Wolfram Ette Drama und neuzeitliches Denken. Eske ... · Wenn Brecht eine nichtaristotelische...
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Wolfram Ette
Drama und neuzeitliches Denken.
Eske Bockelmanns »Im Takt des Geldes« und die Theatertheorie d'Aubignacs
(Vortrag in Dresden, 5.12.04)
Einleitung
Ich möchte zunächst Dank sagen für die Gelegenheit, hier zu sprechen. Was ich Ihnen
zu sagen habe, stellt so etwas wie den Versuch einer Ausdehnung von Eske Bockel
manns Ansatz auf ein Gebiet der Literatur dar.
Nun handelt Im Takt des Geldes ja selber von Literatur, allerdings nur in einer einzi
gen Hinsicht, nämlich in Bezug auf Metrik. Thema des ersten Kapitels ist ja, wie wir wis
sen, das veränderte metrische Empfinden, das sich parallel mit der Entwicklung des Ak
zentstufentaktes in der Musik Bahn bricht.
Alle diese Dinge werde ich aber im folgenden nicht berühren. Thema meines Refe
rats wird vielmehr die Entwicklung des französischen Theaters und der französischen
Theatertheorie im 17. Jahrhundert sein, und meine Frage lautet ganz einfach, ob diese
ausgesprochen stürmische Entwicklung sich in irgendeiner Weise zu Eske Bockelmanns
Grundthese in Beziehung setzen läßt. Dabei muß ich betonen, daß es sich dabei wirklich
um einen Versuch handelt: ich kann Ihnen hier keine fix und fertigen Ergebnisse vorle
gen, sondern möchte eher das Material, das ich gesichtet habe, so anordnen, daß es sich
in Bezug auf Im Takt des Geldes diskutieren läßt.
Das Theater im Frankreich des 17. Jahrhunderts
Ich möchte zunächst einige ganz äußerliche Gründe nennen, die es nahelegen, das, was
im Frankreich des 17. Jahrhunderts sich im Theaterleben zugetragen hat, auf den Ur
sprung der Neuzeit im Geld zurückzuführen.
– Da ist zunächst – ich erwähnte es schon – der geradezu explosive Charakter dieser
Entwicklung zu nennen. Es sind im Grunde die zehn Jahre zwischen 1620 und 1630,
in denen aus einem Volkstheater ohne feste Kompanien und Häuser, das moralisch
den denkbar schlimmsten Ruf genoß, das französische Staatstheater entstand, das
wir mit den Namen Corneille, Molière und Racine verbinden. In dieselbe Zeit fällt
die Gründung der Académie française; in dieselbe Zeit Descartes’ Jugendschrift über
die Musik, welche die Synthesis unseres Taktempfindens bereits in so verblüffend
vollendeter Weise expliziert. Ich meine, daß wir die Vehemenz, mit der die Theater
mode die Geister ergriff zumindest als Indiz werten dürfen, daß dieses Ereignis keine
literaturgeschichtlicher Zufall ist, sondern in genauem Zusammenhang mit dem Be
ginn des mentalen Syndroms der Neuzeit steht.
– Corneille, Molière und Racine bilden nur die Spitze des Eisbergs. Die theatralische
Produktion dieser Zeit war immens. Vertieft man sich in die Literatur dieser Epoche,
gewinnt man den Eindruck, daß sich die gesamte literarische Intelligenz dramatisch
äußerte. Ich bin zu sehr Geschichtsphilosoph, um glauben zu können, daß sich das
bloß der Möglichkeit verdankt, mit Theaterstücken viel Geld und Renommée verdie
nen zu können. Es muß vielmehr einen prinzipiellen Grund für die Obsession der
Dichter (und Zuschauer) vom Drama gegeben haben. Wenn es einen Zusammen
hang zwischen dem Theater der französischen Klassik und dem neuen Denken gibt,
das in der Struktur des Geldes als allgemeiner Wertform liegt, dann muß er in etwas
liegen, das das Drama vor den anderen literarischen Gattungen unterscheidet und
auszeichnet. Die Frage ist, was das sein könnte.
– Der Vehemenz dieser Entwicklung entspricht die kanonische Bedeutung, die das
Theater der französischen Klassik in der Geschichte des europäischen Theaters ein
nimmt. Damit meine ich nicht, oder nicht allein ihre Präsenz auf den Spielplänen.
Was das anbelangt, werden wenigstens außerhalb Frankreichs Corneille und Racine
leicht von Shakespeare überflügelt. Nein, entscheidend ist, daß im Theater Frank
reichs die Weichen für das bürgerliche Theater der Neuzeit gestellt wurden. Hier
wurde der dramatische Raum für – mindestens – die nächsten 250 Jahre definiert.1
Wenn Brecht eine nichtaristotelische Dramatik schreibt, so ist sein Gegner nicht nur
Aristoteles, sondern vor allem das bürgerliche Theater. Und dessen Ursprung ist die
französische Klassik. Das bedeutet wiederum, daß wir diese Phase der Literaturge
schichte in einer prinzipiellen Beziehung zu dem, was wir Neuzeit nennen, setzen
müssen.
– Gegenüber der ähnlichen, in mancher Hinsicht aber doch etwas anders gelagerten
Entwicklung des elisabethanischen Theaters hat die französische Klassik den heuris
tischen Vorteil, daß sie von einer ausgedehnten theatertheoretischen Diskussion be
gleitet war. Theater wurde nicht einfach gemacht, sondern es wurde in aller Aus
führlichkeit und in langen Debatten von hohem Niveau darüber nachgedacht, was
das Theater zu sein habe. Darin liegt wiederum zweierlei beschlossen:
(1) Auf der einen Seite bekundet sich in diesen Debatten ganz offenkundig das Be
dürfnis, sich einer Sache zu vergewissern, die dunkel als etwas radikal Neues emp
funden wurde – auch wenn dieses Neue sich selten als Neues bekundet.2 Sie stellen
ein weiteres Indiz für meine Vermutung dar, daß es einen Zusammenhang zwischen
dem neuzeitlichen Theater und der Entstehung des modernen Denkens durch das
Geld gibt.
(2) Auf der anderen Seite entspricht der hohe Rang der Theorie der Hypothese, daß
die Entwicklung des Theaters in Frankreich kein Binnenphänomen ist, das sich ledig
lich auf der Bühne zuträgt, sondern Symptom eines mentalen Prozesses, dessen Ur
sprünge anderswo liegen. Die Theatertheorie würde so etwas wie eine Verbindung
zwischen dieses Ursprüngen und ihrer Manifestation auf der Bühne darstellen.
All dies, wohlgemerkt, bewegt sich auf der Ebene von Indizien. Es gibt Anzeichen dafür,
daß überhaupt ein Zusammenhang zwischen der neuen Denkform und dem neuen Thea
ter besteht; wie dieser aber auszusehen hätte, ist noch völlig unklar.
Warum Theater?
Um uns diesem Problem zu nähern, müssen wir als erstes auf das zweite jener Indizien
zurückkommen. Die Frage, die hier gestellt worden war, lautete ja: Was könnte ausge
rechnet das Drama dazu disponiert haben, zu einer Ausdrucksgestalt des modernen
Funktionsdenkens zu werden? Welches Spezifikum ist der dramatischen Form im Unter
schied zu den anderen literarischen Gattungen eigen, das es geeigneter als diese er
scheinen ließ, zu einer Verständigung über das neue Weltbild (wenn auch nicht über
dessen ökonomischen Grund) zu gelangen? Gibt es gewissermaßen ›Interessengemein
samkeiten‹ zwischen dem neuen Denken und dem Theater als Form?
Ich würde, in aller Vorläufigkeit, auf diese Fragen vier Antworten geben:
Das Drama ist erstens die einzige literarische Gattung, in der die fiktionale Realität
zugleich eine wirkliche Realität erfordert und nach sich zieht: nämlich die körperlich
anfaßbare Realität der Bühne. Das ist alles andere als trivial. Während Epos und Lyrik in
einer vorgestellten Realität ihr Genügen finden, lockt das Drama durch die Idee einer
Art Neuschöpfung von Wirklichkeit. Auf den ›Brettern, die die Welt bedeuten‹, bewegen
sich wirkliche, handelnde Personen auf das Geheiß eines Autors, der sie dorthin stellte.
Die körperliche Präsenz der Akteure verleiht dem Theater einen unvergleichlich viel hö
heren Wirklichkeitgrad als den anderen literarischen Gattungen, – und genau das läßt
das Theater in historischen Momenten bedeutsam werden, in denen der Wirklichkeits
begriff selber sich grundlegend verändert. Das Theater als ›wirklichste‹ Form der Litera
tur kann solchen Veränderungen am, sagen wir, suggestivsten Rechnung tragen.3
Damit hängt zweitens zusammen, daß das Theater die einzige öffentliche literarische
Gattung darstellt. Die Neukonstruktion der Wirklichkeit – wenn es sich denn wirklich
um etwas dergleichen handeln sollte –vollzieht sich als eine Art öffentliches Experiment
vor den Augen aller. Es verschlägt nichts, daß diese Öffentlichkeit zu allen Zeiten nur
einen Teil des gesellschaftlichen Allgemeinen repräsentiert hat. So waren im atheni
schen Theater nur Vollbürger zugelassen, und das Staatstheater des absolutistischen
Herrschers gewährte nur einen kleinen Schicht von Aristokraten und Freunden des Hofs
Zutritt. Aber es will etwas bedeuten – da muß man den Absolutismus an seinen eigenen
Ansprüchen messen –, wenn das Theater handstreichartig aus der gesellschaftlichen Pe
ripherie ins repräsentative Zentrum der Macht versetzt wird. Der Monarch und sein Hof
vertraten den Anspruch auf umfassende Repräsentation der Wirklichkeit, diese Öffent
lichkeit war ihrem Selbstverständnis zufolge die ganze Gesellschaft.4 Und es ist dieser
Anspruch, der dem Theater auferlegt, beziehungsweise von ihm enthusiastisch aufge
nommen wird.
