Wladimir Iljitsch Lenin - Der Revolutionär

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WLADIMIR ILJITSCH LENIN Der Revolutionär Lenin war der Heilige des Sowjetsystems, als Stalin längst der Schurke war. Doch auch Lenin lehrte den Terror, begründete jene brutale Verwirklichung eines Menschheitstraums, dem Millionen zum Opfer fielen. Mit dem Zerfall des Sowjetreiches stürzten auch seine Standbilder, wurde auch Lenin angeklagt - er habe die Katastrophe verschuldet. Jetzt fanden Historiker heraus, dass das Kaiserreich die Bolschewiki jahrelang mit Millionen und Logistik unterstützte. DER SPIEGEL Bildersturm in Bukarest. DER SPIEGEL 14/1990 Wladimir Iljitsch Lenin Der Revolutionär 1. Wladimir Iljitsch Lenin: Der Revolutionär vom 08.12.2007 - 387 Zeichen SPIEGEL ONLINE 2. Titel: Revolutionär Seiner Majestät vom 10.12.2007 - 49882 Zeichen DER SPIEGEL Seite 34 3. Spiegel des 20. Jahrhunderts: "Auf der Stelle erschießen" vom 19.07.1999 - 35598 Zeichen DER SPIEGEL Seite 141 4. "Das faule Gift der Macht" vom 02.04.1990 - 34947 Zeichen DER SPIEGEL Seite 194 5. von Dieter Wild: Die arme Weltrevolution vom 14.08.1989 - 14768 Zeichen DER SPIEGEL Seite 122 6. "Wir selbst drehten am Rad des Terrors" vom 13.03.1989 - 12035 Zeichen DER SPIEGEL Seite 212 7. "Der widersprüchliche, irrende Lenin" vom 06.06.1988 - 7966 Zeichen DER SPIEGEL Seite 148 8. Lenin - ein Betriebsunfall in der Geschichte? vom 09.05.1988 - 21566 Zeichen DER SPIEGEL Seite 162

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WLADIMIR ILJITSCH LENIN

Der Revolutionär

Lenin war der Heilige des Sowjetsystems, als Stalin längst der Schurke war. Doch auch Lenin lehrte

den Terror, begründete jene brutale Verwirklichung eines Menschheitstraums, dem Millionen zum Opfer

fielen.

Mit dem Zerfall des Sowjetreiches stürzten auch seine Standbilder, wurde

auch Lenin angeklagt - er habe die Katastrophe verschuldet. Jetzt fanden

Historiker heraus, dass das Kaiserreich die Bolschewiki jahrelang mit

Millionen und Logistik unterstützte.

DER SPIEGEL

Bildersturm in Bukarest. DER SPIEGEL 14/1990

Wladimir Iljitsch LeninDer Revolutionär

1. Wladimir Iljitsch Lenin: Der Revolutionär vom 08.12.2007 - 387

Zeichen

SPIEGEL ONLINE

2. Titel: RevolutionärSeiner Majestät vom 10.12.2007 - 49882 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 34

3. Spiegel des 20. Jahrhunderts: "Auf der Stelle erschießen"vom 19.07.1999 - 35598 Zeichen

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4. "Das faule Gift der Macht" vom 02.04.1990 - 34947 Zeichen

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5. von Dieter Wild: Die arme Weltrevolution vom 14.08.1989 - 14768

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6. "Wir selbst drehten am Rad des Terrors" vom 13.03.1989 - 12035

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7. "Der widersprüchliche, irrende Lenin" vom 06.06.1988 - 7966

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8. Lenin - ein Betriebsunfall in der Geschichte? vom 09.05.1988 -

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Das wohl am besten gehütete Ge-heimnis des Ersten Weltkriegs endetam 4. November 1918 mit einer

Farce. Auf Anweisung von ganz obenschmuggeln Berliner Polizisten revolutio-näre Flugblätter in eine Kiste des sowjeti-schen Diplomatengepäcks. Als ein Kurierim Bahnhof Friedrichstraße die Utensilienmit dem Lift befördern will, zerbricht dieKiste. Eine Flut von Propagandamaterialmit Überschriften wie „Schlagt die Junkertot!“ ergießt sich auf den Bahnsteig.

Unverzüglich protestiert Moskaus Bot-schafter Adolf Abramowitsch Joffe im Aus-wärtigen Amt gegen die inszenierte Pro-vokation. Vergebens – kühl eröffnet ihmder Staatssekretär des Auswärtigen Amts,wie der deutsche Außenminister genanntwird, dass Joffe und seine DiplomatenDeutschland spätestens am nächsten Abendverlassen müssen. Die Sowjets trifft das„wie ein Blitz aus heiterem Himmel“, soein Mitarbeiter Joffes.

Zwei Tage nach dem Zwischenfall wirddie Residenz „Unter den Linden“ der Rus-sischen Sozialistischen Föderativen So-wjetrepublik (RSFSR), des Vorläufers derSowjetunion, geschlossen.

Die Weltöffentlichkeit überraschte derAbbruch der diplomatischen Beziehungenwenig. Seit der Oktoberrevolution im Vor-jahr regierte in Russland Wladimir IljitschUljanow, genannt Lenin. Und der radikaleParteiführer der Bolschewiki ließ keinenZweifel daran, dass er die Weltrevolutionanstrebte und dafür Kaiser Wilhelm II.vom Thron zu stoßen gedachte.

Insgeheim freilich – und das wusste nureine Handvoll Eingeweihte – endete mitdem Abbruch der Beziehungen auch daswohl eigenartigste politische Zweckbünd-nis des 20. Jahrhunderts: zwischen den rus-sischen Revolutionären um Lenin und dendeutschen Imperialisten um Wilhelm ausdem Hause Hohenzollern.

Es war die Komplizenschaft ideologi-scher Todfeinde, betrieben voller Hinterlistund intriganter Raffinesse. Die Verschwö-rer schrieben Weltgeschichte: Ohne dieHilfe Wilhelms II. für Lenin hätte es dieOktoberrevolution vor nunmehr 90 Jah-ren so nicht gegeben. Mehr noch: Ohnedeutsche Unterstützung hätten Lenins Bol-schewiki das entscheidende erste Jahr ander Macht kaum überstanden.

Vermutlich wäre keine Sowjetunion ent-standen, den Aufstieg des Kommunismushätte es dann nicht gegeben, auch die Mil-lionen Gulag-Toten wären wohl nicht zubeklagen gewesen.

Zusammengehalten wurde die unheiligedeutsch-russische Allianz von gemeinsa-men Gegnern, gemäß der uralten Deviseder Realpolitik, dass der Feind meinesFeindes mein Freund ist. Eine bequemeLogik, die meist eigene Versäumnisse ver-schleiern soll, so auch im Ersten Weltkrieg.Denn hätten die Deutschen ihre größen-wahnsinnigen Kriegsziele im Osten revi-diert, wären Lenins Dienste nicht nötig ge-wesen.

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Revolutionär Lenin (mit Perücke in derrussischen Illegalität 1917)

RevolutionärSeiner Majestät

Lenin wollte den Zaren stürzen, Kaiser Wilhelm II. einen Sieg ander Ostfront erzielen. Bislang unbekannte Dokumente

belegen nun das Ausmaß der geheimen Zusammenarbeit währenddes Ersten Weltkriegs. Jahrelang unterstützte

das Kaiserreich die Bolschewiki mit Millionen und Logistik.

Titel

Kaiser Wilhelm II. bei einer TruppenparadeWeltgeschichtliche Verschwörung

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Deutsche Geheiminformation (Ausriss): Mit Berliner Hilfe an die Macht

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So aber konspirierte das Reich mit demAnführer der Bolschewiki gegen Zar Ni-kolai II., Bündnispartner Frankreichs undGroßbritanniens. Schließlich stand der Ro-manow einem deutschen Siegfrieden eben-so entgegen wie einer MachtübernahmeLenins.

Vier Jahre lang unterstützte Berlin dieBolschewiki und andere Revolutionäre inRussland mit Mark, Munition, Waffen undtrug damit zum Ende der Zarenmonarchiebei. Mindestens 26 Millionen Mark, nachheutigem Wert rund 75 Millionen Euro,hat allein das Auswärtige Amt bis Ende1917 dafür ausgegeben.

Als Zar Nikolai in der Februarrevolu-tion 1917 schließlich stürzte und Lenin imExil in der Schweiz festsaß, ermöglichtenihm die kaiserlichen Behörden mitten imWeltkrieg die Rückkehr in seine Heimat.„Lenin Eintritt in Russland geglückt. Erarbeitet völlig nach Wunsch“, drahtete am17. April 1917 der Leiter des deutschenNachrichtendiensts in Stockholm an denGeneralstab in Berlin. Denn nun ging esgegen die inzwischen amtierende Proviso-rische Regierung in Petrograd.

Ein halbes Jahr später eroberte Leninin der Oktoberrevolution die Macht, auchmit deutscher Hilfe. Bald darauf schlossder neugegründete Sowjetstaat mit demReich einen Frieden, der den DeutschenRuhe an der Ostfront und einen giganti-schen Einflussbereich in Osteuropa ein-brachte. Mission erfüllt – erst einmal je-denfalls.

Wilhelm träumte sogar von einer „ArtBündnis- oder Freundschaftsverhältnis“ –gemeinsam gegen den Westen, wie zweiJahrzehnte später Adolf Hitler und JosefStalin.

Dass sie einander eigentlich an den Gal-gen wünschten, vergaßen die beiden Ver-bündeten trotz aller Absprachen nie. Diescheinbar paradoxe Folge: Der vom Kaisergesponserte Lenin half deutschen Genos-sen bei der Vorbereitung einer eigenenRevolution gegen die Monarchie. Und Wil-helm II. wiederum unterstützte im russi-schen Bürgerkrieg nicht nur die Bolsche-wiki, sondern auch deren Gegner.

Heute ist das welthistorische Bündniszwischen Sichel und Krone fast vollständigvergessen, obwohl schon vor Jahrzehntenhervorragende Studien zu dem Thema er-schienen sind*.

Allerdings gibt es noch immer offeneFragen, insbesondere zum Ausmaß derdeutschen Unterstützung für die Bolsche-wiki. Denn im Auswärtigen Amt wurdenQuittungen für erfolgte Auszahlungen nachder Rechnungsprüfung vernichtet. Vieles

* Winfried B. Scharlau, Zbyn¥k A. Zeman: „Freibeuterder Revolution. Parvus – Helphand“. Verlag Wissenschaftund Politik, Köln 1964; 382 Seiten.

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Kämpfende Bolschewiki (in Petrograd 1917)Der Feind meines Feindes

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Subventionen für die RevolutionDas Deutsche Reich und die Bolschewiki

Schlacht bei Tannenberg:Bahnhof von Usdau nach Erstürmung

durch deutsche Truppen, August 1914

����������� Russland macht mobil. Am 1. Augusterklärt das Deutsche Reich Russland den Krieg. Mitdem Sieg bei Tannenberg am 30./31. August stopptdas deutsche Heer den russischen Vormarsch.

� ������������Alexander Helphand („Parvus“)präsentiert im Auswärtigen Amtseinen Plan, durch politischeMassenstreiks Russland zu revo-lutionieren. Die deutsche Regie-rung, die einen Sonderfriedenim Osten anstrebt, stellt ihmeine Million Mark zur Verfügung.

��������Das Reichsschatzamtbewilligt dem Auswär-tigen Amt zwei MillionenMark „für Propagandain Rußld.“ und zweiMillionen Mark „fürbesondere Presszwecke“.

� ��������� Helphandsucht Lenin in Bern auf.

�������������������Deutsche Truppen besetzenOstpolen, Litauen, Kurlandund westrussische Gebiete,die alle zum Zarenreich zählen.

�������� DasReichsschatzamt bewilligtdem Auswärtigen Amtweitere fünf MillionenMark für revolutionärePropaganda in Russland.

� �� ����������Der Zar lehnt zum wieder-holten Mal eine BerlinerFriedensofferte ab. Das

�������� Im Zarenreich häufensich Streiks und Demonstrationen.

�� ������!"�#����$Die letzte russische Großoffensiveunter General Alexej Brussilowscheitert; die Armee des Zarenverliert rund eine Million Mann.Unter dem Druck des Kriegesspitzt sich die Versorgungslagein Russland zu.

%������&�������'(23. bis 27. Februar nach der damalsin Russland gültigen Zeitrechnung)

Generalstreik und Demonstrationenin Petrograd. Als die Garnison der

politische Establishment Russlandsfürchtet eine deutsche Hegemoniein Europa.

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lässt sich nur auf dem Indizienwege bele-gen, und dafür muss an ungewöhnlichenOrten gesucht werden.

Der SPIEGEL hat das getan und ist beiRecherchen in mehr als einem DutzendArchiven in ganz Europa auf bislang un-bekanntes oder nicht ausgewertetes Ma-terial gestoßen: Analysen und Papiere der Sicherheitsbehörden Schwedens, derSchweiz und Großbritanniens, Unterlagender preußischen Polizei, Vermerke im Ar-chiv des Auswärtigen Amts und in russi-schen Archiven, Kontoauszüge SchweizerBanken.

Die dabei gefundenen Details ermögli-chen es, jene Schattenwelt weiter auszu-leuchten, in die sich die Diplomaten desKaiserreichs begaben, als sie auf die Revo-lutionierung Russlands setzten.

Alles begann mit dem Ausbruch des Ers-ten Weltkriegs im Sommer 1914. ObwohlKaiser Wilhelm II. und Zar Nikolai II. Vet-tern waren, gehörten ihre Reiche unter-schiedlichen Blöcken an: auf der einen Seite die Mittelmächte Österreich-Ungarnund das Deutsche Reich, auf der anderendie Entente aus französischer Republik,konstitutioneller britischer Monarchie und Russlands Autokratie – ein seltsamesBündnis, das nur die Sorge vor einer deut-schen Hegemonie in Europa zusammen-hielt.

Schon bald wurde deutlich, dass derWaffengang sich von allen bisherigen unterscheiden würde. Millionenheere prall-ten aufeinander, erstmals setzten die Ge-neräle die ganze Wucht der industriel-len Dynamik zum Töten von Menschenein – und damit fiel die klassische Tren-nung zwischen Front und Heimat. KeinWunder, dass die Strategen den Feindnicht nur in den Schützengräben zu be-siegen suchten, sondern auch von innenheraus schwächen wollten. Die Anwen-dung „jedes Mittels, das geeignet ist, denFeind zu schädigen“ sei Pflicht, notierteder Chef des deutschen Generalstabs Hel-muth von Moltke.

