auch sein, dass empirische Wissenschaftler ein Bewusst-sein dafür behalten, dass ihre Begriffe oft oder meist nur innerhalb ihrer Theorie einen Sinn haben.Was bedeutet z.B. „Verdrängung“ (als psychologischer Begriff) außerhalb der Theorie der Psychoana-lyse? Gibt es ein solches Phänomen als eine objektive Tatsache, oder ist es nur ein Erklärungsmodellinnerhalb der Theorie, das sich durch gute Vorhersagen bewähren muss?

4.6 Theorien: Philosophische Reflexion

Bezüglich des Begründungsproblems der empirischen Wissenschaft leistet Lakatos keinen nennens-werten Beitrag. Seine Analysen bleiben auf der deskriptiven Ebene, wobei er sich aber einem Ratio-nalitätsideal verbunden weiß, ähnlich wie Popper.

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44 KAPITEL 4. THEORIEN

Die Bedeutung von Theorien

Die Kuhnsche Analyse und die Erkenntnis der Inkommensurabilität verschiedener Paradigmen führtnatürlich zu einer grundsätzlichen Infragestellung des Wahrheitsanspruches von Theorien. Popperging zwar davon aus, dass Theorien nur Vermutungen sind, die sich der Wahrheit immer mehr an-nähern sollten, aber diese Theorien dienen dazu, „eine Wirklichkeit hinter der Welt, wie sie uns er-scheint, möglicherweise eine vielschichtige Wirklichkeit, von der die Erscheinungen die äußerstenSchichten sind“70, zu erkennen. Dieser Anspruch steht in einer deutlichen Spannung zu Kuhns Ana-lysen und zum strukturalistischen Theorienkonzept. Keine noch so gute Bestätigung der newtonschenMechanik kann je beweisen, dass zwischen zwei Körpern eine Kraft von der und der Größe wirkt,oder dass ein Gas aus Molekülen besteht, die sich ungeordnet und schnell durcheinander bewegenund ab und zu aufeinander stoßen. Alle Bestätigungen der Theorie können nur zeigen, dass die Theo-rie als Ganzes eine geeignete Form hat, um diese Erscheinungen zu erklären und vorherzusagen. Eskönnte auch eine ganz andere Theorie geben, in der es keine Kräfte und keine Moleküle gibt, dieaber in ihrem Erklärungswert der newtonschen gleichwertig oder sogar überlegen ist.71 Das führtletztlich zu einem instrumentalistischen Theorienverständnis: Theorien repräsentieren nicht etwa dieWirklichkeit, sondern sie dienen nur der Vorhersage des Verhaltens der Natur.

Das Beispiel mit den Molekülen mag übertrieben sein. Im konkreten Fall enthält eine naturwis-senschaftliche Theorie, die ihre Vorgängertheorie ablöst, diese meist in einer modifizierten Form alsSpezialfall. Aber die logische Beziehung von Beobachtung und Theorie wird vom strukturalistischenTheorienkonzept richtig erfasst.

Und wer kann ausschließen, dass es vielleicht doch nur die Arroganz der modernen Naturwissen-schaft ist, die sie an Molekülen nicht mehr zweifeln lässt? Noch im 18. Jahrhundert war das üblicheParadigma zur Erklärung von Verbrennung, dass brennbare Stoffe „Phlogiston“ enthalten. Dieses Mo-dell hatte sich auch zur Erklärung einiger Phänomene gut bewährt. Z.B. sind Metalle untereinanderähnlicher als ihre Erze. Die Erze sind nicht brennbar, die Metalle schon (wenn sie fein genug pulve-risiert sind und die Temperatur hoch genug ist). Dies lässt sich damit erklären, dass die Metalle dengemeinsamen Stoff „Phlogiston“ enthalten, im Gegensatz zu ihren Erzen. Der britische Wissenschaft-ler und Geistliche Priestley führte kurz nach dem Jahr 1770 Experimente durch, die die Entdeckungvon Sauerstoff vorbereiteten. Priestley identifizierte den Sauerstoff aber nicht als Sauerstoff, weil ihmein solches Konzept gar nicht zur Verfügung stand, sondern als gewöhnliche Luft, die nur weniger„Phlogiston“ enthält.72

Moleküle sind sicher ein viel besser bestätigtes Konzept als „Phlogiston“. Der Glaube an dieExistenz von Molekülen bleibt dennoch eine Überzeugung, die letztlich nie logisch zwingend ist.

4.7 Einfachheit von Theorien: Instrumentalismus oder Realis-mus?

Nach dieser Kritik an einer realistischen Deutung von Theorien soll jetzt aber auch noch ein entschei-dendes Argument für den Theorienrealismus angefügt werden. Dieses Argument ist kein klassischesder Wissenschaftstheorie, es reflektiert aber eine Methode, die für die Naturwissenschaft, insbeson-dere für die Physik, grundlegend ist.

Gemeint ist das Streben der Naturwissenschaft nach „einfachen“ Theorien, und dass sich diesesStreben außerordentlich bewährt hat, besonders bei der Suche nach den grundlegenden Theorien (der

70Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 107.71Eine Anmerkung für Philosophen: Man spricht von der Duhem-Quine-These der Unterbestimmtheit von Theorien.72NachT.S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp41979, S. 66.

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4.7. EINFACHHEIT VON THEORIEN: INSTRUMENTALISMUS ODER REALISMUS? 45

Materie, des Raumes,. . .). Es gibt aber keinen logischen Grund, warum einfache Theorien sich eherbewähren sollten als komplizierte, sondern dies ist ein kontingentes Faktum.

Eine Deutungsmöglichkeit für dieses Streben der Naturwissenschaft nach Einfachheit liefert auchder Instrumentalismus: Theorien sind Instrumente, mit den der Forscher möglichst viele Beobach-tungsdaten möglichst einfach zusammenfasst, um eine bequeme Beschreibung zu ermöglichen. Eineeinfache Theorie ist dann besser als eine komplizierte, weil sie bequemer ist, d.h. denkökonomischer.

Diese Deutung stößt aber an eine Schwierigkeit: In der Praxis zeigt sich, und das gehört zurBewährung des Prinzips der Einfachheit von Theorien, dass auch der Vorhersagewert von Theorienmeist besser ist, wenn sie einfach sind, und zwar bezüglich von Vorhersagen von Phänomenen, die vorder Theoriebildung gar nicht bekannt waren. Man kann dafür unzählige Beispiele anführen, wie dieVorhersagen von Elementarteilchen aufgrund von Vereinheitlichungen der Elementarteilchenphysik,usw. Hier soll jetzt ein Beispiel aufgegriffen werden, das oben schon eingeführt wurde, und das auchden Begriff der Einfachheit von Theorien erläutern kann:

Beispiel: Die Allgemeine Relativitätstheorie

Einstein entwickelte die Allgemeine Relativitätstheorie aus rein theoretischen Erwägungen, ohne eineempirische Basis von Beobachtungsdaten, die mit der Newton-Theorie nicht in Einklang gestandenhätten. Sondern er suchte nach einer „einfachen“ Theorie, die mit der Speziellen Relativitätstheoriein Einklang stand. Wer zum erstenmal in ein Lehrbuch der Allgemeinen Relativitätstheorie schaut,kann daran zweifeln, dass es sich um eine „einfache“ Theorie handelt. Aber die Grundgleichungender Theorie sind tatsächlich sehr elegant und einfach, wenn man nur mit dem notwendigen mathema-tischen Rahmen vertraut ist. Und aus dieser eleganten und einfachen Theorie konnte Einstein Vorher-sagen ableiten, z.B. für die Ablenkung des Lichts im Gravitationsfeld der Sonne. Um ein Zitat vonPopper zu wiederholen:

Obwohl er nicht an die Wahrheit seiner Theorie glaubte, obwohl er glaubte, dass sie nureine neue wichtige Annäherung an die Wahrheit war, zweifelte Einstein niemals daran,wie das Ergebnis dieses Experiments ausgehen würde; der innere Zusammenhang, dieinnere Logik seiner Theorie überzeugten ihn davon, dass sie ein Schritt vorwärts war,selbst wenn er wusste, dass sie nicht wahr sein konnte.73

Das Experiment gab Einstein Recht. Diese Bewährung von einfachen Theorien durch Vorhersagenvon Phänomenen, die gar nicht in die Theoriebildung einflossen, lässt sich mit einem reinen Instru-mentalismus nicht erklären.

Um es noch einmal zu betonen: Es handelt sich hier nicht um einen glücklichen Einzelfall vonBewährung, sondern es lassen sich viele ähnliche Beispiele anführen. Heisenberg spricht in diesemZusammenhang vom Kriterium der Ästhetik guter Theorien. Einfachheit ist zwar nicht mit Ästhe-tik identisch, aber für einen Physiker wie Heisenberg ist es eben „schön“, viele Beobachtungen miteinigen einfachen Formeln erklären zu können.

Deutung: Argument für ein realistisches Verständnis von Theorien

Dieses Faktum der Bewährung der Einfachheit von Theorien stützt ein realistisches Verständnis vonTheorien. Allerdings ist dies ein Realismus im Sinn eines Idealbildes, das nie erreicht werden kann.So wie Popper es fasst (vgl. oben): Der Wissenschaftler will die verborgenen Gesetze der Welt hinterden Erscheinungen finden, und weiß doch, dass er sich mit seinen Theorien diesen Gesetzen immernur weiter annähern kann, ohne sie je zu erreichen.

73Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 106f.

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46 KAPITEL 4. THEORIEN

Ein Kompromiss oder eine Synthese: Erkenntnis unter der Form der Vorhersagbarkeit

Die bisherige Diskussion lässt sich wie folgt zusammenfassen:

• Das strukturalistische Theorienkonzept kann als die beste logische Analyse der Bedeutung vonTheorien gelten. Gleichzeitig passt es zu den soziologischen Untersuchungen Kuhns, wie Theo-rien real funktionieren.

• Dieses strukturalistische Theorienkonzept stützt ein instrumentalistisches Verständnis von Theo-rien. Es begründet die Rationalität von Theorien, wobei es explizit davon absieht, ob den (theo-retischen) Begriffe der Theorie irgendetwas in der „Wirklichkeit“ entspricht.

• Das durchgängige Phänomen des großen Erklärungswerts von einfachen und eleganten Theo-rien in der Naturwissenschaft, insbesondere in der Physik, stützt dagegen eine realistische Auf-fassung von Theorien, wenngleich gebrochen durch einen Hypothetizismus im Sinne Poppers.

Es soll nun ein Verständnis der Naturwissenschaft eingeführt werden, das die Qualität beider Posi-tionen vereinen kann. Dieses Konzept stützt sich auf die Analysen der Naturphilosophie, v.a. auf dieInterpretation der Quantenmechanik.74 Es lässt sich wie folgt zusammenfassen:

• Naturwissenschaftliche Theorien erkennen die Wirklichkeit (nur) unter der Form der Vorher-sagbarkeit.

Das heißt: Es geht um eine wirkliche Erkenntnis, nicht nur um Vorhersagen. Aber diese Erkenntnisist nicht ein Abbild der Wirklichkeit, sondern die empirische Wissenschaft erkennt nur die Aspekteder Wirklichkeit, die sich in Form von naturwissenschaftlichen Aussagen wiedergeben lassen, die derVorhersage dienen.

Damit ist die logische Analyse des strukturalistischen Theorienkonzepts berücksichtigt. Gleich-zeitig ist aber auch das Phänomen des unerwarteten Erklärungswerts eleganter Theorien erklärbar,wenn man annimmt, dass die Wirklichkeit in irgendeiner Form „intelligibel“ ist, dass der Einfach-heit der Theorien also etwas in der Wirklichkeit entspricht, eine Art von grundlegender Einheit derWirklichkeit.

Das betrachtete Schema lässt sich veranschaulichen, wie es in Abb.4.2dargestellt ist.

4.8 Zusatzbemerkung: Paradigmen in den Geisteswissenschaf-ten

Der Begriff des Paradigmas und der wissenschaftlichen Revolution durch Paradigmenwechsel lässtsich auch auf die Geisteswissenschaften übertragen. Im Bereich der Philosophie lässt sich das Phäno-men beobachten, dass verschiedene Schulen nicht nur unterschiedlicher Meinung zu bestimmten Fra-gen sind, sondern dass sie sich nicht einmal darüber verständigen können, was eigentlich die Fragenund der Gegenstand von Philosophie sind, sowie welche Argumente und Methoden in der philosophi-schen Argumentation als sinnvoll betrachtet werden können.

Der Begriff des Paradigmas kann dieses Phänomen verständlich machen. Unterschiedliche An-sätze und Schulen der Philosophie arbeiten mit verschiedenen Paradigmen, welche fundamental ver-schiedene Betrachtungsweisen der philosophischen Fragen und ihrer Lösungen mit sich bringen.

Ein solcher Erklärungsansatz führt aber auf eine grundlegende Frage: Letztlich ist nach diesemVerständnis der Gebrauch des Wortes „Philosophie“ nur soziologisch zu verstehen: Philosophen sindWissenschaftler, die in einem soziologischen Zusammenhang mit einem Forschungsgebiet stehen, das

74Vgl. dazu das Skript Naturphilosophie: Grenzfragen der Physik bzw. (in Vorbereitung:) S. Bauberger: Was ist dieWelt. Stuttgart: Kohlhammer 2003.