Das Drama ist drittens reine Bewegungskunst, sein Medium ist die Zeit. Wenn wir uns
Eske Bockelmanns These in Erinnerung rufen, daß sich die durch den alltäglichen Um
gang mit Geld vermittelte ›reine Beziehung‹, das »nichtinhaltliche Verhältnis«, wie er es
nennt, am reinsten im Takt, das heißt in einer ›apriorischen‹ Strukturierung der in Musik
oder im Sprachfluß sich verkörpernden Zeit darstellt, so läßt dies zumindest erwartbar
erscheinen, daß sich dieses Verhältnis in einer irgendwie analogen Weise auch im Dra
ma als Zeitkunst kundgeben sollte.
Und schließlich ist so etwas wie eine reine Relationalität auch der Gegenstand des
neuzeitlichen Dramas, vor allem der Tragödie (auf die sich dementsprechend die thea
tertheoretischen Erwägungen in Frankreich konzentrieren). Über diesen Punkt muß ich
mich etwas genauer erklären. Alle Dramen, wenn sie etwas taugen, stellen Extremsitua
tionen vor. Was ist eine Extremsituation? Extremsituationen sind solche, in denen die
überlieferte Moral, die Maximen und Vorschriften des Handelns in die Krise geraten.
Das heißt, sie sind nicht mehr selbstverständlich, sie müssen in gewisser Weise neu er
zeugt werden. In keiner guten Tragödie prallen einfach ›Gut‹ und ›Böse‹ aufeinander, in
der tragischen Situation ist vielmehr das, was man Gut und Böse zu nennen gewohnt
ist, fragwürdig geworden. Denken Sie etwa an die Antigone des Sophokles. Allein die
Tatsache, daß man sich so oft und ausdauernd darüber hat streiten können, ob Kreon
im Recht ist (das war die Meinung des 18. Jahrhunderts), ob Antigone und Kreon glei
chermaßen im Unrecht sind (das war die Meinung Hegels), oder ob in dem Konflikt
zwischen ihnen letztlich Antigone recht zu geben ist (das ist im Grunde die Meinung des
19. und 20. Jahrhunderts), zeigt doch an, daß hier ein wirkliches Problem steckt. Das
Stück zieht einem systematisch die Kriterien unter den Füßen weg, nach denen sich eine
bündige Entscheidung über Richtig und Falsch treffen läßt.5 In der ein oder anderen
Weise läßt sich das an allen Tragödien, ob nun antik oder neuzeitlich demonstrieren.
Ein solches Phänomen wird nun auch mit dem Begriff des dialektischen Gegensatzes
oder der Entzweiung umschrieben.6 Was bedeutet das? Ein dialektischer Gegensatz ist
ein Verhältnis, das allein dadurch besteht, daß sich die seine Pole durcheinander bedin
gen. Zum Beispiel das Begriffspaar ›Herr‹ und ›Knecht‹. Es hat keinen Sinn, den Aus
druck ›Herr‹ zu verwenden, wenn es keinen Knecht gibt – und umgekehrt. Oder das Be
griffspaar ›positiv‹ und ›negativ‹. Das Positive ist nicht ›an sich‹ positiv, sondern nur in
Bezug auf das Negative. Und das Negative ist nicht ›an sich‹ negativ, sondern nur ver
möge der Beziehung auf das Positive. Hegel, der von allen Philosophen am tiefsten in
das Phänomen der Dialektik eingedrungen ist, geht soweit, den philosophischen Ele
mentarbegriff überhaupt – das »Etwas« – dialektisch zu definieren, das heißt abgegrenzt
von und vermittelt durch ein NichtEtwas, das »Andere«.
Umgekehrt ist der Gegensatz von ›schwarz‹ und ›weiß‹ kein dialektischer Gegensatz.
Schwarz ist schwarz, ganz unabhängig von der Beziehung zu der anderen Farbe. Oder
›langsam‹ und ›schnell‹. Wenn wir ein langsames Musikstück hören, sind wir nicht dar
auf angewiesen, zusätzlich noch ein schnelles zu hören, um das langsame als langsam
zu empfinden. Anders gesagt: es handelt sich um einen objektiven, substanziellen Gegen
satz: einen Gegensatz, der nicht in sich zusammenfällt, wenn man einen der beiden Pole
wegnimmt.
Wenn ich nun sage, daß der tragische Gegensatz dialektischer Natur ist, so ist nichts
anderes gemeint, als daß die entgegengesetzen Werte, die hier im Konflikt aufeinander
prallen, in der soeben beschriebenen Weise miteinander zusammenhängen. Sie verlie
ren ihre Substanzialität, und sind vollständig durcheinander vermittelt. Sie annullieren
die Geschichte und Tradition der jeweiligen Wertvorstellungen und bestimmen sie in
der reinen Beziehung ihres dialektischen Gegensatzes neu. Idealtypisch versuchen sie,
Inhalte aus einer reinen Form zu gewinnen.7
Pierre Corneille, Der Cid
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern, das für unser Thema von zentraler Be
deutung ist, und zwar an dem Stück Der Cid von Pierre Corneille. Der Konflikt, der in
diesem Drama verhandelt wird, ist schnell erzählt. Es spielt im mittelalterlichen Spani
en. Zwei Männer, deren Kinder sich lieben und miteinander verlobt sind, geraten in
Streit – worüber, tut jetzt nichts zur Sache. Der Vater der zukünftigen Braut ohrfeigt
den Vater des zukünftigen Bräutigams. Der Geohrfeigte will sein Schwert ziehen, er ist
aber schon alt und gebrechlich, so daß es dem Beleidiger ein leichtes ist, ihm das
Schwert aus der Hand zu schlagen. Daraufhin überträgt der Beleidigte die Aufgabe, ihn
zu rächen und seine Ehre wiederherzustellen, auf seinen Sohn – also den Geliebten des
jungen Mädchens. Dieser sieht sich also vor die Ehrenpflicht gestellt, den Vater der Frau
zu töten, die er liebt. Es ist der klassische Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. Hier –
das ist sehr wichtig! – handelt es sich noch nicht um ein dialektisches Verhältnis. Durch
Zufall kam vielmehr eine Situation zustande, in der zwei festumrissene ›Werte‹ in ein
Ausschließungsverhältnis treten. Dialektisch in dem von mir beschriebenen Sinne wird
der Konflikt vielmehr erst durch eine Art Potenzierung. Diese Potenzierung vollzieht
sich in Chimène, der weiblichen Hauptfigur des Dramas. Für sie nämlich geht es nicht
allein darum, daß sie denjenigen liebt, der ihren Vater umgebracht hat, sondern daß sie
ihn gar nicht lieben könnte, wenn er nicht die Ehre seiner Familie verteidigt und ihren Va
ter umgebracht hätte –: bis zu dieser Konsequenz wird der Ehrenpunkt hier getrieben.
Ich zitiere Ihnen zwei Stellen, aus denen diese Steigerung des Konflikts hervorgeht.
Nachdem sein Vater ihm eröffnet hat, daß er den Vater seiner Geliebten töten muß, sagt
Rodridue (der Einfachheit halber zitiere ich in deutscher Prosa):
Ich schulde meiner Geliebten ebenso wie meinem Vater:
Ich ziehe, wenn ich mich räche, ihren Haß und ihren Zorn auf mich;
ich ziehe ihre Verachtung auf mich, wenn ich mich nicht räche.8
Und später sagt er ihr,
daß ein Mann ohne Ehre dich ja nicht verdiente;
daß unbeschadet jenes Teils, den ich an deiner Seele hätte,
jemand, der mich liebte, mich doch hassen würde, sobald ich unedel wäre;
daß auf die Stimme der Liebe hören
bedeutet, ihrer unwürdig zu werden und deine Entscheidung zu verunglimpfen.9
Erst durch Chimène wird der Konflikt innerlich, erst durch sie wird er dialektisch. Ihre
Liebe verlangt das, was ihren Haß erzeugt. Die Gefühle, die sie Rodrigue gegenüber
hegt, haben alles Herkommen abgelegt, sie existieren nur durcheinander, sind durchein
ander bedingt. Hätte Rodrigue ihre Liebe höher geachtet als die Ehrverpflichtung sei
nem Vater gegenüber, hätte sie ihn nicht lieben können; da er jedoch dem Gebot der
Ehre folgte, muß sie ihn lieben, weil sie ihn haßt, und sie muß ihn hassen, weil sie ihn
liebt.
Ich will damit nicht behaupten, daß sich dieses Strukturmodell in aller Reinheit an
allen Tragödien der französischen Klassik aufzeigen lassen könnte. Aber ich möchte
doch mutmaßen, daß der spektakuläre Erfolg des Cid – dieses Stück war, ohne Übertrei
bung, das größte Theaterereignis des 17. Jahrhunderts – nicht zuletzt aus der mathema
tischen Präzision erklärt werden muß, mit der Corneille einen durchaus konventionellen
dramatischen Konflikt auf reine Immanenz zuspitzt, d.h. auf eine Beziehung, die keinen
externen Inhalte mehr kennt, sondern ihre Inhalte rein durch sich selbst bestimmt.
Diese vier Punkte – realkörperliche Präsenz, Öffentlichkeit, Zeit und Bewegung sowie
der dialektische Strukturzusammenhang des Dramas – sind es also, die nach meiner
Überzeugung das Theater zu einer Ausdrucksform des neuen Denkens disponiert haben
wie keine andere Gattung der Literatur.
François Hédélin Abbé d'Aubignac und die Pratique du Theâtre
Nun müssen wir einen Schritt weiter gehen. Von den vier genannten Punkten sind es
vor allem die körperliche Präsenz und die Verpflichtung auf Prozessualität, die das In
teresse der französischen Theatertheoretiker auf sich gezogen haben. Das ist auch nicht
verwunderlich, wenn man sich klarmacht, daß in ihnen die formalen Bedingungen des
Dramas thematisch sind. Das ›paßt‹ zu einem Denken, das auf die allereinfachste Formel
gebracht darin besteht, daß das Verhältnis von Inhalt und Form – gegenüber dem Sub
stanzdenken des Mittelalters – sich umkehrt: daß Form nicht mehr als etwas gedacht
wird, das einem gegebenen Inhalt zukommt, sondern daß sie vorrangig wird und den
Inhalt gewissermaßen aus sich erzeugt. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen
nun einige Thesen der wohl wichtigsten Theatertheorie der französischen Klassik vor
stellen, der Pratique du Théâtre von François Hédélin Abbé d’Aubignac.
