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Wolfang Rihm, Klangbeschreibung I–III Hausarbeit zum Seminar »Von Krzysztof Penderecki bis Arvo Pärt: Das Phänomen des Klanges« im Wintersemester 2012/13 Florian Pfoh / 3. Semester / MA Musikwissenschaft 120 LP / Matr.Nr. 211239558 MASTERMODUL »ANALYSE UND REZEPTION VON MUSIKWERKEN UND KÜNST LERISCHEN TRADITIONEN« DOZENTIN: PROF. DR. KATHRIN EBERLRUF // EINGEREICHT AM 4. MÄRZ 2013

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Wolfang  Rihm,  Klangbeschreibung  I–III  Hausarbeit  zum  Seminar  »Von  Krzysztof  Penderecki  bis  Arvo  Pärt:  Das  Phänomen  des  Klanges«  im  Wintersemester  2012/13  

Florian  Pfoh  /  3.  Semester  /  MA  Musikwissenschaft  120  LP  /  Matr.Nr.  211239558  

MASTER-­‐MODUL  »ANALYSE  UND  REZEPTION  VON  MUSIKWERKEN  UND  KÜNST-­‐LERISCHEN  TRADITIONEN«  

DOZENTIN:  PROF.  DR.  KATHRIN  EBERL-­‐RUF  //  EINGEREICHT  AM  4.  MÄRZ  2013  

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung

Inhalt WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung I–III für Singstimme und Orchester............................. 2

Einleitung ........................................................................................................................................... 2 Wolfgang Rihm.................................................................................................................................. 2

Werdegang ...................................................................................................................................... 2 Prägende Einflüsse auf Rihms Werk .............................................................................................. 4

Klangbeschreibung I–III ................................................................................................................... 6 Klangbeschreibung II......................................................................................................................... 7 Schluss .............................................................................................................................................. 10 Quellen.............................................................................................................................................. 15 Anhang ............................................................................................................................................. 16

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 2

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung I–III für Singstimme und Orchester

Einleitung Wie schon im Titel ersichtlich beschäftigten sich die Teilnehmenden des Analyse-

Seminars Von Krzysztof Penderecki bis Arvo Pärt: Das Phänomen des Klanges des Winter-

semesters 2012/13 mit Kompositionen, die in mindestens zwei Eigenschaften Gemeinsamkei-

ten aufweisen. Erstens sind sie allesamt im 20. Jahrhundert, mehren teils in dessen zweiter

Hälfte, entstanden. Zweitens lassen sie sich im weitesten Sinne mit dem Untertitel „Phänomen

des Klanges“ subsumieren.

Mit Arnold Schönbergs Idee der Klangfarbenmelodie1, Henry Cowells Cluster-Technik2

und Edgar Varèses (zeitweise völliger) Abwendung vom Ton hin zum Geräusch3 wurden drei

fundamentale Neuerungen in der Musik auf den Weg gebracht, welche das Werkschaffen

vieler nachfolgender Komponisten veranlasst, wenigstens aber beeinflusst haben und teilwei-

se bis in die heutige Gegenwart hinein prägen. In jener Vielzahl von Komponisten lässt sich

auch Wolfgang Rihm verorten.4

Wolfgang Rihm

Werdegang Geboren 1952, aufgewachsen und bis heute wohnhaft in seiner Heimatstadt Karlsruhe,

„wollte [Rihm] als Kind zuerst Maler werden, dann Schriftsteller und zuletzt Komponist.“5

Schon zu Schulzeiten studierte er nebenbei Komposition und erreichte zeitgleich mit dem

Abitur einen ersten Hochschulabschluss in Komposition und Musiktheorie. Schon im jungen

Erwachsenenalter begann seine Karriere als Komponist in den frühen 70er Jahren zunächst

national und begleitet von vielerlei missbilligender Kritik, inzwischen gilt er als „wohl der

1 Vgl. Rainer Schmusch, Klangfarbenmelodie, in: Handbuch zur musikalischen Terminologie, hrsg. von H. H. Eggebrecht, Stuttgart 1972. 2 Vgl. Henry Cowell, New Musical Resources, Cambridge 41996. 3 Zum Beispiel im Klavierstück Guero (1969) von Helmut Lachenmann: das Klavier wird darin fast ausschließ-lich wie ein Schlaginstrument behandelt. 4 Rihm gibt rückblickend an, beim zufälligen Anhören von Varèses Arcana einen Klangausdruck gefunden zu haben, den er schon immer gesucht zu haben scheint, und der ihm fortan seine eigene Wunschvorstellung von Klang klar werden ließ. Vgl. Jean-Noel von der Weid, Die Musik des 20. Jahrhunderts. Von Claude Debussy bis Wolfgang Rihm. Aus dem Französischen von Andreas Ginhold. Frankfurt am Main und Leipzig 2001, S. 458. Die Auseinandersetzung mit Wolfgang Rihms Schaffen stand am Ende des Seminars, zuvor waren die Kompo-nisten Krzysztof Penderecki, György Ligeti, Conlon Nancarrow, Luciano Berio, Giacinto Scelsi, Karlheinz Stockhausen sowie Arvo Pärt und deren Werke als wichtige Vertreter von Klangkomposition in je einer Sitzung behandelt worden. 5 Was Musik wirklich ist. Wolfgang Rihm im Gespräch mit Achim Heidenreich, in: NZfM, Ausgabe vom März 2012, Mainz 2012, S. 8.

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 3

produktivste Komponist seiner Generation.“6 Nach seiner Schulzeit in Freiburg studierte er

eine Jahr lang bei Karlheinz Stockhausen in Köln sowie bei Klaus Huber in Freiburg, wo er

zusätzlich auch Musikwissenschaft bei H. H. Eggebrecht studiert hat.7 Ausgezeichnet mit

zahlreichen hochdotierten nationalen und internationalen Preisen und ausgestattet mit ebenso

bedeutenden (Ehren)-Ämtern zählt er heute zu den wohl einflussreichsten deutschen Kultur

schaffenden Persönlichkeiten der Gegenwart. Dies gilt es stets zu berücksichtigen, wenn es

darum geht, Rihms Äußerungen zu seinem Werk und das Selbstverständnis, sein solides und

vollkommen bodenständig erscheinendes Selbstbewusstsein, mit dem er seine Reden führt

und welches ihn von vielen seiner nicht derart etablierten Kollegen unterscheidet, zu verste-

hen: dann spricht nicht nur der Mann der Muse und Kreativität, sondern immer auch derjeni-

ge, der an den wichtigsten Stellen der deutschen Kulturpolitik sitzt und breite Anerkennung

und Beifall (innerhalb der Neue Musik-Öffentlichkeit) inzwischen auf Lebenszeit gepachtet

zu haben scheint.