Das Reichsschatzamt, so nannte sich da-mals das Finanzministerium, stellte daherHunderte Millionen Mark zur Verfügung,um Marokkaner, Inder und andere Völkerder Kolonialreiche gegen Paris und Lon-don aufzuwiegeln, die ihrerseits im Habs-burger und im Osmanischen Reich Unruhestifteten.

Auch das rückständige Zarenreich botAnsatzpunkte für eine „Zersetzung desFeindlandes von innen“ (ReichskanzlerTheobald von Bethmann Hollweg). Immerwieder hatten vor dem Krieg Hungersnö-te die Bauern zu Revolten getrieben. Inden russischen Städten lebten die Men-schen unter erbärmlichen Bedingungen;die Einführung der 79-Stunden-Woche galtals Fortschritt. Schon 1905 hatte es deshalbeine Revolution gegeben, die der Zar blu-tig niederschlagen ließ.

Unter den über hundert Nationalitätenund ethnischen Gruppen des zaristischenVielvölkerreichs gärte es weiter. Polen,Ukrainer, Esten, Finnen und andere Min-derheiten träumten von eigenen Staaten,was den Deutschen nur recht war. WilhelmII. verfolgte die sogenannte Orangenscha-len-Strategie: Wie die Schale der Südfruchtvom Fruchtfleisch sollten die nichtrussi-schen Randgebiete von Kernrussland ge-trennt werden. Die dann neuentstehendenStaaten wollte der Kaiser unter deutscheKuratel stellen – ein Schritt auf dem Wegzur Weltmacht.

So ging ein Geldsegen auf die zahlrei-chen Polit-Abenteurer nieder, die sich nachKriegsausbruch bei deutschen Stellen mel-deten. Vermeintliche und tatsächliche Za-rengegner prahlten damit, sie könntenMeutereien in der russischen Schwarz-

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Monarchen Wilhelm II., Nikolai II. (1912), Ostfront (1917): Millionenheere prallten aufeinander,

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Alexander Kerenski, 1917���������' Das Reichs-schatzamt bewilligt erneut fünfMillionen Mark für „Propaganda-zwecke in Rußland“.

������$��������' Leninreist mit deutscher Hilfe aus demSchweizer Exil nach Petrograd.

�����������' Hunderttausende demonstrie-ren in Petrograd gegen die Provisorische Regierung;militante Bolschewiki versuchen einen Staatsstreich.Die Regierung lässt bolschewistische Führer ver-haften, Lenin versteckt sich in Finnland, das zumZarenreich zählt.

!"�#����' Ein allgemeiner Linksruck bringtden Bolschewiki im Petrograder und im MoskauerSowjet die Mehrheit.

&���!"�#����'Lenin, der inzwischen nach Petrograd zu-rückgekehrt ist, setzt im Zentralkomiteeder Bolschewiki die Entscheidung füreinen „bewaffneten Aufstand“ durch.

���(#)������'Das Revolutionäre Militärkomiteeunter Federführung Trotzkis über-nimmt den Oberbefehl über diePetrograder Garnison.

'�*%��(#)������'(25./26. Oktober)

„Oktoberrevolution“:Soldaten und Rote Gardenbesetzen strategischwichtige Punkte inPetrograd, die 13 Ministerder Provisorischen Re-gierung werden im Winter-palais verhaftet. Minister-präsident AlexanderKerenski war zuvor dieFlucht aus Petrograd

gelungen. Eine Regierung unter VorsitzLenins, die sich „Rat der Volkskom-missare“ nennt, übernimmt imAnschluss die Macht. In Moskauetabliert sich die Sowjetmachterst am 16. November nachblutigen Straßenkämpfen.

Hauptstadt auf die Seite derAufständischen wechselt, danktNikolai II. ab (15. März) und wirdinhaftiert („Februarrevolution“).Die Provisorische Regierung stelltbald die Einberufung einer Verfas-sunggebenden Versammlung inAussicht. Der Petrograder Sowjetder Arbeiter- und Soldatendepu-tierten formiert sich („Doppel-herrschaft“).

Dort fordert er die Beendigung des Krieges, denSturz der Provisorischen Regierung und die Macht-übernahme der Sowjets („Aprilthesen“).

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meerflotte anstiften, Aufstände etwa in derUkraine lostreten oder soziale Unruhenschüren.

Es war ein lukratives Geschäft auch fürmögliche Aufschneider. Für eine „allge-meine Revolution gegen Russland“ zahltedas Auswärtige Amt im September 1914 anzwei Männer von angeblich „großem Ein-fluss“ 50000 Mark in Gold. Weitere 2 Mil-lionen in bar sollten bei Eintreten des Auf-stands folgen – bis heute weiß niemand,wer die Gelder empfing. Später stiegen diePrämien sogar noch; da boten deutscheDiplomaten und Geheimdienstler Millio-nen für eine Rebellion allein in einem ein-zigen Gouvernement des Zarenreichs.

Denn es war eng geworden für WilhelmII. und Co.: Die Generäle Seiner Majestätwaren von einem Blitzsieg im Westen aus-gegangen, der ihnen den Zweifrontenkrieg

ersparen sollte. Als der Triumph gegenFrankreich ausblieb, versuchten der Kaiserund seine Minister den Zaren mit Unruhengefügig zu machen; ein Sturz der Monar-chie stand zunächst allerdings nicht aufdem Programm.

So ergab es sich auch eher zufällig, dassdie deutschen Revolutionsstrategen imHerbst 1914 auf den Berufsrevolutionär(und Rechtsanwalt) Lenin aufmerksamwurden. Der kleingewachsene Mann mitdem rötlichen Haarkranz hatte seit derJahrhundertwende überwiegend im west-lichen Exil gelebt; bei Kriegsbeginn war er aus Österreich in die neutrale Schweiznach Bern übergesiedelt.

Lenin, ein belesener undscharfzüngiger Marxist,stand damals an der Spitzeeiner linksradikalen Split-

tergruppe, die sich – ihrer tatsächlichenGröße zum Trotz – Bolschewiki (Mehr-heitler) nannte.

Im russischen Parlament verfügten die-se über gerade einmal eine Handvoll Ab-geordnete, was Lenin allerdings nicht stör-te. Er wollte nicht durch Wahlen, sonderndurch eine Revolution an die Macht ge-langen.

Dass er diesem Ziel alles unterordnete,machte ihn für die Deutschen attraktiv. Vorallem aber hatte sich Lenin im Gegensatzzu vielen anderen Sozialisten nicht vomnationalen Taumel anstecken lassen, derim Sommer 1914 überall die Menschenerfasste. Er trommelte vielmehr für die

Niederlage des Romanow-Zaren. Nach einem SturzNikolais II. würde dieWeltrevolution (und drun-

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Titel

die klassische Trennung zwischen Front und Heimat fiel zum ersten Mal

Page 6: Wladimir Iljitsch Lenin - Der Revolutionär

ter wollte er es nicht machen) gleichsamautomatisch in Gang gesetzt.

Der Hinweis auf Lenin kam von Alex-ander Kesküla, einem ehemaligen Bol-schewiken aus Estland und einer der vielenGestalten in der Grauzone zwischen revo-lutionären Russen und den Deutschen.Kesküla bot sich der deutschen Gesandt-schaft in Bern als Propagandist für die Sa-che des Kaisers an. Er hoffte, die Deut-schen würden sich für einen Anschluss desrussisch beherrschten Estlands an Schwe-den einsetzen.

Kesküla schwankte allerdings in seinemUrteil über Lenin. Mal beklagte er, diesertue zu wenig für die Revolution im Zaren-reich. Dann wieder trommelte er dafür,„der Leninschen Richtung in Russland un-verzüglich beizuspringen“, und schwärm-te den deutschen Diplomaten vor, der Bol-schewik genieße unter Revolutionären inPetrograd und Moskau „das größte Anse-hen“. Er sei „gewissenlos“ und verfügeüber „brutalste und rücksichtsloseste Ener-gie“.

Später, als Kesküla begriffen hatte, dassdie Deutschen eigene Interessen im Balti-kum verfolgten, wechselte er auf die Seiteder Entente und warnte diese vor Lenin –mit den gleichen Argumenten, wie aus bis-lang unbekannten britischen Akten her-vorgeht.

Für seine Dienste erhielt Kesküla insge-samt 250000 Mark, nur ein kleiner Teil da-von landete nachweislich bei den Bolsche-wiki.

Dass Berlin Kesküla nicht in großem Sti-le einsetzte, um Lenin zu unterstützen,hatte einen einfachen Grund, wie deutscheDokumente zeigen. Kesküla war trotz sei-ner bolschewistischen Vergangenheit eintheoretischer Kopf. Für die Logistik derRevolution brauchten die Deutschen hin-gegen Experten anderen Kalibers. Und imJanuar 1915 stellte sich ihnen ein solcherzur Verfügung: Alexander Helphand, ei-ner der bedeutendsten politischen Aben-teurer des 20. Jahrhunderts.

Der Mann mit dem mächtigen Kopf undder „Statur eines Michelangelo-Sklaven mitetwas zu kurzen Beinen“ (Biograf WinfriedScharlau) lebte bei Kriegsbeginn als wohl-habender Geschäftsmann inKonstantinopel, offenbar reichgeworden durch die Hilfe, dieer dem maroden OsmanischenReich bei der Kriegsvorberei-tung geleistet hatte. Der Sultanwar im November 1914 an derSeite der Mittelmächte in denKrieg eingetreten.

Helphands Vergangenheitsprach für die revolutionärenQualitäten des Salonsozialis-ten. Schon als Jugendlicherhatte sich der 1867 bei Minskgeborene Jude dem Sturz desdamaligen Zaren verschrieben,weil dessen Regime Menschen

mosaischen Glaubens unterdrückte. ZumMarxismus fand Helphand in der Schweiz,wo er wie viele andere oppositionelle Rus-sen seiner Generation studierte. 1891 sie-delte er nach Deutschland über undschloss sich der SPD an, die damals welt-weit von Sozialisten für ihre politischenErfolge bewundert wurde – Lingua francaunter Revolutionären vieler Länder warDeutsch.

Schnell erregte Helphand Aufmerksam-keit mit radikalen und wortgewaltigen Ar-tikeln, die ihm den Ruf einbrachten, erkönne ein zweiter Karl Marx werden. Inironischer Anspielung auf seine beträcht-liche Leibesfülle wurde er „Parvus“ („derKleine“) gerufen.

Die politisch motivierten Nachstellun-gen der deutschen Polizei zwangen Hel-phand bald zu einem Vagabundenleben;aus mehreren Bundesstaaten wurde er aus-gewiesen, wie auch bislang unbekannteUnterlagen der preußischen Polizei im Ber-liner Landesarchiv belegen.

In München traf er Anfang des Jahr-hunderts das erste Mal den drei Jahre jün-geren Lenin; dieser lernte in HelphandsWohnung Rosa Luxemburg kennen, eineStudienfreundin Helphands. In der Woh-nung stand zeitweise auch die Drucker-presse für die Parteizeitung, die Lenin her-ausgab.

Allerdings blieb dessen Vision einerstraff organisierten Kaderpartei aus Be-

rufsrevolutionären, die alleinüber die ideologische Deu-tungshoheit verfügen sollten,Helphand zeitlebens fremd. Ertat sich lieber mit Leo Bron-stein, Kampfname Trotzki, ausder Nähe von Cherson in derheutigen Ukraine, zusammen,dem genialen Organisator undspäteren Vater des Sieges derBolschewiki im russischen Bür-gerkrieg. Trotzki lernte vonHelphand, dass die Machter-oberung des Proletariats kein„astronomisches Endziel“, son-dern „eine praktische Aufgabeunserer Zeit“ sei.

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Marxisten Helphand, Trotzki (1905): „Revolutionäre Energie des Proletariats“

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Deutsche Botschaft in Konstantinopel: Politische Abenteuer

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Als 1905 in Russland die Revolution aus-brach, eilten beide in die alte Heimat;Trotzki setzte sich an die Spitze des Pe-tersburger Sowjets, Helphand übernahmeinen Teil der Presse. Er wollte „dem re-volutionären Proletariat in Russland Bahnbrechen, um die revolutionäre Energie desProletariats im Westen zu stärken“. Da-mals gab es im ganzen riesengroßen Russ-land allerdings nur gut zwei Millionen In-dustriearbeiter.

Ein Foto zeigt Helphand und Trotzki imGefängnis der Peter-und-Paul-Festung inSt. Petersburg, wo sie nach der Nieder-schlagung des Aufstands einsaßen.

Helphand wurde nach Sibirien verbannt,konnte jedoch fliehen und tauchte im Win-ter 1906/07 wieder in Deutschland auf.

In der SPD hatte Helphand nie vieleFreunde. Die deutschen Genossen störtensich an seinen radikalen Ansichten, seinerSchwäche für Frauen und seiner Rück-sichtslosigkeit gegenüber den eigenen Kin-dern, denen er die Alimente vorenthielt.Als er sich auch noch einem Parteiverfah-ren stellen musste, weil der SchriftstellerMaxim Gorki ihm vorwarf, Tantiemen un-terschlagen zu haben, verließ Helphanddas Reich und ging nach Konstantinopel.Dort wolle er wohl „die Polygamie an bes-ter Quelle studieren“, spotteten die Ge-nossen.

Helphands Hass auf das Zarenreich musswährend der Jahre am Bosporus über-

mächtig geworden sein, denn obwohl er inDeutschland weiterhin Persona non gratawar, stand er bei Kriegsbeginn 1914 auf Sei-ten der Mittelmächte. Dem deutschen Bot-schafter in Konstantinopel schlug Helphandein Zweckbündnis vor: „Die Interessen derdeutschen Regierung sind mit denen derrussischen Revolutionäre identisch.“ DerDiplomat verschaffte Helphand ein Entreebeim Auswärtigen Amt in Berlin.

Über den Ablauf der Gespräche dortEnde Februar 1915 ist nichts bekannt, wohlaber liegt der 23-seitige Plan zum Sturz

des Zaren durch Massenstreiks vor, dender Revolutionsexperte in der Wilhelm-straße präsentierte.

