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WLADIMIR KAMINER

Karaoke

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Buch

Wie tanzt man als Pinguin »Die Eroberung des Nordpols« imVolksbal-lett-Kollektiv? Warum sehen die Mitglieder der Popband »Der kusche-lige Mai« alle aus wie junge Gorbatschows? Und wieso funktioniert derKassettenrekorder Romantiker 306, ein Wunderwerk sowjetischerTech-nologie gebaut aus Abfällen der Raketenindustrie, nur auf heimischemTerritorium? Von diesen Mysterien und von anderen Begegnungenmit derWelt der Musik erzähltWladimir Kaminer in seinem neuestenBuch. Alles begann damit, dass ihm seine Klassenlehrerin Klavierun-terricht verordnete, damit er in seiner Freizeit nicht auf dumme Ge-danken kam. Statt des Klaviers bekam der junge Wladimir Kaminereine Sperrholzgitarre, und seither versucht er, das Geheimnis der Mu-sik zu ergründen. Dabei geht er nicht zuletzt auch der Völker verbin-denden Kraft der Musik nach, von sozialistischen Verbrüderungslie-

dern bis hin zu seiner berühmten Russendisko..

Autor

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit1990 in Berlin. Kaminer veröffentlicht regelmäßig Texte in verschie-denen Zeitungen und Zeitschriften, hat eine Sendung namens »Rus-sendisko Club« beim RBB Radio MultiKulti und organisiert Veran-staltungen wie seine international berühmte »Russendisko«. Mit dergleichnamigen Erzählsammlung sowie zahlreichen weiteren Büchernavancierte Wladimir Kaminer zu einem der beliebtesten und gefrag-

testen Autoren in Deutschland.

VonWladimir Kaminer bei Goldmann lieferbar:

Russendisko. Erzählungen (54175) · Schönhauser Alle. Erzählungen(54168) · Militärmusik. Roman (45570) · Die Reise nachTrulala. Er-zählungen (45721) · Helden des Alltags. Erzählungen (mit Fotos vonHelmut Höge, 54214) · Frische Goldjungs. Hrsg. Von Wladimir Ka-miner. Erzählungen von Wladimir Kaminer, Falko Hennig, JochenSchmidt u.v.a. (54162) · Ich mache mir Sorgen, Mama. Erzählungen(46182) · Karaoke (54243) · Küche totalitär. Die Küche des Sozialis-mus von Wladimir und Olga Kaminer. Erzählungen und Rezepte (ge-bundene Ausgabe, 54610) · Ich bin kein Berliner. Ein Reiseführer fürfaule Touristen (54240) · Mein Leben im Schrebergarten (gebundene

Ausgabe, 54618)

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Karaoke

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Die Originalausgabe erschien 2005 unter demTitel»Karaoke« im Manhattan Verlag, München,

in derVerlagsgruppe Random House GmbH

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe August 2007

Copyright © der Originalausgabe 2005by Wladimir Kaminer

Copyright © dieser Ausgabe 2006by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in derVerlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagillustration: Copyright ©Vitali Konstantinov,Agentur Susanne Koppe

AB · Herstellung: Str.Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN: 978-3-442-54243-7

www.goldmann-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zum Handbuch eines DJs . . . . . . . . . 7

Schlechte Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Romantiker 306 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Deutsch-russisches Kulturjahr . . . . . . . . . . . . 67

Ich habe dich gesucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

Lass uns rennen, lass uns reiten . . . . . . . . . . . 104

Je tiefer der Wald,desto dicker die Partisanen . . . . . . . . . . . . . . . 129

Wenn die Gladiolen blühen . . . . . . . . . . . . . . . 142

Meinst du, die Russen wollen Krieg? . . . . . . . . 155

Die Kosmonauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

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Vorwortzum Handbuch eines DJs

Eine Revolutionslegende besagt, dass Lenin die Lite-ratur und die bildende Kunst nicht leiden konnte, da-für aber ein großer Musikliebhaber war. Kurz bevorer starb, hatte Lenin geheime Anweisungen für dieGenossen hinterlassen, die die sowjetische Kulturpo-litik in der nächsten Zeit bestimmen sollten: »Ange-sichts des völligen Analphabetismus der Bevölkerungbleiben unsere wichtigsten Künste die Musik und derZirkus«, stand dort schwarz auf weiß. Die Literatenund Maler erschossen sich oder gingen ins Exil. DieBevölkerung wurde aufgefordert,Volksorchester undMusikbrigaden zu gründen.