Zu den wichtigsten Terminen im Kalenderjahr der Neuen Musik zählen seit vielen Jahren

die Donaueschinger Musiktage sowie die Darmstädter Ferienkurse. Das jährlich stattfindende

Festival in Donaueschingen wurde im Jahre 1921 unter dem Namen Donaueschinger Kam-

mermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst ins Leben gerufen und trägt

seinen heutigen Namen seit dem Festival des Jahres 1971. Zahlreiche Werke von Komponi-

sten wie Alban Berg, Paul Hindemith, Arnold Schönberg oder Anton Webern wurden dort zur

Uraufführung gebracht, seit 1950 (bis 1962 unter der Leitung von Hans Rosbaud) firmiert

dort das SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden, seit 1998 unter dem Namen SWR Sinfonieor-

chester Baden-Baden und Freiburg (ab 2016 Fusion8 mit dem RSO Stuttgart).9 Wolfgang

Rihm besuchte die Donaueschinger Musiktage erstmals 1968, bereits 4 Jahre später, 1972

gelang ihm dort der „Durchbruch“10 mit der Uraufführung von Morphonie – Sektor IV, einem

Orchesterstück.11

Als Dozent folgt Rihm seit 1978 immer wieder Einladungen der Darmstädter Ferienkurse

(gegründet 1946), welche einerseits durch Kompositionskurse von Komponisten wie Edgar

6 Ulrich Mosch, Wolfgang (Michael) Rihm in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd. 14, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel etc. 2005, Sp. 113. 7 Vgl. ebd. 8 Dpa-Meldung vom 7. Dezember 2012 in der Badischen Zeitung. 9 Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik. Donaueschingen. Chronik. Tendenzen. Werkbesprechungen. Kassel etc. 1996. 10 Zit. nach Ulrich Mosch, ebd. 11 Ebd.

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 4

Varèse und Karlheinz Stockhausen zu internationaler Geltung gelangt sind, andererseits auch

späteren Berühmtheiten der Neuen Musik den Weg zum Durchbruch geebnet haben.12

Prägende Einflüsse auf Rihms Werk Selbst nur die wichtigsten prägenden Einflüsse – geschweige denn alle – auf ein Leben und

Wirken benennen können zu wollen wäre wohl anmaßend. An dieser Stelle soll lediglich Auf-

fallendes benannt werden, welches sich in Schriften über und von Wolfgang Rihm finden

lässt. Demnach scheint es für Rihms Schaffen neben dem Aufnehmen und Verarbeiten von

alltäglichen Sinneswahrnehmungen im wesentlichen und allgemeinen drei Arten von Quellen

der Inspiration zu geben: Musik, bildende Kunst und Literatur, wobei die Reihenfolge der

Nennung hier keine Gewichtung anzeigen soll.

Aus der Sphäre der Musik begegnet nach dem Namen Varèses13 der seines ersten Kompo-

sitionslehrers Eugen Werner Velte. In einer 1985 gehaltenen Rede nennt Rihm ihn seinen

„Mentor“, der ihm „Vorbild und Verpflichtung zuwachsen“ ließ, ihn in seine „denkbar inter-

disziplinär[e]“ Anschauungen einbezogen und ihm „Kraft zu einer querständigen Meinung“

verliehen habe.14

Rihms nächste Station auf seinem Erfolgsweg war Köln (1972/73). Bei Karlheinz Stock-

hausen blieb er ein Jahr lang.15 Trotz seiner „nominellen“ Begrenztheit der einjährigen Stu–

dienzeit bei Stockhausen sah er sich offenbar noch 1997 in seinem großen Monolog – um

nicht zu sagen seinem »Selbstgespräch« ausgesprochen – zumindest aber zum Zeitpunkt der

Rede 1986 auf Stockhausen als dessen „unterirdischer“ Schüler mit den erst seit dem Studium

bei Stockhausen erworbenen Eigenschaften „Sicht offen, die Luft atembar, der Kopf frei“.16

12 So etwa im Falle John Cages, „[dessen] Vortrag Die Musik als Prozeß, den [er] 1958 in Darmstadt hält, ihn berühmt [macht]; sein Ruhm wird durch den Skandal, den die Uraufführung von Konzert für Klavier und Orche-ster (1958) in der Town Hall in New York auslöst, befestigt.“ Jean-Noel von der Wied, a. a. O., S. 355. Einen umfassenden Überblick über die Geschichte sowie ein Verzeichnis über zurückliegende Darmstädter Ferienkurse bietet die Seite des Internationalen Musikinstituts Darmstadt unter dem URL: http://www.internationales-musikinstitut.de/index.php?option=com_content&view=category&layout=blog&id=17&Itemid=25&lang=de [abgerufen am 3. Februar 2013]. 13 Vgl. oben, Anm. 4. 14 Wolfang Rihm, Ausgesprochen. Schriften und Gespräche, Bd. 1, hrsg. von Ulrich Mosch, Winterthur 1997, S. 300. Im selben Jahr 1985 tritt Rihm die Nachfolge des 1984 verstorbenen Velte als Professor für Komposition in Karlsruhe an. Vgl. Ulrich Mosch, a.a.O., Sp. 113. 15 Für Karlheinz Stockhausen hält Rihm später Festreden zu dessen 50. Geburtstag und anlässlich der Verleihung des Ernst von Siemens-Musikpreises 1986, den er 2003 wiederum selbst in Empfang nehmen wird. In seiner Rede 1986 stellt er Karlheinz Stockhausen Schaffen in Reihe mit den Werken Beethovens, Wagners und Schön-bergs, die „mit ähnlichen Problem umgingen“ wie die „Arbeit [Stockhausens] mit Formeln, Gestaltableitungen und verschiedenen Vollkommenheitsgraden“, mit dem Unterschied allerdings, dass „die aber das Ergebnis wie-der einer Un-einsehbarkeit überantworteten“, Stockhausens Musik dagegen „einsehbar“ sei.Wolfgang Rihm, a.a.O., S. 326. 16 Ebd. (ausgesprochen 1997), S. 324.