Er hatte an ziemlich alles gedacht: dieAgitation unter den Arbeitern in den In-dustrieregionen, die Verbindungen zu po-tentiellen Streikkomitees, das Aufwiegelnnationaler Minderheiten. Er wollte wichti-ge Brücken sprengen und die Ölquellenbei Baku in Brand setzen, politische Ge-fangene in Sibirien befreien, Flugblätterund Broschüren im Ausland drucken lassenund deren Transport nach Russland orga-nisieren. Helphand verlangte sogar „ver-

ständliche Anweisung(en) über die Hand-habung“ von Sprengstoff.

Das Papier endete mit einer Liste derwichtigsten Aufgaben; an erster Stellestand: „Finanzielle Unterstützung der so-zialdemokratischen russischen Majoritäts-fraktion (das sind die Bolschewiki –Red.)… Die Führer sind in der Schweiz aufzu-suchen.“

Den eher vorsichtigen Außenstaatssekre-tär Gottlieb von Jagow und seine Expertenmuss der Plan sofort überzeugt haben,denn nur wenige Wochen später erhieltHelphand den von ihm verlangten Spreng-stoff, einen deutschen Polizeipass, der ihmdas Reisen erleichterte, und reichlich Geld:eine Million Mark.

Es müssen noch weitere Beträge gewe-sen sein, in einem bislang unbekanntenhandschriftlichen Vermerk aus dem Aus-wärtigen Amt vom Jahresende 1915 istnämlich von mehreren „Zahlungen“ anHelphand die Rede. Dazu passt, dass dasReichsschatzamt im Frühjahr und Sommer1915 Millionenbeträge für die Revolutio-nierung Russlands dem Auswärtigen Amtbewilligte.

Der Geldtransfer – mal bar, mal perÜberweisung – lief über ein Büro in derBerliner Wilhelmstraße, eine Art Zentral-stelle für inoffizielle Mitarbeiter des Aus-wärtigen Amts. Der Generalstab hatte esfür Geheimdienstoperationen gegründet,die „auf privatem Wege, aber mit Unter-

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Helphand erhielt Sprengstoff,einen deutschen

Polizeipass und reichlich Geld.

Russische Revolutionäre (im Februar 1917 in Petrograd): „Auf dem besten Weg zur Demokratie“

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stützung aller zuständigen Behörden“durchgeführt werden sollten.

Dabei scheint niemand in der Regie-rungszentrale auf die Idee gekommen zusein, dass ein Sturz des Zaren auch Rück-wirkungen auf die deutsche Monarchie ha-ben könnte, deren Demokratisierung über-fällig war. Wenn man erst siegreich ausdem Weltkrieg hervorgegangen sei, no-tierte vielmehr der Gesandte in Kopenha-gen, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau,mit Blick auf die Arbeiterschaft, könneman auch solche „Elemente zur Mitarbeitheranziehen und um den Thron scharen“,die bislang abseitsgestanden hätten. Leninals Reformersatz.

Brockdorff-Rantzau, aus altem Adel undnie ohne Siegelring, brachte es später inder Weimarer Republik sogar noch zumAußenminister.

Ende Mai 1915 traf Helphand in Bernein, um – wie angekündigt – mit Lenin zusprechen. Er erschien in einem der russi-schen Restaurants der Stadt, in dem auchder Bolschewik verkehrte, und ließ sich andessen Tisch führen. Gemeinsam gingensie dann in Lenins Wohnung. Beide be-richteten hinterher von dem Vieraugen-gespräch, dass sie sich nicht hätten einigenkönnen.

Helphand behauptete, er habe Lenin ge-drängt, die Revolution in Russland voran-zutreiben, doch der Bolschewik „träumtevon der Herausgabe einer kommunisti-schen Zeitschrift, mit der er unverzüglichdas europäische Proletariat aus den Schüt-zengräben heraus und in die Revolutionhineintreiben zu können glaubte“.

Lenin hingegen will den Besucher alsdeutschen Sozialchauvinisten beschimpftund ihn „mit dem Schwanz zwischen denBeinen“ die Tür gewiesen haben.

Aber stimmt das auch?Der Bolschewik hatte Grund, eine Ver-

bindung mit Helphand abzustreiten. Diesergalt unter Genossen als Spekulant und Be-trüger; Rosa Luxemburg hatte ihm bereitsdie Freundschaft gekündigt, Trotzki eben-falls. Es waberten Gerüchte, er sei deut-scher Agent, und den Verdacht, für diedeutsche Seite zu arbeiten, konnte sichkein russischer Politiker leisten.

Einige Indizien sprechen immerhin fürLenins Version. Dieser lebte nach demTreffen weiterhin in bescheidenen Ver-hältnissen; Geldmangel war ein ständigesThema seiner Briefe. Und Helphand wie-derum erklärte seinen deutschen Auftrag-gebern, eine Unterstützung Lenins sei erstmöglich, wenn zwischen ihnen „die beste-hende Spannung sich ausgeglichen hat“.

Einen Teil der Gelder aus dem Auswär-tigen Amt hat Helphand denn auch allerWahrscheinlichkeit nach in Wertpapierenangelegt, statt sie für die Revolution aus-zugeben – diesen Rückschluss lassen Kon-

tounterlagen im Schweizerischen Bundes-archiv in Bern zu. Die Schweizer Polizeihatte sie 1919 beschlagnahmt.

Andererseits zeigen diese Belege, dasses durchaus Bolschewiki gab, die von Hel-phand Geld nahmen, allerdings nur einigetausend Schweizer Franken. Auch schriebim Rückblick Walter Nicolai, der deutscheGeheimdienstchef, Lenin habe „meinemNachrichtendienst wertvolle Nachrichtenüber die Zustände im … zaristischen Russ-land geliefert“.

Vor allem spricht das Netzwerk, das Hel-phand nach dem Gespräch mit Lenin auf-

zog, gegen die These von der bolsche-wistischen Unschuld. Denn an den Kno-tenpunkten finden sich immer wiederführende Revolutionäre der Lenin-Partei.Moissej Urizki etwa, nach der Okto-berrevolution Chef der Petrograder Ge-heimpolizei (Tscheka), arbeitete für Hel-phand; auch Jakob Fürstenberg, einer der engsten Vertrauten Lenins und nachder Oktoberrevolution Leiter der so-wjetischen Nationalbank, oder der diskre-te Anwalt Mieczyslaw Koslowski, der dieTscheka mitbegründete. Man kannte sichund Parvus aus der Exilzeit, war unter-einander oft verwandt, was die Bereitschaftzu Loyalität und Verschwiegenheit nochverstärkte.

Als Stützpunkt wählte Helphand Ko-penhagen, operierte aber auch von Stock-holm aus, denn Dänemark wie Schwedenblieben während des Ersten Weltkriegsneutral, und Schweden hatte damals nocheine gemeinsame Grenze mit Russland.Von hier aus ließ sich die Revolution leich-ter vorantreiben.

Schon im August 1915 schwärmte einMitarbeiter des Auswärtigen Amts von der„genialen Weise“, in der Helphand seineAufgabe anging. In Absprache mit den Di-plomaten gründete er ein Exportunter-nehmen, das sich den Zusammenbruch desOsthandels infolge des Kriegs zunutze ma-chen sollte: die „Handels- og Exportkom-paniet A/S“. Helphands Teilhaber wur-de ein Berliner Kaufmann, der im Sold des deutschen Nachrichtendienstes stand;und Lenins Vertrauter Fürstenberg, einpolyglotter Finanzakrobat von hoher Ver-schwiegenheit, übernahm die Geschäfts-führung.

Für die deutschen Revolutionsexpertenwar das kein ungewöhnliches Arrange-ment. Sie verbargen häufig Parteispendenhinter kommerziellen Aktivitäten. Einemanderen Genossen kaufte man das Patentfür einen Sterilisierungsapparat ab, damiter seinen plötzlichen Wohlstand erklärenkonnte, den er für die Sache des Sozialis-mus einsetzte.

Höchste Erwartungen waren mit Hel-phands Unternehmungen verbunden, wiein Kopenhagen der Gesandte Brockdorff-Rantzau notierte: „Der Sieg und als Preisder erste Platz in der Welt ist unser, wennes gelingt, Russland rechtzeitig zu revolu-tionieren und dadurch die Koalition zusprengen.“ Nun setzte Berlin nicht mehrnur darauf, den Zaren durch Unruhen un-ter Druck zu setzen, sondern nahm auchdessen Sturz in Kauf.

Helphand knüpfte Verbindungen in dieUSA, die Niederlande, nach Großbritan-nien und natürlich Russland. Teils legal,teils mit Hilfe falscher Deklarierungen unddurch Schmuggel im- und exportierte erins oder aus dem Zarenreich Buntmetalleund Chemikalien, gebrauchte Autos undFischereifahrzeuge, Medikamente, Kon-dome, Kognak, Kaviar, Bleistifte, Getreide,Walöl und vieles mehr.

Und überall stößt man auf Bolschewi-ki: Das Unternehmen, welches die Warenjenseits der russischen Grenze auf demSchwarzmarkt verkaufte, beschäftigte alsJustitiar den Rechtsanwalt Koslowski. DieBuchhalterin, welche die Erlöse nach Ko-penhagen beziehungsweise Stockholm trans-ferierte, war mit Fürstenberg verwandt. Inden Bankhäusern, über welche die finan-ziellen Transaktionen liefen, saßen in ho-hen Positionen Bolschewiki.

Kaum anzunehmen, dass Lenin diesesNetzwerk nicht genutzt hat, um Geld nachPetrograd bringen zu lassen oder auch ei-nen Teil der in Russland erzielten Erlöse indie Parteikasse zu lenken. Bezeichnen-derweise fand sich später die Firmen-adresse des Helphandschen Unternehmensin Lenins schmalem Adressbuch. Und Ge-schäftsführer Fürstenberg, das geht ausschwedischen Ermittlungsakten hervor,reiste regelmäßig nach Russland.

Sicher ist: Für die Revolutionsarbeitbrauchten die Bolschewiki Geld. Wie eine

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„Der Sieg ist unser, wenn es gelingt, Russland

rechtzeitig zu revolutionieren.“

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Russland-Akten des Auswärtigen AmtsGeheimes Büro in Berlin F

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hässliche Narbe zog sich damals die Ost-front vom Baltikum quer durch Europa bisans Mittelmeer. Gut 1000 Kilometer muss-ten die Revolutionäre von Stockholm nachNorden fahren, bis nach Haparanda, ei-nem kleinen Ort an der schwedisch-russi-schen Grenze, nahe am Polarkreis.

Das heute langweilige Nest war wäh-rend des Ersten Weltkriegs ein Dorado fürSchmuggler und Agenten, der einzig offe-ne Verbindungsweg Russlands in den Wes-ten und Hauptumschlagsplatz für Warenund Nachrichten.

Eine gutbewachte, nur tagsüber frei-gegebene Holzbrücke für Fußgänger führ-te über den zeitweise reißenden Grenz-fluss Torneälv, den auch Fährschiffe über-querten. Die russischen Beamten musstengeschmiert, mit falschen Papieren über-listet oder auf andere Weise geleimt wer-den. Briefe Lenins wurden in eigens präpa-rierten Schuhen oder im Korsett versteckt.Größere Mengen Propagandaliteratur ver-trauten die Bolschewiki einem Schuhma-cher in Haparanda an, der gemeinsam miteinheimischen Genossen die Bücher undZeitschriften durch das Flussdelta schmug-gelte. Im Winter brachten Schlitten die re-volutionäre Fracht über das Eis. „Ich brin-ge Grüße von Olga“ lautete das Kennwortunter Eingeweihten.

Jenseits der Grenze führte die Routedann weitere 1000 Kilometer durch das rus-sische Großfürstentum Finnland RichtungSüden nach Petrograd.

Später verklärte die sowjetische Propa-ganda die Bolschewiki zu Superrevolutio-nären, was kalte Krieger im Westen gernglaubten. Doch ideologisch unverdächtigeBeobachter berichteten von Korruptionunter den Genossen. Lieferungen mitFlugblättern und Büchern gingen verloren;einer der Kuriere nahm auf eigene Faustalles heraus, was er für militärische Ge-heimnisse hielt, um unbedarfte Partei-freunde auf der finnisch-russischen Seitenicht zu gefährden.

Auch zeigte sich die zaristische Ge-heimpolizei erstaunlich gut informiert, wieaus Dokumenten hervorgeht, die von derPublizistin Elisabeth Heresch in Moskauentdeckt wurden**. Unter Historikern istdaher umstritten, in welchem Ausmaßdeutsche Zahlungen an die Bolschewikidas Zarenreich destabilisierten.

Selbst Helphand erlitt Rückschläge. Derdicke Großkaufmann, mittlerweile Endevierzig und schon etwas kurzatmig, hatteseinen Geldgebern angekündigt, im Janu-ar 1916 werde der Sturm losbrechen, denndann jährte sich der Ausbruch der Revolu-tion von 1905. Seine revolutionäre Organi-

* „Habe am 29. Dezember 1915 eine Million Rubel in (…)Banknoten zur Förderung der revolutionären Bewegung inRussland von der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagenerhalten. Dr. A. Helphand“.** Elisabeth Heresch: „Geheimakte Parvus. Die gekaufteRevolution“. Langen Müller Verlag, München; 400 Seiten;24,90 Euro.

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Bahnhof in Haparanda (Schweden): Schmuggel an der Grenze

Gesinnungsfreunde Helphand, Luxemburg (1903), Fürstenberg: Revolutionäres Netzwerk

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sation sei in der Lage, in Petrograd „binnen24 Stunden mindestens 100000 Arbeiter“mobilzumachen. Für eine komplette Re-volution veranschlagte er 20 Millionen Ru-bel (umgerechnet etwa 134 Millionen Euro)und ließ sich zunächst einmal von Feldjä-gern eine Million in bar nach Kopenhagenbringen. Doch das Datum verstrich, unddie große Rebellion blieb aus.

Andererseits fällt auf, dass manchePunkte aus Helphands großem Plan Wirk-lichkeit wurden: Er hatte vorgeschlagen,mit Sabotagekommandos den Nachschubder Alliierten für Russland zu unterbin-den. In der Tat flogen in ArchangelskSchiffe in die Luft, und es kam zu Brän-den im Hafen. Die Ermittlungsbehördenglaubten, deutsche Agenten stünden hinterder Tat.

Zudem hatte Helphand politische Streiksin den Putilow-Fabriken in Petrograd undArbeitsniederlegungen in Nikolajew inAussicht gestellt; das Geld der Deutschensollte hier und anderswo in die Streikkas-se fließen. Und tatsächlich: In beiden Or-ten gingen Arbeiter auf die Straße. Auchhier vermuteten Beamte des Zaren deut-sche Hintermänner. Die Auszahlung vonStreikgeldern über Wochen hinweg könn-te auch erklären, wo ein Teil der Millionengeblieben sind, die Helphand kassierte.