In dieser Zeit entstanden epochale Musikwerke,die eine Mischung aus Musik und Zirkus darstellten.Eine »Rote Oper« mit Pferden,Vokalisten, Akrobatenund mehreren hundert Schauspielern fuhr von Mos-kau nach Turkistan und veranstaltete überall revolu-tionäre Open-Air-Konzerte. In Baku schuf der rote

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Komponist Avraamov eine Symphonie mit der gan-zen Kaspischen Flotte und einer Blockflöte. An derAufführung nahmen zwei Artillerie-Regimenter teil,eine Maschinengewehr-Brigade, mehrere Wasser-flugzeuge und alle Hafenbetriebe der Stadt. Die Par-titur dieses beeindruckenden Werkes las sich wie einWagner-Fiebertraum: Nach der fünften Salve desersten Artillerie-Regiments setzten die Sirenen desdritten Hafenwerkes ein, nach der zehnten Salvebegann das Stakkato der Maschinengewehre. DerKomponist selbst stand am Ufer und spielte dazu einSolo auf seiner Blockflöte. Aus heutiger Sicht wirkteine solche Inszenierung übertrieben, doch der Mu-sikzirkus ist nach wie vor die volksnaheste Kunst,Beispiel Musikantenstadl.

Das Theater ist elitär und kopflastig: Je revolutio-närer die Theatermacher, desto spießiger ihre Kunst.Die Bücher sind meistens dick, nicht illustriert undpreisgebunden, das Fernsehen macht auf Dauerdumm und schläfrig. Nur die Musik und der Zirkushalten die Bürger wach.

Die erste Musik meines Lebens kam aus einem Ra-dioempfänger in der Küche, der so hoch an derWandhing, dass ich ihn nicht einmal auf einem Hockerstehend ausschalten konnte. Dieses Radio ging mirfurchtbar auf die Nerven. Als Kind musste ich früh

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aufstehen, damit meine Eltern mich im Kindergartenabgeben und zur Arbeit gehen konnten. Draußen wares noch dunkel, wenn das Radio um sechs Uhr vonalleine zu spielen anfing, zuerst kam die sowjetischeHymne, dann folgten aufdringliche Melodien zurEinstimmung der Bevölkerung auf den Arbeitstag,und um sieben kam die humoristische Sendung Bleibgesund!, deren Moderator von unserem ganzenKindergarten-Kollektiv aus vollstem Herzen gehasstwurde. Doch egal, wie sehr wir diesen Musikzirkusverabscheuten, er hielt uns wach.

Später war es dann die Rockmusik auf Under-ground-Konzerten, die mich aus dem Dornröschen-schlaf eines sowjetischen Schülers riss. Und nochspäter spielte, egal was ich machte und wohin ichging, immer irgendeine Musik im Hintergrund. Eswar also nur eine Frage der Zeit, wann ich ein DJwurde. Denn wer bleibt immer wach, wenn die an-deren schlafen? Wer tanzt, wenn die anderen stehenund liegen, wenn sie nicht mehr können, wenn siesich besaufen und umfallen, wenn sie nach Hausegehen? Der DJ ist Herr über den Musikzirkus derGegenwart. Diese Leute sind Helden der Arbeit,manche können drei Tage hintereinander ohne Pau-se auflegen. Was, spielt dabei keine Rolle, Hauptsa-che, es kracht.

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Es gibt Volltreffer-DJs – sie setzen auf Songs, diealle kennen und aus dem Stand nachpfeifen können,die gut zum Tanzen geeignet sind, aber allen, ein-schließlich dem DJ selbst, total auf den Wecker ge-hen. Die anderen, die so genannten Loser-DJs, ste-hen auf musikalische Werke, die ein Stückchen dane-ben liegen, von einem Volltreffer aus gesehen. Dabeimachen sie aber mit aller Kraft deutlich, dass diesesSchräge gerade geplant ist, weil Mainstream unsäg-lich ist und sie schon immer scharf darauf waren,etwas daneben zu liegen. Dann gibt es noch Revo-luzzer-DJs, die echte Revoluzzer-Songs allen anderenvorziehen. Diese Songs sind verdammt gut, sehr an-strengend zum Anhören und überhaupt nicht tanz-bar. Es kümmert aber die Revoluzzer-DJs nicht,wie sie beim Publikum ankommen und ob ihre Mu-sik tanzbar oder nicht tanzbar ist. Es geht ihnenum nichts weniger als um die Revolution. Bei unse-rer Russendisko mischen wir alles durcheinander,Hauptsache, es heizt an: ein Volltreffer, zwei Loser,ein revolutionäres Lied und noch einmal das Ganzevon vorn. Man hat nie mehr als drei Minuten Zeit,um darüber nachzudenken, was als Nächstes kommt– und alles, was man zu Hause vorbereitet hat, taugtnichts.