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4.8. ZUSATZBEMERKUNG: PARADIGMEN IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 47

punkt:Realismusdes Alltags−verstands(Popper)bzw."NaturalOntologicalAttitude"(Fine)

Ausgangs−

Theorien−realismus:(angenäherte)Erkenntnis dereigentlichenWirklichkeit

Erkenntnis(nur) in derForm derVorhersag−barkeit

Instrumen−talismus

Reflexion aufempirischeWissenschaft:Wissenschafts−theorie,Natur−philosophie

Erfolg derNW,Einfachheit,Ästhetik

Natur−philosophie

LogischeAnalyse vonTheorien

Abbildung 4.2: Verständnis von Theorien.

sich in Europa in der Antike herausgebildet hat, und das sich diese Bezeichnung gegeben hat. Gibtes dann noch eine systematische Einheit der Philosophie, oder ist diese nur zufällig? Das ist selbstwieder eine philosophische Frage, die von verschiedenen Schulen unterschiedlich beantwortet wird.

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Kapitel 5

Erklärung

Eine grundlegende Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, die Welt zu erklären. Dieser Begriff wur-de schon gegen Ende des letzten Kapitels unter der Hand eingeführt. Aber was ist eine Erklärung?Diese Frage ist zwar weniger relevant, wenn es um praktische Konsequenzen für die Wissenschaftgeht, sie ist aber grundlegend, wenn man Wissenschaft verstehen will.

In diesem Kapitel soll zunächst das sogenannte Hempel-Oppenheim-Schema der wissenschaft-lichen Erklärung anhand eines Textes von Hempel eingeführt werden. Es folgt eine Kritik diesesSchemas (vor allem seiner vulgarisierten Form), die auf wichtige philosophische Fragen führt. DerErklärungsbegriff von Bas van Fraassen nimmt die Kritikpunkte auf, und wird daher abschließendvorgestellt.

5.1 Das Hempel-Oppenheim-Schema und seine Vulgarisierung

Ein guter Ausgangspunkt, um Erklärungen zu verstehen, ist die Betrachtung von Pseudoerklärungen.Hempel zitiert dazu als Beispiel den Astronomen Sizi, der den Beobachtungen Galileis widersprach,welcher (zu Recht) behauptet, Monde entdeckt zu haben, die um den Planeten Jupiter kreisen. Zurdamaligen Zeit waren sieben bewegliche Himmelskörper bekannt, die Sonne, der Mond, und die fünfinnersten Planeten. Sizis Argument lief wie folgt:

Es gibt sieben Fenster (Öffnungen) im Kopf, zwei Nasenlöcher, zwei Ohren, zwei Augenund einen Mund; ebenso gibt es am Himmel zwei glückbringende Sterne, zwei unglück-bringende, zwei leuchtende, und [der Planet] Merkur ist neutral. Aus diesem und vielenanderen Phänomenen der Natur, wie dass es sieben Metalle gibt, usw., sie wären zu zahl-reich um sie hier aufzuzählen, entnehmen wir, dass die Zahl der Planeten notwendigsieben sein muss ... Außerdem: Diese [von Galilei behaupteten] Planeten sind für dasbloße Auge nicht sichtbar und haben daher auf die Erde keinen Einfluss. Sie wären dahernutzlos und existieren deshalb nicht.75

Wir, oder zumindest die ernstzunehmenden empirischen Wissenschaftler, weisen heute diese Begrün-dung zurück, weil die angeführten Fakten keinen erklärenden Wert haben. Damit ist schon ein erstesKriterium für Erklärungen eingeführt:

Die Forderung nach erklärender Relevanz: Die Information, die als Erklärung gegebenwird, ist ein guter Grund, um anzunehmen, dass das erklärte Phänomen aufgetreten ist,oder tatsächlich auftritt.76

75Hempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.): Thephilosophy of science. Massachusetts 1991. S. 299. Er zitiert nach Holton and Roller. Deutsche Übersetzung des Autors.

76Hempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.): Thephilosophy of science. Massachusetts 1991. S. 300

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5.1. DAS HEMPEL-OPPENHEIM-SCHEMA UND SEINE VULGARISIERUNG 49

Eine weitere Erklärung betrachtet Hempel als Negativbeispiel: Die gravitative Wirkung von Körpernwird erklärt als eine natürliche Tendenz der Anziehung, die mit Liebe verwandt ist. Das Problemdieser Erklärung ist, dass das angeführte Faktum in keiner Weise getestet werden kann. Das führt zurzweiten Forderung:

Die Forderung nach Überprüfbarkeit: Die Aussagen, die eine wissenschaftliche Erklä-rung konstituieren, müssen empirisch überprüfbar sein.77

Nach der Analyse dieser beiden Voraussetzungen einer gelungenen Erklärung analysiert Hempel dieForm einer wissenschaftlichen Erklärung, die sogenannte deduktiv-nomologische Form. Jede Erklä-rung besteht zunächst aus erklärenden Aussagen (Explanans), und einer erklärten Aussage (Explan-andum). Die wichtige Erkenntnis ist, dass die erklärenden Aussagen in zwei Klassen fallen, in all-gemeine Sätze und in Aussagen über bestimmte, spezielle Fakten. Jede sinnvolle wissenschaftlicheErklärung muss mindestens einen allgemeinen Satz und eine spezielle Aussage enthalten.78

Dazu ein Beispiel: Warum gibt es die Mondphasen: Vollmond, Neumond, zunehmender und ab-nehmender Mond?79

• Explanans:

– Allgemeiner Satz: Eine Kugel, die nur von einer Seite her beleuchtet wird, erscheint inder Aufsicht (aus der Beleuchtungsrichtung) als Kreis, von der Rückseite her bleibt siedunkel, aus einem Zwischenwinkel her gesehen erscheint sie als Sichel.

– Spezielle Aussage: Der Mond ist eine Kugel, die von der Sonne beleuchtet wird.

– Spezielle Aussage: Dadurch, dass der Mond um die Erde kreist, verändert sich mit einer28-tätigen Periode der Winkel zwischen der Richtung, aus der der Mond von der Sonneangestrahlt wird, und der Richtung, aus der der Mond von der Erde gesehen wird.

• Explanandum:

– Die Mondphasen mit ihrer 28-tägigen Periodizität.

Man betrachte nun aber auch folgende Erklärung:

• Explanans:

– Allgemeiner Satz: Immer wenn besonders viele der Kleingärtner in München Blumenpflanzen, beginnt in dieser Stadt die Biergartensaison.

– Spezielle Aussage: In diesem Frühling pflanzten wieder viele Kleingärtner dort Blumen.

• Explanandum:

– In diesem Frühling begannen die Münchner wieder damit, ihre Zeit in den Biergärten zuverbringen.

77Hempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.): Thephilosophy of science. Massachusetts 1991. S. 300

78Zu den Grenzen dieser Bestimmung siehe unten.79Übrigens ist das interessanterweise eine Erklärung, die auch viele naturwissenschaftlich gebildete Menschen nicht

kennen. Sie tippen oft auf den Erdschatten als Ursache der Mondphasen. Dieser verdeckt aber nur bei Mondfinsternissendas Sonnenlicht, das auf den Mond fällt.

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50 KAPITEL 5. ERKLÄRUNG

Das ist unter rein logischen Gesichtspunkten eine perfekte deduktiv-nomologische Erklärung. Dasheißt: Die Tatsache, dass die Münchner jedes Frühjahr beginnen, wieder die Biergärten zu besuchen,wird damit erklärt, dass gleichzeitig die Kleingärtner Blumen pflanzen. (Der allgemeine Satz trifftnatürlich deshalb zu, weil die Kleingärtner ihre Blumen bevorzugt dann pflanzen, wenn es anfängt,warm zu werden, und weil dann auch Menschen in die Biergärten strömen.)

Noch ein Beispiel:80

• Explanans:

– Allgemeiner Satz: Alle Körper, die aus reinem Gold bestehen, haben eine Masse vonweniger als 100000 kg.

– Spezielle Aussage: Der Mond hat eine Masse von mehr als 100000 kg.

• Explanandum:

– Der Mond besteht nicht aus reinem Gold.

Das heißt: Die Tatsache, dass der Mond nicht aus reinem Gold besteht, wird damit erklärt, dass seineMasse größer ist als 100000 kg, und dass Körper dieser Masse nicht aus reinem Gold bestehen.

Diese beiden Beispiele sollen ein Problem illustrieren, das entsteht, wenn man das deduktiv-nomologische Schema zu formal versteht (und in dieser Form wird das Hempel-Oppenheim-Schemaaber oft vulgarisiert). Das Problem ist, dass die allgemeinen Sätze in einer Erklärung nicht irgendwel-che zufälligen Verallgemeinerungen sein dürfen, sondern sie müssen Naturgesetze sein. (Der ersteFall ist noch etwas komplizierter, vgl. unten.) In diesem Sinn lässt sich auch das Kriterium der erklä-renden Relevanz (vgl. oben) verstehen. Was aber unterscheidet Naturgesetze von zufälligen Verall-gemeinerungen? Schon aus Poppers Analysen, und mehr noch aus den Betrachtungen über Theoriensollte deutlich geworden sein, dass empirische Gründe dafür nicht letztentscheidend sein können. Siekönnen immer nur zufällige Verallgemeinerungen als solche entlarven, niemals aber aufzeigen, dasseine Allaussage ein Naturgesetz ist.

Hempel führt in Anschluss an Nelson Goodman einige Kriterien an.81 Das Wichtigste ist: EinGesetz kann im Gegensatz zu zufälligen Verallgemeinerungen auch kontrafaktische Bedingungssätzestützen. Es ist Unsinn zu behaupten: „Wenn dieser (Gold-)Ring mehr Masse hätte als 100000 kg, dannwürde er nicht aus Gold bestehen.“ Sinnvoll ist aber: „Wenn der Mond nicht mit einer Periode von 28Tagen um die Erde kreisen würde, dann gäbe es auch keine Mondphasen mit dieser Periodizität.“

Entscheidend für ein Naturgesetz ist nicht, dass alle beobachteten Fälle darunter fallen (das giltauch für die Aussage über Gold und Körper, die schwerer sind als 100000 kg). Nicht einmal eineinziger faktischer Fall muss Naturgesetze von zufälligen Verallgemeinerungen unterscheiden. Wennalle Planeten im ganzen Universum die Masse der Erde hätten, dann wäre es zwar richtig, aber trotz-dem kein Naturgesetz, dass das Gravitationspotential aller Planeten den WertU = −GME/r (mit:G = Gravitationskonstante,ME = Masse der Erde,r = Abstand vom Mittelpunkt des Planeten) hat.Ersetzt man aber die Masse der ErdeME in diesem Gesetz durch die zufällig gleiche Masse desjeweiligen Planeten, dann ist das Ganze ein Naturgesetz, selbst wenn kein einziger faktischer Fallbeides unterscheidet. Der Unterschied der beiden Aussagen ergibt sich aus dem Hintergrund derNewton-Mechanik. Das führt auf folgende wichtige Präzisierung: „(. . .) ob eine allgemeine Aussa-ge als Naturgesetz gilt, hängt teilweise von den wissenschaftlichen Theorien ab, die zu dieser Zeitgerade akzeptiert sind.“82

80NachHempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.):The philosophy of science. Massachusetts 1991. S. 305.

81NachHempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.):The philosophy of science. Massachusetts 1991. S. 305ff.

82Hempel, Carl: Laws and their role in scientific explanation. In:Richard Boyd, Philip Gasper, J.D. Trout (ed.): Thephilosophy of science. Massachusetts 1991. S. 306.

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5.1. DAS HEMPEL-OPPENHEIM-SCHEMA UND SEINE VULGARISIERUNG 51

Nebenbemerkung: Indirekte Korrelationen

Das Beispiel mit den Biergartenbesuchern soll noch einmal aufgenommen werden, hier weniger we-gen seiner philosophischer Relevanz, sondern wegen der praktischen Bedeutung des betreffendenProblems. Im angegebenen Beispiel ist leicht zu durchschauen, wo das Problem liegt: Natürlich gibtes keine direkte naturgesetzliche Verknüpfung zwischen den Pflanzgewohnheiten der Kleingärtnerund dem Besuch der Biergärten. Die beiden Phänomene sind vielmehr durch eine gemeinsame Ursa-che verknüpft, nämlich dass es warm wird. Aus der gemeinsamen Ursache ergibt sich eine statistischeKorrelation. Die Messung einer solchen Korrelation lässt keinen Rückschluss darauf zu, ob die Ver-knüpfung

• direkt ursächlich ist,

• oder indirekt,

• oder sogar nur zufällig.

Der Einfluss von zufälligen Korrelationen lässt sich beliebig reduzieren, wenn man die Stichpro-benzahl erhöht, also sehr häufig beobachtet. Dieses Verfahren versagt aber beim Beispiel mit denKleingärtnern, wo es sich um eine indirekte ursächliche Verknüpfung handelt. Auch bei beliebighäufiger Beobachtung bleibt der Biergartenbesuch mit ihrem Pflanzverhalten korreliert. Denn: Einedirekte naturgesetzliche Verknüpfung lässt sich durch keine statistische Methode von einer indirek-ten Verknüpfung durch eine gemeinsame Ursache unterscheiden, deshalb versagt im Beispiel mit denBiergärten die Erhöhung der Stichprobenzahl.

Dazu einige Beispiele, die die Tragweite dieser Unterscheidung aufzeigen:

• Es gibt eine deutliche positive statistische Korrelation zwischen dem Ausmaß, in dem einMensch Sport betreibt, und seiner Gesundheit. Beweist das, dass Sport der Gesundheit för-derlich ist? Nicht automatisch: Es könnte ja auch so sein, dass gesündere Menschen mehr Sporttreiben. In diesem Beispiel braucht man nicht einmal eine gemeinsame Ursache, sondern dieRichtung der Verursachung ist unklar. Es gibt natürlich in diesem Beispiel Hinweise, dass esauch der behauptete Zusammenhang gilt, also dass Sport die Gesundheit fördert. Aber um dasaufzuweisen, genügt die Beobachtung der statistischen Korrelation nicht.