Als der Zar abgedankt hatte, nach derFebruarrevolution 1917, lobte der Gesand-te Brockdorff-Rantzau, Helphand habe„als einer der Ersten für den Erfolg gear-beitet, der jetzt erzielt ist“.

Den bedeutendsten deutschen Beitragzum Ende Nikolais II. lieferten allerdingsnicht Agenten, sondern die Militärs. ImHerbst 1916 stand das deutsche Heer tiefauf dem Territorium des Zarenreichs. Hun-derttausende russische Soldaten waren ge-

fallen. Und unter dem andauernden Druckdes Kriegs brach die russische Wirtschaftzusammen.

Ende 1916 mussten Betriebe die Pro-duktion einstellen, weil es an Roh- undBrennstoffen mangelte. Auf dem Landfehlte es an Bauern und Pferden. In Petro-grad und Moskau wurden die Mehlvorräteknapp.

Zunächst demonstrierten die Arbeiter;am 8. März 1917 – dem InternationalenFrauentag – schlossen sich in PetrogradTausende Frauen an, die vor Lebensmit-

telläden Schlange standen. Das war, so derHistoriker Heiko Haumann, „der Durch-bruch zur Revolution“*. Einem Steppen-brand gleich griff der Protest auf das ganzeReich über. Der völlig überforderte Zarmusste den Thron aufgeben.

An die Stelle der Romanows trat dieDoppelherrschaft; mit der gemäßigt kon-servativen Provisorischen Regierung, wel-che über den Staatsapparat verfügte, unddem linken Petrograder Rat (= Sowjet) derArbeiter und Soldatendeputierten. In ihmspielten die Bolschewiki zunächst nur eineNebenrolle.

Die neuen Machthaber etablierten dasliberalste Regime, das Russland bis dahingehabt hatte: mit Koalitions-, Versamm-lungs-, Pressefreiheit. Das Reich befandsich „auf dem besten Wege zu einer de-mokratischen Regierungsform“, urteilt derHistoriker Manfred Hildermeier. DenKrieg allerdings wollte man nicht beenden,solange der Preis dafür die deutsche He-gemonie in Osteuropa war.

Für Lenin kam die ganze Entwicklungüberraschend. Anfang 1917 hatte der 46-Jährige noch erklärt, seine Generationwerde vermutlich die Revolution nichtmehr erleben. Nun – nach dem Sturz desZaren – saß er in der Schweiz fest, „einge-pfropft wie in einer Flasche“ (Helphand).

Eine Rückkehr über Frankreich oderEngland blieb ausgeschlossen; die Entente-Mächte hatten kein Interesse daran, aus-gerechnet Lenin nach Russland zu lassen,der ein sofortiges Ausscheiden seines Lan-des aus dem Krieg verlangte. Davon abge-sehen fürchteten Lenin und Genossen, beieiner Fahrt über Nord- und Ostsee verse-hentlich von deutschen U-Booten torpe-diert zu werden.

Mal erwog Lenin, sich als taubstummerSchwede auszugeben und inkognito durchDeutschland zu reisen, mal mit einemFlugzeug heimlich über die Ostfront zufliegen. Am Ende schloss er sich dem Vor-schlag anderer linker Emigranten aus Russ-land und Polen an, die für die Fahrt mit derEisenbahn durch Deutschland und Skan-dinavien plädierten. Ein riskantes Unter-fangen, denn dieser Schritt konnte nur mitZustimmung der kaiserlichen Behörden er-folgen, und Lenin und die anderen fürch-teten, sich zu kompromittieren.

Einige wollten daher warten, bis die Pro-visorische Regierung in Petrograd zu-stimmte. Lenin nicht. Er bat den SchweizerSozialisten Fritz Platten, mit ihm zu reisenund vorher dem deutschen Gesandten inBern seine Bedingungen zu übergeben.Die wichtigsten Punkte lauteten: • „mit deutschen Organen verkehrt aus-

schließlich Platten, ohne dessen Erlaub-nis keine einzige Persönlichkeit dendauernd geschlossenen Wagen betretendarf“;

* Heiko Haumann (Hg.): „Die Russische Revolution 1917“.Böhlau Verlag, Köln; 182 Seiten; 12,90 Euro.

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Lenin erwog, sich als taub-stummer Schwede auszugeben

und inkognito zu reisen.

Geheimakte, Diplomaten Brockdorff-Rantzau, Kühlmann: „Rege Agitation“

Page 11: Wladimir Iljitsch Lenin - Der Revolutionär

• „dem Wagen wird das Recht der Exter-ritorialität zuerkannt“;

• „für die Fahrenden löst Platten nach dennormalen Tarifen die Fahrkarten“. So konnte Lenin behaupten, mit keinem

Deutschen gesprochen und die Reise auseigener Tasche finanziert zu haben.

In der Berliner Führung erhob niemandEinwände, nicht Reichskanzler BethmannHollweg und auch nicht Paul von Hin-denburg, Chef der Obersten Heereslei-tung, dessen Zustimmung das Auswärti-ge Amt schon aus logistischen Gründenbenötigte.

Es war bekannt, dass die Westmächteihrerseits mit Millionen jene politischenParteien stärkten, die den Krieg fortsetzenwollten. Hindenburgs Generalmajor MaxHoffmann schrieb später: „Ebenso wie ichGranaten gegen den feindlichen Schützen-graben schieße, wie ich Giftgas gegen ihnabblase, habe ich als Feind das Recht, dieMittel der Propaganda gegen seine Besat-zung anzuwenden.“

Und Wilhelm II.? Er erfuhr von der Rei-se aus der Presse und regte – wie stetsegozentrisch und naiv – sogleich an, denRevolutionären eine seiner Reden und an-deres Propagandamaterial mitzugeben –„damit sie in ihrer Heimat aufklärend wir-ken“. Dazu kam es nicht.

Mit 31 Personen machte sich Lenin amEnde auf den Weg, darunter auch mehre-re Mitglieder anderer linker Splittergrup-pen und Familienangehörige.

Eigentlich sollte die Abfahrt ohne Auf-sehen erfolgen, aber auf dem ZürcherBahnhof ging es dann munter zu, wie derdeutsche Militärattaché beobachtete. Etwahundert Russen hatten sich versammelt, dieeinen „schimpften wie die Rohrspatzen, siebrüllten, die Reisenden seien alle deutscheSpitzel und Provokateure, oder ,man wirdeuch alle aufhängen, ihr Judenhetzer‘“. Einjunger Russe tat sich besonders hervor undrief immer wieder „Provokateure, Lum-pen, Schweine“. Als der Zug ausfuhr, san-

gen jedoch die Parteifreunde Lenins aufdem Bahnsteig die „Internationale“.

Über Berlin führte der Weg dann nachSassnitz auf Rügen, wo die Fähre nachTrelleborg, der schwedischen Hafenstadt,ablegte. Zwei Tage dauerte die Reise biszur Ostsee-Insel.

Später hieß es, der wohl berühmteste Zugder Weltgeschichte sei plombiert gewesen,was Winston Churchill spotten ließ, Leninwäre „wie ein Pest-Bazillus“ transportiertworden. Doch das stimmt nicht. Wohl wa-ren drei Türen des Waggons plombiert, aberdie vierte nutzten Platten und die beidenbegleitenden deutschen Offiziere, um Milchfür die Kinder entgegenzunehmen oder Zei-tungen zu kaufen. Ein Kreidestrich auf demBoden markierte die Trennung zwischen

den „exterritorialen“ Abteilen der Russenund denen der Deutschen.

Die Reisenden vertrieben sich die Lan-geweile mit dem Absingen französischerRevolutionslieder, was Platten schließlichuntersagte, weil er Ärger mit den Deut-schen fürchtete. Lenin übte sich derweil inder Planwirtschaft. Da die Raucher unterden Reisenden immer wieder die Toiletteblockierten, schnitt er Bezugskarten zu.Nur mit einer Raucherkarte durfte man imKabuff qualmen.

Bereits Fritz Fischer wies 1961 in seinemKlassiker „Griff nach der Weltmacht“ dar-auf hin, dass die Deutschen einen Friedenauch mit der Provisorischen Regierung hät-ten schließen können. Schon aus wohler-wogenem Eigeninteresse: Der Kriegsein-

tritt der USA stand unmittelbar be-vor; ein Frieden an der Ostfrontwurde sofort gebraucht. Und zwarein Frieden, den man nicht nochmilitärisch sichern musste, weil erden Deutschen fast ganz Osteuro-pa zusprach. Für einen solchenFrieden – ohne Annexionen – hät-te die deutsche Führung allerdingsden Traum von der Weltmachtaufgeben müssen, und dazu warsie nicht bereit. Stattdessen wähl-te Berlin weiterhin den bequemenWeg: das Bündnis mit dem Feinddes Feindes.

Jakob Fürstenberg – der Ge-schäftspartner Helphands und Ver-traute Lenins – nahm die Gruppein Trelleborg in Empfang. Nach ei-nigen Tagen in Stockholm ging dieReise mit der Bahn über denGrenzort Haparanda nach Russ-land; entgegen allen Befürchtun-gen ließ die Provisorische Re-gierung das zu. Am Abend des 16. April gegen 23 Uhr traf Leninin Petrograd ein.

Der Petrograder Arbeiter- undSoldatenrat und Lenins Partei-

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russisch-finnische

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russisch-finnische

Verwaltungs-grenze

Haparanda

Front-verlaufEnde1917

MittelmächteRussland und VerbündeteNeutrale Staaten

Blöcke bei Kriegsbeginn:

LeninsHeimkehrDie Rückkehraus dem Exil

Reisender Lenin (im April 1917 in Stockholm), Helfer Platten (1919): „Recht der Exterritorialität“

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freunde bereiteten ihm einen großen Emp-fang: rote Fahnen, Musikkapellen, ein Spa-lier aus Arbeitern und Soldaten auf demgeschmückten Bahnsteig.

Während der Reise hatte Lenin aus derParteizeitung „Prawda“ erfahren, dass diePetrograder Bolschewiki den Krieg fort-setzen und die Provisorische Regierungstützen wollten, weil sie Russland nochnicht reif für den Sozialismus hielten.

Noch in der gleichen Nacht verkündeteLenin einen neuen Kurs: Die Verteidigungdes Vaterlands sei „kleinbürgerlich“ undein „Betrug der Bourgeoisie an den Mas-sen“. Nein zum Krieg, nein zur Provisori-schen Regierung, Fortsetzung der Revolu-tion. War in Russland erst die Diktatur desProletariats errichtet, so glaubte Lenin,würde die Weltrevolution folgen. EinenMonat später hatte er seine Partei auf Kursgebracht.

Für Helphand muss der Richtungswech-sel ein später Triumph gewesen sein, dennmit der Forderung, die Macht sofort „indie Hände des Proletariats“ zu legen, über-nahm Lenin eine Position, die Helphandeinst Trotzki nahegebracht hatte.

Aus deutscher Sicht erwies sich derTransfer Lenins als die wohl wichtigste Re-volutionsmaßnahme. Sie allein rechtfertigtdie These, dass die Bolschewiki ohne deut-sche Hilfe nicht im Herbst 1917 an dieMacht gelangt wären. Denn der Parteifüh-rer begriff schneller als alle Rivalen, dasssich die Auflösung der russischen Gesell-schaft nicht stoppen ließ, wenn man die

* Truppen der Provisorischen Regierung schießen im Juli1917 auf Bolschewiki.

großen Fragen hinausschob: die Bodenre-form, die Regelung der Nationalitätpro-blematik, die Friedensfrage.

Anzeichen von Anarchie waren bereitsunübersehbar. In Depeschen des Auswär-tigen Amts häuften sich Berichte über er-schlagene Gutsbesitzer und grausige Fällevon Lynchjustiz. Anfang Juli notiertendeutsche Diplomaten in Stockholm, wassie über die Lage in Petrograd erfahrenhatten: „Die Geschäfte sind in sehr schlim-mer Verfassung, und die Stadt steht vordem Bankrott. Die Lebensmittelverhält-nisse haben sich immer mehr verschlech-tert, die Ansammlungen vor den Lädenwerden immer größer.“

Die Brotration betrug 200 Gramm proTag; gleichzeitig brach die Industriepro-duktion ein, und die Preise explodierten.

An der Front nahmen die Soldaten, meistBauern, ihr Schicksal selbst in die Hand.Zermürbt vom Hunger und dem Graben-krieg desertierten Hunderttausende, oftgelockt von der Nachricht, dass in der Hei-mat das Land aufgeteilt werde.

Die Berliner Regierung registrierte er-freut, dass Lenins Forderungen nach Frie-den und Landverteilung großen Zulauffanden. „Lenins Propaganda ist von derArt, welche sich bei der großen Masse amwirkungsvollsten erweist“, heißt es in ei-nem Lagebericht vom 5. Juli 1917. Einige

Tage später notierte der Gesandte in Stock-holm, aus Russland eingehenden Berichtenzufolge sei „die Zeit nicht mehr fern, wodie Lenin-Gruppe ans Ruder kommt unddamit der Friede … da wäre“.

Es verwundert nicht, dass Kanzler Beth-mann Hollweg und GeneralfeldmarschallHindenburg den Auflösungsprozess nachKräften unterstützten. Sie ließen weitereZüge aus der Schweiz mit Hunderten Re-volutionären passieren und kurbelten diePropaganda an, wie aus den deutschen Ak-ten hervorgeht. Das Reichsschatzamt hat-te noch kurz vor Lenins Rückkehr weiterefünf Millionen Mark dem AuswärtigenAmt bewilligt.

Außenstaatssekretär Richard von Kühl-mann notierte später, die Mittel seien „aufverschiedenen Kanälen“ den Bolschewikizugegangen. Das Netzwerk von Helphandwar mit großer Wahrscheinlichkeit einerdavon. Helphands Geschäftsführer Fürs-tenberg zählte inzwischen zur zentralenAuslandsvertretung der Bolschewiki mitSitz in Stockholm. Ein anderer dürfte überden Historiker und langjährigen Redak-teur der „Frankfurter Zeitung“ GustavMayer gelaufen sein, der im Auftrag desAuswärtigen Amts in der schwedischenHauptstadt weilte. Mayer hatte über dieGeschichte der Arbeiterbewegung ge-forscht und kannte auch Karl Radek, Lei-ter der bolschewistischen Auslandsver-tretung. Radek ließ Mayer in Stockholmsogar an einer Sitzung der Genossen teil-nehmen.