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 5

Es folgten Studien bei Hans Heinrich Eggebrecht und Klaus Huber in Freiburg bis ins Jahr

1976. Ulrich Mosch nennt neben diesen beiden noch die Namen Killmayers, Nonos und La-

chenmanns, mit denen Rihm regen Austausch führte und mit die prägendsten Einflüsse auf

ihn hinterlassen haben sollen.17

Auf dem Gebiet der bildenden Kunst als Einfluss auf sein Schaffen scheint der Zufall eine

gewisse Rolle gespielt zu haben.18

„Später, in den frühen 1980er Jahren, als ihm durch seine erste Frau, die Kunstrestauration Irmgard Johanna Feldhausen, ein aus der Welt der bildenden Kunst stammendes Vokabular zugänglich geworden war, welches ihm gestattete, seine kompositorischen Vorstellungen auf neue Weise zur Sprache zu bringen, sprach er […] von der »Haptik« des Materials, wie er überhaupt in dieser Zeit den Kompositionsprozess als dem Mal-Akt oder dem Schaffensvor-gang eines Bildhauers analog sich vorzustellen begann.“19

In der Tat ist Rihms Sprache, die er bei Äußerungen über seine eigene Musik macht, später

noch immer stark vom Vokabular der Bildhauerei und Malerei geprägt.20

Auf dem Gebiet der Literatur nennt Max Nyffeler drei „Starke Inspirationsquellen“:21

Friedrich Nietzsche, Antonin Artaud und Heiner Müller. In der Chronologie sowohl als frühe-

ster als auch als nachhaltigster Einfluss auf Rihms schaffen gilt demnach Nietzsches literari-

sches Werk, Nyffeler macht einen Schwerpunkte in der Zeit zwischen 1976 und 1987 aus.22

Für den Bereich des Musiktheaters spielt offensichtlich der Bühnenschriftsteller Antonin

Artaud die herausragende Rolle in Rihms Schaffen. Auf ihn gehen Tutuguri (1981/82), Die

Eroberung von Mexico (1987–91) und Séraphin (1994) zurück. Bedeutend für Rihm war aber

auch der Einfluss des Deutschen Heiner Müllers, dessen Hamletmaschine (1979) von ihm

vertont wurde (1983–86).

17 Ulrich Mosch, Wolfgang (Michael) Rihm in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd. 14, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel etc. 2005, Sp. 113. Auch die Laudatio auf Helmut Lachenmann anlässlich der Verleihung des Ernst von Siemens-Musikpreises 1997 zu halten fällt auf Wolfgang Rihm. Darin präsentiert Rihm den Komponisten Lachenmann als eine feste Burg gegen „ein lebloses Musikleben, wo in leblosen Ritua-len leblose Teile einst lebendiger Körper an Unbewegliche verfüttert werden“. Wolfgang Rihm, ausgesprochen, S. 341. 18 Der Soziologe Niklas Luhmann urteilt über die Zufälligkeit von Biographien: „Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle.“ Niklas Luhmann, Short Cuts, (=Short Cuts 1), hrsg. v. Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weinmann, Frankfurt am Main 42002, S. 16. 19 Ulrich Mosch, a.a.O., Sp. 119f. 20 „Klangbeschreibung kann als eine Übermalung der Bildbeschreibung von Heiner Müller gehört werden.“ Wolfgang Rihm, a.a.O., S. 360. 21 Titel eines Dossiers von Max Nyffeler im Programmbuch zu den Europäischen Kulturtagen Karlsruhe 2012, S. 104–107. 22 Vgl. Max Nyffeler, Drei starke Inspirationsquellen. Nietzsche, Artaud und Müller, in: Musik baut Europa. Wolfgang Rihm. 21. Europäische Kulturtage Karlsruhe. Programmbuch, hrsg. vom Kulturamt der Stadt Karls-ruhe sowie vom Badischen Staatstheater Karlsruhe. Karlsruhe 2012, S. 104–107, hier: S. 104. Darin wird Rihm mit den Worten „Nietzsche vertonen ist wie in einen Klangzusammenhang hineinsingen, in bereits bestehenden Gesang Stimme einlassen“ zitiert. Ebd.

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 6

Klangbeschreibung I–III Josef Häusler, Intendant der Donaueschinger Musiktage 1975–91, bezeichnete Klangbe-

schreibung als „Dreiflügelbau von ungleichen Proportionen“, dessen „rechter Flügel die dop-

pelte Ausdehnung des linken“ habe und mit einem „kostbaren Herzstück“, einer „Nietzsche-

Vertonung für vier Frauenstimmen, fünf Blechbläser und sechs Schlagzeuger“ versehen sei.23

Unter der Vielzahl an umfangreichen Musikstücken aus der Feder Wolfgang Rihms, die er

mit der Metapher von „Dreitausender“-Bergen versieht, erkennt er die drei Klangbeschrei-

bungen als Eiger, Mönch und Jungfrau in Anlehnung an die Berg-Dreiergruppe der Berner

Alpen.

Es handele sich um „eine musikalische Ausdrucksweise, die gleichsam nur aus nebenein-

andergestellten Einzelworten, Silben, Lauten besteht und dennoch auf unerklärliche Weise zu

innerer organischer Einheit“ fände. Dabei spiele „das Entwicklungsmoment […] eine nur se-

kundäre Rolle“.