• Nicht direkt zum Thema Erklärung, aber im selben Zusammenhang: Es wurden Statistikenerstellt, die zeigten, dass bei den Aufnahmeprüfungen an einer amerikanischen Universität an-teilsmäßig mehr Frauen als Männer abgelehnt werden. Ein Skandal? Eine genaue Prüfung zeigt,dass sich Frauen überdurchschnittlich oft für Fächer bewerben, für die überdurchschnittlich vie-le Studenten abgewiesen werden. Betrachtet man für jedes einzelne Fach dagegen, ob Männeroder Frauen eher abgewiesen werden, so ergibt sich keine Benachteiligung.83

• Von höchster praktischer Relevanz ist dieses Problem bei Fragen wie nach Umweltschädendurch Chemikalien, oder Treibhauseffekt durch Kohlendioxid, oder von Nebenwirkungen vonMedikamenten. Statistische Korrelationen beweisen niemals einen ursächlichen Zusammen-hang. Das mahnt zur Vorsicht, wird aber umgekehrt oft als schlechte Ausrede missbraucht:Korrelationen können keine Ursachen beweisen, aber das darf im konkreten Fall, wenn eineGefährdung droht, auch nicht zum Grund werden, die Kausalität zu leugnen, wie das beimTreibhauseffekt und seiner Verursachung durch Kohlendioxid-Emissionen immer noch manch-mal der Fall ist.

83Beispiel von van Fraassen in:Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S.78.

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52 KAPITEL 5. ERKLÄRUNG

5.2 Erweiterung: Statistische Erklärungen

Eine schwierige und nicht unproblematische Erweiterung erfährt das Schema der deduktiv-nomologi-schen Erklärung im Zusammenhang mit probabilistischen Gesetzen. (Damit hat sich Stegmüller aus-führlich beschäftigt.) Die entsprechende Erklärungsform ist die induktiv-statistische. Im Allgemeinensind Naturgesetze nicht von der einfachen Form, dass aus den Antecedensbedingungen A folgt, dassB eintritt, sondern:

• Aus den Antecedensbedingungen folgt mit der WahrscheinlichkeitP1, dassB1 eintritt, mit derWahrscheinlichkeitP2, dassB2 eintritt, usw.

Aus einem statistischen Naturgesetz lässt sich natürlich kein Explanans im oben vorgestellten Ver-ständnis deduzieren.

Deterministische Naturgesetze kann man als Spezialfall dieser Form auffassen, wobei nur einBmöglich ist, das mit der Wahrscheinlichkeit 1 eintritt.

Problematisches Gesetz der großen Zahlen

Zunächst sei hier ein Versuch zurückgewiesen, solche Naturgesetze im Sinn einer Annäherung aufdeterministische zurückzuführen. Die entsprechende Erkenntnis spiegelt sich auch in der modernenBegründung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Der nahe liegende Ansatz geht vom sogenannten Ge-setz der großen Zahlen auf. Das sei am Beispiel des Würfelns erläutert: Wenn ein Würfel einmalgeworfen wird, ergibt sich mit der Wahrscheinlichkeit 1/6 eine 6. Es macht wenig Sinn, von einerVorhersagbarkeit einer bestimmten Zahl zu sprechen. Wenn der Würfel aber sehr oft geworfen wird,dann nähert sich die Häufigkeit, mit der die Zahl 6 auftritt, immer mehr der Wahrscheinlichkeit, näm-lich dem Wert 1/6. Die Häufigkeit ist der Quotient aus der Zahl der Fälle, bei denen eine Sechsgewürfelt wird, dividiert durch die Zahl aller Würfe:

Häufigkeit=Zahl der geworfenen Sechsen

Gesamtzahl der Würfe

Es macht nun durchaus Sinn, vorherzusagen, dass von 1000 Würfen ungefähr 1/6, also etwa 167 Wür-fe, die Zahl 6 ergeben, und bei 10000 Würfen funktioniert das noch besser. Es scheint also, als könneman Wahrscheinlichkeiten durch einen Grenzprozess definieren: Wahrscheinlichkeit = Grenzwert derrelativen Häufigkeit bei großer Zahl der Stichproben. Eine mathematische Analyse zeigt aber, dassdas nicht funktioniert. Auch bei 1000 Würfen könnte prinzipiell jeder Wurf oder auch gar kein Wurfeine 6 ergeben und das gleiche gilt für 10000 Würfe usw. Die Annäherung der relativen Häufigkeitan die Wahrscheinlichkeit, so ergibt sich, wird selbst durch eine Wahrscheinlichkeit beschrieben, unddamit beißt sich die Katze in den Schwanz.

Die Mathematik löst dieses Problem durch eine rein axiomatische Einführung des Wahrschein-lichkeitsbegriffs. Wie lassen sich dann aber probabilistische Naturgesetze verstehen? Dieses Problemlässt sich am einfachsten in der epistemischen Auffassung von Naturgesetzen, die auf den Begriff derVorhersage aufbaut, lösen:

• Naturgesetze sind Algorithmen (Vorschriften), die dazu dienen, aufgrund von Informationen,die (durch Messung bzw. Beobachtung) über ein System gewonnen wurden, Vorhersagen überdas zukünftige Verhalten der Natur zu machen.

Im Fall von probabilistischen Gesetzen handelt es sich um die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten,und diese Vorhersage macht ebenso viel Sinn, wie die Aussage, dass beim Würfeln die Zahl 6 mit derWahrscheinlichkeit 1/6 auftaucht. Im Rahmen der Konzepte der Wissenschaftstheorie liegt es nahe,

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5.3. PROBLEME UND GRENZEN 53

dies noch weiter zurückzuführen, auf eine handlungstheoretische Begründung: Die Wahrscheinlich-keit 1/6 beim Würfeln hat die Bedeutung, dass einem Spieler empfohlen wird, auf eine bestimmteZahl zu setzen, wenn der Gewinn mindestens das 6-fache des Einsatzes ist. Dann wird er im Durch-schnitt Erfolg haben. Anhand dieses Ansatzes wurde übrigens die Wahrscheinlichkeitstheorie vonPascal entwickelt.

Das Problem mit dem Verständnis von probabilistischen Naturgesetzen spiegelt sich im Verständ-nis von Erklärungen, die diese Naturgesetze verwenden. Hempel meint, das Problem dadurch lösenzu können, dass er eine hohe Wahrscheinlichkeit, und damit eine praktische Sicherheit der entspre-chenden Gesetze fordert. Das ist führt formal zum gleichen Problem wie die Definition von Wahr-scheinlichkeiten durch das Gesetz der großen Zahl (vgl. oben). Es entspricht aber auch nicht demintuitiven Begriff von Erklärung. Dazu ein Beispiel:

• In der Gegend um Tschernobyl erkrankt ein Kind an Leukämie. Diese Erkrankung wird durchdie erhöhte Radioaktivität in Folge des Reaktorunfalls erklärt.

Diese Erklärung ist eine gute Erklärung. Die Wahrscheinlichkeit an Leukämie zu erkranken, ist aberabsolut gesehen auch in der Gegend um Tschernobyl nicht hoch. Die Tatsache, dass jemand dortaufwächst, erlaubt es nicht, mit hoher Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, dass er/sie an Leukämieerkranken wird. Dennoch handelt es sich um eine gute Erklärung.

Von Stegmüller stammt eine umfachreiche Sammlung von Beispielen und Versuchen, den Begriffder probabilistischen Erklärung ausgehend vom H-O-Schema (abk. für Hempel-Oppenheim-Schema)sinnvoll zu definieren.84

Eine einfachere und plausible Lösung des Problems ergibt sich aber im Rahmen eines grundsätz-lich erweiterten Erklärungsbegriffs, der unten (Abschnitt5.4) diskutiert wird.

5.3 Probleme und Grenzen

Das Problem der Eingrenzung von Erklärungen führte oben auf das Problem der Unterscheidungzwischen Naturgesetzen und zufälligen oder indirekten Korrelationen. Dabei zeigte sich, dass die-se Unterscheidung nicht rein empirisch getroffen werden kann, und dass sie praktisch von den je-weils gerade akzeptierten naturwissenschaftlichen Theorien abhängt. Diese Theorien bilden ein Hin-tergrundwissen, auf dem die Erklärung steht, und dieser Begriff des Hintergrundwissens wird sich imFolgenden als konstitutiv für den Erklärungsbegriff erweisen.

Gerhard Schurz fasst in einer sehr präzisen Weise zusammen, welche Probleme in Zusammenhangmit dem H-O-Schema der Erklärung auftauchen.85 Er kommt auf 21 Punkte, von denen hier nur diewichtigsten referiert werden sollen:

• Logische Probleme, am deutlichsten anhand sogenannter Selbsterklärungen. Ein triviales Bei-spiel ist:86

∀x(Fx⇒Gx),Ha/Ha

Alles klar? Endlich können die Philosophiestudenten einmal anwenden, was sie in der moder-nen Logik gelernt haben. Das Symbol „/“ trennt in der Terminologie von Schurz das Explanansund das Explanandum. Ein Modell in Worten: Zu erklären ist, dass die Hauswand am Hausgegenüber blau ist. Die allgemeine Aussage, die zur Erklärung angeführt wird, ist das Gravi-tationsgesetz der Newton-Mechanik. Die spezielle Aussage ist, dass die Hauswand am Haus

84Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd I. Erklä-rung, Begründung, Kausalität. Berlin21983.

85Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 20-29.86Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 20.

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54 KAPITEL 5. ERKLÄRUNG

gegenüber blau ist. Natürlich folgt logisch aus diesen beiden Bedingungen der zu erklärendeSatz. Dass die erste Bedingung, die Newton-Mechanik, ganz überflüssig ist, ist kein logischesProblem, widerspricht aber der intuitiven Auffassung von Erklärung.

Komplizierter ist folgendes Beispiel:

∀x(Fx⇒Gx),(Fa∧¬Ga)∨Ha/Ha

In Worten: Zu erklären ist, dass die Hauswand am Haus gegenüber blau ist. Die allgemeineAussage, die zur Erklärung angeführt wird, ist, dass schwarze Hauswände in der Sonnenstrah-lung besonders heiß werden. Die spezielle Aussage lautet: Die Hauswand am Haus gegenüberist blau oder (inklusives Oder) es gilt, dass diese Hauswand schwarz ist und dass sie außerdemin der Sonneneinstrahlung nicht besonders heiß wird.

Die Beispiele sind spitzfindig, aber sie zeigen ein logisches Problem, das sich rein logisch auchnicht lösen lässt, sondern das u.a. auf das Problem des Hintergrundwissens führt.87 Man kannzwar sagen, dass Hempel dieses Problem schon berücksichtigt hat, wenn er von den erklärendenAussagen eine erklärende Relevanz verlangt, und dass die vorgetragene Kritik eher das trifft,was oben als Vulgarisierung des H-O-Schemas bezeichnet wurde. Das Problem ist aber, welcheKriterien es für diese erklärende Relevanz gibt.

• Das Relevanzproblem (schon oben erwähnt im ersten Beispiel von Hempel, auch bei den be-trachteten Problemen von statistischen Erklärungen spielt es eine Rolle). Dazu folgendes Bei-spiel von Schurz: Alle Männer, die regelmäßig Antibabypillen nehmen, werden nicht schwan-ger. Das ist sicher richtig, und es erklärt formal, warum Herr X.Y., der im letzten Jahr regelmä-ßig Antibabypillen nahm, in dieser Zeit tatsächlich nicht schwanger wurde. Aber ist das einegute Erklärung?

• Die Probleme der probabilistischen Erklärungen (vgl. oben).

• Nicht nur Einzelaussagen, sondern auch Gesetze werden in der empirischen Wissenschaft „er-klärt“. Dies verlangt nach einer verallgemeinernden Erweiterung des H-O-Schemas.

• Oben wurde schon das Problem der Eingrenzung des Begriffs von „Naturgesetzen“ erwähnt.Dies führt auf den Begriff des Hintergrundwissens.

• Das Problem der Erklärungsasymmetrie wurde im Wesentlichen schon oben (in Zusammen-hang mit statistischen Korrelationen) betrachtet: Korrelationen zwischen zwei Phänomenen be-gründen noch nicht, dass genau eines das andere erklärt. Ein schönes Beispiel diskutiert vanFraassen:

(. . .) ein 100 Fuß hoher Fahnenmast wirft einen 75 Fuß langen Schatten. Warum derSchatten gerade so lang ist, können wir erklären, indem wir den Höhenwinkel derSonne feststellen und uns auf die anerkannte Theorie von der geradlinigen Ausbrei-tung des Lichts berufen. Denn ist der Winkel und die Höhe des Masts gegeben, sokönnen wir mit Hilfe trigonometrischer Berechnungen die Basislänge des rechtwink-ligen Dreiecks ableiten, das der Fahnenmast mit dem Lichtstrahl und dem Schattenbildet. Ebenso können wir aber auch die Länge des Mastes aus der Länge des Schat-tens und dem Höhenwinkel ableiten. Wenn uns jedoch jemand fragt, warum der Mast100 Fuß hoch sein, so können wir diese Tatsache nicht dadurch erklären, dass wirantworten: „Weil er einen Schatten von 75 Fuß Länge wirft.“88

87Vgl. Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 20f.88Van Fraassen in:Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 39.

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5.4. ERKLÄREN UND VERSTEHEN: EIN PRAGMATISCHER ANSATZ 55

• Die Frage nach der Kausalität: Impliziert Erklärung Kausalität? Die Diskussion dieser Fragewurde bisher vermieden. Es handelt sich aber um eine entscheidende philosophische Frage, dieim Folgenden behandelt werden soll.