Staatssekretär Kühlmann prahlte ge-genüber Hindenburg und dem Kaiser, dassdie bolschewistische Bewegung ohne die

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Bürgerkrieg in Petrograd*: „Die Stadt steht vor dem Bankrott“

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„Lenins Propaganda erweistsich bei der großen

Masse am wirkungsvollsten.“

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„stetige weitgehende Unterstützung“ desAuswärtigen Amts „nie den Umfang an-nehmen und sich den Einfluss (hätte) er-ringen können, den sie heute besitzt“. Erstdas deutsche Geld habe es den Bolschewiki„ermöglicht, die ,Prawda‘ … auszugestal-ten, eine rege Agitation zu betreiben unddie anfangs schmale Basis ihrer Partei zuverbreitern“.

Ganz so war es dann doch nicht. DieProvisorische Regierung, geführt vonAlexander Kerenski (wie Lenin Rechtsan-walt, er starb allerdings erst 1970 im ame-rikanischen Exil), hatte Mitte Juli zumgroßen Schlag gegen die Bolschewiki aus-geholt, nachdem militante Parteiaktivisteneinen Staatsstreich versucht hatten. Füh-rende Bolschewiki wurden verhaftet, Zei-tungen verboten, Dutzende von Personenverhört. Dabei ging es auch um deutscheGelder.

Sowohl aus der Menge des verbrauchtenPapiers wie den Abrechnungen der Dru-ckerei ergibt sich, dass die Auflage der„Prawda“ im Frühling 1917 relativ konstantbei etwa 80000 Exemplaren pro Tag lag –während der deutsche Außenstaatssekretärvon 300000 ausging.

Aus den Unterlagen geht allerdings auchhervor, dass Propaganda günstig war. So kostete beispielsweise der Druck von ei-ner halben Million Flugblätter lediglich1153 Rubel, umgerechnet etwa 2500 Mark(Stand 1915). „Schon mit kleinen Subven-tionen“, so die Moskauer Expertin OlgaIwanzowa, „ließ sich also viel erreichen.“

Unabhängig davon warfen HelphandsUnternehmungen 1917 in Russland mehre-re Millionen Rubel ab, von denen bis heu-te nicht geklärt ist, welcher Anteil an dieBolschewiki ging.

Nach Petrograder Polizeiunterlagen, diedie Publizistin Heresch aufgetan hat, setz-te Lenin einen Teil des Geldes recht plump

ein. Eine Krankenschwester sagte vor Er-mittlern aus, sie habe gesehen, wie Bol-schewiki Rubelmünzen an Passanten aus-teilten, um diese für eine Demonstrationzu gewinnen. Man habe den Leuten dannPlakate mit Aufschriften wie „Nieder mitder Provisorischen Regierung!“ in dieHände gedrückt.

Vielen Russen brauchte man allerdingskein Geld zu geben, um sie gegen die Pro-visorische Regierung zu mobilisieren.Denn diese reihte Fehlentscheidung anFehlentscheidung. Sie schob die Wahl zurVerfassunggebenden Versammlung, wel-che die großen Fragen angehen sollte, im-mer weiter hinaus. Auf Druck des franzö-sischen Verbündeten versuchte sie sogareine neue Offensive, die nach drei Tagen

abgebrochen werden musste, weil sich dieSoldaten verweigerten.

Da die Bolschewiki am wenigsten Ver-antwortung für das Chaos zu tragen schie-nen, wurde ihre Position in den Sowjetsund unter den Soldaten immer stärker.Ende September drängte Lenin die zö-gernden Genossen zum bewaffneten Auf-stand. In Leo Trotzki (den Rivale Stalin1940 mit einem Eispickel erschlagen ließ)fand er einen talentierten Heerführer.

Um diese Zeit erhielten auch die Deut-schen einen vagen Hinweis. Lenins Aus-landschef Radek erklärte einem Verbin-dungsmann der Deutschen, dass derHerbst nahe: „Wer Russland kennt, derweiß, dass sich in dieser Zeit große Ereig-nisse abwickeln dürften. Auch wir Bol-schewiki rüsten uns für sie.“

Die Parteispitze wollte weiterhin abwar-ten, doch als die Soldaten der Garnison in der Hauptstadt auf Lenins Kurs ein-schwenkten, setzte dieser sich durch – viel-leicht sogar in Absprache mit den Deut-schen. Einer der Berliner Revolutionsex-perten brach jedenfalls eine Dienstreise ab„wegen der bevorstehenden Bolschewiki-revolution“, wie er später seinem Tage-buch anvertraute.

In der Nacht zum 7. November – nachrussischem Kalender der 25. Oktober –besetzten die Garnisonsregimenter unddie Roten Garden, alles in allem nichtmehr als 20000 Mann, morgens um zweiUhr die strategisch wichtigen Punkte; die Gegenwehr war gering und die Macht-frage entschieden. Mit der Verhaftung der Minister der Provisorischen Regierungim Winterpalais in der folgenden Nachtendete die sogenannte Oktoberrevolu-tion.

Lenin trat an die Spitze einer Regie-rung, die sich „Rat der Volkskommissare“nannte.

Für Russland begann damit der wohlschrecklichste Abschnitt seiner Geschichte,der erst 1991 nach unsäglichen Opfern en-dete. Für die Deutschen hingegen schiensich das Bündnis mit Lenin gelohnt zu ha-ben. Anfang Dezember 1917 verhandeltenbeide Seiten bereits über einen Waffen-stillstand.

„Die Bolschewiki sind großartige Kerleund haben alles bisher sehr schön und bravgemacht“, schrieb der Diplomat Kurt Riez-ler, der inzwischen die Russlandpolitik maß-geblich bestimmte. Doch alles hing davonab, dass sich Lenin an der Macht hielt. Unddafür waren die Minister Seiner Majestätbereit, erneut tief in die Taschen zu grei-fen. Klaus Wiegrefe; Florian Altenhöner,

Georg Bönisch, Heiko Buschke, Wladimir Pyljow, Anika Zeller

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Sowjetische Revolutionsfeier in Moskau (1978): Der wohl schrecklichste Abschnitt in der Geschichte des Landes

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„Die Bolschewiki habenalles bisher sehr

schön und brav gemacht.“

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X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS: 1. Lenin und die Oktoberrevolution (29/1999); 2. Stalin und der Stalinismus (30/1999); 3. Das Sowjetimperium (31/1999);

4. Gorbatschow und das Ende des Kommunismus (32/1999)

Das Jahrhundert des Kommunismus

Lenin und dieOktoberrevolution

Als das Zarenreich zusammenbrach, putschte sich derBerufsrevolutionär Lenin an die Macht. Brutal setzte er, noch

vor Stalin, die russische Auffassung von Marxismus durch – mit Konzentrationslagern und 140000 Exekutionen.

Lenin (März 1919); Ärzte im Lenin-Mausoleum; gestürztes Lenin-Denkmal in Addis Abeba (1991); Revolution in Petrograd (1917)

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Der Weg zur Macht

1870 22. (10.*) April: Wladimir Iljitsch Uljanow(Lenin) wird in Simbirsk (heute Uljanowsk) an derWolga geboren

1872 „Das Kapital“ von Karl Marx erscheintin russischer Sprache

1903 Zweiter Kongreß der Russischen Sozialde-mokratischen Partei: Spaltung in reformistische„Menschewiki“ und radikale „Bolschewiki“

1904/05 Russisch-japanischer Krieg, in dessenVerlauf 400 000 Russen fallen

1905 22. (9.) Januar:Blutsonntag in St. Peters-burg. Regierungstruppenschießen auf Demon-stranten, etwa 200 Toteund 800 Verletzte

1906 Zulassung vonpolitischen Parteien:erstes Parlament in Ruß-land (Duma) nimmt seineArbeit auf

1914 Rußland mobilisiert, Deutschlanderklärt den Krieg; Umbenennung der HauptstadtSt. Petersburg in Petrograd

1916 Lenin verfaßt im Schweizer Exilseine Schrift „Der Imperialismus alshöchstes Stadium des Kapitalismus“: Nureine Revolution könne Rußland befreien

1917 Februarrevolution: Am Interna-tionalen Frauentag protestieren Frauenund Arbeiter gegen die schlechte Versor-gungslage, drei Tage später schießen Ar-mee und Polizei auf sie: Über tausendDemonstranten sterben allein in Petro-grad; März: Die Macht übernehmen einPetrograder Rat (Sowjet) von Arbeiterver-tretern und eine bürgerlich-liberale Provi-

sorische Regierung, zunächst unter Fürst Lwow,später unter dem Sozialdemokraten AlexanderKerenski; Zar Nikolai II. dankt ab; 7. November(25. Oktober): Trotzki organisiert die fast unblutigeOktoberrevolution, ein Rätekongreß wählt Lenin in

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Soldaten tragen die rote Fahne, 1917

*Zeitangaben in Rußland folgten bis zum 31. Januar 1918dem Julianischen Kalender, dann dem Gregorianischen.

Lenin, 1920

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Der Biologie-Student Alexander Ul-janow, 21, starb am Galgen am 20.Mai 1887, und vier Genossen wur-

den mit ihm gehenkt. Sie hatten eine ille-gale Gruppe gebildet, die den Zaren Alex-ander III. umbringen wollte.

Als die jungen Leute dessen Fahrtroutezur St. Petersburger Kathedrale erkunde-ten, wurden sie verhaftet. Während Mit-verschwörer Józef Pilsudski – später Dik-tator und Marschall von Polen – mit fünfJahren Verbannung davonkam, verurteilteein Gericht die anderen zum Tode.

In jenem Jahrzehnt wurden nur nochinsgesamt zwölf weitere Russen von derJustiz des Zaren aus politischen Gründenhingerichtet. Die Exekution des AlexanderUljanow aber hinterließ welthistorischeSpuren: Seinen vier Jahre jüngeren Bru-der Wladimir, der gerade das Abitur ab-legte, traumatisierte das Ereignis derart,

ders zu erfüllen – eine eigene Geheimor-ganisation zu gründen und mit ihr das Za-ren-System zu stürzen. „Dabei macht mansich natürlich die Hände schmutzig“, räum-te er ein. „Die Partei ist kein Pensionat fürhöhere Töchter. Irgendein Verbrecher kannuns gerade deshalb nützlich sein, weil erein Verbrecher ist.“

Wer aus der Romanow-Dynastie soll-te mit dem Tode büßen? „Natürlich dieganze Familie!“ zitierte Lenin einenTerroristen und fügte hinzu: „Das ist doch einfach genial!“ So geschah es am 17. Juli 1918.

Folgte Lenin anfangs noch einem gran-diosen politischen Plan – die Monarchiezu fällen, Rußland zu modernisieren, denSozialismus zu schaffen und über denganzen Erdball zu verbreiten –, so ent-fernte er sich später Schritt um Schritt vondiesen Zielen. Er verfiel völlig dem Götzender Macht und opferte ihm ungerührt Mil-lionen Menschenleben.

So wurde er der erste Regierende diesesJahrhunderts, der die eigene Gewaltaus-übung zum Staatsziel erhob, ein Musterfür eine ganze Reihe jener Gestalten, wel-che die Welt in Barbarei stürzten.

Lenin trägt die Verantwortung dafür, daßbis heute unter „Sozialismus“ gemeinhinnicht Marx’ eher sozialdemokratischesProgramm verstanden wird, sondern eineterroristische Diktatur.

Seinen Nachahmern, den Tyrannen des20. Jahrhunderts, gelang es mit ihrer Herr-schaft über Staatsgewalt und Massenmedi-en, ihre millionenfachen Mordtaten durchideologische Phrasen zu verschleiern. Sogilt denn auch Lenin weithin als der guteBolschewik, im Vergleich zu seinem Nach-folger Stalin, dem bösen.

daß er sich von den ihm anerzogenen Wert-vorstellungen zu lösen begann.

Er war aufgewachsen in der liberalenBildungswelt seines Vaters, eines in denerblichen Adelsstand erhobenen Pädago-gen kalmückischer Herkunft, und seinerMutter, Tochter des deutschstämmigenJuden Alexander Blank, und einer AnnaGroßschopf, deren Vater aus Lübeck kam.Zu den entfernten Verwandten der Muttergehörten der Archäologe und Prinzener-zieher Ernst Curtius wie der Wehrmachts-Generalfeldmarschall Walter Model.