Was war das für ein Mann, den heute kaum noch jemand kennt? D’Aubignac10 wur
de 1604 in Paris geboren, wo er Rechtswissenschaften und Theologie studierte. Er arbei
tete als Erzieher des Neffen von Richelieu, der ihm dafür die Abtei von Aubignac ver
lieh, der er seinen Zunamen verdankt. D’Aubignac war also kein Kirchenmann im stren
gen Sinn. Er bezog lediglich die Pfründe aus der Abtei, die ihm das wohlhabende Leben
eines Rentiers sicherten, so daß er sich ungestört seiner Obsession hingeben konnte:
eben dem Theater.
Von dieser Obsession war auch Richelieu selber erfaßt, und es ist vor allem der poli
tischen und finanziellen Macht dieses Mannes zu verdanken – er war ja »Erster
Minister« (ein eigens für ihn geschaffenes Amt) unter Ludwig XIII. –, daß das Theater in
verhältnismäßig kurzer Zeit aus den Spelunken der Vorstädte ins Zentrum der Macht
und der kunsttheoretischen Diskussionen gelangte. 1629 wurde das Théâtre de Marais
eröffnet, 1639 wurden die Schauspieler des Hôtel de Bourgogne die »Schaupieler des
Königs, unterhalten von seiner Majestät«. Richelieu, der selber auch Theaterstücke
schrieb, versammelte einen Club aus Intellektuellen um sich, in dem die Entwicklung
des Theaters vorangetrieben und theoretisch erörtert wurde. Zu diesen Intellektuellen
gehörte auch d’Aubignac. Hier wurden die sogenannten »drei Einheiten« diskutiert, die
zuerst von Jean Chapelain auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Das sind – darüber
wird noch einiges zu sagen sein – die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Sie
besagen, daß die Tragödie idealerweise nur an einem Ort und während einer ununter
brochenen Zeitspanne spielen; sowie, daß sie nur eine Handlung enthalten darf. Diese
Dinge kommen uns heute ziemlich selbstverständlich vor (selbstverständlicher, als sie es
in Wirkichkeit sind). Als Chapelain sie aber zur Diskussion vorlegte, wurden sie von al
len Beteiligten als etwas durchaus Revolutionäres und Neues empfunden.11
1637 ereignete sich die sogenannte »querelle du Cid«. Das Theaterstück des jungen
Corneille nämlich, aus dem ich Ihnen vorhin etwas zitierte, war zwar ein rauschender
Erfolg und beförderte seinen Autor an die Spitze der poetischen Zunft in Frankreich. Zu
gleich aber war es eben nicht regelgerecht verfaßt. Das heißt, daß Corneille in diesem
Stück mit allein drei Einheiten ausgesprochen lässig umging: Der Cid spielt nicht an ei
nem Ort, die Handlung dieses Stücks verteilt sich sinnvollerweise auf mehrere Tage
(was schon als Verletzung der Regel empfunden wurde), und zuguterletzt hatte Corneil
le eine Nebenhandlung in das Stück eingebaut, die atmosphärisch ausgesprochen wich
tig ist, von der Kritik aber als überflüssig empfunden wurde.12
Ich habe hier keine Gelegenheit, diese Affäre vor ihnen auszubreiten. Es muß genü
gen, daß durch das Hin und Her zwischen dem Kreis um Richelieu und Corneille (der
darauf bestand, daß der Erfolg ihm rechtgebe), immer dringlicher die Notwendigkeit
empfunden wurde, die Regeln, die ein Theaterschriftsteller zu befolgen habe, kanonisch
niederzulegen. Und zu genau dieser Aufgabe fühlte sich der Abbé d’Aubignac berufen;
und er war wohl auch dazu der berufene Mann. 1640 kündigte er das baldige Erschei
nen eines Werks an, das er La Pratique du Théâtre nannte, also ein praktisches Manual
der dramatischen Kunst.
Die Publikation dieses Werkes verzögerte sich aber um ganze siebzehn Jahre: 1657
erst gelangte es an die Öffentlichkeit. Es ist sehr wahrscheinlich, daß d’Aubignac durch
den Tod Richelieus, 1642, seines großen Förderers, entmutigt wurde. Nicht zum we
nigsten hat aber wohl auch seine schleppende Gründlichkeit und sein unbedingter Wille
zur systematischen Darstellung dazu beigetragen. Liest man die Pratique, so hat man
über weite Strecken den Eindruck, ein reichlich unkünstlerisches Naturell vor sich zu
haben, gepaart mit einer systematischen Begabung, die irgendwie ›deutsch‹ wirkt, sorg
fältig und pedantisch, und einer ziemlich großen Gelehrsamkeit. Er ist ein Criticus, ein
Bleistiftspitzer. Es erscheint kaum vorstellbar, daß sich d’Aubignacs Leidenschaft für das
Theater den darin aufgeführten Leidenschaften verdankt, den dramatischen Affekten,
die die Zuschauer mitreißen. Vielmehr ist ihm die Bühne eine Art Laboratorium, in dem
sich auf kontrollierbare Weise Realität erzeugen läßt. Und Theatertheorie heißt für ihn
vor allen Dingen: Reflexion der formalen Bedingungen dieser Realitätserzeugung. Und
genau in diesem Punkt trifft er sich mit dem Anbruch des neuen Denkens, den Eske Bo
ckelmann begründet und ausgearbeitet hat.
Ich habe ihnen, einer guten hermeneutischen Maxime folgend, einmal das Inhalts
verzeichnis der Pratique mitgebracht und fotokopiert. Es ist ein gutes, aussagekräftiges
Inhaltsverzeichnis, aus dem man einiges über das ganze Werk erfährt. Sie sehen, daß es
in vier Bücher aufgeteilt ist. Zentral sind die Bücher I und II; die beiden folgenden Bü
cher enthalten nicht unbedingt Korollarien, aber sie entfalten doch den immer wieder
holten Grundgedanken in die Fülle all der dramatischen Mittel, auf die man als Theater
besucher im Frankreich des 17. Jahrhunderts stieß. Deswegen stammt das, was ich Ih
nen nun mitteilen möchte, in der Hauptsache aus den ersten beiden Büchern.
Buch I beschäftigt sich mit der theatralischen Situation, also mit dem Gegenüber von
Bühne und Zuschauer. Man könnte sagen, es exponiert des spezifischen Blick des Zu
schauers der Guckkastenbühne, das heißt einer Bühne, in der die Bühne weniger umge
ben ist von den Zuschauern wie im antiken Amphitheater oder auch noch im elisabetha
nischen GlobeTheatre – dem Theater, für das Shakespeare seine Stücke konzipierte. Die
Guckkastenbühne gewährt vielmehr mehr oder weniger allen Zuschauern den frontalen
Blick auf die Bühne. Der ideale Platz für diese Perspektive ist dabei der Platz des absolu
tistischen Monarchen, die Königsloge. Die Überlegungen, die d’Aubignac zu diesem Ver
hältnis von Zuschauer und Bühne anstellt, haben dabei sowohl grundlegenden als vor
bereitenden Charakter. Sie exponieren nämlich den spezifischen Wirklichkeitsbegriff,
den d’Aubignac der dramatischen Kunst zuschreibt. Dieser Wirklichkeitsbegriff trägt den
Titel vraisemblance, »Wahrscheinlichkeit«. Er ist die zentrale Konzeption d’Aubignacs
und das gesamte zweite Buch kreist um diesen Wirklichkeitsbegriff und um die Bedin
gungen seiner Erzeugung in den Kategorien des Handlung, des Ortes und der Zeit – je
nen Kategorien also, die Chapelain in die Diskussion gebracht hatte.
Dementsprechend möchte ich mich in der Darstellung von d’Aubignacs Überlegun
gen auf die folgenden zwei Punkte konzentrieren:
– Genese und Gehalt des Begriffs der vraisemblance;
– die Mittel, durch die das dramatische Geschehen in d’Aubignacs Sinne »wahrschein
lich« gemacht wird; das sind all die Verfahrensweisen, die sich um die Einheit der
Handlung des, Ortes und der Zeit ranken.
Begriff der vraisemblance
Zunächst also zur Wahrscheinlichkeit.13 D’Aubignac beginnt die Überlegungen, die zu
diesem Begriff geleiten, damit, daß er am Theaterstück zwei Aspekte unterscheidet: den
Aspekt der Darstellung und den Aspekt des Dargestellten. Er betrachtet die Bühne also
als Zeichen. Dieses Zeichen besteht auf der einen Seite aus dem Bezeichnenden selber,
und auf der anderen Seite aus dem, was dadurch bezeichnet wird. Denken Sie an eine
Verkehrsampel. Das Bezeichnende dieser Verkehrsampel ist das Licht; das Bezeichnete
die durch das Licht veranlaßte und in den Verkehrsregeln festgelegte Anweisung. Wenn
die Verkehrsampel rot leuchtet – Bezeichnendes –, dann müssen alle Verkehrsteilneh
mer anhalten – Bezeichnetes.
Ähnlich – zunächst – verhält es sich auch mit dem Theater. Auf der Bühne befinden
sich Menschen und Gegenstände, die so in der Wirklichkeit nicht existieren: gemalte Pa
läste, verkleidete Prinzen, falsche Dolche, ein Souffleur etc. Das sind die Mittel der thea
tralischen Illusion, betrachtet als reale Gegenstände. Als solche muß der Dichter, müs
sen die Schauspieler und später die Regisseure mit ihnen umgehen. So muß der Schau
spieler, wenn er sich gegen eine Säule lehnt, wissen, daß es sich um eine gemalte Säule
handelt – sonst fällt er nämich um.
Gleichzeitig bedeuten aber alle diese Dinge eine Wirklichkeit, die nicht die Wirklich
keit der Bühne ist, sondern die der Zuschauer. Sie bezeichnen etwas, von dem ange
nommen wird, oder von dem man glauben soll, daß es sich wirklich ereignet hat. Diese
Dimension des theatralischen Zeichens nennt d’Aubignac histoire véritable, wirkliche Ge
schichte oder wirkliches Geschehen.