Die ersten Arbeitsschritte zu Teil I mit einer Länge von circa 20 Minuten unternahm Rihm

bereits 1982. Erst nach Abschluss der beiden Teile II und III vollendete bzw. korrigierte er

Teil I „für drei Orchestergruppen“ noch einmal in den Jahren 1987 und ’88. Im Vorwort der

Studienpartitur, die vom Verlag in der Rihmschen Handschrift abgedruckt wurde, heißt es,

der in Teil I enthaltene Klang bleibe „stets schlank“ und werde „beschrieben, indem fast jeder

Ton eine andere Farbe aufweist“. Dabei habe der Hörer „den Eindruck, dass Instrumente und

Instrumentengruppen einander Zeichen geben oder miteinander einen Austausch führen“. Sie

nähmen „sich Zeit“, die Tempi seien „eher langsam“, die Töne „mit Pausen voneinander ge-

trennt“.24 Des Weiteren ist die Rede von „Rihm-typische[n], unerwartete[n] Ausbrüche[n], die

ohne Konsequenz“ blieben. Zitiert wird Rihm selbst mit den Worten: „beschrieben wird

nichts.“25

Ganz anders besetzt ist Teil II: 4 Frauenstimmen, 5 Blechbläser und 6 Schlagzeuger. Im

Titel liest man die Ergänzung „auf ein Gedicht von Friedrich Nietzsche“. Das Vorwort setzt

hierzu allerdings an: „Dies ist keine Vertonung des Gedichts Der Wanderer und sein Schatten

– ein Buch von Friedrich Nietzsche: es geht Rihm nicht um Wortverständlichkeit.“ Ähnlich

wie in Teil I antworten die „Instrumente […] einander, dienen einander als Echo, oder als

23 Josef Häusler, Klangbeschreibung im Text zur CD Wolfgang Rihm, Morphonie, Holzgerlingen 2000. 24 Trotz des langsamen Tempos erweist sich das Mitlesen der Partitur während des Nachhörens aufgrund der Dreigruppierung des Orchesters als außerordentlich schwierig (Anmerkung des Verfassers). 25 Vorwort (ohne Nennung eines Verfassers) zu Wolfgang Rihm, Klangbeschreibung. Studienpartitur der Fas-sung V, Wien 1988.

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 7

Anlass für den Einsatz von einzelnen oder chorischen, schwebenden Frauenstimmen.“26 Zi-

tiert wird Rihm mit den Worten „Jeder Klang: die Skulptur seiner selbst.“

Die Klangkompositionsweise der beiden ersten Teile setzt sich in dem in den Jahren 1984

und 1987 entstandenen dritten Teil fort, diesmal mit ungefähr doppelter Spielzeit (circa 38

Minuten) und eingerichtet für ein ungeteiltes großes Orchester. Wie auch die anderen Teile

bestehe Teil III

„aus zeichenartigen Klängen und Klanggruppen; eine Form im traditionellen Sinne des Begriffs lässt sich schwer definieren. Die Pausen spielen eine fast so wichtige Rolle, wie die Töne; der Klangfarbe kommt eine besondere Bedeutung zu. Eine geheimnisvolle Musik, bei der der Komponist selbst sich schwer tut, Worte der Erklärung zu finden. Im Programmbuch der Donaueschinger Uraufführung versucht er es, mit einer Aufzählung der Titel mancher eigener Stücke: „… eine Art schwarzes Loch, in das Spuren, Zeichen, Umrisse, Dämmerun-gen und Aufzeichnungen einstürzen. Als wären sie wirklich.“

Klangbeschreibung II Der Klangbeschreibung II (28:55 min., Länge der Spielzeit auf CD)27, dem einzigen Teil

mit Singstimmen und Text, entstanden im Jahre 1987, liegt das Nietzsche-Gedicht Der Wan-

derer und sein Schatten zugrunde:

Nicht mehr zurück? Und nicht hinan? Auch für die Gemse keine Bahn? So wart’ ich hier und fasse fest, Was Aug’ und Hand mich fassen lässt! Fünf Fuß breit Erde, Morgenrot, Und unter mir – Welt, Mensch und Tod!

Wolfgang Rihm hat nur die Fett gedruckten Worte in Musik gesetzt und »warte« zu »warten«,

»fasse« zu »fassen« und »unter« zu »unten« verändert.

Josef Häusler bemerkt im Programmheft der Berliner Festwochen 1997, dass „Rihm die

verbale Linearität verlassen und sich auf die sinnstiftenden, bedeutungstragenden Schlüssel-

worte konzentriert“ habe. Dabei war ihm offensichtlich nicht immer klar, welche Worte für

ihn nun an welcher Stelle die „bedeutungstragenden“ sein sollen (Abb. 1).28 Diese Art von

Unklarheit wird in der Partitur regelrecht zur Schau gestellt, Rihm versucht auch an anderer

26 Ebd. 27 Wolfgang Rihm, Morphonie, Holzgerlingen 2000. 28 Josef Häusler, Rihm und Nietzsche. Klangbeschreibung II, in: Programmheft der Berliner Festwochen 1997. (Die Angabe der Seitenzahl fehlt, weil der aus dem Programmhefttext herausgelöste Artikel vom Wiener Verlag Universal Edition ohne genauere Quellenangabe zur Verfügung gestellt wurde und dem Verfasser kein Zugang zum vollständigen Programmheft des Jahres 1997 möglich war. Dennoch dankt der Verfasser an dieser Stelle dem Verlag für vielfältige Hilfen sowie für die Erlaubnis, Ausschnitte der vollständig zur Verfügung gestellten Partitur verwenden zu dürfen ebenso wie dem Rihmcenter der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsru-he.)

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 8

Stelle nichts zu verbergen, indem er freimütig verkündet: „Klangbeschreibung ist ein work in

progress, ein unabgeschlossenes Schlüsselprojekt der Moderne, Ausbruch aus traditioneller

Formwelt und Aufbruch in eine ästhetische terra incognita zugleich.“29 Ein eventueller An-

spruch auf Vollkommenheit oder Abgeschlossenheit wird in weite Ferne gerückt, Unsicher-

heit und Individualismus finden hier ihren wiederum selbstbewussten Ausdruck.

Abb. 1: Klangbeschreibung II, Takte 34–38. Zweiter Einsatz der vier Frauenstimmen „mehr zurück“: zunächst steht in Singstimme 1, dem hohen Sopran, ein „nicht“, welches später durch „mehr“ ersetzt wurde.