• Die Hintergrundabhängigkeit von Erklärungen, die für probabilistische Erklärungen auch schonvon Hempel zugestanden wurde, die aber auch für deduktive Erklärungen gilt. Ein schönes Bei-spiel ist die Antwort eines Gefangenen auf die Frage des Pfarrers, warum er Banken ausgeraubthabe: „Weil das die Orte sind, wo es viel Geld gibt.“ Die Antwort ist (hoffentlich) nicht rele-vant für das, was der Pfarrer wissen wollte, sie könnte aber durchaus relevant sein für einenanderen Gefangenen, der bald in die Freiheit entlassen werden werden soll, und der nach neuen„Verdienstmöglichkeiten“ Ausschau hält.89

• Die Zurückweisung bestimmter Erklärungsforderungen. Z.B. wird die Frage, warum kräftefreieKörper in gleichförmiger Bewegung verharren, im Rahmen der Newton-Mechanik als nichterklärungsbedürftig oder nicht erklärungsfähig zurückgewiesen.

Viele der Probleme konnten nur angedeutet werden, manche wurden ganz unterschlagen, und dieobige Darstellung der Problempunkte war auch nicht besonders geordnet. Es zeigt sich aber jedenfalls,dass das H-O-Schema prinzipielle Grenzen hat. Umso erstaunlicher ist, dass es auch heute noch oftunkritisch vertreten wird.

5.4 Erklären und Verstehen: Ein pragmatischer Ansatz

Als Alternative zum H-O-Schema der Erklärung soll nun der Ansatz von Bas van Fraassen, ergänztdurch einige Ideen von Schurz, kurz vorgestellt werden. Dieser Ansatz ist wesentlich allgemeiner undkann die angeführten Probleme im Großen und Ganzen lösen. Er hat aber philosophische Vorausset-zungen und Konsequenzen, die diskussionswürdig sind.

Ein erster entscheidender Unterschied dieses Ansatzes zum H-O-Schema ist die Form, die einerErklärung zugesprochen wird. Das H-O-Schema will eine logische Form für Erklärungen aufstellen.Van Fraassen wählt dagegen einen pragmatischen Ausgangspunkt: Erklärungen sind Antworten aufWarum-Fragen. Damit ergibt sich ungezwungen eine Ausweitung der Kriterien für eine Erklärung:90

Eine Warum-Frage (. . .) wird durch folgende drei Faktoren bestimmt:

• DasThema(. . .)

• Die Kontrastklasse(. . .)

• Die Relevanzrelation(. . .)

Die entscheidenden neuen Punkte sind die Kontrastklasse und die Relevanzrelation.Zur Konstrastklasse ein alltägliches Beispiel, nämlich die Frage, warum dort oben dieses Flugzeug

fliegt. Die Frage allein gibt noch nicht vor, was eigentlich erfragt wird. Es könnte sein, dass erfragtwird

• warum es kein Hubschrauber ist,

• warum Flugzeuge überhaupt fliegen,

• warum es gerade dieses Flugzeug vom Typ Boeing ist,

• oder warum das Flugzeug gerade dort fliegt.

89Van Fraassen: ...90Van Fraassen in:Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 67.

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56 KAPITEL 5. ERKLÄRUNG

Von der Kontrastklasse spricht man, weil in jedem dieser Fälle die Tatsache, dass dort oben diesesFlugzeug fliegt, von einer unterschiedlichen Klasse anderer Ereignisse unterschieden wird: z.B. da-von, dass es auch ein Hubschrauber sein könnte, oder davon, dass Flugzeuge vielleicht überhauptnicht fliegen könnten.

In jedem dieser Fälle wird eine sinnvolle Erklärung sehr unterschiedlich ausfallen. Formal wer-den alle diese Erklärungen richtig sein. Das pragmatische Schema erlaubt es dennoch, passende vonunpassenden Erklärungen zu unterscheiden.

Was bedeutet die Relevanzrelation? Dieses Kriterium nimmt Hempels Begriff der erklärenden Re-levanz auf. Van Fraassen vermeidet eine logische oder ontologische Fassung (Stichwort: Kausalität)dieses Begriffs, indem er ihn im Kommunikationsgeschehen verankert.

Angenommen Sie fragen mich, warum ich heute morgen um 7 h aufgestanden bin undich antworte: „Weil mich das Geklapper des Milchmanns aufgeweckt hat.“ In diesemFall habe ich Ihre Frage so interpretiert: Sie fragen mich nach einem Grund, der zu-mindest einige der Ereignisse einschließt, die dazu geführt haben, dass ich aufgestandenbin; und mein Wort „weil“ zeigt an, dass das Geklapper des Milchmanns diese Art vonGrund war, d.h. eines der Ereignisse innerhalb dessen, was Salmon den kausalen Prozessnennt. Vergleichen wir das mit dem Fall, in dem ich Ihre Frage als spezifisch nach ei-nem Motiv ausgerichtet auffasse. In diesem Fall hätte ich geantwortet: „Es gibt keinenwirklichen Grund. Ich hätte ohne weiteres im Bett bleiben können, weil ich für heutenichts Bestimmtes vorhabe. Aber das Geklapper des Milchmanns hat mich aufgewecktund vermutlich bin ich dann aus reiner Gewohnheit aufgestanden.“ In diesem Fall sageich nicht „weil“, da das Geklapper des Milchmanns nicht in den relevanten Bereich vonEreignissen fällt, so wie ich Ihre Frage verstehe.91

Die Bedeutung von Kontrastklassen und von Relevanzrelationen verweist also auf den jeweiligenKontext einer Frage, und die Geltung einer Erklärung hängt entscheidend von diesem Kontext ab.Dieser Kontext ist es, dessen Wichtigkeit van Fraassen zu Recht betont. Damit wird aber gleichzeitigder Bezug auf Kausalität relativiert. Was als erklärende Ursache angesehen wird, ergibt sich nicht auseiner irgendwie objektiven Kausalität, sondern es ist relativ zum Kontext.

Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass dasselbe Phänomen in verschiedener Weise erklärt wer-den kann. Nochmal ein Beispiel: Warum hat eine bestimmte Yacht das Rennen gewonnen?92

Weil sie den Wind gut ausgenutzt hat.

Weil sie aus einer leichteren Holzart bestand.

Weil ihr Kiel besonders geformt ist.

Erklären bewirkt Verstehen

Ein anderer Aspekt von Erklärung, gesehen in einem pragmatischen Kontext, wird deutlicher vonSchurz dargestellt. Er ergänzt das Schema von van Fraassen: Wodurch unterscheidet sich eine ge-lungene Erklärung von einer weniger gelungenen, wenn beide den Kontext richtig berücksichtigen?Wodurch unterscheidet sich die Erklärung, dass ein Stück Holz brennt, weil es Phlogiston enthält,von der, dass es organische Stoffe enthält, die mit dem Luftsauerstoff eine stark exotermische chemi-sche Reaktion eingehen?93 Oben wurde dazu schon der Begriff des Hintergrundwissens eingeführt.

91Van Fraassen in:Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 68.92Van Fraassen in:Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 55.93Exothermisch heißt, dass Energie frei gesetzt wird.

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5.4. ERKLÄREN UND VERSTEHEN: EIN PRAGMATISCHER ANSATZ 57

Ein guter Begriff in diesem Zusammenhang ist der des „Verstehens“: Eine gute Erklärung bewirktVerstehen. Was aber ist Verstehen?94

Verstehen macht ein Phänomen der Welt verständlich, indem es eine größere Einheitlichkeit desHintergrundwissens bewirkt. Das erklärte Phänomen wird in den Rahmen des schon vorhandenenHintergrundwissens eingeordnet. Die oben gegebene Erklärung für das Brennen von Holz:

weil es organische Stoffe enthält, die mit dem Luftsauerstoff eine stark exotermischeReaktion eingehen,

ist nur für den eine gute Erklärung, der schon weiß, was mit organischen Stoffen, mit Luftsauerstoff,mit einer exotermen chemischen Reaktion gemeint ist. Für den bewirkt sie aber eine enorme Verein-heitlichung seines Wissens, weil das beobachtete Phänomen, das Brennen des Holzes, sich aus demergibt, was er eigentlich schon vorher wusste, nämlich aus seiner Kenntnis der Chemie. Wer dagegenkeine Ahnung von Chemie hat, der versteht die Erklärung nicht, und deshalb ist sie für ihn auch keinegute Erklärung.

Auch dieser Aspekt des Verstehens führt dazu, dass man eine Pluralität von sinnvollen Erklärun-gen anerkennen wird. Was eine gute Erklärung ist, hängt vom Hintergrundwissen dessen ab, der dieWarum-Frage stellt. Das wird jeder Hochschullehrer bestätigen können, wenn er von Kindergarten-kindern befragt wird.

Statistische Erklärungen

In diesem Schema von Erklärungen ergibt sich problemlos, dass auch statistische Erklärungen sinn-voll sind. Das obige Beispiel war:

• In der Gegend um Tschernobyl erkrankt ein Kind an Leukämie. Diese Erkrankung wird durchdie erhöhte Radioaktivität in Folge des Reaktorunfalls erklärt, obwohl die Wahrscheinlichkeitfür eine solche Erkrankung absolut gesehen auch dort gering ist.

Offensichtlich bewirkt die Erklärung in diesem Beispiel ein Verstehen im betrachteten Sinn, eine Ver-einheitlichung des Wissen, weil die Erkrankung mit dem Unfall in einer sinnvollen Weise verbundenwird.

Ein Einwand

Gegen den pragmatischen Ansatz wird folgender Einwand vorgebracht: Dieser Ansatz erweitert dasdeduktiv-nomologische Schema dadurch, dass er den Kontext mit einbezieht, insbesondere die betei-ligten Personen. Zum Wesen einerwissenschaftlichenErklärung gehört aber gerade, dass von diesenPersonen abgesehen wird, dass die Erklärung intersubjektiv gültig ist. „Die Erklärungen in einemLehrbuch sollen ja fürjedensachkundigen Leser annehmbar sein und nicht nur aus Erklärungen be-stehen, die ein Autor einem bestimmten Leser gibt.“95

Dem kann entgegnet werden, dass ein Lehrbuch gerade auch ein bestimmter Kontext ist, im Sinndes pragmatischen Modells von Erklärung. Und ein Lehrbuch für Physik-Erstsemester erklärt dasPhänomen des Magnetismus anders als ein Lehrbuch der Festkörperphysik für Fortgeschrittene. Derpragmatische Ansatz bietet den Vorteil, beide Erklärungen als richtig akzeptieren zu können, wasnicht heißen muss, dass es keine Rangordnung unter ihnen gibt. Die Erklärung im fortgeschrittenerenLehrbuch bietet für den, der das entsprechende Vorwissen hat, eine viel reichere Vereinheitlichungdes Wissens, und ist deshalb im Sinn dieser Fachwissenschaft die bessere Erklärung.

94Dazu:Schurz, Gerhard: Erklären und Verstehen in der Naturwissenschaft. München 1990, S. 235-298.95Hans Poser: Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Reclam 2001, S. 56.

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58 KAPITEL 5. ERKLÄRUNG

Noch ein Einwand

Noch ein Einwand muss betrachtet werden. Zu Recht kritisiert Poser, dass der hermeneutische Er-klärungsbegriff (in den Geisteswissenschaften), der noch radikaler als der pragmatische Ansatz dasVerstehen in den Vordergrund stellt, zu völlig nichtssagenden Erklärungen führen kann, nichtssagend,weil sich damit alles erklären lässt. Dazu Posers Beispiel:96

1. Fall: Eine mittelalterliche Stadt wird heftig belagert und ergibt sich nach fünf Monaten.Die Erklärung dazu: Das Aufgeben ist wohl zu verstehen, dann angesichts der psychi-schen Anspannung, der Not und der fehlenden Nahrungsmittel wurde die Bevölkerungmürbe und öffnete dem Feind die Stadttore.

2. Fall: Eine mittelalterliche Stadt wird heftig belagert, aber nach fünf Monaten ziehen dieBelagerer unverrichteter Dinge ab. Die Erklärung dazu lautet: Das Abziehen der Belage-rer ist wohl verstehbar, denn angesichts des Drucks von außen wurde die Bevölkerung derStadt zum äußersten Widerstand geführt, den die Belagerer nicht zu brechen vermochten.

Ein gewisses Mindestmaß von Verhersagewert und Eindeutigkeit wird man von einer sinnvollen wis-senschaftlichen Erklärung verlangen müssen, das kann man aus diesem Einwand lernen.

5.5 Erklärung: Philosophische Reflexion

Das dargelegte Alternativschema von Erklärung hat seine Stärke darin, dass der pragmatische Rah-men, in dem der Begriff definiert wird, es erlaubt, von Kausalitätsbetrachtungen abzusehen. (VanFraassen kritisiert ausdrücklich den Wert des Kausalitätsbegriffs.) Der Begriff der Kausalität bietetaber andererseits einen alternativen Ausweg aus den Schwierigkeiten des H-O-Schemas. Was ist er-klärende Relevanz? Diese Frage führt auf den Begriff des Naturgesetzes. Wenn man Naturgesetzedadurch definiert, dass sie kausale Verhältnisse der Natur widerspiegeln, dann verschwinden die Pro-bleme mit der erklärenden Relevanz. Aber das Problem dieser Auffassung von Naturgesetzen ist, wieinsbesondere die Analysen des strukturalistischen Theorienkonzepts zeigen, dass empirische Gründeniemals kausale Relationen zwischen theoretischen Begriffen in einem realistischen Sinn beweisenkönnen.

Das vorgestellte Schema vermeidet dieses Problem, und wird mit seiner doppelten Öffnung aufeinen Pluralismus von Erklärungen hin (Kontext, Hintergrundwissen) sowohl der Vorgehensweise derrealen Wissenschaft, wie sie Kuhn skizziert hat, als auch dem strukturalistischen Theorienverständ-nis gerecht. Damit wird aber gleichzeitig der ontologische Begriff der Kausalität, und der Anspruch,wahre Erklärungen finden zu wollen, aufgegeben. Erklärung und Verstehen sind dynamische Prozes-se, die jeweils in einem bestimmten Kontext gesehen werden müssen. Wissenschaftliches Erkennenkann, wenn man dieses Schema akzeptiert, nur in einem pragmatischen Kontext verstanden werden.