Dieses Handbuch ist an den vielen Party-Abenden

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entstanden, in den Nächten, die ich hinter dem DJ-Pult verbracht habe. Manche Seiten entstanden imKeller des Kaffee Burger, zwischen Bierkisten undWeinkartons, wenn ich mir während der Disko einePause gönnte. Deswegen hat dieser Text keinen An-fang und kein richtiges Ende, man weiß nie, was alsNächstes kommt. Dafür wird in diesem Buch viel ge-sungen, getanzt und rumgemeckert, weil DJs jaeigentlich unglaubliche Nörgler sind. Wenn sie alle –die Volltreffer, die Loser, die Revoluzzer – irgend-wann vor ihrem Musikgott stehen, jeder vor seinemeigenen natürlich, wird er sie sicher nicht fragen,welche Musikrichtung sie bevorzugten und welcheBands ihrer Meinung nach die besten seien. Nein,das wird er nicht. »Wie war die Stimmung?«, wird derMusikgott fragen. »Habt ihr da unten richtig auf denPutz gehauen? Habt ihr alles weitergegeben, waseuch gegeben wurde, und hat es euch Spaß ge-macht?«

»Ja! Ja!«, werden die Volltreffer, die Loser und dieRevoluzzer rufen.

»Dann ist es gut«, wird der Musikgott sagen. »Packtschnell eure besten Platten zusammen, und welcometo Level II.«

Er wird sie alle lieben. Denn Gott ist auch ein DJ.

Vorwort zum Handbuch eines DJs

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Schlechte Vorbilder

Unsere erste Russendisko im Frühling, die unterdem Motto »Tanz in den Mai ohne Polizei« stattfand,verlief wie immer. Eine Reisegruppe aus Spanien zogsich vor der Bühne aus und versuchte dabei, alles, wassie brauchten, an den Unterhosen zu befestigen –Fotoapparate, Zigaretten, Biergläser. Die halb nack-ten Frauen badeten in Jägermeister. Kurz nach Mit-ternacht kam noch eine Touristengruppe aus Sach-sen, sie wollte die Reisegruppe aus Spanien näherkennen lernen. Die Spanier mieden jedoch jeden di-rekten Kontakt mit anderen Reisegruppen; sie tratenden Rückzug an, wobei sie unterwegs ihre Fotoappa-rate, Zigaretten und Biergläser verloren. Die Sachsenliefen ihnen in Richtung Toilette hinterher. Einerkam nach zwanzig Minuten zurück. »Alle knutschenschon, nur ich nicht!«, berichtete er frustriert.

»Nicht aufgeben!«, ermutigten wir ihn. »Die Nachtist jung, du findest bestimmt noch dein Glück!«

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Danach kam ein Journalist aus Hamburg, der DJ Ju-rij und mich zum Thema HipHop interviewen wollte.

»Unsere HipHop-Zeitschrift sucht gerade pro-minente Personen, die von HipHop keine Ahnunghaben, um sie zu dieser Musik zu befragen«, erklärteer uns. »Letzte Woche waren wir bei Reich-Ranicki,heute wollen wir mit euch sprechen.«

»Gut«, sagten wir und setzten uns in eine Ecke, woes nicht ganz so laut war. Der Journalist stellte unseinen jungen Rapper vor, der gerade in Deutschlandbei vielen vierzehnjährigen HipHop-Fans eine großeNummer sein sollte. In der Russendisko, die eher vonVierzigjährigen, na ja, gut, von Dreißigjährigen be-sucht wird, konnte sich der Sänger unauffällig ent-spannen.