Zunächst ist klar, wodurch sich diese beiden Wirklichkeiten voneinander unterschei
den. Die Wirklichkeit der Darstellung ist eine, über die man relativ frei verfügen kann.
Man kann beliebige Orte auf die Kulissen plazieren, man kann die Schauspieler auf und
abtreten lassen, wie man möchte, man kann mithilfe von Maschinen übernatürliche Er
eignisse inszenieren. Die Wirklichkeit des Bezeichneten hingegen, der histoire véritable
muß der Naturordnung entsprechen. In ihr, der Welt der Zuschauer, muß es mit rechten
Dingen zugehen; und dieses, daß es mit rechten Dingen zugeht, ist eigentlich der Kern
dessen, was d’Aubignac Wahrscheinlichkeit nennt.
Wie kann man zu dieser Wahrscheinlichkeit gelangen? Es sind meines Erachtens
zwei grundlegende, aufeinander aufbauende, aber voneinander zu trennende Maßnah
men, die dazu dienen, das, was der Zuschauer wahrnimmt, wahrscheinlich zu machen.
Die erste, basale besteht darin, daß die Mittel, durch die die theatralische Illusion er
zeugt wird, gewissermaßen im Produkt verschwinden. Sie müssen unsichtbar werden.
Darin unterscheidet sich das Theater, dieses Theater von der Ampel. Im Falle der Ampel
hat das rote Licht mit dem Anhalten der Autos substanziell nichts zu tun; das Verhältnis
dieser beiden Seiten des Zeichens ist, wie Saussure es später formulieren wird, arbiträr.
Im Theater dagegen sollten die Zuschauer glauben, daß die gemalte Kulisse einen wirk
lichen Gegenstand darstellt, daß die Schauspieler wirklich die Personen sind, die sie
spielen, und daß das Geschehen, das vor ihnen abrollt, nicht von einem Schriftsteller ge
macht wurde, sondern real und und leibhaft vor ihren Augen abläuft.
All das klingt einigermaßen trivial. Es verliert diesen Anschein der Trivialität aber,
wenn man sich klarmacht, daß das, was uns aus der Ästhetik des Theaters noch halb
wegs, aus der Ästhetik von Film und Fernsehen ganz und gar geläufig ist, im Theater,
das überall und zu allen Zeiten auf der Welt gespielt wird, überhaupt keine Selbstver
ständlichkeit darstellt, ja daß es eher eine Ausnahme bildet. D’Aubignac führt selber ein
Beispiel aus der okzidentalen Tradition an, das dieser elementaren Bestimmung der
Wahrscheinlichkeit zuwiderläuft: die antike Komödie des Plautus. Hier ist es möglich,
daß die Schauspieler mitten im Stück zu verstehen geben, daß sie Schauspieler sind,
daß es sich um eine gespielte Realität handelt. Dieses Beispiel ließe sich um viele weitere
vermehren – denken Sie etwa an Brechts episches Theater und seine Theorie der Ver
fremdung, die auf solche selbstreflexiven Ansätze zurückgreift und ihnen einen politi
schen Sinn verleiht: die Distanz, die der Schauspieler zu seiner Rolle demonstriert, soll
die Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen, aber auch zu der Wirklichkeit, von
der er umgeben ist, verstärken und diese Wirklichkeit als eine potentiell jederzeit verän
derbare ihm vor Augen führen. Aber auch alle Theatertraditionen, die die Künstlichkeit
der auf der Bühne verwendeten Mittel betonen, die etwa mit Masken, Gesang und Tanz
arbeiten wie die griechische Tragödie oder wie die okzidentale Oper; eine Kunstform
wie die chinesische Oper, die den Gesang selber zu äußerster Künstlichkeit übersteigert
– als das sind Phänomene, die von der Wahrscheinlichkeit d’Aubignacs kategorisch aus
geschlossen werden.
Auf dieser basalen Identifikation des Bezeichnenden mit dem Bezeichneten ruht nun
ein zweiter Gedanke auf. In der illusionistischen Einheit des theatralischen Zeichens
kehren nämlich seine beiden Seiten wieder. Die Seite des Bezeichnenden, das sind nun
alle dramatischen Mittel, die benutzt werden, nicht um eine Handlung überhaupt, son
dern eine wahrscheinliche Handlung darzustellen. Das sind: die Auswahl des sujets (ein
sujet, das den Heutigen ganz fremde Sitten vorführte, erschiene nicht wahrscheinlich),
die schauspielerische Darstellung der Leidenschaften und die Sprache des Dramas, in
der sich die Handlung und die Affekte materialisieren.
Die Seite des Bezeichneten wiederum realisiert sich in den formalen Mitteln, durch
die eine Handlung wahrscheinlich erscheint. Das oberste dieser formalen Mittel ist da
bei, daß die Handlung auf der Bühne so abläuft, als ob die Zuschauer nicht dabei wären.
Alles das, was d’Aubignac später über die Einheit von Raum, Zeit und Handlung sagt,
beruht auf dieser Forderung, die recht eigentlich die Bedingung darstellt, unter der sich
das dramatische Geschehen in die Kontinuität des Raumes, der Zeit und der Handlung
entfaltet.
Auch das klingt zunächst ziemlich selbstverständlich. Wenn wir aber zum Beispiel
an die Komödie des Aristophanes denken, in der von der Bühne herab – oder besser:
von der Bühne hinauf – anwesende Zuschauer verspottet wurde; wenn wir etwa an ein
Stück wie Hamlet denken, in dem sich, obwohl das Drama im mittelalterlichen Däne
mark spielt, Hamlet und der Leiter am am Hof gastierenden Schauspielertruppe sich
über die Übelstände im gegenwärtigen – elisabethanischen – Theater austauschen; oder
wenn wir gar an die Praxis des heutigen Regietheaters denken, in dem der Begriff der
Aktualisierung eine so bedeutende Rolle spielt –, dann klingt auch das nicht mehr ganz
so selbstverständlich.
Auch d’Aubignac ist sich dessen bewußt. So wirft er im folgenden die Frage auf, ob
es nicht ziemlich unwahrscheinlich sei, daß ein Geschehen von außen restlos verstanden
werden könne, ohne daß es ersichtlichermaßen für dieses Außen produziert sei. Anders
gesagt: Normalerweise passieren die Dinge nicht vor den Augen einer Öffentlichkeit.
Man handelt nicht so, daß ein Außenstehender in der Lage wäre, das, was geschieht,
ganz zu durchschauen. Wie kann eine Handlung, die für Zuschauer gemacht ist, so wir
ken, als ob sie nicht für sie gemacht sei?
Genau darin, sagt d’Aubignac, liegt die höchste und oberste Kunst des Dramatikers.
Er muß es verstehen, die Handlung als eine absolut durchsichtige und verständliche, mit
ihrer Vorgeschichte, mit den zugrundeliegenden Motiven, vor den Augen und Ohren des
Publikums ablaufen zu lassen. Dazu muß er sich gewisser Tricks bedienen – couleurs lau
tet das kaum übersetzbare Wort, das d’Aubignac dafür findet. Und der Verfasser der
Pratique du Théâtre steht nicht an, ihm über solche Tricks Auskunft zu erteilen. Wie
etwa kann man zwanglos in einem Gespräch die Vorgeschichte entfalten? Wie motiviert
man einen Monolog, der über die inneren Gedanken eines Intriganten Auskunft gibt?
Das und andere sind die Fragen, auf die die Konzeption der couleurs in zahlreichen Fi
liationen eine Antwort geben möchte.
Wir können das hier im einzelnen nicht verfolgen. Wichtig ist aber, daß d’Aubignac
diesen Verfahrensweisen der dramatischen Kunst vor der Sprache, vor der Darstellung
der Leidenschaften – kurz, vor all dem, was die Zuschauer emotional in seinen Bann
schlagen kann –, den Vorrang gibt. Das gilt auch für die Kategorien der Handlung, des
Raums und der Zeit, die im folgenden entfaltet werden. Und wiederum ist zu sagen: das
ist nicht selbstverständlich. Bereits Corneille, mit dessen Werk sich die Pratique du
Théâtre unterirdisch ununterbrochen auseinandersetzt, sieht diese Dinge anders. Der
Zentralbegriff von Corneilles Ästhetik ist nämlich die admiration: Gelingt es, den Zu
schauer durch die mimische und sprachliche Darstellung mitzureißen, wird er die ganze
Handlung glaubwürdig finden, auch wenn sie den formalen Vorgaben nicht in aller
Strenge genügt. Sie sehen: Es liegt da ein anderes Identifikationmodell vor. Bei Corneil
le vollzieht sich die Identifikation ausgehend von der Bühne, und von hier aus erfaßt sie
die Zuschauer. Bei d’Aubignac hingegen vollzieht sich sich ausgehend vom Zuschauer und
von hier aus bestimmt sie die Bühne.
Auf der einen Seite blendet die Theatertheorie d’Aubignacs also den Zuschauer aus:
das Geschehen soll stattfinden, als ob es ihn nicht gebe. Auf der anderen Seite jedoch
wird gerade dadurch, durch die anonymisierte Instanz des Zuschauers das Geschehen auf
der Bühne formal determiniert. Ich sprach vorhin vom Auge des Monarchen. Dieses
Auge ist nirgends zu sehen. Aber es ruht auf den Geschehenissen und legt die Bedingun
gen fest, unter denen sie stattzufinden haben. Das, was auf der Bühne sich ereignet, ist
eine künstliche Realität. Diese künstliche Wirklichkeit setzt sich zusammen aus Inhalt
und Form. Für den Inhalt zeichnet der Dichter verantwortlich, für die Form der ideali
sierte Zuschauer, das absolutistische Zentralsubjekt. Beide sind auseinandergerissen,
und bei ihrer Neuzusammensetzung hat der formale Pol den Vorrang einer transzenden
talen Instanz, einer Instanz also, die die Bedingungen festlegt, um denen ein Inhalt mög
lich ist. Und schließlich haben beide – so gebietet es die Pratique du Théâtre – im Pro
dukt zu verschwinden, das als ganz und gar natürliches erscheinen soll.