Man kann sagen, dass dieser pragmatische Begriff des Erklärens in einem gewissen Sinn denBegriff der Kausalität bzw. des kausalen Naturgesetzes ersetzt. Aber selbst ein Erklärungsbegriff, derauf Kausalität zurückgreift, muss den Kontext mit einbeziehen. Ein Beispiel, das auf Hilary Putnamzurückgeht, und von van Fraassen zitiert wird:

• Warum war der Moralprofessor um Mitternacht im Mädchenschlafzimmer?

Und die (formal richtige) Erklärung:

• (Spezielles Faktum:) Weil er 1 Nanosekunde (10−9s) vor Mitternacht auch schon dort war undmehr als 30 cm von der Tür entfernt stand.

96Hans Poser: Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Reclam 2001. S. 58.

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5.5. ERKLÄRUNG: PHILOSOPHISCHE REFLEXION 59

• (Allgemeine Aussage, und das ist hier tatsächlich naturgesetzlich:) Und weil sich gemäß derSpeziellen Relativitätstheorie kein Körper schneller als das Licht fortbewegen kann, und somitinnerhalb einer Nanosekunde höchstens eine Strecke von 30 cm zurücklegen kann.

Das ist sicher keine gute Erklärung im Sinn der gestellte Frage: „Warum. . .?“

Kausaler und pragmatischer Ansatz

Sehr schematisch sollen noch einmal das Verständnis von kausalen Naturgesetzen und das pragmati-sche Erklärungsverständnis verglichen werden. Oben wurden zwei Erklärungen für das Brennen vonHolz gegeben:

• Dass Holz Phlogiston enthält, das im Brennvorgang entweicht,

• oder die komplizierte Erklärung mit der exotermen chemischen Reaktion.

Ein kausales Verständnis von Theorien würde behaupten: Die erste Erklärung ist, zumindest soweitwir die Natur bisher verstanden haben, falsch, die zweite ist eine richtige kausale Erklärung.

Das pragmatische Verständnis enthält sich eines Urteil über objektiv „richtige“ und „falsche“ Er-klärungen. Das führt aber nicht notwendig in einen Relativismus. Die Ausführungen zum strukturalis-tischen Theorienmodell haben gezeigt: Auch ohne einen solchen Begriff von richtigen oder falschenTheorien lassen diese sich vergleichen. Im betrachteten Beispiel gibt es keinerlei Zweifel, dass diemoderne chemische Erklärung gegenüber der Phlogistontheorie vorzuziehen ist.

Das kausale Verständnis hat einen Vorteil: Es bewahrt das intuitive Verständnis von Kausalitätsowie die Auffassung, dass Theorien (wenngleich in der Praxis immer nur genähert) eine Wirklichkeitbeschreiben (vgl. Abschnitt4.7).

Aber auch das pragmatische Verständnis hat einen großen Vorteil:Es lässt sich operationalisieren,um diesen wissenschaftstheoretischen Begriff zu gebrauchen. Es gibt gute Kriterien, um Theorien zuvergleichen, und bei so eindeutigen Fällen wie der Entscheidung zwischen der veralterten Phlogiston-theorie und der Theorie der modernen Chemie der letzteren einen klaren Vorrang einzuräumen. Dieseist die bessere Theorie. Das ist mit dem Begriff der richtigen oder falschen kausalen Erklärung nichtmöglich. Popper hat richtig gezeigt, sich die Richtigkeit einer Theorie niemals empirisch zeigen lässt.Und die Kritik an Popper hat gezeigt, dass sich nicht einmal die Falschheit einer Theorie zeigen lässt.Das wird durch die Analysen der Geltung von Theorien, die im vorangehenden Kapitel vorgestelltwurden, noch weiter bestätigt.

Kausalität oder Beliebigkeit?

Noch ein Einwand gegen das pragmatische Verständnis soll betrachtet werden. Dazu ein Rückgriff aufdas oben genannte Beispiel über das Problem, aus statistischen Korrelationen kausale Beziehungenzu erkennen, nämlich die Frage, ob und wieweit der Treibhauseffekt durch Kohlendioxid-Emissionenverstärkt wird. Es handelt sich um eine Frage, deren Beantwortung gewaltige ökonomische Folgenhat oder haben sollte. Dabei lautet die ziemlich durchsichtige Argumentation einiger Länder, geführtvon der Regierung der USA, ein kausaler Zusammenhang sei nicht bewiesen, daher könne man auchkeine Pflicht zur Reduktion der Kohlendioxid-Emissionen ableiten.97

Zunächst scheint sich aus diesem offensichtlichen Missbrauch von Wissenschaft ein Argumentfür eine starken Kausalitätsbegriff zu ergeben: Eine Wissenschaft, die mit ihren Folgen rechnet, muss

97Nebenbemerkung: Inzwischen sind die Gegner einer Verpflichtung zur Reduktion von Kohlendioxid-Emissionenmeist zu einer anderen Argumentation übergegangen: Sie behaupten, dass es billiger sei, die Folgen der Klimaveränderungin Kauf zu nehmen, als Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

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60 KAPITEL 5. ERKLÄRUNG

kausale Zusammenhänge anerkennen, wenn ihre Forschungen diese auch nur nahelegen, nicht be-weisen können. Ein Verzicht auf den Kausalitätsbegriff scheint die Beliebigkeit der Interpretation derWissenschaft eher zu erhöhen.

Das Argument lässt sich aber auch umdrehen: Das Problem, das in diesem Beispiel dem ge-sellschaftlichen Missbrauch von Wissenschaft zugrunde liegt, ist gerade der Anspruch, die Wissen-schaft müsse einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Treibhauseffekt und den Kohlendioxid-Emissionen aufzeigen können. Diesen kann Wissenschaft aber prinzipiell niemals beweisen, das soll-ten die bisherigen Ausführungen gezeigt haben. Ein weicherer Wissenschaftsbegriff, der von der Prag-matik der Erklärung ausgeht, lässt sich viel besser operationalisieren. Und im Rahmen dieses Begriffskann man z.B. wissenschaftlich eindeutig sagen, dass die beste heute verfügbare Erklärung für die ak-tuelle Klimaveränderung die Kohlendioxid-Emissionen sind. Damit führt ein solcher Begriff letztlichweiter als das strenge Festhalten am Anspruch der Kausalität.

Mit der aufgezeigten Kritik am und Alternative zum Kausalitätsbegriff schließt sich der Kreis zuHumes Skepsis bezüglich der Erkenntbarkeit von Kausalität (vgl. oben).

5.5.1 Nebenbemerkung: Kausalität in der Physik

Um die wissenschaftstheoretischen Betrachtungen zur Kausalität abzurunden, soll kurz der Kausali-tätsbegriff der modernen Physik betrachtet werden. Ein modernes „physikalisches Weltbild“ tritt jaoft mit dem Anspruch auf, eine kausal geschlossene Erklärung der Welt liefern zu können, die deshalbauch jede metaphysische Erklärung ausschließt.

Der eigentliche Begriff „Kausalität“ wird in der Physik in einem sehr engen und präzisen Sinngebraucht. Dabei geht es um ein Prinzip, das in einem axiomatischen Sinn in den Aufbau von Theo-rien eingeht, nämlich dass kausale Wirkungen immer von der Vergangenheit in die Zukunft wirken,nie umgekehrt. Aus diesem Prinzip ergibt sich in Kombination mit der speziellen Relativitätstheoriedas Prinzip der „Mikrokausalität“: Ein kausaler Zusammenhang ist nur zwischen solchen Ereignissenmöglich, deren räumlicher Abstand im Verhältnis zu ihrem zeitlichen Abstand klein genug ist, dassLicht zwischen den Ereignissen laufen könnte. (Ein „zeitartiger Abstand“ in der Terminologie derRelativitätstheorie.) Mikrokausalität wird aus dem Postulat abgeleitet, dass die Zeitordnung zwischenEreignissen (also welches der Ereignisse also zeitlich vor dem anderen liegt) gemäß der Relativitäts-theorie nur dann eindeutig ist, wenn der Abstand zeitartig beschaffen ist.98

Nur in diesem Sinn wird der Begriff der Kausalität in der Physik ausdrücklich gebraucht. Norma-lerweise sprechen Physiker davon, dass sie etwas erklären oder ein System beschreiben. Was dabeivom Begriff der Kausalität bleibt, ist das Prinzip, dass das Verhalten eines System in der Zukunft vonseinem Zustand in der Gegenwart abhängig ist und daraus berechnet werden kann, also das Prinzip derVorhersagbarkeit. (Wobei das auch eine probabilistische Vorhersagbarkeit sein kann, Determinismusist also nicht impliziert.) Dieses Verständnis von Kausalität stützt aber kein metaphysisches Kausali-tätsprinzip, sondern es ist mindestens ebenso gut mit der vorgestellten pragmatischen Interpretationvon Erklärungen und auch mit einem Instrumentalismus verträglich.

Der folgende Abschnitt ist jetzt nur noch für Physiker verständlich: Kramers und Kronig erkann-ten, dass sich aus dem Prinzip der Kausalität die Analytizität von bestimmten fourier-transformiertenFunktionen ableiten läßt. Damit konnten sie einen Zusammenhang zwischen den Absorptionskoeffi-zienten und dem Dispersionskoeffizienten von Stoffen ableiten. Das entsprechende Rechenverfahren,nämlich Dispersionsrelationen, findet in Verbindung mit dem Prinzip der Mikrokausalität wichtigeAnwendungen in der theoretischen Elementarteilchenphysik und Festkörperphysik. Die Mikrokau-salität geht weiterhin auch in den theoretischen Aufbau der Quantenfeldtheorie ein, und liefert in

98Vgl. dazu das Skript Naturphilosophie: Grenzfragen der Physik bzw. (in Vorbereitung:) S. Bauberger: Was ist dieWelt. Stuttgart: Kohlhammer 2003.

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5.5. ERKLÄRUNG: PHILOSOPHISCHE REFLEXION 61

Kombination mit den Raumzeit-Symmetrien der Relativitätstheorie (Lorentzgruppe, Poincaregruppe)das grundlegende Teilchenspektrum, nämlich die Klassifizierung von Teilchen nach halbzahligem undganzzahligem Spin.

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Kapitel 6

Konstruktivismus

Besser als von dem „Konstruktivismus“ sollte man von „Konstruktivismen“ sprechen. Die Positio-nen, die diese Selbstbezeichnung gewählt haben, unterscheiden sich untereinander fundamental. ImFolgenden werden die drei grundlegenden Typen vorgestellt: der methodische, der soziale und derradikale Konstruktivismus. Das Gemeinsame der Positionen ist ein pragmatischer Ansatz, was an dievorhergehenden Ausführungen zum Begriff der Erklärung anknüpft. Das Handeln ist der Ausgangs-punkt. Forschen, Erkennen und Denken werden als eine Form des menschlichen Handelns begriffen.

Alle diese Positionen beschäftigen sich mit der Rationalität von wissenschaftlichen Theorien. Da-bei will der methodische Konstruktivismus diese Rationalität begründen, während die beiden anderenFormen die Kritik der wissenschaftlichen Rationalität in den Vordergrund stellen.

In diesem Kontext soll aber zunächst erst noch in Anschluss an einen Text von Hacking eineeinseitige Vorstellung von empirischer Wissenschaft korrigiert werden, die von wissenschaftstheore-tischen Betrachtungen oft suggeriert wird.

Die Wiederentdeckung des Experiments

Die Wissenschaftsphilosophen reden ständig von Theorien und Darstellungen der Rea-lität, doch über Experimente, technische Verfahren oder den Gebrauch des Wissens zurVeränderung der Welt sagen sie so gut wie nichts. Das ist merkwürdig, denn der Aus-druck „experimentelle Methode“ wurde gewöhnlich als gleichbedeutende Bezeichnungder wissenschaftlichen Methode verwendet. Das populäre, uninformierte Bild des Wis-senschaftlers war das Bild einer mit weißem Kittel bekleideten Person in einem Labora-torium.99

Hacking führt aus, dass es gerade ein auslösender Faktor für die Entwicklung der Naturwissenschaftin der Moderne war, die antike Theorieverhaftetheit (z.B. der Aristoteliker) aufzugeben, und Experi-mente durchzuführen. Wobei der wesentliche Punkt bei Experimenten ist, nicht nur zu beobachten,sondern auch auf die Welt einzuwirken. Und die naturwissenschaftlichen Gesellschaften der Neuzeit(Hacking erwähnt die Royal Society in London) sowie auch die Philosophen dieser Zeit zeichnenein Bild der Naturwissenschaft, bei dem Experimente einen ganz prominenten Raum einnehmen, vielmehr als reines Theoretisieren.

Erst im 20. Jahrhundert kam eine Sichtweise auf, die die Theorie so sehr betont. Hacking nenntausdrücklich Popper als einen Exponenten und Förderer dieser Sicht. Es gibt dafür, so Hacking, so-ziologische Gründe: „Klasse und Kaste“100 Ein zunehmende Trennung von Theoretikern und Expe-rimentatoren (Anmerkung: am deutlichsten bei theoretischen Physikern und Experimentalphysikern)

99Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1996, S. 249.100Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1996, S. 250.