Wladimir, nach der zaristischen Rangta-belle selbst Edelmann („Dworjanin“), ver-weigerte sich fortan den abendländischenethischen Normen, die ihm sein Elternhausvermittelt hatte: „Wir glauben nicht an eineewige Moral und entlarven alle Märchenüber die Moral als Betrug.“

Das Schicksal seines von ihm stets be-wunderten Bruders ließ ihn Sentimenta-litäten verdrängen. Er hörte gern dem Kla-vierspiel zu: „Ich kenne nichts, was größerwäre als die Appassionata, ich würde siemir gern jeden Tag anhören …“ Doch so-fort korrigierte er sich: „Sie geht einemauf die Nerven und verleitet einen dazu,dumme, freundliche Sachen zu sagen, undMenschen, die etwas so Schönes zu schaf-fen vermochten, während sie in dieser wi-derwärtigen Hölle lebten, den Kopf zustreicheln. Man darf nämlich niemandemden Kopf streicheln, es könnte einem dabeidie Hand abgebissen werden. Man muß ih-nen erbarmungslos auf den Kopf schlagen,obwohl es unser Ideal ist, gegen niemandenGewalt anzuwenden.“

Wladimir Uljanow, der sich seit 1901 ausTarnungsgründen Lenin nannte, nahm sichvor, das Vermächtnis seines gehenkten Bru-

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„Auf der Stelle erschießen“Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin / Von Fritjof Meyer

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der darauffolgenden Nacht zum provisorischen Re-gierungschef; Dezember: Felix Dserschinski gründetdie Geheimpolizei Tscheka, Vorläufer des KGB

1918 Januar: Russische Sowjetrepublik konstitu-iert; Aufbau der Roten Armee; März: Moskau wirdneue Hauptstadt; durch den Friedensvertrag vonBrest-Litowsk mit den Mittelmächten scheidet Ruß-land aus dem Ersten Weltkrieg aus und verzichtetauf das Baltikum, Polen, Finnland, die Ukraine undTeile des Kaukasus; Frühjahr (bis November 1920):Bürgerkrieg: Die Rote Armee kämpft gegen antikom-munistische „Weißgardisten“ und Bauernverbände;Juli: Bauern werden gezwungen, ohne Bezahlung Le-bensmittel herauszugeben, die der Staat kostenlosan Städter und Rotarmisten verteilt

1919 Gründung der Kommunistischen Internatio-nalen (Komintern) in Moskau; ein „Politbüro“ wird

als Führungsgremium der Kommunistischen Parteizuständig für „Fragen, die keinen Aufschub dulden“

1920 Strenge Zensur, 90 Prozent des in Rußlandhergestellten Papiers gehen an den Staat; Leninrichtet Strom-Kommission ein: „Kommunismus –das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des gan-zen Landes“

1921 Gründung der staatlichen Planwirtschafts-behörde Gosplan; Matrosenaufstand in Kronstadtwird niedergeschlagen; Hungerkatastrophe: US-Regierung schickt Medizin und Nahrungsmittel, diedeutsche Malerin Käthe Kollwitz wirbt:„Rettet die Kinder“

1922 Rapallo-Vertrag zwischen Sowjet-Rußlandund Deutschland soll beide Staaten aus deraußenpolitischen Isolierung lösen; Josef Stalin

wird erster KP-Generalsekretär; der Staat reißt dieLeitung der russisch-orthodoxen Kirche an sich undstellt den Patriarchen Tichon unter Hausarrest;Gründung der UdSSR ausden Republiken Rußland,Ukraine, Belorußland undTranskaukasien

1923 Verfassung derSowjetunion, der alleLänder, wenn sie Sowjet-republiken werden, bei-treten können

1924 Am 21. Januarstirbt Lenin; Stalin trittnach Machtkampf mitTrotzki die Nachfolge an;Petrograd erhält den Namen Leningrad

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US-Lebensmittelhilfe, 1921

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Dabei nahm sich Stalin bei seinen Ver-brechen bis ins Detail seinen Lehrer zumMuster. Nach dem Urteil des Kampfge-nossen Molotow war Lenin sogar „härter“als Stalin (der Molotows Frau in den Gulagsteckte, mit seinem Tod kam sie frei).

Als mentales Gegengewicht zu denZwangsmitteln schuf Stalin den Kult umLenin, den hochgebildeten und persönlich

anheim. Henri Barbusse und Lion Feucht-wanger, Georg Lukács und Ernst Bloch,gar Ultrarechte wie Arthur Moeller vanden Bruck und Josef Goebbels bis hin zuRudi Dutschke und Michail Gorbatschowzeigten sich von Lenin, dem angeblichenPhilosophen auf dem Thron, fasziniert.

Dieser unscheinbare Mann mit den listi-gen Augen und schwacher Stimme machtenichts von sich her, im Westenanzug mitSchirmmütze sah er einem Katasterbeam-ten ähnlicher als einem Weltenwandler.Scharfsinnig und scharfzüngig war er undunerhört belesen, und er übte eine außer-gewöhnliche Selbstzucht. Er trank nicht,mit 18 hatte er sich auf Wunsch der Mutterdas Rauchen abgewöhnt, Schachspiel undSkilaufen gab er für die Politik auf.

Dank Fürsprache seines SchuldirektorsKerenski wurde er zum Studium zugelas-sen und machte sich an der Universität mitden Theorien von Marx und Engels be-kannt. Bald wegen Teilnahme an einer Pro-testkundgebung relegiert und für Monateverhaftet, legte er dennoch im Fernstudiumsein juristisches Examen ab. Unter kom-fortablen Bedingungen überstand er dreiJahre Verbannung in Sibirien, wohin er sichvon zu Hause Jagdgewehre und Glacé-handschuhe schicken ließ. Er heiratete dortauch und schrieb an einer Studie über Ruß-lands Rückständigkeit.

Noch 1905 befand er auf gut marxistisch,in Rußland leide die Arbeiterklasse weni-ger unter dem Kapitalismus als unter des-sen „mangelhafter Entwicklung“, sie seideshalb an der „breitesten, freiesten undschnellsten Entwicklung des Kapitalismusinteressiert“. Nach Marx erfüllte die Bour-geoisie nämlich eine progressive Rolle; eineGesellschaftsordnung konnte erst unterge-hen, wenn sie ihre Volkswirtschaft nur nochbehinderte, sich weiterzuentwickeln.

In der deutschen und schweizerischenEmigration lernte Lenin von 1900 bis 1917den Vormarsch der Sozialdemokratie ken-nen, der im unterentwickelten Rußland diesoziale Basis fehlte. Die SPD finanzierte ihmseine nach Rußland zu schmuggelnden Dis-sidentenblätter, Lenin aber brach zum er-

so bescheidenen Revolutionär, der sich fürdie arbeitende Klasse aufrieb und eine bes-sere Gesellschaft anvisierte.

Millionen einfacher Menschen und vie-le Intellektuelle fielen dieser Täuschung

* Von Wladimir Serow, 1947; auf Verlangen von NikitaChruschtschow 1962 umgestaltet. Hinter Lenin standenzuvor Stalin, Dserschinski und Swerdlow.

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Propagandabild „Lenin proklamiert die Sowjetmacht“*: Dem Götzen der Macht verfallen

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stenmal mit der reinen Lehre: Anstelle dervon Marx proklamierten Selbstbefreiungder Arbeiter sollten Intellektuelle als be-rufsmäßige Agenten unmündige Proletarierauf den rechten Weg bringen: „Das politi-sche Klassenbewußtsein kann in den Arbei-ter nur von außen hineingetragen werden.“

So schrieb er es in München, wo er an-fangs unter dem Decknamen „Meyer“ leb-te, in seine Programmschrift „Was tun?“Damit stellte er Marx’ zentrale These, dasgesellschaftliche Sein bestimme das Be-wußtsein, auf den Kopf. In der Führungseiner kleinen, konspirativen Parteifrak-tion, der „Bolschewiki“ („Mehrheitler“,obwohl sie innerhalb der russischen So-zialdemokratie in der Minderheit waren),fand sich denn auch nur ein Arbeiter, undder war auch noch ein Polizeispitzel.

Die Lehre des Sozialismus stamme nuneinmal von „gebildeten Vertretern der bür-gerlichen Klassen“, argumentierte Lenin –er selbst brauchte sich seinen Lebensun-terhalt nie selbst zu verdienen; die Mutterhatte ihr Landgut verkauft und unterhieltihn bis zu seinem 46. Lebensjahr.

Lenin entwickelte Talent für außerge-wöhnliche Methoden der Geldbeschaffung.Der Moskauer Möbelfabrikant NikolaiSchmitt vermachte einen Teil seines Ver-mögens der Arbeiterbewegung, an das dieBolschewiki herankamen; für den Rest stell-ten sie ihr Parteimitglied Wiktor Taratuta ab,eine Erbin zu heiraten. „Welch eine Nie-dertracht gegenüber dem Mädchen“, be-schwerte sich ein Genosse. „Weder Sie nochich könnten eine reiche Kaufmannstochterdes Geldes wegen heiraten“, erwiderte Le-nin, „Wiktor hat es getan, das bedeutet, erist ein nützliches Mitglied der Partei.“

Er selbst nahm Geld vom Feind seineseigenen Landes, dem kaiserlichen Deutsch-land, auch als der Zar schon gestürzt warund noch bis drei Monate vor der deut-schen Novemberrevolution 1918, insgesamt82 Millionen Goldmark. Damit baute eraus der Ferne seine Parteiorganisation inRußland auf und nach seiner Heimkehr ei-nen mächtigen Propaganda-Apparat – diedeutsche Reichsregierung finanzierte die„Prawda“ ebenso wie die paramilitärischen„Roten Garden“.

Die deutsche Heeresleitung, verstricktin einen nicht gewinnbaren Zweifronten-krieg, setzte darauf, Lenin werde, wenn eran der Macht sei, einen Separatfriedenschließen. General Ludendorff ließ ihn des-halb samt 31 Genossen aus der Schweiz ineinem Zug durch Deutschland über Schwe-den nach Rußland transportieren.Von dortfunkte ein deutscher Agent: „Lenin: Ein-tritt nach Rußland geglückt. Er arbeitetvöllig nach Wunsch.“

eindruckt von der Zuverlässigkeit derDeutschen Reichspost: „Unser nächstesZiel ist es, die ganze Volkswirtschaft nachdem Vorbild der Post zu organisieren.“

Das Resultat sollte zu einem Orwell-Staat gerinnen: „Die ganze Gesellschaftwird ein Büro und eine Fabrik mit gleicherArbeit und gleichem Lohn sein … AlleBürger werden Angestellte und Arbeitereines das ganze Volk umfassenden Staats-‚Syndikats‘.“

Als zentrales Planungsorgan nahm ersich das Waffen- und Munitions-Beschaf-fungsamt („Wumba“) der deutschenKriegswirtschaft zum Muster: „Macht, wasdie Wumba macht!“ Die Partei machte dar-aus die Lenkungsbehörde Gosplan, wel-che die russische Volkswirtschaft für einhalbes Jahrhundert fesselte und schließlichan den Abgrund führte.

Von Ludendorff, Deutschlands fakti-schem Diktator der letzten Kriegsjahre,übernahm Lenin die allgemeine Arbeits-pflicht. In Deutschland sei das ein „staats-monopolistischer Kriegskapitalismus“,wußte er, ein „Militärzuchthaus für Arbei-ter“. Für Rußland bedeute es aber „un-weigerlich einen Schritt, ja Schritte zumSozialismus!“ Seine Nachfolger behaupte-

Lenin war nun einmal germanophil, ammeisten imponierte ihm die deutsche Büro-kratie. „Jawohl, lerne beim Deutschen!“gab er als Parole aus. „Es ist so gekommen,daß jetzt gerade der Deutsche neben dembestialischen Imperialismus das Prinzip der Organisation, des harmonischen Zu-sammenwirkens auf dem Boden der mo-dernsten Maschinenindustrie, der streng-sten Rechnungsführung, der Kontrolle ver-körpert.“

Unter den mehr als 6700 Lenin-Doku-menten, die von seiner Partei über Jahr-zehnte versteckt gehalten und erst nachihrem Ende 1991 bekannt wurden, findetsich auch, in einem Brief an den Führungs-genossen Kamenew, eine Fortsetzung derschönen Parole: „Lernt von den Deut-schen, ihr verlausten russischen kommuni-stischen Faulenzer!“

Er hatte durchaus begriffen, daß seinEntwicklungsland die notwendige Gesell-schaftsepoche, den Kapitalismus, nichtüberspringen konnte, um in den Sozia-lismus zu gelangen. Also folgerte er, derKapitalismus müsse von seiner eigenen Intellektuellenpartei organisiert werden.Anstelle der Ideen Marx’ von einer Arbei-terselbstverwaltung proklamierte er, be-

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„Im Leben Lenins verbindet sich Treue zu einem ungeheuren Werke notwendigerweise mit Unerbittlichkeit gegen alle, die es stören wollten.“

Heinrich Mann, 1924

Zar Nikolaus II. und Familie (1901), Bolschewiki im Panzerwagen 1917 vor dem Petrograder

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ten später, der Staatsmonopolismus sei so-gar schon der Sozialismus.

Im Februar 1917 war durch eine Arbei-terrevolution, die Lenin im Exil völlig über-raschte, das vollbracht worden, was er sichselbst vorgenommen hatte: der Zar ge-stürzt und eine provisorische sozial-libe-rale Regierung etabliert. Nun blieb ihm nur noch der zweite Akt: seine Partei unddamit sich selbst in den Kreml zu setzen.

Als Lenin per Bahn – bis Sassnitz unterAufsicht eines deutschen Rittmeisters – am16. April 1917 nach Petrograd zurückge-kehrt war, trommelte er sofort für denSturz der Revolutionsregierung und ver-kündete den Übergang zum Sozialismus –wie er ihn verstand.

Und er fragte rhetorisch: „In welchenBüchern steht denn geschrieben, daß der-artige Eingriffe in die ge-wöhnliche historische Ab-folge unzulässig oder un-möglich sind?“

Er wollte die Macht, undzwar eine Diktatur.Was hießdas? „Nichts anderes als diedurch nichts eingedämmte,weder durch Gesetze nochdurch allgemeingültige Re-geln beschränkte, unmittel-bar auf der Gewalt basieren-de Macht“, so Lenin. Zuläs-sig sei im Sozialismus auchdie „diktatorische Macht ein-zelner Personen“.

machte. Lenin hatte sich, mit Perücke undohne Bart, erst am Tag zuvor in der Auf-standszentrale, der Höheren Mädchen-schule Smolny, eingefunden, Stalin bliebüberhaupt verschwunden; den meistenEinwohnern von Petrograd entging derMachtwechsel, der für den AllrussischenRätekongreß am nächsten Tag vollendeteVerhältnisse schuf.

Dort zeigte sich am Abend Lenin aucherstmals öffentlich. Als Sozialrevolutionä-re und Sozialdemokraten unter Protest denSaal verließen, war die Minderheit der Bol-schewiki zur stärksten Fraktion geworden.Einen Tag später schickte Berlin eine Prä-mie von 15 Millionen Mark.

Das war die „Große Sozialistische Ok-toberrevolution“, durch sie wurde Leninüber Nacht Regierungschef. „Ein steilerAufstieg aus dem Keller an die Macht“,sagte er, „mir dreht sich der Kopf.“

Die folgenden allgemeinen Wahlen zueiner verfassunggebenden Nationalver-sammlung aber brachten den Kommuni-sten weniger als ein Viertel der Stimmen.Lenin ließ das erste wirklich frei gewählteParlament Rußlands schon auf seinerGründungssitzung am 18. Januar 1918 aus-einanderjagen. Er führte Todesstrafe undPressezensur wieder ein, unterband jegli-che regimekritische Demonstration.

Er nahm in den folgenden Monaten denArbeitern, die ihre Betriebe besetzt hatten,und den Bauern ihren neuen Besitz wiederab, indem er die Fabriken und den gesam-ten Grund und Boden verstaatlichte. DasLand durften Kleinbauern noch bewirt-schaften, doch Lenin richtete sogleich 5000Staatsgüter und 6000 Kolchosen ein.

Freimütig proklamierte er den „Staats-kapitalismus“. Das müsse jeder begreifen,erklärte er, der „nicht den Verstand verlo-ren und sich nicht den Kopf vollgestopft hatmit Bruchstücken von Bücherwahrheiten“,womit er Marx’ Theorie meinte.