Das bedeutet nicht, daß es ein natürliches, von sich aus gegebenes ist. D’Aubignac
legt vielmehr Wert darauf, daß in die Anerkennung der vraisemblance als natürlicher
Realität eingeübt werden muß: Ein Zuschauer, der noch nie ein Theaterstück besucht
hätte, wäre von den Geschehenissen, die vor ihm auf der Bühne sich ereignen, verwirrt.
D’Aubignac sagt: »Es ist (...) nötig, daß er viele Stücke gesehen hat und viele Überlegun
gen dazu angestellt hat, um herauszufinden, ob sie wahrscheinlich seien oder nicht.«14
Die Abstraktion auf den formal regelhaften Charakter von Geschehenissen ist also et
was, das natürlich erscheinen soll, aber gerade nicht natürlich ist, sondern durch regel
mäßigen und häufigen Theaterbesuch erlernt werden muß. Auf diese Weise wird die
Bühne zur Geburtshelferin einer neuen, ganz bestimmten Sicht auf die Wirklichkeit – ei
ner Sicht, die sie in dem Maße als Wirklichkeit anerkennt, in dem sie sich vorausset
zungslos und durchsichtig vor dem Zuschauer entfaltet, der gleichzeitig als abwesend be
hauptet wird. Dadurch gewinnt in der theatralischen Konstruktion der Wirklichkeit die
Form überhaupt Vorrang vor den Inhalten.
D'Aubignacs Wirklichkeitsbegriff und die Denkform der Neuzeit
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz innehalten und eine erste Querverbindung zu Eske
Bockelmanns Buch schlagen. Dazu möchte ich das, was mir der Kern des neuen, durchs
Geld vermittelten Denkschemas zu sein scheint, kurz rekapitulieren.
Zwei Dinge sind für die Struktur wesentlich, die sich vermittels des alltäglichen Um
gangs mit Geld in den Köpfen der Menschen festsetzt und die ihren prägnantesten Aus
druck im Akzentstufentakt findet:
– der nichtinhaltliche Charakter des Verhältnisses von »betont« und »unbetont« im
Takt, von Geldwert und Warenwert in der Geldhandlung. Das meint, daß die beiden
Pole eines solchen Verhhältnisses einzig und allein durcheinander bestimmt sind;
dadurch, daß sie einander ausschließen, und in diesem SichAusschließen wechsel
seitg voneinander abhängen.
– und zweitens der asymmetrische Charakter dieses Verhältnisses, dessen Elemente
sich eben dadurch voneinander unterscheiden, daß das eine bestimmt in sich ist, weil
es das andere bestimmt; und das zweite unbestimmt ist, eben weil es seine Bestim
mung ist, durch das andere bestimmt zu werden. Das erste Element stellt also –
ohne daß es aus diesem Grund auf das zweite verzichten könnte – das Verhältnis sel
ber dar, das Ganze des Verhältnisses als solches: sich selbst und die Beziehung zu
seinem Gegenüber, das von ihm bestimmt wird.
Dieser zweite Punkt ist außerordentlich wichtig, und um sie mir und Ihnen so klar wir
möglich zu machen, will ich ihn anhand zweier Zitate aus Im Takt des Geldes noch ein
mal in Erinnerung rufen. Dort heißt es vom Takt: Bei aller Symmetrie – beide Seiten
sind jeweils als die nichtandere bestimmt – unterliegt ihr Verhältnis auch einer be
stimmten Asymmetrie (...): Das eine der Elemente ist tatsächlich bestimmt als das – in
haltlich gesprochen – hervorgehobene. Worin aber besteht das Bestimmtsein, da es kei
nen Inhalt hat? Nichtinhaltlich gefasst (...), kann es nur in Bestimmheit überhaupt be
stehen (...). Also: in der taktrhythmischen Synthesis setzen, verbinden und unterscheiden
wir je zwei Elemente nach dem reinen Verhältnis von bestimmt gegen nichtbestimmt.15
Und vom Geld wird gesagt: »Als ›Wert‹ gedacht haben sie beide [Ware und Geld]
ausschließlich diese Bestimmung, nicht die andere zu sein, werden sie allein dadurch
aufeinander bezogen, daß sie Negation oder Ausschluss der jeweils anderen sind, im rei
nen Verhältnis von Ja und Nein, und [es] ergibt sich die Asymmetrie dieses Verhältnisses
dadurch, dass die Einheit die wir am Geld setzen, reine, nur in sich bestimmte Einheit ist
– in Bezug auf die andere –, und dass diese andere, an der Ware, eben nicht nicht ist,
nicht in sich bestimmte, sondern eine rein nur auf jene andere bezogene Einheit.«16
Erkennen Sie etwas von den Überlegungen des Abbé d’Aubignac wieder? Die von
ihm projektierte »vraisemblence« als Inbegriff dessen, was auf dem Theater für real zu
gelten hat, setzt sich genau in dieser Weise aus zwei Elementen zusammen, die nichtin
haltlich sind und die in der beschriebenen Weise asymmetrisch aufeinander bezogen
werden. Der in sich bestimmte, weil bestimmende Pol des Verhältnisses wird vom Zu
schauer repräsentiert. Und der Pol, der allein dadurch qualifiziert wird, daß er von sei
nem Gegenüber bestimmt wird – das ist die Bühne. Der Dichter liefert den Stoff, so wie
ein Komponist die Melodie, so wie die materielle Natur (oder der Gott des Descartes)
die Fülle der phänomenalen Welt. Aber sie alle müssen jene Struktur passieren, um als
Wirklichkeit vor dem neuen Denken zu bestehen. Die materiellen Phänomene werde in
eine experimentelle Anordnung gebracht, die etwas nach Bacons Models von »schema
tismus« und »processus«, von idealisiertem Massenpunkt und reiner Prozeßgesetzlich
keit verfaßt ist. Der melodische Einfall hat sich der apriorischen Struktur des Taktsche
mas und seiner Aufstufungen zu fügen. Und der dichterische Vorwurf muß gleichfalls
durch dieses System von reinem Bestimmen und reinem Bestimmwerden hindurchge
hen, das d’Aubignac durch die simple Forderung errichtet, das Drama habe für den Zu
schauer klar und verständlich zu sein, gleichzeitig aber dürfe es dies an keiner Stelle zu
erkennen geben: genauso wie auf der Bühne habe die Handlung auch ›in Wirklichkeit‹,
d.h. ohne Zeugen und Öffentlicheit, ablaufen könne.
Schon dies scheint mir ein einigemaßen stichhaltiger Beleg dafür zu sein, daß das
Theater der neuen Denkform eine großartige Möglichkeit bot, sich außerhalb des engen
Rahmen der Naturwissenschaft (genauer: der Mechanik) ›in Szene zu setzen‹. Und es
sieht so aus, daß diese Möglichkeit auch ergriffen und von einem Theoretiker wie d’Au
bignac mit einem systematischen Sachverstand reflektiert wurde, der auf seinem Gebiet
dem eines Francis Bacon durchau vergleichbar ist.17
Einheit von Handlung, Raum, Zeit
Wir können nun noch einen Schritt weitergehen, indem wir zu d’Aubignac zurückkeh
ren und uns mit den Mitteln auseinandeursetzen, durch die die »vraisemblance« haltbar
gemacht werden soll.
Vor den Augen und Ohren des Zuschauers, so sagten wir, hat sich die dramatische
Wirklichkeit vollkommen voraussetzungslos und durchsichtig zu entwickeln. Darin liegt
der Begriff der Einheit der Handlung bereits beschlossen. Nun hat »Einheit« mehrere Be
deutungen, und zwar erstens numerische Einheit, zweitens Abgeschlossenheit, und drit
tens Kontinuität oder inneren Zusammenhang. Es spricht nicht zum letztn für die philo
sophische Begabung d’Aubignacs, daß er alle drei Bedeutungen von Einheit sieht und
systematisch abarbeitet.
Erstens, sagt er, darf es nur eine Handlung geben, die überdies so einfach wie mög
lich strukturiert sein soll. Ich hatte vorhin schon das Beispiel des Corneilleschen Cid ge
nannt, dem vorgeworfen wurde, einer Nebenhandlung ein unzulässiges Gewicht verlie
hen zu haben. Oder denken Sie an Komödien Shakespeares, die das ›multiple play‹ vir
tuos handhaben und oft mit spektakulären Mehrfachhochzeiten enden. Oder, gleichfalls
von Shakespeare, die Stücke, die sich um Heinrich IV. drehen und worin die Haupt
handlung – aber kann man hier noch von Haupthandlung reden? – schier erdrückt wird
von dem Gewicht der FalstaffEpisoden. All das darf der Doktrin d’Aubignacs zufolge
nicht sein. Auch die Schilderung eines Heldenlebens durch weit auseinanderliegende
Episoden wird von ihm verworfen. Der Vergleich, den d’Aubignac in diesem Zusammen
hang immer wieder bemüht, ist das eines Gemäldes. Wie ein Maler ist der Dichter gehal
ten, die Handlung auf einen entscheidenden Augenblick zu konzentrieren, in dem alle Li
nien zusammenlaufen. Die Idee des Dramas ist also nicht, wie man denken sollte, ein
Prozeß, sondern ein Moment, in dem alle Ereignisse, die auf der Bühne ausgetragen
werden, virtuell gleichzeitig sind. Der zeitliche Prozeß des Dramas entfaltet also etwas,
das ›eigentlich‹ schon da ist.
Daraus ergibt sich nicht nur die numerische Einheit der Handlung: auf einem Ge
mälde kann nur eine Handlung abgebildet sein; werden mehrere voneinander teilweise
unabhängige Handlungen dargestellt, so handelt es sich – wenigstens nach Meinung
d’Aubignacs – eigentlich um zwei Gemälde.