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6.1. METHODISCHER KONSTRUKTIVISMUS 63

bedingt, dass sich die Theoretiker den Experimentatoren überlegen fühlen. Dazu kommt, dass Philo-sophen „der Legende nach und vielleicht von Natur aus (. . .) eher an den Lehnstuhl gewöhnt [sind]als an die Werkbank.“101

Hacking beschreibt im zitierten Text eindrucksvolle Beispiele, wie in der Geschichtsschreibungder Wissenschaft bis hin zur unbewussten Verdrehung von Tatsachen die Theorie bevorzugt wurdeund wird. Und er stellt anhand konkreter Beispiele dar, dass der konkrete Wissenschaftsbetrieb alledenkbaren Varianten für das Verhältnis von Experiment und Theorie kennt:

• Experimente, die überhaupt erst durch Theorien angeregt und denkbar wurden, die also einePriorität der Theorie bestätigen.

• Theorien, die eindeutig durch bestimmte experimentelle Ergebnisse angeregt wurden.

• Experimentelle Ergebnisse, die zu ihrer Zeit einfach unerklärt blieben.

• Ein glückliches Zusammentreffen von Experimenten und Theorie.

• Zusätzlich zu Hacking sei ergänzt: Theorien, die über lange Zeit entwickelt werden, ohne dasssie überhaupt einen Bezug zu Experimenten haben oder zu experimentellen Vorhersagen füh-ren.102

Diese Ausführungen sollen einerseits vor einem Missverständnis der modernen Wissenschaftstheo-rie warnen, andererseits sollen sie den Boden für den Ansatzpunkt des Konstruktivismus bereiten:Wissenschaft als eine Form des Handeln zu begreifen.

6.1 Methodischer Konstruktivismus

Der methodische Konstruktivismus soll hier anhand eines Textes von Janich entwickelt werden.103

Janich kritisiert die Sprachfixierung der Wissenschaftstheorie: Er nennt ausdrücklich Carnap, Pop-per, Kuhn und Feyerabend.104 Oben wurde Hackings Vorwurf referiert, dass die Wissenschaftstheorietheorienfixiert sei. Wenn Janich sie sprachfixiert nennt, gibt er dem Ganzen eine andere Wendung.Der entscheidende Gegensatz ist nicht der zwischen Theorie und Experiment, sondern der zwischenSprache und Handeln. Pragmatik kommt vor Syntax und Semantik. Er spricht vom pragmatischen,normativen und kulturalistischen Defizit der bisherigen Wissenschaftstheorie.105 Die Wissenschafts-theorie sei immer zu sehr von einer Analyse der Wissenschaft als Sprachgeschehen ausgegangen. DiePosition von Janich lässt sich ganz knapp so zusammenfassen:

In der Begründung der (empirischen) Wissenschaft hat das Handeln eine Priorität vor der sprach-lichen Form. Das ist aber keine Abkehr vom Rationalitätsanspruch, sondern die Rationalität desHandelns ist der Ausgangspunkt der Wissenschaft.

Dazu stellt Janich die Frage: Wie entwickeln sich Wissenschaften? Und seine Antwort ist: „(. . .)lebensweltliche Praxen [werden] zu Wissenschaften hochstilisiert“.106 Für diese Stilisierung gibt eszwei Kriterien, wann eine lebensweltliche Praxis zur wissenschaftlichen Praxis wird:

• Ausbildung von Terminologien mit universellen Begriffen

101Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart 1996, S. 250.102Bsp.: Die Stringtheorien, die seit gut 20 Jahren entwickelt und immer mehr verfeinert werden, aber noch fehlen auch

nur elementarste Ansätze einer experimentellen Bestätigung.103 Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, besonders S. 22-27 und 38-64.104 Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 175-195.105 Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 186-188.106Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 22.

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64 KAPITEL 6. KONSTRUKTIVISMUS

• und Überführung von bewährten Handlungsregeln in ausdrücklich beschriebene und als zweck-mäßig ausgewiesene Methoden.

Als Beispiel dafür können die Messkünste dienen.107 Diese Verfahren wurden schon in Mesopota-mien und im alten Ägypten lebensweltlich entwickelt. Dabei genügte die praktische Bewährung. Diewissenschaftliche Messkunst setzt aber darüber hinaus voraus:

• Eine Vereinheitlichung der Maßstäbe: Verschiedene Handwerke hatten verschiedene Verfahrenentwickelt, um z.B. Längen zu messen, Seefahrer hatten darum andere Maßstäbe als Schreineroder Feinmechaniker. Wissenschaftlich wird der Längenbegriff durch seine Vereinheitlichung.

• Dazu kommt, dass die jeweiligen Messmethoden nicht einfach implizit durch die Ausbildunginnerhalb eines Berufsstandes weitergegeben werden. Das reicht für lebensweltliche Praxen.Wissenschaftlich wird es durch die ausdrückliche Beschreibung von Methoden, die als zweck-mäßig ausgewiesen werden.

Wissenschaftliche Rationalität

Dies zur Entwicklung der Wissenschaft aus lebensweltlichen Praxen. Wie grenzt sich nun wissen-schaftliche Rationalität allgemein ab? Einige scheinbare Kriterien weist Janich zurück:108 (1) Si-cherheit und Verlässlichkeit, (2) Nützlichkeit und Brauchbarkeit, (3) Wissen, das durch Erfahrunggewonnen ist, (4) Allgemeinheit des Wissens. Die entscheidenden Kriterien für Wissenschaft sindandere:109

• Wissensbestände werden sprachlich dargestellt und als Wissensbestände ausgewiesen.

• Es gibt Kriterien zur Unterscheidung von begründetem und unbegründetem, von wahrem undfalschem Wissen.

• Daraus ergeben sich:

– allgemeine Geltung,

– systematische Ordnung,

– und durchgängige Verstehbarkeit.

Das lässt sich in der Formulierung des Ziels der Wissenschaften zusammenfassen: „Wissenschaftenhaben als Ziel, transsubjektiv gültiges Wissen (. . .) bereitzustellen.“110

Begründung der Wissenschaften

Das führt auf das klassische Begründungsproblem: Was bedeuten die Begriffe „wahr“, „falsch“, „be-gründet“? Diese philosophischen Probleme, deren Tragweite durch die bisherigen Ausführungen zurWissenschaftstheorie schon deutlich geworden sein sollten, löst Janich durch den Bezug auf den Sitzim Leben. „Wissenschaftlichkeit ist kein Selbstzweck“,111 ist ein Kernsatz seines Ansatzes. Son-dern sie ist bezogen auf Handlungsweisen: Begründungen und die Unterscheidung von richtigen undfalschen Sätzen haben ihre Verankerung in transsubjektiver Nachvollziehbarkeit im Sinn expliziterSprachverwendungsfestlegungen.

107Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 24-27.108Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 39.109Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 40f.110Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 41.111Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 43.

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6.1. METHODISCHER KONSTRUKTIVISMUS 65

Die Stärke dieses Ansatzes zeigt sich anhand des Anfangsproblems bei der Begründung von wis-senschaftlichen Sätzen. Jede Begründung hat selbst Voraussetzungen, die selbst wieder begründetwerden müssen, so dass sich ein unendlicher Regress ergibt, der eine Letztbegründung unmöglichmacht. Aber, so Janich, Begründen ist nicht nur logisches Ableiten von Sätzen aus Sätzen, sonderneine lebensweltliche Praxis. Und in dieser Praxis gibt es verschiedene rationale Formen des Abbruchsvon Begründungen. Das kann z.B. darin bestehen, einer Aufforderung einfach zu folgen. Die Vor-schrift, eine Handlungen in einer bestimmten Weise auszuführen, wird in der Praxis meist durch dieschlichte Ausführung als möglich erwiesen. Die prinzipielle Skepsis, die aus dem Anfangsproblementspringt, verdankt sich aus dieser Sicht einem pragmatischen Defizit.112

Ähnliches gilt für zwei weitere Begründungsprobleme der Wissenschaftstheorie:

• „Wie kann Erfahrung zur transsubjektiv gültigen Begründung wissenschaftlicher Sätze füh-ren?“113 (Die empiristische Skepsis.) Janichs Antwort: „Erfahrungen sind immer Widerfahr-nisse im Handeln.“114 Transsubjektivität ergibt sich aus Regeln, die Handeln so normieren,dass es von jederman wiederholt werden kann. Die Verallgemeinerung von Erfahrung folgtdem Alltagsrezept der erfahrungsmäßigen Bewährung. Technische Reproduzierbarkeit bedingtGesetzesartigkeit. Diese Begründung entspricht den historischen Fakten, wenn man die Wis-senschaftsgeschichte betrachtet, so behauptet Janich.

• Hat wissenschaftliche Erkenntnis einen Bezug auf eine Wirklichkeit außerhalb der Wissen-schaften? Janichs Antwort:115 Das entscheidende Phänomen ist das der „Unverfügbarkeit ge-nerellen Gelingens“.116 Menschen können z.B. nicht einfach fliegen, zumindest nicht ohne auf-wändige Hilfsmittel. Die Begriffe „Wirklichkeit“, „Realität“ und „Naturgesetze“ sind „traditio-nelle Ausdrücke dafür, dass wir ein Wissen über Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten aufdiesem Weg gewinnen können.“117

Janich bezeichnet seinen Ansatz als eine rationale Rekonstruktion bzw. methodische Rekonstruktionder Wissenschaft. Die Rationalität der Wissenschaft sieht er darin begründet, dass sie ein zweckratio-nales Handeln darstellt. Sie liefert eine Begründung für Handlungsweisen durch Erreichen bestimmterZwecke und ermöglicht ein geordnetes Handeln.

Oben wurde schon erwähnt, dass Janich seinen Ansatz gegen andere dadurch abgrenzt, dass Prag-matik vor Syntax und Semantik kommt. Die Verletzung dieses Prinzips, dieser methodischen Ord-nung, zieht, so Janich, eine verdrehtes Verständnis von Theorien nach sich. Diese, so der methodischeKonstruktivismus, „dienen der sprachlichen Organisation oder Ordnung von Wissen zur übersichtli-chen und sparsamen Kommunikation unter den Forschern sowie zu Zwecken der Lehre und Tradi-tionsbildung.“118 Theorien sind nicht Bilder oder Modelle von Weltausschnitten, sondern Kommu-nikationsinstrumente. Das Kriterium und das einzige Kriterium für Naturgesetze ist ihr technischerErfolg. (Vgl. dazu oben die Kritik des Instrumentalismus, Abschnitt4.7.)

112Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 45-49.113Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 50.114Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 50.115Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 52f.116Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 53.117Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 53.118Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 58.

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66 KAPITEL 6. KONSTRUKTIVISMUS

6.2 Radikaler Konstruktivismus

Der radikale Konstruktivismus ist in vielfacher Hinsicht mit dem methodischen Konstruktivismus119

verwandt. Das ist wissenschaftshistorisch interessant, weil sich die beiden Richtungen lange Zeitgetrennt voneinander entwickelt haben, ein typisches Beispiel für die Trennung von Forschergemein-schaften durch Sprachbarrieren (methodischer Konstruktivismus: deutscher Sprachraum; radikalerKonstruktivismus: englischer Sprachraum). Die Verwandtschaft betrifft insbesondere die erkenntnis-theoretische Orientierung hin zum Instrumentalismus, die im radikalen Konstruktivismus sogar nochverschärft wird. In gewisser Hinsicht gehört dieser eher zur Erkenntnistheorie als zur Wissenschafts-theorie.

Ausgangspunkte

Die Ausgangspunkte des radikalen Konstruktivismus sind das biologische Paradigma der Evolutionsowie die Erkenntnisse der modernen Biologie über menschliches Erkennen. Das grundlegende Miss-verständnis, das dieser Ansatz zu Recht abwehrt, ist, dass im Vorgang des menschlichen Erkennensdie Sinnesorgane ein Abbild der Welt im Gehirn produzieren. Viele Erkenntnisse,120 am augenfälligs-ten Untersuchungen über systematische Sinnestäuschungen, zeigen, dass die Struktur der Erkenntnisdurch Sinnesorgane wie folgt verstanden werden muss:121

• Menschliches (wie tierisches) Erkennen ist ein Prozess, der untrennbar mit der wechselseiti-gen Beziehung des menschlichen Organismus zu seiner Umwelt zusammenhängt. Es ist keineEinbahnstrasse, durch die Eindrücke aus der Umwelt sozusagen in den Organismus, in das Ge-hirn hineinströmen, sondern das Gehirn und die Sinnesorgane sind selbst konstruktiv an diesemProzess beteiligt. Deshalb erzeugt Erkennen kein Abbild der Umwelt.

• Erkennen muss unter dem evolutionären Paradigma verstanden werden. Die Beziehung derErkenntnis zur Umwelt ist die „Viabilität“, also der Dienst an der Überlebensfähigkeit des In-dividuums und der Art.

Besonders der letzte Punkt wird in einer sehr interessanten Weise von den radikalen Konstruktivistenweitergeführt. Es ist ein Missverständnis der Evolutionstheorie, so sagen sie zu Recht, von einemVorgang der Anpassung zu sprechen, wenn es um Evolution geht. Sondern es geht um Überleben. Undmögliche Mutationen, durch die eine biologische Art in einer bestimmten Umwelt überleben kann,gibt es jeweils sehr viele. Anpassung suggeriert, dass die Umwelt vorgibt, in welche Richtung dieEntwicklung abzulaufen hat. Tatsächlich ist es aber ein zufälliges Geschehen, welche der sehr vielenMöglichkeiten, wie eine Art in einer bestimmten Umwelt überleben kann, realisiert wird. Es ist davonabhängig ist, welche Mutationen gerade verwirklicht werden. Die Umwelt wählt aus den unzähligenMutationen, die in der Evolution zufällig auftreten, zwar die passenden aus. Aber es gäbe jeweilsnoch viele andere Möglichkeiten, die auch passen würden, und die nur durch das Zufallsprinzip derMutation unter den Tisch fallen.