Im Kontext der 3 Teile der Klangbeschreibungen in ihrer Gesamtheit heißt es ebenda:

„Klangbeschreibung II: Reduktion des Instrumentariums bei gleichzeitiger Erweiterung des

(Vokal)-Klangraumes.“ Das leuchtet ein: ein abgespeckter instrumentaler Klangkörper wird

in den Konzertraum verteilt (Abb. 2, mit dem Horn in der Raummitte ein noch aufwändigeres

Design als etwa bei modernen Heimkino-Klangsystemen), die mangelnde Farbenvielfalt ge-

genüber einem großen Orchester durch den Einsatz der Vokalstimmen kompensiert. Obgleich

die vier Frauenstimmen sich in verhältnismäßig engen Schranken der zur Verfügung stehen-

den Stimmlagen (hoher Sopran bis Mezzosopran) halten, werden innerhalb dieser Schranken

– zu denen hier auch das Prinzip der stehenden Töne gehört – die Klangmöglichkeiten jedoch

intensiv in Anspruch genommen. Von höchster bis tiefster Registrierung über Töne der Mit-

tellage und gesprochenem bzw. gerufenem Wort kommen alle Stimmregister zum Einsatz,

29 Wolfgang Rihm, Klangbeschreibung I, II und III (Zur Verfügung gestellt ebenfalls vom UE Verlag Wien ohne weitere Quellenangabe). Der vollständigen Text befindet sich im Anhang dieser Arbeit.

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auch die Farbenvielfalt der menschlichen Stimme wird nahezu ausgereizt: alle Vokale bis auf

das „ö“ kommen mindestens einmal in den vertonten Wörtern vor.

Abb. 2: Instrumentierung und Aufstellung im Konzertraum: Auf der Bühne die vier Sängerinnen, links und rechts neben diesen je ein Schlagzeuger. Vier weitere Posten, bestehend aus je einem Schlagzeuger und einem Blechbläser an den vier Ecken, die das Publikum in ihrer Mitte einschließen. Trompeten hinten rechts und vorne links, Posaunen hinten links und vorne rechts. Inmitten des Publikums ein Hornist. sechs Alle Schlagzeuger spielen ein unterschiedliches Ensemble von Schlaginstrumenten.

Höchst individuell müssen auch die Klangeindrücke wirken, die durch die besondere Auf-

stellung der Instrumentalisten im Publikum hinterlassen werden. Käme das Publikum bei ei-

ner Aufstellung ohne die Mittelposition des Horns zumindest tendenziell in einen gleicharti-

gen Klanggenuss, teilt der Punkt, an dem das Horn spielt den Publikumsraum in die eben in

der Skizze auch sichtbaren viert Teile unterschiedlicher Klangqualitäten: Für je einen Teil

Klangbeschreibung II (innere Grenze)für vier Singstimmen, fünf Blechbläser und sechs Schlagzeugspieler (1986/1987) Text von Friedrich Nietzsche Wolfgang Rihm

(*1952)

© Copyright 1987 by Universal Edition A.G., Wien Universal Edition UE 18915, UE 33380

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 10

erklingt das Horn gemeinsam, jedoch näher am Ohr, aus ungefähr einer Richtung gemeinsam

mit dem Bläser-Schlagzeug Paar an den Publikumsraum-Ecken. Rihm erklärt zu dieser Auf-

stellung: „drei Klanggruppen, in den Raum gespannt. Der Hörer sitzt im Hirn des Klangs.

(Zuckungen, Reflexe …) Vorn die Anschauung: ein Text, der das Fassen des Gerade-noch-

Erreichbaren befiehlt.“30 Dies scheint noch eher Verständlich als seine Assoziationen, die

Klangbeschreibung II in Analogisierung zu Techniken der bildenden Künste zu setzen versu-

chen: „Jeder Klang: die Skulptur seiner selbst.“ Dies mutet einerseits als universell einsetzba-

rer Allgemeinplatz an, das Wort Klang könnte in anderen Zusammenhängen beliebig durch

andere Subjekte ersetzt werden: Jeder Mensch: die Skulptur seiner selbst. Jeder Baum: die

Skulptur seiner selbst usw. Zuvor schon muss man sich jedoch fragen dürfen, was an Rihms

Musik hier speziell mit einer Skulptur in Vergleich zu setzen sei. Man kann sich des Ein-

drucks nicht erwehren, das hier von Rihm eine quasi synästhetische Neigung bzw. Begabung

beim Rezipienten vorausgesetzt wird. Die Lust, Klänge im Verein mit sichtbaren Formen und

Farben wahrzunehmen scheint hier unabdingbare Voraussetzung dafür zu sein, dem Kompo-

nisten in seinen Ausführungen zu folgen.

Schluss Dies muss auch für Rihms Metapher der Übermalung gesagt sein. Noch schwerer wird es

dem literarisch wenig beschlagenen, der sich dann möglicherweise ziemlich bloßgestellt füh-

len wird, wenn er zur Kenntnis nehmen soll:

„Klangbeschreibung kann als eine Übermalung der Bildbeschreibung von Heiner Müller gehört werden. […] BILDBESCHREIBUNG kann als eine Übermalung der ALKESTIS gele-sen werden, die das No-Spiel KUMASAKA, den 11. Gesang der ODYSEE, Hitchcocks VÖ-GEL und Shakespeares STURM zitiert.“

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er schon ausgestiegen sein, bevor er etwas allgemein

verständlicheres vielleicht doch noch aufzuschnappen vermag:

„Der Text beschreibt eine Landschaft jenseits des Todes. Die Handlung ist beliebig, da die Folgen Vergangenheit sind, Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur.“31

Schnell drängt sich hier die alte Frage auf: macht es Freude, sich mit Kunst wie dieser aus-

einanderzusetzen? Soll Kunst überhaupt auf Erbauung abzielen müssen? Und wenn sie doch

auch beleben und/oder erfreuen soll, wie wenige Menschen befinden sich auf einer solch kul-

turell-intellektueller Höhe, um wirklich geistig mitzugehen, mitzufühlen und nicht betreten

und sich für ihre Unwissenheit schämend so tun als ob sie noch dabei wären.