»Früher«, erzählte der Rapper, »habe ich haupt-sächlich abstoßende ›Lutsch-meinen-Schwanz‹-Textegeschrieben. Sie kamen bei den Jugendlichen sehrgut an. Doch dann merkte ich, dass viele ein falschesBild von mir hatten. Einige kamen zu mir hinter dieBühne und sagten: ›Na, du Ficker!‹ Da erkannte ich,welche Verantwortung ich habe, und beschloss, auchpositive Texte zu schreiben. Hier zum Beispiel dasLied auf meiner neuen Platte!« Der Rapper drücktemir die Kopfhörer in die Hand. »Und hier ist der Textdazu, falls du ihn nicht verstehst.«

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Ich hörte mir seinen Song an und verglich das Ge-sungene mit dem Text auf dem Zettel. Alles stimmteüberein. »Du sollst zu deinen Eltern gut sein, machalles klar mit den Eltern und hör auf, sie zu nerven,die Schule ist wichtig, sei gut in der Schule, gib dei-nem Leben einen Sinn.«

»Ganz toll machst du das«, sagte ich. »Du bist einbraver Rapper. Zum Glück bin ich seit fünfundzwan-zig Jahren raus aus der Schule und habe mit meinenEltern schon längst alles klar gemacht. Was willst dueigentlich von mir?«

»Neulich habe ich einen Brief von einem Jungenbekommen«, erzählte der Rapper weiter. »Nachdemer mein Lied auf MTV gehört hatte, hat er sofortFrieden mit seinen Eltern geschlossen und dann diehalbe Nacht vor Glück geweint! Er hat verstanden,dass seine Eltern nur immer das Beste für ihn woll-ten…«

»Ob er auch in zwanzig Jahren noch so denkt?«,zweifelte ich. »Und sich nicht vorwirft: Herrgott nochmal, hätte ich nur damals diesem Plüsch-Rappernicht zugehört und weiter mit meinen Eltern ge-kämpft, dann würde ich heute nicht als elender Steu-erberater dastehen!«

»Gute Vorbilder sind doch das Letzte, was ein jun-ger Mensch braucht!«, unterstützte mich Jurij. »Er

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braucht Widerstandsgeist, um seine Vorstellungendurchzusetzen.«

»Sehr interessant!«, sagte der Hamburger Journa-list, guckte uns aber verblüfft an.

»Ja, ich hatte zum Beispiel sehr schlechte Vorbil-der«, erzählte ich weiter. »Jim Morrison, der Drogenverherrlichte, seinenVater killen wollte und einen frü-hen Tod starb. Wir hörten ihm zu und dachten, alsoso schlimm wie dieser Morrison wollen wir nichtwerden.«

»Meine Vorbilder waren auch alles Versager«, er-klärte Jurij: »Die Sex Pistols,Dead Kennedys,The Clash.Curt Cobain hat gesungen: ›I hate myself and I want todie!‹ Oder unser Freund Eminem, der sogar seineallein erziehende Mutter killen wollte.«

»Das Gute an schlechten Vorbildern ist, dass sie inder Regel früh sterben und einen nicht das ganzeLeben lang verfolgen«, fügte ich altklug hinzu. »Andersals dieses Beatles-Gespenst Sir Paul McCartney, derden Sechzigjährigen den Traum von der ewigen Ju-gend vertickt!«

»Eigentlich ist nur ein totes Vorbild ein gutes Vor-bild!«, ergänzte Jurij.

Gemeinsam rieten wir unserem Rapper, das mitder Verantwortung sein zu lassen und weiter an sei-nen »Lutsch-meinen-Schwanz«-Texten zu arbeiten.

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»Es kommt bei jedem Publikum gut an, wenn mandarüber singt, was einen wirklich bewegt.«

Der Rapper schien ein wenig verunsichert zu sein.»Trotzdem, trotzdem, Jungs, ihr habt von der heuti-gen Jugendkultur wirklich keine Ahnung«, sagte erund schaute nachdenklich zwischen seine Beine. Un-ser neuer Bekannter gefiel sich offensichtlich in derRolle eines positiven Vorbilds für die kommende Ge-neration.

Wir verabschiedeten uns, und die Gäste fuhrennach Hamburg zurück. Mich beschäftigte das Themaaber noch einige Stunden lang weiter. Denn das In-teressante an dieser so genannten Jugendkultur ist,dass all diese Raver, Punks und Skins irgendwannselbst Eltern werden. Und wenn sie selbst Eltern wer-den, philosophierte ich weiter, was machen sie dannzum Beispiel mit ihren Doc Martens? Schicken sieihre Schuhe nach Sri Lanka oder nach Russland alsEntwicklungshilfe, oder geben sie sie in die Humana-Läden zurück? Wie einst unser schlechtesVorbild ausSt. Petersburg, Viktor Zoi, der vor zwanzig Jahrensang: »Schmeiß deine Pantoffeln zum Fenster raus,Papa! Du warst einmal eine ganz freche Maus, Papa!«An diesem Lied kann ich – nun selber Papa – ewigweiterbasteln…

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Wo sind deine Schuhe von Doc MartensWo hast du deine Glatze versteckt?Du warst doch früher ein Kind von der Straße,Heute suchst du bei den Kollegen Respekt.