In dieser Weise ist dann auch das menschliche Erkennen zu verstehen. Dieses dient dem Überlebendes Organismus, was aber deshalb keine Anpassung der Erkenntnisinhalte an die Welt bedeutet. DieUmwelt hat nur einen negativen, begrenzenden Charakter für die Erkenntnis. Was erkannt wird, ist

119Vielfach wird der methodische Konstruktivismus auch Erlanger Konstruktivismus genannt, unter Bezug auf seinenUrsprung.

120Vgl. dazu das sehr lesenswerte Buch vonHumberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis.Bern, München: Scherz-Verlag 1987.

121Eine gute Darstellung ist, neben dem genannten Buch von Maturana und Varela:Glasersfeld, Ernst v.: Konstruktionder Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In:Foerster, Heinz v. und Glasersfeld, Ernst v. und Hejl, Peter M. undSchmidt, Siegfried J. und Watzlawick, Paul: Einführung in den Konstruktivismus. München21995, S. 9-39.

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6.2. RADIKALER KONSTRUKTIVISMUS 67

eine konstruktive Leistung der Sinnesorgane und des Gehirns. Die Umwelt sorgt nur für Grenzen, diedie Evolution dieser Konstruktion setzt.

Ein Modell dafür ist, wie ein blinder Wanderer, der häufig einen Wald durchquert, seinen Wegfindet.122 Wie „sieht“ dieser Wanderer den Wald? Er besteht für ihn aus einer Reihe von Wegen, diezum Ziel, das ist zur anderen Seite des Waldes, führen. Die Umwelt, also die Bäume, setzen diesenmöglichen Wegen Grenzen. Aber der Erkenntnisinhalt sind nicht die Bäume, sondern die Wege, diezum Ziel führen.

Verhältnis von radikalem und methodischem Konstruktivismus

Wie verhalten sich der radikale und der methodische Konstruktivismus zueinander? Die entscheiden-den Unterschied sind der Ausgangspunkt und das Ziel.

• Der methodische Konstruktivismus geht vom menschlichen Handeln aus, und begründet dieRationalität der Wissenschaft als Handlungsrationalität.

• Der radikale Konstruktivismus nimmt als Ausgangspunkt die Biologie des Erkennens. Er betontdie fundamentale Kritik der Rationalität des Erkennens.

Janich kritisiert ein„normatives Defizit“123 des radikalen Konstruktivismus. Das Argument geht wiefolgt: Der radikale Konstruktivismus kritisiert die Auffassung, dass menschliches Erkennen eine ob-jektive Wirklichkeit abbildet, setzt aber andererseits viele konkrete Inhalte dieses Erkennens, nämlichdie ganze Biologie und Physik, voraus, wenn er diese zum Ausgangspunkt seiner Argumentationmacht. Dieses Retorsionsargument ist aber nur korrekt, wenn man Janichs Ziel einer methodischenBegründung voraussetzt:

• Janich will eine methodische Rekonstruktion der Wissenschaften leisten. Dazu ist der Aus-gangspunkt des radikalen Konstruktivismus tatsächlich ungeeignet, weil er in einen Selbstwi-derspruch führt: Biologie wird zunächst unkritisch vorausgesetzt, dann wird aber daraus abge-leitet, dass Erkennen (und damit auch die Biologie) gar keine Wirklichkeit repräsentiert.

• Soweit sich die radikalen Konstruktivisten aber auf eine kritische Position beschränken, ar-gumentieren sie logisch korrekt: Wenn man voraussetzt, dass das menschliche Erkennen einAbbild der Wirklichkeit vermittelt, oder sich dem wenigstens immer mehr annähert, und dassinsbesondere die Wissenschaften das tun, dann muss man zunächst die Erkenntnisse der moder-nen Biologie über menschliches Erkennen akzeptieren. Wenn man diese aber akzeptiert, führensie zu einer radikalen Infragestellung bzw. Widerlegung der Abbildvorstellung und zu einerinstrumentalistischen Auffassung vom menschlichen Erkennen.

Dieses Argument der radikalen Konstruktivisten ist genau dann logisch korrekt, wenn auch diese Auf-fassung, also die epistemische Position des Instrumentalismus, selbst instrumentalistisch verstandenwird. Formalisiert lautet das Argument:

(a→¬a)→¬a,

wobeia für die Behauptung eines Realismus (im naiven Sinn: Erkennen erzeugt ein Abbild des Er-kannten im erkennenden Subjekt) steht. Die Form des Retorsionsarguments vertauscht Affirmationund Negation,

(¬a→ a)→ a.

122Glasersfeld, Ernst v.: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In:Foerster, Heinz v. und Gla-sersfeld, Ernst v. und Hejl, Peter M. und Schmidt, Siegfried J. und Watzlawick, Paul: Einführung in den Konstruktivismus.München21995, S. 19.

123Janich, Peter: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Frankfurt 1996. S. 116.

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68 KAPITEL 6. KONSTRUKTIVISMUS

Auch dies ist logisch korrekt. Allerdings bedeutet in beiden Fällen die Schlussfolgerung in der Klam-mer keine logische Ableitung.124 Beim Retorsionsargument verknüpft die Folgerung zwei Ebenen:die Ebene der Objektaussagen und die der impliziten Voraussetzungen dieser Aussagen. Im Fall desKonstruktivismus handelt es sich um eine naturwissenschaftliche Folgerung, die insofern hypothe-tisch bleibt.

Beide Argumente hängen auch wesentlich davon ab, wie weit die Folgerungen, die jeweils inKlammern gesetzt sind, zutreffen. In der ersten Formel handelt es sich im Fall des radikalen Kon-struktivismus um empirische Argumente aus der Neurobiologie. Die zweite Formel, das Retorsion-sargument, hat eine große Überzeugungskraft, aber auch ein grundlegendes Problem: Vorsicht istangebracht, wenn man aus formalen Voraussetzungen inhaltliche Folgerungen ableitet, das hat Kantaufgezeigt. Es zeigt sich, dass diese Verknüpfung der Ebenen in Antinomien führen kann.

Damit soll nicht behauptet werden, dass die kritische Position des radikalen Konstruktivismusdas letzte Wort sein muss. Oben wurde die Frage des Theorienrealismus schon diskutiert und imAbschnitt6.5werden noch einmal einige diesbezügliche Argumente einander gegenübergestellt.

Es muss auch festgehalten werden, dass der radikale Konstruktivismus keineswegs die einzigeWeise ist, die Erkenntnisse der modernen Biologie über das Erkennen zu interpretieren. Die evo-lutionäre Erkenntnistheorie sieht durch diese Erkenntnisse gerade einen hypothetischen Realismusbestätigt. Der entscheidende Punkt, der diesen Unterschied in der Interpretation bedingt, ist die Auf-fassung darüber, was evolutionäre Anpassung bedeutet: Eine Passung im Sinn einer einigermaßenguten Entsprechung der Sinnesorgane zur wahrgenommenen Umwelt oder die Verwirklichung voneiner von vielen Möglichkeiten zu überleben.

6.3 Sozialer Konstruktivismus

Eine weitere Richtung des Konstruktivismus, die sich aus dem radikalen Konstruktivismus entwickeltund teilweise verselbständigt hat, ist der soziale Konstruktivismus.125 Wie beim radikalen Konstruk-tivismus handelt es sich in erster Linie um eine kritische Position. In Frage gestellt wird die Auffas-sung, dass wissenschaftliche Begriffe eine objektive Wirklichkeit repräsentieren. Das Argument ist,dass diese Begriffe eine soziale Konstruktion sind, also von einer jeweiligen Gesellschaft hervorge-bracht werden, und damit auch von kontingenten sozialen Strukturen abhängen. Zwei Beispiele sollendas Anliegen dieser Position erläutern:

Beispiele

Ein gutes Beispiel für (psychologische) Begriffe, deren Bedeutung offensichtlich einer starken gesell-schaftlichen Prägung unterliegt, sind Gefühle, oder noch deutlicher sogenannte Quasi-Gefühle, diestark an bestimmte Lebensbedingungen gekoppelt sind, wie z.B. „Gemütlichkeit“126 Zunächst fälltz.B. auf, dass es in mediterranen Sprachen kein echtes Äquivalent für speziell dieses Gefühl gibt. Of-fensichtlich handelt es sich um ein nordeuropäisches Gefühl, könnte man sagen. Aber auch unter dennordeuropäischen Sprachen gibt es deutliche Unterschiede. Das holländische Wortgezellig entsprichtdem Wortgemütlich, außer dass man nicht alleingezelligsein kann. Das finnische Wortkodikaslässtsich nur auf Räume, Umgebungen und Menschen anwenden, aber es kann keine Stimmung, keineEmotion, weder eines Einzelnen, noch einer Gruppe bezeichnen.

124Außerdem steht „a“ im ersten Fall streng genommen nicht für die „einfache“ Aussage des Realismus, sondern füreine (Und-)Verknüpfung des Realismus mit dem Gesetzen der Biologie.

125Diese Position ist vielfach mit der Philosophie der Postmoderne verbunden.126Die Darstellung dieses Beispiels folgt (mit Korrekturen):Harré, Rom: An Outline of the Social Constructionist View-

point. In:Harré, Rom (Hrsg.): The Social Construction of Emotions. Oxford 1986, S. 11.

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6.3. SOZIALER KONSTRUKTIVISMUS 69

Ein zweites Beispiel, das für alle, die schon einmal einen wissenschaftlichen Kongress besuchthaben und mit dessen Realitäten vertraut sind, amüsant sein wird:127

Im Oktober 1992 fand in Heidelberg ein interdisplinäres Symposium statt, mit dem Titel: „Was istWirklichkeit und wie kommt sie zustande?“ Es ging also um Konstruktivismus. Eine Gruppe führteauf diesem Symposium ein Experiment zum Konstruktivismus durch. Es wurde durch geheimnisvolleAndeutungen klargemacht, dass auf der Tagung ein Experiment durchgeführt werden soll. Dazu wur-de ein Bericht lanciert, über ein Experiment mit einem Vortrag eines „Professors“ an einer Uni, derhanebüchenen Unsinn erzählte, welcher aber durch das ganze Setting als wissenschaftlicher Vortragernstgenommen wurde, bis eine inszenierte Gruppe von Krankenpflegern ihn als entlaufenen Irrenentlarvten.

Als nun die Gruppe, die so geheimnisvoll ihr Experiment angekündigt hatte, auf dieser TagungFragebögen verteilte, ob den Teilnehmern irgendetwas Spezielles aufgefallen war, fingen diese an,ähnlich getürkte Vorträge zu finden. Ganze Vorträge oder Teile von Vorträgen, waren, so die Wahr-nehmung, scheinbar als Teil des Experiments inszeniert worden. Der Inhalt der Vorträge war offen-sichtlicher Unsinn, und es sollte getestet werden, ob das Setting im Rahmen eines wissenschaftlichenKongresses die Teilnehmer darüber täuschen kann. Die Stimmung schlug so um, dass einige Vorträgezu kabarettistischen Veranstaltungen wurden, das heißt in allgemeinem Gelächter untergingen. Dabeiwaren aber „in Wirklichkeit“ alle diese Vorträge ernsthaft gemeint. Die Gruppe, die das Experimentvorbereitet hatte, hatte keinen der Referenten instruiert, seinen Vortrag in einer bestimmten Weise zuverändern. Allein die veränderte Wahrnehmung bewirkte, dass die Vorträge nicht mehr ernst genom-men wurden. Oder bissig kann man sagen: Die Tatsache, dass auf wissenschaftlichen Tagungen man-che Vorträge einfach offensichtlich unsinnig sind, wird im Rahmen des normalen gesellschaftlichenSettings so hingenommen. Das manipulierte Setting, nämlich die Ankündigung eines geheimnisvol-len Experiments und der Hinweis auf möglicherweise manipulierte Vorträge, ermöglichte es plötzlich,dass der normale Unsinn von Vorträgen entlarvt wurde.

Dieses letzte Beispiel zeigt, dass das ganze Unternehmen der Wissenschaft (im konkreten Beispielspeziell bezogen auf wissenschaftliche Tagungen) in hohem Maß durch gesellschaftliche Konstruk-tionen getragen wird.

Übertreibungen

Soviel zu den Beispielen über sozialen Konstruktivismus. Es muss aber noch erwähnt werden, dasswohl keine Richtung der Wissenschaftstheorie so sehr und absurd übertrieben wurde wie diese.I. Hacking hat dazu eine gute Analyse geschrieben.128 Die Begeisterung dafür, ideologische Begriffeder Wissenschaften zu entlarven, führte dazu, dass man plötzlich sogar die soziale Konstruktion vongrundlegenden und ganz unverdächtigen physikalischen Begriffen, wie der „Quarks“, aufweisen zukönnen meinte. Die Absurdität dieses Unterfangens hat der Physiker Alan D. Sokal perfekt entlarvt,wobei diese Entlarvung selbst ein Beispiel für die Macht der sozialen Konstruktion der Forschungs-richtung sozialer Konstruktivismus ist:

Sokal veröffentlichte im Jahre 1996 einen Artikel in der ZeitschriftSocial Text.129 Darin „ent-

127Quelle:Hans Geisslinger: Wissenschaft und Fiktion: Ein Heidelberger Experiment. In:Fischer, Hans Rudi: Die Wirk-lichkeit des Konstruktivismus. Heidelberg: Auer 1995, S. 397-406. Wer Geschmack findet an dieser kurzen Zusammen-fassung hier, sollte diese ausführliche Darstellung lesen.

128Hacking, Ian: Was heißt ‚soziale Konstruktion‘? Frankfurt 1999.129Dieser Artikel und die interessante Diskussion, die sich daraus ergab, ist im Internet zugänglich:

• http://www.physics.nyu.edu/faculty/sokal/index.html#papers

• http://www.math.tohoku.ac.jp/~kuroki/Sokal/

Der grundlegende Artikel:Alan Sokal: Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of QuantumGravity, Social Text #46/47, S. 217-252 (Frühling/Sommer 1996).