Bild und Augenblick, in denen die dramatische Handlung idealtypisch konzentriert
ist, verweisen aber auch auf den zweiten Aspekt der Einheit: die Abgeschlossenheit. Dar
unter versteht d’Aubignac zweierlei. Einmal darf die Handlung nicht auf Voraussetzun
gen beruhen, die in einer dem Zuschauer unbekannten Vorgeschichte liegen. Das wäre
so, als könnte man ein bestimmtes Bild nur verstehen, wenn man ein anderes Bild
kennt. Wenn es solche Voraussetzungen gibt – was ja in den meisten Dramen der Fall ist
–, so muß der Dichter suchen, sich durch geeignete couleurs den Zuschauer so schnell
wie möglich mitzuteilen. Und zum anderen muß das Drama mit der es beschließenden
Katastrophe wirklich zu Ende sein. Man darf sich nicht fragen: wie geht es weiter, wie
verlaufen die weiteren Schicksale der Helden? Auch in diesem Punkt übrigens hatte Der
Cid eklatant gegen die Regeln verstoßen: es ist ein Drama mit einem offenen Schluß.
Ja, und drittens ergibt sich aus dem Begriff des Augenblicks, in dem alle Geschehe
nisse virtuell enthalten sind, das Gebot, daß die Handlung kontinuierlich verlaufen muß.
Darunter versteht d’Aubignac zunächst, daß sie keine auffälligen Unterbrechungen erlei
den sollte. Handlungszusammenhänge, zu denen größere Zeitsprünge gehören, werden
dabei von selbst ausgeschlossen. Außerdem ist es die Aufgabe des Dramatikers, immer
dann, wenn eine Person von der Bühne geht, dem Zuschauer zu signalisieren, was sie in
der Zeit ihrer Abwesenheit tun wird. Das heißt, ihm wird zu verstehen gegeben, daß
permanent gehandelt wird, daß es keine Leerzeiten und Lücken gibt – auch wenn nicht
alle an der Handlung Beteiligten zur gleichen Zeit sichtbar sind. Die dramatische Wirk
lichkeit, so könnte man sagen, ist nicht ›selbsttragend‹. Durch die Permanenz der Hand
lung muß sie unablässig aufrechterhalten werden. Ebenso, wie es der Einübung bedarf,
um sie als Wirklichkeit anzuerkennen, ja in ihr die empirische Wirklichkeit in ihrer We
sentlichkeit, gleich Gesetzmäßigkeit, zu begreifen, reicht der bloße Impuls einer theatra
len ›Verabredung‹ zwischen Dichter und Publikum nicht aus, um die dramatische Wirk
lichkeit in der Anschauung des Zuschauers zu stabilisieren. Dieser Impuls muß vielmehr
ständig erneuert werden.
Wenn d’Aubignac sich nun im folgenden der Einheit des Ortes und der Einheit der
Zeit zuwendet, so spielen dabei alle drei Aspekte von ›Einheit‹ eine Rolle. Der ihm wich
tigste, weil am schwierigsten zu bewerkstelligende ist allerdings der Aspekt der Konti
nuität. Auch die beiden Kapitel, mit denen ich meine Darstellung abschließen möchte,
das Kapitel über die »préparation des incidents«, die »Vorbereitung der Ereignisse« und
das über die Katastrophe, gehen vor allem der Frage nach, wie die dramatische Hand
lung als eine kontinuierliche in Szene gesetzt werden kann.
Zunächst zur Einheit des Orts. Angesichts der Ausführlichkeit, mit der sich d’Aubi
gnac diesem Thema widmet, muß man wissen, daß es in dem Volkstheater des begin
nenden 17. Jahrhunderts in Frankreich drei Kulissen üblich waren: eine an der Rück
wand der Bühne, und zwei an den Seitenwänden. Diese Kulissen stellten drei verschiede
ne Orte dar. Ortswechsel konnten bewerkstelligt werden, indem sich die Schauspieler
von einer Kulisse zur nächsten bewegten; das galt als Signal, und wenn sie sich dann
wieder im Vordergrund der Bühne postierten, wußte das Publikum, an welchem Ort
sich der Protagonist gerade befand. Damit – Sie können es sich denken – räumt d’Aubi
gnac gründlich auf. Nur einen einzigen Ort darf es noch geben; auch die seitlichen Ku
lissen dienen seiner Versinnbildlichung.
Das bedeutet, daß der Dichter einen zentralen Ort auszuwählen hat, einen Ort, von
dem aus sich alle anderen Orte, derer die Handlung bedarf, ungefähr in der Zeit errei
chen lassen, die der jeweilige Akteur von der Bühne verschwunden ist. Das Phänomen
also des Boten, der in eine andere Stadt geschickt wird und wunderbarerweise nach ei
ner Viertelstunde wieder auf der Bühne erscheint, um Rapport zu erstatten, ist nicht zu
lässig: Der Dichter hat in diesem Fall den Ort falsch gewählt, oder er hätte darauf sin
nen müssen, den Weg des Boten zu verkürzen. Ganz und gar läßt sich das selten mit
den strengen Geboten der vraisemblance in Übereinstimmung bringen und d’Aubignac
verrät im folgenden auch einige Tricks, wie man es wenigstens so scheinen lassen kann,
daß die Schauspieler so lang abwesend sind, wie sie für die beabsichtigte Handlung in
Wirklichkeit gebraucht hätten – dazu später noch etwas mehr.
Wichtiger ist aber, daß diese Auslegung der Einheit des Ortes18 in der Einheit der
Zeit fundiert ist. Die Zeit ist nämlich das Maß, mit dem räumliche Entfernungen gemes
sen werden. Das, was den Ort der Bühnenhandlung in eine »wahrscheinliche« Bezie
hung zu den anderen Orten setzt, die für das Drama benötigt werden, ist einzig und al
lein die Zeit, derer es bedarf, um von einem zum anderen zu gelangen. Die Einheit des
Ortes, soweit sie mehr bedeutet als die numerische Einheit, sondern einen Zusammen
hang bezeichnet, der sich auch durch Abgeschlossenheit und Stetigkeit (also Kontinui
tät) auszeichnet, gründet in der Einheit der Zeit. Oder: sie ist eine Form, in der die Ein
heit der Zeit erscheint.
Was sagt d’Aubignac nun über die Einheit der Zeit selbst? Er beginnt seine Ausfüh
rungen damit, daß er an der Zeit nochmals die beiden Aspekte der dramatischen Wirk
lichkeit unterscheidet: die Zeit der Darstellung auf einen einen Seite – also die ca. 3–4
Stunden, die eine Theateraufführung dauert –, und die dargestellte Zeit – die Zeit der
histoire véritable. Die ganze Frage der Einheit der Zeit dreht sich darum, wie sich die
erste Zeit zur zweiten verhält.
D’Aubignac erörtert zunächst den in diesen Zusammenhang kanonischen Satz des
Aristoteles, »daß die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen
Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen«19. Das meine, so der
Verfasser der Pratique du Théâtre nicht die 24 Stunden des astronomischen Tages, son
dern die 12 Stunden, an denen die Sonne sichtbar sei. Er führt eine Reihe von Gründen
für diese Auslegung an, deren wichtigster ist, daß 12 Stunden die maximale Zeitdauer
sei, während deren Menschen konzentriert und kontinuierlich handeln könnte; gehe die
dargestellt Zeit merklich darüber hinaus, müßten die Protagonisten realistischerweise
sich ausruhen oder etwas essen, und das, so verfügt d’Aubignac, gehöre nicht in ein
Bühnenstück.
12 Stunden also – das sind immer noch vier Mal so viel wie die Dauer der Theater
aufführung. D’Aubignac liebäugelt kurze Zeit mit der Idee des ›Echtzeitdramas‹, also des
Dramas, in dem darstellende und dargestellte Zeit genau gleich sind, räumt aber ein,
daß sich das kaum bewerkstelligen lassen, ohne anderenorts die Wahrscheinlichkeit zu
verletzen. Die Zusammendrängung einer Handlung auf 12 Stunden hält er für realis
tisch, auf 6 oder 3 Stunden nur in Ausnahmefällen für möglich. Es muß also dramati
sche Verfahrensweisen geben, vermittels derer die drei Stunden der Aufführung als 12
Stunden erscheinen können, ohne das dem Zuschauer Zeitsprünge angemutet würden,
durch die das Gebot der Kontinuität verletzt würde. Das sind vor allem drei:
– Die Zwischenaktsmusik. Man muß hierzu wissen, daß die Dramen in der Zeit der
französischen Klassik nicht fortlaufend aufgeführt wurden. Zwischen den Akten
nahm ein kleines Orchester Platz und spielte divertissements. Das ist eine Konventi
on, die mit der Forderung eines kontinuierlichen Handlungsverlaufs zunächst einmal
bricht. D’Aubignac funktioniert sie aber in seinem Sinne um. Die Zwischenaktsmusik
läßt nämlich, so seine These, die Zuschauer die Zeit ein wenig vergessen. Weil keine
gestaltete Handlungswirklichkeit zu sehen, sondern lediglich Musik zu hören ist,
wird ein Raum zeitlicher Indifferenz eröffnet. Diesen Raum kann man mit all den
Aktionen füllen, die eigentlich, ›in Wirklichkeit‹ mehr Zeit brauchen, als auf der Büh
ne zur Verfügung steht. Also auch der obenerwähnte Bote darf sich etwas weiter von
der Bühne entfernen als die Viertelstunde, die ihm zur Verfügung steht – nicht Ta
gesreisen weit, aber doch eine gute Stunde, sofern zwischen seinem Abgang und sei
nem Wiederauftritt ein Aktschluß mit anschließendem interlude liegt.
– Eine ähnliche Funktion erfüllen die lyrischen Intermezzi: Monologe, Stanzen und
dergleichen. Auch in ihnen wird die Zeit nicht angehalten, aber die Strenge des Zeit
maßes gemildert, so daß sich in ihnen mehr Handlung außerhalb der Bühne unter
bringen läßt als eigentlich möglich wäre.
– Und schließlich setzt d’Aubignac auf die natürliche Ungeduld der Zuschauer im
Theater, die sie die Dinge schneller erwarten läßt als sie in Wirklichkeit eintreffen
können. Mit dieser Ungeduld muß der Dichter arbeiten, ihr muß er entgegenkom
men; dann fallen die Raffungen, die er vornimmt, nicht weiter auf.