30 Wolfgang Rihm, ausgesprochen, S. 362. 31 Ebd., S. 360.

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 11

Die hier einzig mögliche Verfahrensweise, immer wieder punktuell oder linienförmig Zita-

te Rihms für einen größeren Kontext aufzubereiten, kann dazu verführen, ein einseitiges Bild

zu erzeugen. Dem entgegenzuwirken soll dagegen ein anderes Zitat belegen, dass Rihm sich

sehr wohl auch auf verständliches Beschreiben ganz profaner, technischer Angelegenheiten

des Komponierens versteht. So formuliert er in Form von Fragen die Prozesse des Komponie-

renden bei der Arbeit:

„Wie geht es weiter? Nicht mit der Kunst, der Welt, oder überhaupt, sondern ganz konkret: im Klangtext. Woher kommt die Energie zum nächsten melodischen Schritt, wie lange wird der rhythmische Verlauf noch anhalten, wann wird er mit einem Harmonik-Ruck sich ändern, gibt es überhaupt einen Verlauf, der gerichtet ist, was folgt auf diesen Perkussionsakzent, was muss vor diesen Farbklang gestellt werden, dass er diesen und diesen Schatten werfen kann, wie wird die Pause anschwellen, schrumpft das Crescendo schon vor dem Mittelwert, kommt es zu einer Wiederholung, muss auf eine lange Zeitstrecke dieselbe Farbe insistent gehalten werden, welche rhythmische Struktur wird sie annehmen müssen, um als insistenz gegriffen zu werden, woher gewinnt der Klang seine Physiognomie, wohin tendiert der Zentralton – also der effektivste Ton dieses Klanges –, muss seiner Richtung gefolgt werden oder bedarf es einer Gegenaktion, einer Durchstreichung, wann muss es zu einer zufälligen Setzung kom-men, wann muss diese wieder getilgt und an gleicher Stelle mit gleichem Umriss und angegli-chener Gestalt neu unternommen werden, um wieder getilgt und in dritter – erinnerter – Ge-stalt an anderer Stelle eingeworfen zu werden, wie geht es weiter, wohin weiter …?“

Die Auseinandersetzung mit Rihms Musik ebenso wie mit Neuer Musik allgemein fordert

Hörerinnen und Hörer heraus. Von vielen abgelehnt, von wenigen hochgeschätzt polarisiert

sie und lässt vermutlich nur die wenigsten kritischen Rezipienten kühl zurück. Letzteres

scheint mir jedoch angebracht als Empfehlung für diejenigen, die nicht oder, vielleicht (?),

noch nicht begeistert sein können von jenen Entwicklungen in der Tonkunst, deren Aus-

gangspunkte in den Schriften Busonis ebenso zu finden sein können wie in den Kompositio-

nen der zweiten Wiener Schule. Eine vorzeitige allzu große Ablehnung Neuer Musik verstellt

den Blick bzw. das Gehör vermutlich auf ähnliche Weise wie die blinde bzw. „taube” Vereh-

rung derselben. Dies scheint auch für die Musik Rihms zu gelten. Aber nicht nur für die Mu-

sik, sondern auch für die Sphäre um seine Person herum. Die Stadt Karlsruhe adelt „ihren“

Komponisten im Jahr 2012 mit der Ausrichtung der Europäischen Kulturtage, die sich aus-

schließlich – wenn nicht um seine Kompositionen – um den Kosmos des Meisters drehen.

Zuvor schon erntet Rihm bereits quasi alles an Preisen, was in der Musikwelt von Bedeutung

war und ist. Hier darf die Frage erlaubt sein, inwiefern Würdigungen solchen Ausmaßes sich

rechtfertigen lassen. Die Antwort kann aber naturgemäß nicht gegeben werden, ohne dem zu

Beurteilenden Unrecht zu tun. In der Regel scheint es doch so zu sein, dass diejenigen, die

sich auf die Rezeption Neuer Musik verstehen, diese gleichzeitig auch schätzen und würdi-

gen. Andere, ebenfalls Kunstgewogene, musikalische Kenner und Könner verbergen dagegen

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 12

nicht ihre Ablehnung, was sich ja leicht dadurch erklären lassen könnte, dass, wer etwas nicht

näher kennengelernt hat, kaum in der Lage sein dürfte, ein gerechtes, oder zumindest fundiert

begründetes Urteil über den strittigen Gegenstand zu finden. Hierin ist ein scheinbar unüber-

windbares Dilemma angelegt. Aus soziologischer Perspektive tritt hier der Bourdieusche Be-

griff des Kapitals auf den Plan: Wer von Haus aus (also von seiner Familie) mit dem kulturel-

len Kapital moderner Kunst und / oder Musik (meistens wohl beides in gewissem Maße) aus-

gestattet groß wächst, bei der oder dem stehen die Chancen sehr viel höher, dass sie oder er

einen natürlichen Zugang zur als exklusiv zu bezeichnenden Kunst (man denke in diesem

Zusammenhang vielleicht auch an den Begriff der musica reservata des Renaissance- und

Barock-Zeitalters) Neue Musik und ihrer zugehörigen Gesellschaft behalten oder finden wird.

Alle anderen, mit kulturellem Kapital minder bemittelten, bemühen sich entweder tapfer

durch fleißige Lektüre und den Besuch von Neue Musik-Aufführungen, sich doch noch eine

Zugehörigkeit zum erhabenen Kreis der Kenner zu erarbeiten oder lassen es eben sein, weil

sie das, was da aus der Feder und dem Munde der Komponisten kommt für nichts anderes als

eine unerträgliche Zumutung halten müssen. Dessen

Was die Einordnung Rihms im Umfeld der jüngeren Neuen Musik anbelangt, lassen sich

bei Rihm einige Eigenschaften ausmachen, die für viele junge Neue Musik-Komponisten ty-

pisch zu sein scheinen:

Intellektuelle Herangehensweisen, Individualismus, interdisziplinäre Konzepte; bildende

Kunst, Literatur und Philosophie, die als Bezugspunkte ins Musikschaffen und in die Diskus-

sion darüber mit einbezogen werden; die Freiheit, bis dato „unerhörte“ Neuschöpfungen nicht

nur in der Klang- sondern eben auch in der Wortwahl hervorzubringen32, die es ihm erlaubt,

gleichsam eine eigene Philosophie neben der Tonkunst mitzuliefern. Die geistigen Nebener-

güsse dieser Art erscheinen oft interessanter, manchmal vielleicht auch wertvoller oder aber

aufsehenerregender als der Klang der aus derselben Freiheit geborenen Musik.33 Für Wolf-

gang Rihm scheinen Intellektualität, Individualismus, ein ausgeprägtes, umfassendes Mittei-