Du warst einmal ein Punk, Papa,Du warst einmal ein Hippie, Papa,Du warst einmal ein Rapper, Papa,Du warst ein ganz anderer Mensch.

Nun vergeht dein Leben zwischen Wachenund Schlafen,Zwischen Kühlschrank und Glotze,Zwischen Naschen und Zappen,Schmeiß deine Pantoffeln zum Fenster raus,Erinnere dich doch, du warst einmal eine ganzfreche Maus.

Du warst einmal ein Biker, Papa,Du warst einmal ein Ohoho, Papa,Du warst einmal ein Fußballfan, Papa,Du warst ein…

Wenn meine Kinder mich jemals fragen werden:»Liebes Papulchen, wo warst du zwischen dem Abenddes Jahres 1999 und dem frühen Vormittag 2005?«,

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werde ich antworten: Kinder, ich war DJ bei der Rus-sendisko. Ich würde euch gerne Fotos aus dieser Zeitzeigen, leider sind die meisten unscharf und unter-belichtet, es war dort immer sehr dunkel. Ich könnteeuch ein paar Lieder aus unserem damaligen Pro-gramm vorsingen, ihr werdet sie garantiert nicht er-kennen, weil ich nicht singen kann. Glaubt mir ein-fach: Es war eine schöne Zeit. Ich habe viele Nächtein schummrigen Räumen verbracht, unter Sauer-stoffmangel und vorübergehender Taubheit gelitten.Trotzdem kann ich den Job nur weiterempfehlen. Esist nicht sonderlich anstrengend, ein guter DJ zu sein.Man braucht nur einen Treffer zu landen – ein Liedaufzulegen, das die meisten Gäste als tanzbar emp-finden. Die nächsten Titel müssen dann in etwa dengleichen Rhythmus haben und sich stilistisch anein-ander reihen. Eine gute Tanzstimmung will gepflegtsein, die Gäste sollten am Anfang nicht verwirrt wer-den, damit sie glauben, sie wären in einer ganz nor-malen Disko. Wenn sie sich da sicher sind, kannst duals DJ machen, was du willst. Zum Beispiel gleichnach einer Liebesschnulze einen Heavy-Metal-Songauflegen und dazu ins Mikrofon schreien: ›Come oneverybody! Jetzt geht’s los! Dawaj, dawaj!‹, dann abersofort Reggae, Salsa und Punkrock hintereinanderspielen, richtig auf die Sülze hauen, damit sich alle

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die Beine verdrehen. So macht das Tanzen wirklichSpaß.

Für die meisten DJs ist es egal, welche Art von Mu-sik sie auflegen. Die meisten spielen nur die aktuelleHitparade ab, deswegen arbeiten sie oft hinter einemgepanzerten Glasschild, damit das Publikum sienicht ansprechen, sich beschweren oder sie verdre-schen kann. Das haben wir nie gemacht, wir warenimmer für unser Publikum ansprechbar, egal, in wel-chem Betrunkenheitsgrad wir oder die Leute geradewaren. Sie kamen im Minutentakt zu uns, um ihreFreude mitzuteilen oder uns zu beschimpfen, ihreSorgen loszuwerden oder klarzustellen, dass sie nochviel bessere DJs waren als wir. »Klar«, nickten wir,»jeder ist ein DJ mit seiner eigenen Musik im Kopf.«Nur findet nicht jeder gleich einen passenden Raum,um seine DJ-Qualitäten einem breiten Publikum zupräsentieren. In allen Clubs sitzen bereits irgend-welche Plattenaufleger hinter dem Panzerglas.