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70 KAPITEL 6. KONSTRUKTIVISMUS

larvte“ er viele der Theorien und scheinbaren Erkenntnisse der modernen Physik als soziale Kon-struktionen. Aber der ganze Artikel war parodistisch gemeint, und zumindest jemand, der mit denvorgestellten physikalischen Theorien vertraut ist, wird das auch sofort erkennen. Die sozialen Kon-struktivisten waren aber so begeistert darüber, dass sich nun ein anerkannter Physiker auf ihre Seitegeschlagen hatte, dass sie den Artikel unkritisch abdruckten. Gleich darauf erschien in einer anderenZeitschrift ein Widerruf von Sokal. Ein Artikel, in dem er seine Motive erklärte, warum er diese Par-odie in Umlauf gebracht hatte, wurde von der ZeitschriftSocial Textnicht mehr abgedruckt, aber erkonnte ihn in einer anderen Zeitschrift veröffentlichen.

Sokals Argument ist interessant: Er würdigt die ideologiekritische Position des sozialen Konstruk-tivismus. Aber, so ganz kurz zusammengefasst sein Argument, jede Ideologiekritik braucht auch einenBezug auf einen Wahrheitsanspruch. Nur dann entrinnt sie einem reinen Relativismus, und kann wirk-lich kritisch auftreten. Der soziale Konstruktivismus verliert seine kritische Wirkung, wenn er derartübertreibt, dass er jeden wissenschaftlichen Anspruch als sozial bedingt relativiert.

6.4 Konstruktivismus: Praktische Konsequenzen für die Wissen-schaft

Sowohl der methodische als auch der radikale Konstruktivismus tragen zwar zur Frage der Begrün-dung der Wissenschaft bei, aber nicht wesentlich zur praktischen Frage nach ihren Methoden. Dersoziale Konstruktivismus, das sollte deutlich geworden sein, trägt einige Sprengkraft in sich, als kriti-sches Potential, insbesondere bezüglich der Sozial- und Humanwissenschaften. Die verrückten Über-treibungen dieser Position sollten nicht dazu verleiten, dieses Potential der Ideologiekritik vorschnellabzuwehren.

Beispiele

Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die wissenschaftliche Betrachtung von psychischenKrankheiten. Eine Standardreferenz dazu ist die regelmäßig „aktualisierte“ Liste derAmerican Psych-iatric Association, die aufzählt, was als psychische Krankheit gezählt wird. Es hat im Jahre 1973Aufsehen erregt, als Homosexualität (zumindest in dieser ausdrücklichen Formulierung) aus dieserListe gestrichen wurde. Eine Veränderung der gesellschaftlichen Ansichten führte in diesem Beispielzu einer neuen Definition des Begriffs der psychischen Krankheit.

Sozialer Konstruktivismus tritt nicht nur als wissenschaftstheoretische Position an, sondern auchals Forschungsrichtung der Psychologie und Soziologie und ist in diesem Sinn sehr erfolgreich. Esgibt zum Beispiel sehr erhellende Untersuchungen über das Aufkommen des Rechtsradikalismus inden neuen Bundesländern nach der deutschen Wiedervereinigung.130 Diese zeigen, dass sich diesesPhänomen weder auf die neuen gesellschaftlichen, noch die neuen individuellen Risiken und Bedro-hungen allein zurückführen lässt. Sondern es kommt hinzu, dass in der Wahrnehmung der betroffenenJugendlichen eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wurde, welche „die Ausländer“ füralle Probleme verantwortlich macht. Die Konstruktion einer solchen Wirklichkeit geschieht durcherzählerische Traditionen und gesellschaftliche Konventionen, wurzelt also im Kommunikationsge-schehen.

Der Widerruf: A Physicist Experiments with Cultural Studies. Lingua Franca, Mai/Juni 1996, S. 62-64.130Wolfgang Frindte: Radikaler Konstruktivismus und Social constructivism – sozialpsychologische Folgen und die

empirische Rekonstruktion eines Gespenstes. In:Fischer, Hans Rudi: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Heidelberg:Auer 1995, S. 118-125.

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6.5. PHILOSOPHISCHE DISKUSSION 71

6.5 Philosophische Diskussion

Eine Diskussion der philosophischen Konsequenzen und des philosophischen Urteils über den Kon-struktivismus verweist direkt auf einige zentrale Punkte der Erkenntnistheorie. Es führt zu weit, diesehier im Detail zu diskutieren. Einige Grundlinien der möglichen Positionen und Argumente sollenaber aufgezeigt werden.

Ein erstes wichtiges Argument für konstruktivistische Ansätze ist, dass viele der Analysen derWissenschaftstheorie, das können die vorangehenden Kapitel zeigen, letztlich auf pragmatische Be-gründungsansätze der Wissenschaft verweisen. Der wichtigste Punkt zu diesem Argument wurde(vgl. oben) im Kapitel über Erklärung dargestellt: Die Begriffe wahr und falsch lassen sich für wis-senschaftliche Theorien nicht sinnvoll operationalisieren. Nur im Vergleich von Theorien kann mansinnvoll eine der anderen vorziehen, wobei das wichtigste Kriterium die Anwendbarkeit, also derprognostische Wert, der Theorie ist. Das stützt eine instrumentalistische Position.

Ein Argument gegen konstruktivistische Ansätze und allgemein gegen Instrumentalismus ist derSelbstanspruch, das Leitbild, das vielen Wissenschaftlern vor Augen steht, und das Popper etwastheatralisch auf den Punkt gebracht hat (oben schon zitiert):

Es gibt eine Wirklichkeit hinter der Welt, wie sie uns erscheint, möglicherweise einevielschichtige Wirklichkeit, von der die Erscheinungen die äußersten Schichten sind. Dergroße Wissenschaftler stellt nun kühne Vermutungen, riskante Schätzungen darüber an,wie diese inneren Realitäten beschaffen sind. (. . .) Der Mut kann an der Distanz zwischender Welt der Erscheinungen und der vermuteten Realität, der erklärenden Hypothese,gemessen werden.131

Ist dieses Leitbild nur eine pure Illusion, oder zielt wissenschaftliche Erkenntnis nicht doch auf ei-ne Annäherung an eine solche Wirklichkeit hinter den Erscheinungen, jenseits aller pragmatischenElemente? Muss also der Realismus nicht doch rehabilitiert werden? Es wurde schon diskutiert, dassder Erfolg von Theorien und vor allem der Erfolg des Kriteriums der Einfachheit und Eleganz vonTheorien ein Argument gegen den Instrumentalismus liefert. Andrerseits ist der Erfolg des Konzeptsder Operationalisierung von Begriffen ein Argument gegen jede realistische Interpretation.

Der methodische Konstruktivismus

Der methodische Konstruktivismus tritt nicht mit dem Anspruch der Kritik der Erkenntnisfähigkeitder Wissenschaften an, sondern umgekehrt mit einem Begründungsanspruch. Dennoch läuft diesePosition letztlich auf einen Instrumentalismus hinaus. Oben wurde schon Janich zitiert:

Wirklichkeit, Realität oder auch Naturgesetze sind danntraditionelle Ausdrückedafür,dass wir einWissen über Grenzen unserer Handlungsmöglichkeitenauf diesem Weg [derWissenschaften] gewinnen können.132

Das heißt: Das Verständnis von Wirklichkeit gründet in der Handlungstheorie. Die Rationalität derWissenschaften ist letztlich eine pragmatische: Erkenntnis von Wirklichkeit wird als diejenige Er-kenntnis definiert, die ein erfolgreiches Handeln ermöglicht.

Der Unterschied zum radikalen Konstruktivismus ist aber, dass mit dem Begriff der Rationalitätdes Handelns eine echte Begründung der Wissenschaften möglich wird. Besonders gelungen ist dieBehandlung der Frage nach der Letztbegründung. Tatsächlich entspricht es der realen Vorgehensweisejeder Wissenschaft, irgendwann die Begründungskette abzubrechen, ohne dass dies in eine Irrationa-lität führen muss. Sondern es genügt dann der Verweis darauf, dass „es einfach funktioniert“. So

131Karl R. Popper: Lesebuch. Tübingen 1995, S. 107.132Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München 1997, S. 53.

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72 KAPITEL 6. KONSTRUKTIVISMUS

wie ein Paradigma, oder im Sinne von Lakatos ein Forschungsprogramm, seine Begründung haupt-sächlich darin hat, dass es einem Forschungszweig die richtigen Fragen und einen richtigen Horizontmöglicher Antworten vorgibt, deren Richtigkeit sich darin erweist, dass das Forschungsprogramm zuneuen Entdeckungen führt.

Auch ein Theorienrealist wird daraus lernen können, dass die wissenschaftliche Rationalität nichtgetrennt von seinem Handeln betrachtet werden darf. Er wird aber in Gegenposition zum methodi-schen Konstruktivismus bestreiten, dass Rationalität primär im Handeln gründet.

Der radikale Konstruktivismus

Der radikale Konstruktivismus bezieht seine Stärke aus einer Analyse der biologischen Struktur undder Voraussetzungen der menschlichen Wahrnehmung. Diese Analyse zieht grundlegende Anfragenan die Erkenntnistheorie nach sich. Sie zeigt, dass die Sinneswahrnehmung nicht ohne weiteres soverstanden werden kann, dass sie ein Abbild der Welt liefert, sondern dass das Leitbild der Viabilitäteinen besseren Ansatz liefert: Sinneswahrnehmung ist so beschaffen, dass sie dem Organismus hilft,in seiner Umwelt zu überleben.

Das Standardbeispiel zur Erläuterung sind systematische Sinnestäuschungen. Es sei jedem emp-fohlen, der dies noch nie gesehen hat, einmal das bekannte und ganz einfache Experiment durchzu-führen, das die Existenz des blinden Flecks im Auge demonstriert.133 Dieses Experiment zeigt, dassein Teil des Gesichtsfeldes (dort nämlich wo der Sehnerv auf der Netzhaut ansetzt) blind ist, dassaber das Gehirn sich sozusagen zusammenreimt, was dort zu sehen ist. Und die Täuschung, die dasGehirn da produziert, ist absolut perfekt und in keiner Weise auszuschalten. Aber was das Gehirndort vortäuscht, passt in der normalen Umwelt so gut, dass die Täuschung nicht bemerkt wird. Nur indiesen speziellen Experimenten fällt es auf.

Nun kann man philosophisch einwenden, dass der Begriff der „Täuschung“ schon den Anspruchimpliziert, dass die Sinne eigentlich auf eine wahre Wirklichkeit zielen, die sie nur im Fall der Täu-schung eben verfehlen. Aber die Interpretation, die der radikale Konstruktivismus den Täuschungengibt, erschöpft sich nicht in der Feststellung der Fehlbarkeit der Sinne. Sondern es ist eine berech-tigte Infragestellung der naiven erkenntnistheoretischen Position, dass Erkenntnis, und insbesondersErkenntnis durch die Sinne, als eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verstanden werden muss.Die Analysen des radikalen Konstruktivismus führen zum Verständnis, dass Erkenntnis primär alseine Funktion des Organismus verstanden werden muss, eine Interaktion mit der Umwelt, die unterdem Anspruch der Viabilität steht. Die primäre Funktion von Erkenntnis besteht also nicht darin, einAbbild der Welt im Gehirn oder Geist zu produzieren, sondern darin, das Überleben zu ermöglichen.Und das bedeutet nicht, dass ein solches Abbild erzeugt werden muss.

Zum Schluss ein Einwand gegen den radikalen Konstruktivismus

Nun lässt sich einwenden, dass es gerade der Anspruch der Wissenschaften ist, die Wirklichkeit hinterden Erscheinung zu entdecken, wie es z.B. Popper formuliert hat. Das heißt, dass die Fehlbarkeitder Sinne ausdrücklich anerkannt wird. Die Wissenschaft erhebt sich in diesem Verständnis in einergewissen Weise über die ursprüngliche Funktion der Sinne und verwendet die Sinnesdaten dazu,durch die Schaffung von abstrakten Theorien, die weit von der Anschauung entfernt sind, doch einAbbild der Wirklichkeit zu schaffen.

Es wurde in dieser Vorlesung mehrmals aufgezeigt, dass ein solcher Anspruch nicht operationali-sierbar ist, also nie streng empirisch begründet werden kann. Er bleibt so etwas wie ein Leitbild der

133Z.B. in Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Bern, München: Scherz-Verlag 1987,S. 22f.

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6.5. PHILOSOPHISCHE DISKUSSION 73

Wissenschaft, unbeweisbar, aber er bewährt sich im oft verblüffenden Erfolg der wissenschaftlichenTheorien, über alle praktische Anwendbarkeit hinaus.

Im Abschnitt4.7 wurde der Vorschlag gemacht, die Erkenntnis der empirischen Wissenschaftenzwar einerseits als tatsächliche Erkenntnis über die „Wirklichkeit“ zu verstehen, die aber andrerseitsinsofern „gebrochen“ ist, als diese Wirklichkeit immer nur in der Form (im kantischen Sinn) derVorhersagbarkeit erkannt wird. Von der Wirklichkeit wird sozusagen immer nur der Aspekt erkannt,der sich in die Form von epistemischen Naturgesetzen bringen lässt. Das sind

Algorithmen, die dazu dienen, aus Beobachtungen in der Vergangenheit Vorhersagen fürdie Zukunft abzuleiten.

Damit bleibt immer eine unüberbrückbare Distanz der empirischen Erkenntnis zur Wirklichkeit er-halten, und dennoch lässt sich der Erfolg von guten Theorien so verstehen, dass die Wirklichkeittatsächlich intelligibel ist, dass sie in einer grundlegenden Weise für das menschliche Erkennen offensteht.