Um die Einheit der Zeit zu bewerkstelligen, ist also eine doppelte Verdichtung erforder
lich. Zum einen muß der Dichter, wenn er, wie in jener Zeit ja meistens üblich, einen
vorgegebenen Stoff bearbeitet, den »entscheidenden Tag« herausfinden, das Ereignis,
das die Katastrophe auslöst. An diesen Tag – darin besteht seine Bearbeitung – muß er
alle anderen erforderlichen Ereignisse so dicht wie irgend möglich heranrücken. Diese
Verdichtung findet auf der Ebene der dargestellen Zeit statt. Zum anderen muß er durch
die angegebenen Mittel diese Zeit wiederum auf die drei Stunden der Theaterauffüh
rung zusammendrängen. Durch diese doppelte Kompression wird die Zeit homogeni
siert; sie wird zur kontinuierlichen Ausfaltung des dramatischen Augenblicks, in dem
das ganze Geschehen sich konzentrieren soll. Die beschleunigte, homogenisierte Zeit –
sie wird recht eigentlich zum Träger eines Geschehens, das sich lücken und alternativ
los, gesetzmäßig und durchsichtig entfaltet. Sie wird, mit anderen Worten, zum Träger
des Schicksals. »Schicksal – das ist die Zeit in ihrer beschleunigten Form« läßt Jean Gi
raudoux Kassandra zu Beginn seines Stücks Der Krieg von Troja wird nicht stattfinden sa
gen. Wieweit es schon für den antiken Schicksalsbegriff zutrifft, mag hier offenbleiben.
Wie aber diese Schicksalszeit, in der es nichts Neues gibt, keine Freiheit, keine Kontin
genz, kein plötzlicher Eingriff von außen, – wie dieses Zeit und Wirklichkeitsempfinden
im neuzeitlichen Theater entsteht: das können wir in d’Aubignacs Pratique du Théâtre
wie in einem Laboratorium verfolgen.
Nur einen letzten Gedankenschritt müssen wir jetzt noch gehen. Ein Geschehen auf
der Bühne zu verfolgen, in dem von Beginn an alles festgelegt ist – das wäre im Grunde
doch langweilig. Und mehr noch: ein Schicksal, das von Anfang an als solches erkennbar
wäre, würde zum Einspruch herausfordern. Es würde die Frage enstehen lassen, ob das
Geschehen wirklich so lückenlos und gesetzmäßig prozessiert, ob sich nicht doch hier
und dort Handlungsalternativen erkennen lassen.20
Diesem Problem trägt d’Aubignac in den Kapiteln über die »Vorbereitung der Ge
schehenisse« und über die Katastrophe Rechnung. Der Zuschauer, so statuiert er dort,
will überrascht werden. Das heißt, man muß die Handlung so anlegen, daß sie einerseits
gesetzmäßig verläuft, andererseits diese Gesetzmäßigkeit aber nicht von Anfang an er
kannt werden darf. Der Dichter muß sozusagen falsche Fährten legen, er muß dramati
sche Zeichen setzen, die zweideutig sind. Aus ihnen leitet der Zuschauer bestimmte Er
wartungen ab; und die dramatische Kunst besteht dann darin, diese Erwartung durch
die Ereignisse zu enttäuschen, die richtigerweise aus den Zeichen folgen. Das heißt, was
ihn überrascht, ist nicht etwas Neues, sondern die plötzliche Erkenntnis des notwendi
gen Verlaufs, mithin Erkenntnis des Umstands, das alle Geschehenisse von anfang an
schon »da« waren.21
Genau auf dieser Linie liegt auch d’Aubignacs Begriff der Katastrophe. Sie ist, sagt
er, keine »Umkehrung« (revers), kein »Umsturz« (bouleversement), sondern »lediglich
eine Umwendung (renversement) des dramatischen Ausgangszustandes, die letzte Peri
petie, und eine Wiederkehr« – retour steht hier bemerkenswerterweise im Französischen
– »von Ereignissen, die allen Schein der Intrige in das Gegenteil dessen verwandelt, was
man ausgehend von ihm hätte erwarten müssen.« Auch hier also wird alles Irreguläre,
nicht von Beginn an Angelegte ausgeschlossen. Der dramatische Prozeß beweist sich als
Einheit, weil er darauf zuläuft, am Ende seine zuvor verborgene Identität mit dem An
fang hervorzukehren. Der spezifisch doppelbödige Aufbau der dramatischen Handlung
hat den Sinn, diese Einheit nicht einfach zu setzen – damit würde sich der Dichter nicht
bloß der Langeweile, sondern tendenziell auch der Kritik des Publikums aussetzen –,
sondern zu demonstrieren. Der Augenblick der Überraschung hat den Sinn, das Publi
kum zu überfordern, auf daß es sich von der Gesetzmäßigkeit der Handlung täuschen
läßt.
Theater als Experiment Schicksal als Naturgesetz
Ich komme zum Schluß mit zwei Bemerkungen, die sich wiederum auf Im Takt des Gel
des beziehen. Die erste greift den Begriff des Schicksals auf, die Vorstellung vom Drama
als notwendigem und gesetzmäßigem Zusammenhang und versucht, ihn etwas genauer
zu explizieren. Die zweite versucht dem Zusammenhang von Kontinuum und Kompres
sion nachzugehen.
Schicksal – das sagt viel, und ist doch ein ausgeprochener Hilfbegriff. Er erweckt ei
nigermaßen vage Vorstellung über etwas, das mit Notwendigkeit über die Köpfe der
Menschen hinweg prozessiert: was das aber sei, worin die Notwendigkeit besteht, dar
über gibt er keine Auskunft.
Um dies zu klären, müssen wir noch einmal zu d’Aubignacs These zurückkehren,
daß die gesamte Handlung eines Dramas idealtypisch in einem einzigen Augenblick
konzentriert sein soll. Die Vorstellung einer notwendigen Geschehensfolge liegt darin ei
gentlich schon beschlossen. Denn dann, wenn alles gleichzeitig zu schon ist, ist auch der
gesamte Verlauf schon vorprogrammiert; die »Vorbereitung der Ereignisse« hat, wie ge
sagt, keinen anderen Sinn, als diesen inneren Zusammenhang, dieses »Programm« erst
allmählich, und dann auf möglichst spektakuläre Weise zu demonstrieren. – Was regelt
aber in der Neuzeit die Abfolge und den Verlauf von Prozessen? Wadurch werden Pro
zesse als notwendige, soundnichtanders verlaufen könnende verstanden? Sie werden
die Antwort kennen. Der neuzeitliche Begriff, der präzise die Funktion übernimmt, den
in der vorphilosophischen Antike das Schicksal, und in der philosophischen Antike die
biologische Reproduktion des Lebens22, ist der des Naturgesetzes. Es ist für uns ein Ver
laufsgesetz in seiner reinsten Form, weil es erlaubt, sofern alle Bedingungen, unter de
nen ein Prozeß stattfindet, bekannt sind – idealerweise also in einem Experiment –, die
sen Prozeß exakt vorherzusagen. Im Naturgesetz ist der ganze Prozeß virtuell schon da;
die Formel, der Algorithmus legt fest, wie sich die Dinge verhalten werden.
Das ist freilich immer nur näherungsweise möglich, und zumal auf dem Theater, wo
man nicht mit Formeln operieren kann. Aber wenn man die Pratique du Théâtre liest,
kann man sich den Eindrucks nicht erwehren, daß d’Aubignac von demselben Geist wie
die beginnende Naturwissenschaft beseelt ist, die Annäherung immer weiter zu betrei
ben, die Wirklichkeit immer näher an den unerreichbaren Idealpunkt heranzuführen, an
dem ihr Verlauf mit dem, den das Naturgesetz vorschreibt, zusammenfällt. Das Drama
ist ein Prozeß, in dessen Verlauf sich das Gesetz dieses Verlaufes offenbart – so will es
wenigstens d’Aubignac.
Nun hat die Übertragung des neuzeitlichen Denkmodells auf die Welt des Theaters
für uns einen heuristischen Vorteil. Anders als im Fall der Naturwissenschaft, an deren
Weltbild wir uns weitgehend gewöhnt haben, empfinden wir angesichts dieser Übertra
gung spontanen Widerwillen. Es kann damit nicht ganz seine Richtigkeit haben. Wo
bleibt, so fragen wir, die menschliche Freiheit, die wir doch als unveräußerlichen Be
standteil unseres Handelns auffassen? Sinn ergibt der Begriff der Freiheit nur dann,
wenn man ihn dem der Gesetzmäßigkeit oder Vorhersagbarkeit, entgegensetzt. Wie im
mer man es genauer faßt: Frei zu handeln kann nichts anderes bedeuten, als aus einem
scheinbar gesetzmäßigen Ablauf auszuscheren. Genau in diesem Sinn wird die mensch
liche Freiheit von der Theorie d’Aubignacs ausgeschlossen. Im Theater – das ist der Vor
teil – fällt und das nur auf, im Unterschied zur Welt der Naturwissenschaft.
In diesem Widerwillen liegt nun ein kritisches Potential. Und diesem kritischen Po
tential zum Ausdruck zu verhelfen, ist seit dem Beginn der Neuzeit die Aufgabe der
Kunst gewesen. Alle Kunst seitdem, wenn sie etwas taugt, hat versucht, die Aufgabe zu
meistern, innerhalb der funktionalen Denkform Widerstand gegen sie zu artikulieren.
Im 17. Jahrhundert läßt sich das sehr schön an den Dramen Corneilles und Racines stu
dieren, die sich beide den Vorgaben d’Aubignacs widersetzen – nicht ganz und gar: das
dramatische Paradigma der Neuzeit, das d’Aubignac auf den Begriff gebracht hat, kön
nen sie nicht aufkündigen. Oder denken sie an die Musik Beethovens, die wohl nicht an
ders als unter der Idee des Widerstands gegen ihre eigene Grundbedingung begriffen
werden kann.