Auch wir haben erst 1999 eine Heimat für unse-re Russendisko gefunden. Damals beschlossen einUPS-Brigadier, ein DEFA-Dokufilmer und ein Anar-cho-Dichter, gemeinsam eine Gaststätte in Berlin-Mitte zu betreiben. Der Laden gehörte einer altenDame, Frau Burger, und hieß dementsprechend Kaf-fee Burger, mit Doppel-f und Doppel-e, weil der

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Schmied,der einst das Namensschild angefertigt hatte,betrunken gewesen war. In der DDR hatte diese Gast-stätte trotz des unglücklichen Schildes einen gutenRuf – in der Boheme. Generationen von Lebens-künstlern, Schauspielern und Todesphilosophen ver-soffen dort ihre Tantiemen und Talente. Nach derWende wurde es um den Laden immer stiller, alsokonnten der UPS-Brigadier, der Dokumentarfilmerund der Anarcho-Dichter das »Kaffee« zum Schnäpp-chenpreis ergattern. Doch obwohl die geforderteSumme sehr bescheiden war, hatten die angehendenKneipiers nicht ausreichend Geld auf dem Kontound wollten deswegen einen alten Bekannten, einenausrangierten Stasi-Offizier, der mit den dreien vorder Wende dienstlich zu tun gehabt hatte, mit insBoot nehmen. Der Offizier guckte sich den Laden an,fand aber das Risiko zu groß. »Wer interessiert sichdenn noch für den alten DDR-Kram«, argumentier-te er.

Die letzten zehn Jahre vor der Übernahme war dasKaffee Burger fast ganz ohne Kundschaft über dieRunden gekommen. Die Originaltapete von 1981 inwarmen Brauntönen schmückte noch immer dieWände. Und an der Decke hing noch das Lamettavon einem Achtzigerjahre-Weihnachtsfest sowie diealte DDR-Preistafel mit sozialistischen Sonderange-

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boten: »1 Korn und 1 Pils 89 Pfennig«, weil die Be-sitzerin zu alt war, um auf die Leiter zu steigen unddas Schild abzuhängen. Der Dichter rief mich da-mals an, zeigte mir den Laden und fragte, ob ich mirvorstellen könne, in diesem historisch gesättigtenAmbiente die vielfältige osteuropäische Kultur zupräsentieren. Die muffelige Atmosphäre würde her-vorragend dazu passen. Ich sagte Ja.

Die Enthusiasten hatten sich inzwischen das nö-tige Geld zusammengeborgt und übernahmen dieKneipe. Ich nannte meine osteuropäische Veranstal-tungsreihe konzeptuell »Russische Zelle«, sie solltedamit einen Gegensatz zu der verkitschten russischenSeele bilden. Zusammen mit meinem Freund, demukrainischen Musiker Jurij Gurzhy, haben wir dannim Burger alte sowjetische Filme über den russischenBürgerkrieg gezeigt, die ich synchron falsch über-setzte. Wir haben Lesungen und Konzerte organi-siert und alle zwei Wochen eine Russendisko-Partyveranstaltet, wobei wir die Musik des russischen Un-derground auflegten. Der Dichter, der Filmer undder Brigadier sorgten für den Rest des Programms.Mal engagierten sie einen Doppelgänger von FreddieMercury, der in weißen Strumpfhosen durch denLaden sprang, ein andermal einen Aktionskünstler,der eine brennende EU-Flagge in seinem Arsch ver-

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schwinden ließ. Es war also immer was los. Jeden Tagfand im Burger etwas anderes statt. Man konnte niewissen, was am nächsten Abend passieren würde.Manchmal spielte eine traurige Hardcore-Band, undam nächsten Tag standen junge Autoren auf der Büh-ne, die das Publikum beschimpften.

Die neuen Chefs beschlossen, des historischenWertes wegen die Kneipe nicht zu renovieren. Sie lie-ßen alles so, wie es war, nur die Preise passten sie andie neue Zeit an, weil man von denen auf der altenDDR-Tafel nicht mehr leben konnte. Anfänglich dis-kutierten sie noch innovative Vorschläge, um sichdem westlichen Standard anzupassen: Sie wolltenzum Beispiel eine regional verwurzelte Küche anbie-ten und kauften tonnenweise vakuumverpackte »Gu-laschbriketts«, gaben aber die Küche nach den erstenAusfällen wieder auf. Dann hatten sie die kreativeIdee, einen kleinen Puff im Keller zu platzieren, fan-den aber keine Frauen, die bereit waren, da unten zuarbeiten. Stattdessen quartierte sich dort ihr Elektri-ker ein. Sie beschlossen, alles beim Alten zu lassen.

Die Tapete und das Lametta blieben also hängen,aber nach einem halben Jahr ging uns die osteuro-päische Kultur aus:Wir wollten ja nur das Gute neh-men, und davon gab es im osteuropäischen Bereichnicht allzu viel. Darin unterscheidet sich die osteuro-

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