32 Des Neologismus’ bedient sich Rihm in seinen Schriften auffallend oft. So bringt Rihm seine Klangbeschrei-bung II etwa mit dem „Wunsch nach diesen End-Rand-Rest-Zuletzt-Situationen“ in Verbindung, den er auch in dem zugrundeliegenden Nietzsche Gedicht Der Wanderer und sein Schatten erkennt. Wolfgang Rihm, ausge-sprochen, S. 362. Dadurch erreicht er vieles: eine gewisse Distanz zu alt hergebrachtem, gewöhnlichem, sprachliche Tabubrüche (meist in Verbindung mit handfesten gesellschaftskritischen Attacken, wie z.B. „Aber nein kann ich auch nicht sagen, denn das Nein gibt es nicht mehr. Es ist aufgebraucht, von Gartenzwergen verzehrt, in Fortbildungskurse wegdeformiert.“ ausgeprochen, S. 361) aber auch Denkanstöße, Reflexionen über alte oder neue Sinne von bislang oft einseitig konnotierten Begriffen (Bsp. Bach und die „Traditionspflege“ Ebd., S. 213). 33 Man erinnere sich an den aufsehenerregenden Kommentar Stockhausens zu den Angriffen des 11. September 2001 auf US-Pentagon und New York World Trade Center auf einer Pressekonferenz am 16.9.2013 in Hamburg („[…] jetzt müssen Sie alle ihr Gehirn umstellen […]“). Wie unspektakulär dagegen erscheinen selbst seine spektakulärsten Musikinszenierungen!

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 13

lungsbedürfnis, interdisziplinärer Diskurs zwischen Tonkunst und bildender Kunst sowie phi-

losophischer und belletristischer Literatur ebenso wichtig wie für viele seiner heutigen Zunft-

kolleginnen und Kollegen zu sein. Besonders bei Rihm zu berücksichtigen ist jedoch seine

exponierte Machtstellung, die es ihm erlaubt, seine Gedanken, Meinungen, Ansichten zu

transportieren und mehr gehört und be- bzw. geachtet zu werden als viele seiner weniger er-

folgreichen Kollegen. So kommt er zu eigenen Ansichten und seine einflussreiche Position

verhilft ihm mit zur Freiheit, die er als eine Forderung der Musik betrachtet und – mit Vorbe-

halt – sogar mit Musik selbst gleichsetzt: „Musik ist die Forderung nach Freiheit, ist vielleicht

selbst Freiheit.“34 Für ihn selbst mag das wohl stimmen: groß und bedeutend geworden mit

seiner Musik, frei, das zu tun und zu lassen, zu sagen und zu verschweigen was er mag.

Glücklich, gehört, geachtet und verehrt zu werden; sicherlich nicht von sehr großen Massen,

aber das war und ist sicherlich auch nicht sein Anliegen. Der spätestens seit Schönberg voll-

zogenen Selbstausgrenzung der avantgardistischen zeitgenössischen Musik aus einer Kultur-

produktion, die sich am primär am Geschmack der Kulturkonsumenten35 orientiert, entgegen-

zuwirken, legte der Deutsche Musikrat im Jahr 2012 ein Programm für den gymnasialen Mu-

sikunterricht auf, das sozusagen mittels staatlicher Gewalt die Jugend an die sonst so unnah-

bare Neue Musik heranführen soll. Die Kampagne, an der sich auch Wolfgang Rihm mit sei-

ner Komposition Chiffre III. Manische Linien beteiligt hat, soll auch auf andere allgemeinbil-

dende Schulen ausgeweitet werden.36 Die filmisch dokumentierten Erfolge machen deutlich,

welche Chancen die Auseinandersetzung mit Neuer Musik für Jugendliche theoretisch in sich

birgt:37 Toleranz gegenüber dem Fremden, Unbekannten, Mut für eigenwillige Kreativität,

eben auch im Bereich des Komponierens.38 Hierbei kommt die Fokussierung der Neuen Mu-

34 Letzter Satz in einem Nachruf auf seinen Lehrer Eugen Werner Velte. ausgesprochen, S. 299. 35 Vgl. Th. W. Adornos Klassifizierung der „Typen musikalischen Verhaltens“ in Th. W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1962, S. 14–34. 36 Das Projekt heißt Abenteuer Neue Musik und wurde vom DMR gemeinsam mit dem Schott Verlag und dem CD-Label Wergo ins Leben gerufen. Informationen z.B. unter http://www.nmz.de/media/video/abenteuer-neue-musik [abgerufen am 3.3.2013]. 37 http://www.youtube.com/watch?v=v_NBMa77dnU [abgerufen am 3.3.2013, auf youtube gestellt am 29.10.2012 und in dieser Zeit 128 (!) mal abgerufen] an ähnlich hervorragender Produktionsqualität wie Rihms persönliches Porträt http://www.youtube.com/watch?v=8kN2oBmYNr8 [abgerufen am 3.3.2013, voller Lob-hymnen auf den Komponisten]. 38 Die vergleichsweise aggressive Eigen- und Mitgliederwerbung der Neuen Musik-Bewegten hat in der Ver-gangenheit immer wieder auch dazu geführt, dass junge Musikbegeisterte, die nicht halb so viele Fähigkeiten in klassischem Tonsatz inklusive Kontrapunkt, Gehörbildung etc. wie etwa angehende A-Kirchenmusik- oder Ka-pellmeister-Studierende mitbringen müssen, als Kompositionsschüler namhafter Professoren an Deutschen Hochschulen aufgenommen wurden und, ähnlich John Cage, der nichts von klassischem Tonsatz wie ihn seiner Zeit noch Schönberg unterrichtet hatte, wissen wollte (Vgl. hierzu Steffen Rother, Die Herausforderung des Werkbegriffs bei John Cage. Grin Verlag [München] 2009 [elektronische Ressource], S. 5.), die alte Art des Komponierens gar nicht mehr kennen lernen mussten. Den Vorwurf, zu jenen Komponisten Neuer Musik zu zählen, die nicht in der Lage wären einen einfachen vierstimmigen klassischen Choralsatz zu komponieren, kann man Rihm nicht machen. Zeugnis von seiner fundierten Tonsatzkenntnis gegeben hat er beispielsweise in vielen

WOLFGANG RIHM, Klangbeschreibung 14

sik auf das Phänomen des Klangs den Jugendlichen vermutlich entgegen: ohne mühsam zu

erarbeitende Kenntnisse musiktheoretischer Art wird ein direkter Weg zur Komposition be-

schritten, dem zunächst einmal keine Schranken auferlegt sind und jenseits von strengen Re-

geln direkt zur Gestaltung mit den Parametern Klang, Raum und Zeit gelangt.

kleinen Walzern (1979/88, siehe Werkverzeichnis Wolfgang Rihm beim Verlag Universal Edition Wien) für Klavier zu vier Händen, die er im Stile Brahms’ geschrieben hat.