Zugleich erhob der Zyniker aber denMarxismus zum Dogma, um sich – mitdurchschlagendem Erfolg – für seine linkeAnhängerschaft zu kostümieren: „Die Be-schäftigung mit allen anderen Theorienführt zur Verwirrung und Lüge.“ Den be-sonders populären und entschlossenen An-archisten gegenüber trat er gar als einerauf, der ausgerechnet Staat, Gefängnisse,Geld und abhängige Arbeit – die er selbstnie kennengelernt hatte – abschaffen woll-te. Seine Zeitgenossen, verkündete Lenin,würden dieses Paradies noch erleben.

Davon blieb der „Kriegskommunis-mus“: Rotarmisten beschlagnahmten diegesamte Ernte der Bauern, auch das Saat-gut, und verteilten das Getreide gratis, aufBezugschein, an die Städter. Die Versor-gung brach zusammen.

Die allgemeine Gleichheit galt nicht füralle. Von der Administration eines großenLandes hatten Lenins Intellektuelle keineAhnung, so griffen sie auf die Kader derZaren-Bürokratie zurück. 89 Prozent der

Um dennoch das Volk hinter sich zubringen, versprach er den Arbeitern dieFabriken, den Bauern den Boden, allen na-tionalen Minderheiten die Selbstbestim-mung und – statt eines Sieges über dieDeutschen – den sofortigen Frieden. Denschloß er denn auch, alle übrigen Verspre-chen aber brach er.

Die Regierung des SozialdemokratenAlexander Kerenski, Sohn von LeninsSchuldirektor, setzte – an der Seite der Westalliierten – den Weltkrieg gegenDeutschland fort, zum Mißfallen ihrer Sol-datenräte. Die junge Demokratie mußtedie überfälligen Bodenreformen aufschie-ben, derweil sich die Bauern schon selbstdes Gutsherrenlandes bemächtigten, so wiedie Arbeiter der wenigen, aber voluminö-sen Rüstungsfabriken.

Nach einem mißratenenAufstandsversuch im Juli1917 von der Regierung Ke-renski als „deutscher Spion“verdächtigt, flüchtete Leninnach Finnland und drängteper Post auf einen Putsch –ein von Marx und Engelsverdammtes Mittel derMachteroberung.

Lenins Mitarbeiter LeoTrotzki organisierte am 25.Oktober 1917 den Staats-streich, er kostete nur sechsTote, weil die PetrograderGarnison bereitwillig mit-

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Alexander Uljanow

Smolny-Institut: „Je mehr Reaktionäre wir hinrichten können, desto besser“

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Führungsbeamten im Finanzministeriumbehielten ihren Schreibtisch, die meistenKollegen vom Kaiserlichen Ministerium fürStaatskontrolle saßen nun im Volkskom-missariat für Staatskontrolle. Selbst die Ge-fängnisdirektoren blieben im Amt, derweildie Gefangenen wechselten. 41 Prozent deshöheren Offizierskorps der neuen „RotenArbeiter- und Bauernar-mee“ hatten schon demZaren gedient.

Lenin mußte die überge-laufenen Fachleute mit ei-ner „sehr hohen Bezah-lung“ locken, obwohl er alsentscheidende revolutionä-re Neuerung angekündigthatte, „daß alle beamtetenPersonen ein den durch-schnittlichen Arbeiterlohnnicht übersteigendes Ge-halt beziehen“ würden.Da wollten die Parteigenos-sen nicht nachstehen, und Lenin entschied,Kommunisten bräuchten Sonderverpfle-gung, Sonderläden, Sonderzuteilungen,und hochgestellte Kommunisten die Villender verjagten oder erschossenen Kaufleuteund Adligen oder die Suiten der Mos-kauer Luxushotels, dazu Leibärzte und angesichts des zerrütteten Verkehrssystemsauch noch Sonderzüge für Kuren im Ausland.

Er selbst ließ sich in einem Rolls-Royceund winters in einem Spezial-Citroën mitRaupenketten kutschieren, auch Büchsen-fleisch, Schnürbänder und andere Mangel-waren vom Geldboten aus Berlin mitbrin-gen. Anfangs wohnte er im Moskauer Ho-tel „National“, dann in der Zarenburg,dem Kreml – erst unter Boris Jelzin wur-de die als Heiligtum bewahrte Zimmer-flucht Lenins aufgelöst –, und auf demLandschloß des früheren Stadtkomman-danten.

„Lenin und seine Mitstreiter sind zu je-dem Verbrechen fähig, sie sind bereits vomfaulen Gift der Macht infiziert“, wagte derSchriftsteller Maxim Gorki aufzubegehren– bis seine Zeitschrift „Nowaja schisn“ imJuli 1918 verboten wurde und schließlichauch Gorki sich unterwarf und mit Stalinkollaborierte.

Andere Geistesgrößen beugten sichschon früh dem revolutionären Willen Le-nins und seinen Visionen von einer schönenneuen Welt: Chagall und Kandinsky mach-ten kunstvolle Propaganda, die Revolu-tionärin Alexandra Kollontai, die Leninbeim Geldtransfer aus Deutschland gehol-fen hatte, warb für die freie Liebe. Trotzkisagte voraus, im vollendeten Kommunis-mus würden die Menschen schöner, größerund gesünder sein.

Gorkis Empörung richtete sich vor allemanderen gegen den Terror, mit dem Leninund seine Kumpanen das Land in den Griffzu bekommen sowie den Zusammenbruchder Versorgung zu verhindern suchten.

Er kümmerte sich um Details: Zur Be-schattung Verdächtiger empfahl er „be-sondere Trennwände, Holzverschläge oderUmkleidekabinen, Blitzdurchsuchungen;Systeme zur doppelten und dreifachen So-fortüberprüfung“. Er riet,Verhaftungen ambesten nachts vorzunehmen; Parteimit-glieder hätten alles Auffällige der Staats-sicherheit zu melden.

Als gleich nach dem Oktoberputsch dieGenossen die Todesstrafe für Deserteureabgeschafft hatten, erregte sich Lenin: „Soein Unsinn. Wie kann man denn eine Revolution ohne Erschießungen durch-führen?“ Allein 1921, vier Jahre nach demSieg, wurden 4337 Rotarmisten exekutiert.

Einige wörtliche Befehle Lenins:π „Einen von zehn, die sich des Müßig-

gangs schuldig machen, auf der Stelleerschießen.“

π „Können nicht weitere 20000 Petrogra-der Arbeiter mobilisiert werden, plus10000 Bourgeois, mit hinter ihnen auf-gestellten Maschinengewehren, die einpaar hundert erschießen?“

π „Hunderte von Prostituierten, welchedie Soldaten betrunken machen, ehe-malige Offiziere und dergl. sind zu er-schießen und abzutransportieren.“

π „Bieten Sie sämtliche Kräfte auf, um diekorrupten Beamten und Spekulantenvon Astrachan zu erschießen. Man muß diesem Pack eine derartige Lehreerteilen.“

π „Solange wir nicht mit Terror gegen Spe-kulanten vorgehen, also keine stand-rechtlichen Erschießungen durchführen,wird nichts dabei herauskommen.“

π „Mit Räubern muß man ebenso verfah-ren und sie auf der Stelle erschießen.“

π „Meiner Meinung nach muß man denEinsatz von Erschießungen (als Ersatzfür die Verbannungen ins Ausland) ver-stärken.“

π „Bürger, die sich weigern, ihren Namenzu nennen, werden auf der Stelle undohne Gerichtsverhandlung erschossen …Familien, die Banditen verstecken, wer-

Auf einem Kongreß der Parteijugend am2. Oktober 1920 erläuterte Lenin: „Wennein Bauer sich den Getreideüberschuß an-eignet, den er auf seinem Land erwirt-schaftet hat, also Getreide, das weder ernoch sein Vieh zum Überleben benötigen,… dann hat er sich bereits in einen Aus-beuter verwandelt“, in einen „Kulaken“.

Sogar „gegen die schwankenden und hem-mungslosen Elemente der arbeitendenMenschen selbst“ sei Gewalt anzuwenden,befand Lenin.

Sein Programm: „Säuberung der russi-schen Erde von allem Ungeziefer, von denFlöhen, den Gaunern, von den Wanzen –den Reichen und so weiter und so fort“,auch von „bürgerlichen Intellektuellen“und „Arbeitern, die sich vor der Arbeitdrücken“. Gemeint waren die Schriftsetzervon Petrograd, die bis zum Januar 1918 undwieder im April 1919 gegen die Diktaturder Bolschewiki streikten.

Lenin wandte sich gegen Sozialdemo-kraten, die da sagten: „Die Revolution istzu weit gegangen.“ Ihnen solle man ant-worten: „Gestattet uns, euch dafür an dieWand zu stellen.“

Bei Bedarf war er auch Antisemit. „Be-handelt die Juden in der Ukraine mit ei-serner Faust“, trug er den ukrainischen Ge-nossen auf und schrieb danach an denRand: „Formuliert es freundlicher: die jü-dischen Kleinbürger.“

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Unterernährte Waisenkinder in Samara (1920): „Die Hungersnot dient dem Fortschritt“

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Lenin, Trotzki bei einer Parade in Moskau (1919) „Ein für allemal reich und mächtig werden“

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den verhaftet und ver-bannt. Der älteste Ar-beiter der Familie istohne Verfahren sofortzu erschießen. DieserBefehl ist erbarmungs-los auszuführen.“Die Erschießungs-

obsession hatte Leninschon, ehe er erwartenkonnte, sie in die Tat um-zusetzen. Auf die Frage,was nach einem Sieg mitden Beamten des altenRegimes geschehen solle,hatte er in der Emigra-tion keinen Augenblickgezögert: „Wir werdenden Mann fragen: ‚Wiestellst du dich zur Revo-lution? Bist du dafür,oder bist du dagegen?‘Wenn er dagegen ist,werden wir ihn an dieWand stellen. Ist er dafür,so werden wir ihn will-kommen heißen und ihnauffordern, mit uns zu arbeiten.“

Ehefrau NadeschdaKrupskaja grummelte ge-genüber Lenin: „Ja, undihr werdet selbstverständ-lich die wertvolleren Men-schen erschießen, weil sieden Mut haben, zu ihrerÜberzeugung zu stehen.“

Mag sein, daß die Vorstellung von sei-nem am Strick erstickenden Bruder Alex-ander bei Lenin Sado-Phantasien weckte,die sich zum Blutrausch steigerten. DieserLenin erfand für Rußland auch jene Geißel,welche die Tyrannen des 20. Jahrhundertszur Korrektur ihrer Untertanen bevorzug-ten: „Man muß schonungslos Massenter-ror anwenden“, telegraphierte er 1918 zurNiederschlagung eines Bauernaufstands,„verdächtige Personen in ein Konzentra-tionslager außerhalb der Stadt einsperren.“So geschah es, erst in entweihten Klösternund Kirchen, dann auf der SklaveninselSolowezki, schließlich im riesigen Archi-pel Gulag.

Drei Wochen nach der KZ-Verfügungschoß die Sozialrevolutionärin Fanni Ka-plan auf Lenin: „Ich halte ihn für einenVerräter“, sagte sie unter der Folter, „jelänger er lebt, desto mehr wird die Idee desSozialismus entstellt. Und das auf Dut-zende von Jahren.“ Sie wurde ohne Ge-richtsurteil im Kreml erschossen, die Re-gierung dekretierte den massenhaften „ro-ten Terror“ .

In den folgenden 18 Monaten meldetedie Geheimpolizei Tscheka 8389 Er-

Tausende verhungerten,erteilte Lenin seinem Alt-genossen Molotow zur In-formation des Politbüroseine Weisung, die bis zumEnde des Herrschafts-systems geheimgehaltenwurde. Patriarch Tichonhatte Ikonenschmuck undandere kirchliche Wertsa-chen, die nicht rituellenZwecken dienten, für dieHungerhilfe freigegeben.Das brachte Lenin aufseine Idee:

„Gerade jetzt und nurjetzt, da in den Hunger-gebieten Leute Men-schenfleisch essen undHunderte, wenn nichtTausende Leichen dieStraßen säumen, könnenund müssen wir die Be-schlagnahme der kirchli-chen Wertgegenständemit der rohesten und er-barmungslosesten Ener-gie durchsetzen, ohneaufzuhören, jeden Wi-derstand zu zermalmen.“

Warum? „Komme, waswolle, wir können auf die entschlossenste undschnellste Weise für unseinen Fonds von mehre-ren hundert MillionenGoldrubeln sichern (man

bedenke nur die gewaltigen Reichtümer ei-niger Klöster und Pfarreien). Ohne diesenFonds können wir weder unseren Staatnoch unsere Wirtschaft aufbauen.“

Da Lenin bei Gläubigen auf Widerstandstieß, wurden fast 70000 der 80000 Kir-chen zerstört sowie 14 000 Priester undMönche erschossen; die Strecke ließ sichLenin täglich rapportieren: „Je mehr Ver-treter der reaktionären Geistlichkeit undBourgeoisie wir dabei hinrichten können“,hatte er bekundet, „desto besser.“

Der Sowjetstaat requirierte genug fürseinen Zweck: 540 Kilo Gold, 377000 KiloSilber und 35670 Diamanten binnen weni-ger Monate.Allein im Hungerjahr 1922 ver-wendete er Preziosen im Wert von 19 Mil-lionen Goldrubel zur Förderung dessen,was Lenin unter Weltrevolution verstand.

Der Mann, der vor seinem Machtantrittund zu ebendiesem Zweck das Selbstbe-stimmungsrecht der Völker erfunden hatte,erklärte als Machtinhaber: „Kein einzigerMarxist kann bestreiten, daß die Interessendes Sozialismus höher stehen als die In-teressen des Selbstbestimmungsrechts.“

Die Interessen des Sozialismus gebotendie Eroberung von Kasan. Lenin telegra-

schießungen und 87000 Verhaftungen. Fürdie aktive Regierungszeit Lenins vom De-zember 1917 bis zum Februar 1922 lassensich mindestens 140000 Exekutierte undebenso viele bei der Unterdrückung vonAufständen Getötete zählen. Welch einMultiplikator der Opferzahl des Zaren –eine orgiastische Vergeltung für den Toddes Bruders Alexander.