Quellen Th. W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1962.

Henry Cowell, New Musical Resources, Cambridge. Josef Häusler, Klangbeschreibung im Text zur CD Wolfgang Rihm, Morphonie, Holzgerlin-gen 2000. Josef Häusler, Rihm und Nietzsche. Klangbeschreibung II, in: Programmheft der Berliner Festwochen 1997. Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik. Donaueschingen. Chronik. Tendenzen. Werkbespre-chungen. Kassel etc. 1996. Niklas Luhmann, Short Cuts, (=Short Cuts 1), hrsg. v. Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weinmann, Frankfurt am Main 42002. Ulrich Mosch, Wolfgang (Michael) Rihm in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Perso-nenteil Bd. 14, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel etc. 2005, Sp. 112–125. Max Nyffeler, Drei starke Inspirationsquellen. Nietzsche, Artaud und Müller, in: Musik baut Europa. Wolfgang Rihm. 21. Europäische Kulturtage Karlsruhe. Programmbuch, hrsg. vom Kulturamt der Stadt Karlsruhe sowie vom Badischen Staatstheater Karlsruhe. Karlsruhe 2012, S. 104–107. Wolfang Rihm, Ausgesprochen. Schriften und Gespräche, Bd. 1, hrsg. von Ulrich Mosch, Winterthur 1997. Wolfgang Rihm, Klangbeschreibung I, II und III (im Anhang dieser Arbeit).

Wolfgang Rihm, Klangbeschreibung. Studienpartitur der Fassung V, Wien 1988. Steffen Rother, Die Herausforderung des Werkbegriffs bei John Cage. Grin Verlag [Mün-chen] 2009 [elektronische Ressource]. Rainer Schmusch, Klangfarbenmelodie, in: Handbuch zur musikalischen Terminologie, hrsg. von H. H. Eggebrecht, Stuttgart 1972. Jean-Noel von der Weid, Die Musik des 20. Jahrhunderts. Von Claude Debussy bis Wolfgang Rihm. Aus dem Französischen von Andreas Ginhold. Frankfurt am Main und Leipzig 2001. Dpa-Meldung vom 7. Dezember 2012 in der Badischen Zeitung (Freiburg i. Br.).

Was Musik wirklich ist. Wolfgang Rihm im Gespräch mit Achim Heidenreich, in: NZfM, Ausgabe vom März 2012, Mainz 2012, S. 8.

http://www.nmz.de/media/video/abenteuer-neue-musik [abgerufen am 3.3.2013]. http://www.internationalesmusikinstitut.de/index.php?option=com_content&view=category&layout=blog&id=17&Itemid=25&lang=de [abgerufen am 3. Februar 2013]. http://www.youtube.com/watch?v=v_NBMa77dnU [abgerufen am 3.3.2013]

http://www.youtube.com/watch?v=8kN2oBmYNr8 [abgerufen am 3.3.2013]. CD Wolfgang Rihm, Morphonie, Holzgerlingen 2000.

Anhang

Wolfgang Rihm, Klangbeschreibung I, II, III (Zur Verfügung gestellt von UE Wien)

Klangbeschreibung ist ein work in progress, ein unabgeschlossenes Schlüsselprojekt der Mo-derne, Ausbruch aus traditioneller Formwelt und Aufbruch in eine ästhetische terra incognita zugleich. Wolfgang Rihm: „Alle drei Stücke sind ‚in progress‘. Einander fremd, bedeuten sie keine Richtung. ‚Auf dem Weg‘ sind sie die Abkehr von Figuration. Jeder Klang: die Skulptur seiner selbst. Beschrieben wird nichts. Wohl aber ist der Klang der Grund, auf den Schrift gesetzt ist.“ Eingebettet in den immer wieder abreißenden, verebbenden Strom eines fauvistisch gefärbten Klangkontinuums, treten wahrhaft unerhörte Klanggestalten hervor. Rihms spezifische Ästhe-tik der Fragmentierung geht dabei einher mit einer genau ausgehörten und radikalen Entfesse-lung dessen, was Schönberg „das Triebleben der Klänge“ genannt hat. Klangbeschreibung I: drei Orchestergruppen, Zeichen, Verschärfungen, Eruptionen, Massierungen, Ballungen. Klangbeschreibung II: Reduktion des Instrumentariums bei gleichzeitiger Erweiterung des (Vokal-)Klangraumes. Klangbeschreibung III: Ein Orchesterstück. Eine Art schwarzes Loch, in das Spuren, Zeichen, Umrisse, Dämmerungen und Aufzeichnun-gen einstürzen. Als wären sie wirklich. Vielleicht ist die Klangbeschreibung insgesamt aber auch als zerklüftete Phantasmagorie einer musikalischen Landvermessung zu verstehen und der kompositorische Prozess als eine Art Toposforschung zu begreifen, eine Toposforschung freilich, die im Falle Rihms inspiriert ist vom Lichte der Utopie. Und genau an diese Dimension rührt zuletzt auch eine traumhafte Vision, die der Komponist einmal so überliefert hat: „Gestern hatte ich einen lustigen Traum: I. II und III liefen als Männer herum, von weitem sahen sie aus wie Boulez (I), Nono (II) und Stockhausen (III).“ Aus nächster Nähe betrachtet, ist dieses Traumbild aber auch Keimzelle für weitere Klangfi-guren. Der Klanggrund, auf den Rihm seine kompositorischen Zeichen setzt, bildert weiter. Die Klangbeschreibung ist ein work in progress …