Über das Land breitete sich derweil eineHungerkatastrophe aus. Schon als 1892 ander Wolga 14 Millionen Menschen darb-ten, soll sich der junge Lenin – fünf Jahrenach Alexanders Tod – ungerührt gezeigtund von Hilfsaktionen abgeraten haben:„Die Hungersnot dient dem Fortschritt.Das Gerede über die Sättigung der Hun-gernden ist nur ein Ausdruck der saccha-rinsüßen Sentimentalität, die für unsere In-telligenzija so charakteristisch ist.“ Überdie Lebensmittelrationierung 1920 – unterseiner Regierung – schrieb er: „Mögennoch Tausende zugrunde gehen, das Landaber wird gerettet.“

Als Anfang 1922 über 25 Millionen Men-schen nichts zu essen hatten und jeden Tag

* Vor dem Simonow-Kloster 1925.

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Rotarmisten mit Plündergut in Moskau*: Kirchenschatz für die Revolution

Aus Lenin, der die Selbstherrschaft hatte stürzen wollen,war ein neuer Zar geworden.

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phierte seinem Heerführer Trotzki: „Mei-ner Meinung nach darf man die Städtenicht verschonen und weiter zögern, son-dern muß sie erbarmungslos vernichten.“Er befahl auch, alle Vorbereitungen zu tref-fen, „um Baku im Fall einer Invasion voll-ständig niederzubrennen“.

Im Bürgerkrieg mit den Armeen der An-tikommunisten 1918 bis 1920 (bis zu zehnMillionen Tote) holte er mit Hilfe der Ro-ten Armee die von ihm selbst zur Unab-hängigkeit ermunterten nichtrussischenVölkerschaften im Kaukasus und in Mittel-asien sowie die Ukraine zurück, er rekon-struierte das Zaren-Imperium. Es fehltennur noch Polen, die baltischen Staaten undBessarabien, die sich Stalin später von Hit-ler schenken ließ.

Lenin versuchte es auch im Baltikummit Gewalt, die Balten obsiegten mit Hilfeder Briten und deutscher Freikorps. 1920führte er sogar Krieg gegen Polen unddachte an der Grenze zu Deutschland nichthaltzumachen: „Durch den Angriff aufWarschau tragen wir zur SowjetisierungLitauens und Polens sowie zur Revolutio-nierung Deutschlands bei.“ Aber die Polenstoppten die Russen an der Weichsel.

Im gleichen Jahr erwog Lenin zudemdie „Sowjetisierung Ungarns“ – wo dieKommunisten gerade mit einer Sowjetre-publik gescheitert waren –, „vielleicht so-gar Tschechiens und Rumäniens“, auch vonItalien war die Rede, von England.

Die Dokumente mit diesen Lenin-Am-bitionen aus dem Zentralen Parteiarchivin Moskau sollten, so empfahl dessen Di-rektor Georgij Smirnow noch 1990 demPolitbüro, geheimgehalten werden, weil sie„nicht anders denn als Ermutigung zur Ge-walt gegen souveräne Staaten interpretiertwerden können“.

Lenin probierte es aber auch mit Propa-ganda, Bestechung, Unterwanderung. Sei-ne Emissäre reisten mit Koffern vollerGold, Brillanten, Perlen und Devisen insAusland. Ein bislang nicht identifizierterdeutscher „Genosse Thomas“ empfingSchmuck und Devisen im Wert von 62 Mil-lionen Mark für den Aufstand der KPD1921 (und unterschlug einen großen Teil) –Lenin zahlte sozusagen des Kaisers Sub-ventionen in gleicher Münze zurück.

In jenem Jahr hatte er den Aufstand imeigenen Land.Allerorts rebellierten die be-trogenen Bauern, streikten die verratenenArbeiter, erhoben sich wieder die Matro-sen von Kronstadt. Doch die „Rote Arbei-

matische Anerkennung Sowjetrußlands,Lenin hielt daran fest, es sei „unsere Auf-gabe, den Staatskapitalismus der Deut-schen zu erlernen, ihn aus aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischenMethoden zu scheuen, um diese Über-tragung der westlichen Kultur auf das bar-barische Rußland zu beschleunigen, ohnedabei vor barbarischen Methoden desKampfes gegen die Barbarei zurückzu-scheuen“.

Er nannte das wirkliche Ziel: „Geradedas braucht die Russische SozialistischeSowjetrepublik, damit sie aufhöre, armse-lig und ohnmächtig zu sein, damit sie einfür allemal reich und mächtig werde.“

ter- und Bauernarmee“ erstickte die Re-volte mit äußerster Brutalität.

Die Partei beendete notgedrungen den„Kriegskommunismus“, die totale staatli-che Verteilungswirtschaft, und trat denRückzug zu einer „Neuen Wirtschaftspoli-tik“ (NEP) an, zum Programm der längsterschossenen, verhafteten oder vertriebe-nen Sozialdemokraten: freier Markt fürGewerbe, Kleinhandel und Landwirtschaftbei Staatseigentum an den Großbetrieben.

Lenin hing weiter seinem deutschen Vor-bild an. Die Weimarer Republik vollzog alserster großer Staat in Rapallo die diplo-

* Mit Schwester Marija in Gorki 1923.

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Lenin kurz vor seinem Tod*: Auf dem Land Champignons und Kaninchen züchten

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L I T E R A T U RAngelica Balabanoff: „Lenin. Psychologische Beob-

achtungen und Betrachtungen“. Verlag für Literaturund Zeitgeschehen, Hannover 1961; 184 Seiten – Dierussisch-italienische Komintern-Sekretärin distan-zierte sich von Lenin, der sie respektierte.

Maxim Gorki: „Unzeitgemäße Gedanken über Kulturund Revolution“. Insel Verlag, Frankfurt am Main1972; 336 Seiten – Sammlung der 1917/18 in Petrogradgeschriebenen Artikel für die Zeitung „Nowajaschisn“ (Neues Leben).

Dietrich Geyer: „Die Russische Revolution. HistorischeProbleme und Perspektiven“. Vandenhoeck und Ru-precht Verlag, Göttingen 1985; 170 Seiten – Knapp for-muliertes, sehr informatives Standardwerk.

John Reed: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“.Dietz Verlag, Ost-Berlin 1983; 520 Seiten – Augen-zeugenbericht eines amerikanischen Journalisten undKommunisten über die Oktoberrevolution.

Richard Pipes (Hrsg.): „The Unknown Lenin. From theSecret Archive“. Yale University Press, New Havenund London 1996; 204 Seiten – Auswahl bisher ge-

heimer Dokumente, die Lenin als brutal und men-schenverachtend erscheinen lassen.

Adam Ulam: „The Bolsheviks. The Intellectual and Po-litical History of the Triumph of Communism in Rus-sia“. Harvard University Press, Cambridge 1998; 598Seiten – Eines der besten Werke über den Aufstieg Le-nins und der bolschewistischen Partei in Rußland.

Dimitri Wolkogonow: „Lenin. Utopie und Terror“.Econ Verlag, Düsseldorf 1996; 608 Seiten – Biographieunter Berücksichtigung der erst vor kurzem geöffne-ten russischen Archive.

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Reichtum und Macht für Rußland alsostatt eines Endes der Lohnabhängigkeit,statt Selbstbestimmung der Nationalitätenund Absterben des Staates. Entfremdung?Dieser Marx-Begriff findet sich nirgendwoin den 55 veröffentlichten Bänden der Wer-ke Lenins – schwer lesbaren theoretischenAbhandlungen voll ätzender Polemik.

Die Nachricht vom Oktober 1922, diePazifik-Festung Wladiwostok („Beherrscheden Osten“) sei den Japanern wieder ent-rissen worden, kommentierte Lenin auf gutimperialistisch: „Niemals werden wir eineeinzige Eroberung, die wir gemacht haben,wieder herausgeben!“ An ebendieser ter-ritorialen Raublust verdorrte sein Regimeam Ende des Jahrhunderts.

Im Dezember 1914 hatte er sich zum„Nationalstolz des Großrussen“ bekannt,er sah die schwache, von ihm oftmals ver-achtete Arbeiterschaft Rußlands zur„Avantgarde“ des internationalen Prole-tariats aufsteigen und formulierte diestreng nationale Alternative, Grundgesetzder UdSSR sei „Entweder untergehen oderdie fortgeschrittenen Länder auch ökono-misch einholen und überholen“.

diktieren. Er empfiehlt, endlich auch Ar-beiter in das ZK aufzunehmen, Genossen-schaften zu fördern, nationalen Minder-heiten Autonomie zu gewähren.

Ungewiß bleibt, ob er überhaupt nochseinen Willen bekunden konnte, wieweitEhefrau Krupskaja das, was sie ihm vonden Lippen ablas, zumindest gedanklichredigierte. Sie übermittelte den Lenin-Rat-schlag, die Partei solle sich von Stalin („zugrob“) als Generalsekretär trennen. Am 9. März 1923 trifft ihn der dritte Schlag,Lenin verliert endgültig sein Sprachver-mögen. Sein Wortschatz beschränkt sichauf „da“, „führe!“, „geh“, „oh, là, là!“

Am 20. Januar 1924 läßt sich Lenin Er-zählungen von Jack London vorlesen undwinkt lachend ab, als die Krupskaja ihmsagt, die nächste Story sei „von bürgerli-cher Moral durchtränkt“. Am Tag daraufstirbt er, 53 Jahre alt.

Stalin versagte ihm ein Grab, ließ ihnaber tausendfach in Bronze und in Gipsim ganzen Sowjetreich erstehen. Als Mu-mie blieb Lenin bis heute aufgebahrt imeiskalten Keller unter dem Moskauer Ro-ten Platz, fast religiös angebetet von denKommunisten aller Länder.

Der heutige Patriarch der russisch-or-thodoxen Kirche, Alexij II., empfahl vorwenigen Wochen, ihn endlich der Erdezurückzugeben – trotz aller Drohungender letzten Leninisten mit einem dann fäl-ligen Bürgerkrieg.

Er gehört nach Ansicht vieler Russen indie Stadt, die einmal als „Leningrad“ sei-nen Namen trug, dort sind auch Mutterund Schwestern begraben. Der gehenkteBruder Alexander wurde in einem Mas-sengrab an unbekanntem Ort verscharrt –so wie fast alle Opfer Lenins.

Fritjof Meyer, 67, Autor des Buches „Welt-macht im Abstieg – Der Niedergang derSowjet-Union“ (1984), leitet seit 1966 dieOst-Berichterstattung des SPIEGEL.

So kommt bei Lenin ein großrussischerChauvinist zum Vorschein, ähnlich gewebtwie sein georgischer Nachfolger Stalin.AusLenin, der die Selbstherrschaft hatte stür-zen wollen, war ein neuer Zar geworden.

Nach nur gut vier Herrschaftsjahren,An-fang 1922, fühlt er sich ausgebrannt. DerBerliner Internist Georg Klemperer, Bruderdes Tagebuch-Autors Victor, diagnostizierteine steckengebliebene Kugel Fanni Ka-plans, die auf die Halsschlagader drückt.Lenin wird operiert. Er sorgt dafür, daßStalin Generalsekretär wird.

Sieben Wochen später, an demselbenTag, an dem vor 35 Jahren Bruder Alexan-der am Galgen starb, zieht sich Lenin aufsein Landgut zurück, wo ihn sechs Tagedarauf ein Schlaganfall lähmt.

Den (von Trotzki später geäußerten)Verdacht, das langsame Sterben befördertzu haben, versuchte Stalin mit der Erzäh-lung zu entkräften, Lenin – sprachgelähmt– habe ihn um Zyankali gebeten, das erihm jedoch verweigert habe.

Lenins Leidenszeit währte knapp zweiJahre, in denen er sich politisch eines Bes-seren besonnen haben soll. Er beschuldigtStalin des „großrussischen Chauvinismus“bei der Annexion Georgiens, dagegen wer-de er sich wehren, wenn er – so ernst scheinter die Annexion doch nicht genommen zuhaben – seine Zahnschmerzen los sei.

Immerhin befiehlt er Stalin noch die„erbarmungslose“ Deportation mehrererhundert Wissenschaftler, Li-teraten und Künstler nachDeutschland und erteilt der Geheimpolizei richter-liche Vollmachten. Dannwieder redet er davon, nurnoch Champignons undKaninchen züchten zuwollen.

„Es scheint, ich habemich vor den ArbeiternRußlands sehr schuldig ge-macht“, ließ er hören, „wirhaben den alten Staats-apparat übernommen, unddas war unser Unglück“.Aber der Staatskapitalis-mus, beharrte er, sei ein„Fortschritt“. Doch auch:„Wir können kaputtgehen… Wir kommen zu spät.“

Auf Stalins Weisung istder Kranke streng isoliertworden, Lenin klagt: „Wenn ich in Frei-heit wäre …“

Nach Aussage seiner Schwester Marijaruft Lenin keinen Genossen so oft zu sichwie Stalin, der in den schwersten Phasender Krankheit als einziges ZK-Mitglied vor-gelassen wird. Die anderen Führungsfigu-ren dürfen Lenin nur durch ein Gucklochim Vorhang oder in der Wand beobachten.

Sieben Tage nach seinem zweitenSchlaganfall, am 23. Dezember 1922, ver-sucht Lenin, sein politisches Testament zu

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Kommunisten in Moskau (1994): Traum vom Paradies

AFP /

DPA

Jetzt hat das Proletariat die Machtin der Hand und damit auch dieMöglichkeit freier schöpferischerArbeit. Was bringt die Revolutionalso Neues; wie verändert sie un-sere tierische russische Lebenswei-se; wird sie in der Finsternis desVolkslebens viel Licht verbreiten?

Seit dem Ausbruch der Revolu-tion hat es schon zehntausend Fäl-le von „Lynchjustiz“ gegeben. Dieb-stahl und Plünderungen nehmen zu;schamlose Beamte lassen sich eben-so skrupellos bestechen wie früherdie Beamten des zaristischen Re-gimes. Die Brutalität der Vertreterder „Regierung der Volkskommis-sare“ wird allgemein beklagt, unddas mit Recht. Allerlei kleine Leu-te, die sich an der neuen Macht er-götzen, behandeln den Bürger wieeinen besiegten Feind, d. h. genau-so, wie die Polizei des Zaren ihn be-handelt hat. Sie brüllen jeden an.Das alles geschieht im Namen des„Proletariats“ und der „sozialenRevolution“, ist ein Sieg unsererVertierung und vertieft weiter un-sere Primitivität, an der wir beilebendigem Leibe verfaulen …

Die Versprechungender Revolution

Maxim Gorki in einem PetrograderZeitungsartikel vom

20. Dezember 1917 (Auszug)

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