Ich muß es bei diesen Andeutungen belassen. Sie sind mir aber wichtig, um wenigs
tens die Richtung zu verdeutlichen, in die sich Im Takt des Geldes kunsttheoretisch
fruchtbar machen ließe. Und der Abbé d’Aubignac ist gewissermaßen der Türhüter, über
den wir in diese Gefilde der Kunstbetrachtung gelangen müssen.
Ausblick: Beschleunigung und neuzeitliche Denkform
Eine letzte, allerdings sehr spekulative Bemerkung möchte ich noch zum Problem der
Beschleunigung machen. Wir hatten gesehen, daß d’Aubignac die Vorstellung eines abso
luten Geschehenskontinuums dadurch gewinnt, daß er die »reale Zeit« komprimiert.
Das, so meine ich, kann kein Zufall sein. Seit dem Mittelalter gewinnt das Phänomen
und der Begriff der Beschleunigung immer mehr an Bedeutung. So hat sich die Musik
nicht bloß durch ihre taktrhythmische Organisation verändert, sondern auch dadurch,
daß sie schneller geworden ist. Oder Bacon, der Heros des neuen Denkens in England –:
er sagt, daß der menschliche Erfindungsgeist den langsamen naturgeschichtlichen Pro
zeß des Fortschritts beschleunige. In diesen Zusammenhang gehört – auch wenn sie erst
später greift – natürlich auch die Veränderung innerhalb der Produktionssphäre, die
Marx im Kapitel über den relativen Mehrwert beschrieben hat: Verdichtung der Produk
tionsprozesse, Überführung in ein Kontinuum der Produktion. Oder denken Sie an Virili
os ›Dromologie‹; bzw, umgekehrt an die Diskussionen über ›Entschleunigung‹. Es scheint
so zu sein, daß der Gedanke der Beschleunigung die Neuzeit wie ein Schatten begleitet.
Das hängt vorab an ihrem Verhältnis zur Konzeption des Kontinuums. Dieses Ver
hältnis ist wiederum doppelt bestimmt: Einmal ist die Beschleunigung ein Mittel zu dem
Zweck zu sein, ein Kontinuum zu erzeugen und zum anderen scheint ein beschleunigtes
Zeitempfinden wiederum aus der Konzeption des Kontinuums hervorzugehen –: ein
Kreislauf der Rückkopplung, in dem sich beides gegenseitig verstärkt.
Rufen wir uns kurz in Erinnerung, was ein Kontinuums ist, oder besser: was ein
Kontinuum denkmöglich macht. Zu einem Kontinuums bedarf es zweierlei: Erstens müs
sen alle einzelnen Dinge oder Geschehenisse, die einen Bestandteil des Kontinuums bil
den, radikal punktualisiert, und das heißt entqualifiziert werden. Sehr schön wird dies in
Im Takt des Geldes an der Veränderung des Zahlenbegriffs gezeigt, zu dessen Inbegriff
statt der »1« die »0« avanciert. Und zweitens ist die Vorstellung des Kontinuums über
haupt nötig, und zwar als des Insgesamt der Beziehungen aller Punkte zueinander.23
Nichts anderes aber leistet auf der Erscheinungsebene die Beschleunigung. Ein ver
ändertes, das heißt beschleunigtes Zeitempfinden gehört zur Neuzeit. Es ist der »Takt
des Geldes« selber.
Das bedeutet aber umgekehrt, daß wir auf alle Versuche, unser Zeitempfinden zu
verlangsamen, achtgeben sollten. Sie rühren zwar nicht an die Grundbedingung, aber
an ein GrundSymptom unseres, des neuzeitlichen Denkens. Zwei Beispiele für solche
Versuche möchte ich anführen. Zum einen die sogenannte Neue Musik des zwanzigsten
Jahrhunderts. Was immer man gegen sie sagen mag: Kritik am Taktschema ist ihr über
weite Strecken wesentlich. Und damit reduziert sich – automatisch – ihr Tempo. Neue
Musik – ich glaube, man kann es so summarisch formulieren – ist langsam. Und zum an
deren denke ich ans dramatische Werk Heiner Müllers – vor allem ab der Hamletmaschi
ne. Es ist von der Idee der Verlangsamung geprägt. Müller schreibt – damit möchte ich
meinen Vortrag beschließen:
»Es gibt diese tradierte Vorstellung von Revolution als Beschleunigungsinstrument.
Vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht geht’s immer darum, die Zeit anzuhalten, um
ZeitVerlangsamung.«
Darin, so meine ich, bestünde eine Möglichkeit, lebensweltlich und gesellschaftlich
an die Grundlagen unseres Denkens zu gelangen und diese zu verändern.
1 Shakespeare, auf den sich der Sturm und Drang so enthusiastisch berief, diente bereits als Gegenpol zuden als zunehmend zu eng empfundenen Kategorien des théâtre classique . Diese Berufung blieb aberein Intermezzo. Im Grunde haben jene Kategorien ihre Herrschaft aber weit ins 19. und 20.Jahrhundert hinein fortgesetzt.
2 Daß in ihnen so häufig erörtert wird, wieweit die Poetik des Aristoteles, für das ›moderne‹ TheaterGültigkeit besäße, spricht nicht gegen sondern für dieses Bewußtsein von etwas Neuem. Zu einen liegtes im Charakter der Rückversicherung selbst, daß unter ihrem Schutz allerlei ganz Unantikes legitimiertwerden konnte. Zum andern aber lassen sich auch Punkte namhaft machen, in denen die Theoretikerdem Aristoteles widersprechen; an ihnen läßt sich das Neue dann direkt ablesen.
3 Es gehört nicht zum Gegenstand dieses Vortrags, sei aber am Rand bemerkt, daß sich das Phänomender griechischen Tragödie einem vergleichbaren Epochenumschwung verdankt, der gleichfalls auf einerökonomischen Grundlage beruht.
4 Die Entwicklung in England ist etwas anders verlaufen. Obwohl man Elisabeth I. wohl auch den Titeleiner absolutistischen Herrscherin zugestehen sollte, hat das Theater dieser Regierungsform nicht ganzentsprochen. Es blieb Volkstheater; das Globe Theatre gewährte allen Bevölkerungsschichten Einlaß(vgl. hierzu: Robert Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters, BerlinOst, 1967). Fürdas aristokratische Publikum wurden die Stücke der elisabethanischen Dramatiker zusätzlich imBlackfriars Theatre auf der anderen Seite der Themse aufgeführt. In die formale Zusammensetzung derDramen vor allem Shakespeares reicht dieses gesellschaftliche Verhältnis tief hinein.
5 Von hier aus führt der Weg zur sokratischen Philosophie, die mit der Frage nach dem Guten (vgl. diesogenannten areteDialoge) in dem Augenblick einsetzt, in dem – offenbar – die Versuche, sie imTheater zu stellen, als nicht mehr genügend empfunden wurde.
6 Vgl. Peter Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt am Main 1961.7 Diese These muß historisch eingeschränkt werden: Sie gilt nur für die Tragödie der Neuzeit. Die antike
Tragödie kennt den ausschließenden Gegensatz, aber nicht den Gegensatz als rein immanentes,»nichtinhaltliches« Verhältnis. Entsprechend verhält sich die antike Dialektik zur neuzeitlichen. Ausdiesem Grund gibt es – in der griechischen Tragödie – den Chor. Idealtypisch sagt der Chor, daß beideRecht haben (vgl. etwa Sophokles, Antigone, 681f./724f.). In der tragischen Situation nützt das zwarniemandem etwas, aber es formuliert doch Anwartschaft auf einen transzendenten Grund desauseinandergetriebenen Gegensatzes. Das ist in der Tragödie der Neuzeit nicht mehr der Fall; deswegensind alle Versuche, den antiken Chor zu renovieren, Episode geblieben.
8 »Je dois à ma maîtresse aussi bien qu’à mon père, / J’attire en me vengeant sa haine et sa colère, /J’attire ses mépris en ne me vengeant pas –«. Pierre Corneille, Der Cid. Französisch/Deutsch. Übersetztund herausgegeben von Hartmut Köhler, Stuttgart 1997, V. 322–324.
9 »Qu’un homme sans honneur ne te méritait pas, / Que malgré cette part que j’avais en ton âme, / Quim’aima généreux me haïrait infâme, / Qu’écouter ton amour obéir à sa voix, / C’était m’en rendreindigne et diffamer ton choix.« Ebd., V. 888–892.
10 Für die folgende Darstellung habe ich zurückgegriffen auf das Vorwort Pierre Martinos in der von ihm1927 herausgegebenen Ausgabe der Pratique du Théâtre. Alle (in der Regel von mir übersetzten) Zitateaus d’Aubignacs Werk folgen dieser Ausgabe.
11 Chapelain »demonstrierte im Beisein des Kardinals, daß man die drei berühmten Einheiten der Zeit, desOrtes und der Handlung unbedingt einhalten müsse. (...) Nichts überraschte so wie diese Doktrin: siewar neu nicht bloß für den Kardinal, sondern für alle Dichter, die in seinem Dienst standen.« D’Olivet,Histoire de l’Académie francaise, Band II, S. 130 (Übersetzung von mir).
12 Es handelt sich dabei um die Rolle der Infantin. Vgl. Hartmut Köhler, Anmerkungen, in: Der Cid, a.a.O.,S. 248 f.
13 Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Kapitel I/6, I/7 und II/2 der Pratique du Théâtre. 14 II/2 Schluß.15 Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004, S. 175. 16 Ebd., S. 182 f.17 Nur in einem Punkt unterscheidet sich d’Aubignac von den Philosophen und Naturwissenschaftlern –
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Anmerkungen
auch eine durchaus sympathische Weise. Obwohl er nämlich statuiert, daß das, was die Zuschauer derdramatischen Handlung erfahren, nichts anderes als die »Nature des choses«, die Natur der Dinge sei(Pratique du Théâtre, a.a.O., S. 38), gibt er doch zu, daß, wie bemerkt,die Übertragung dieserangeblichen Naturordnung auf die Welt der Bühne trainiert werden müssen – daß sie, mit anderenWorten, also nicht natürlich ist. Zu der Erkenntnis, daß es sich um ein historisches Phänomen handelt,ist allerdings noch ein weiter Weg.
18 Sie ist gänzlich unantik. Wenn überhaupt, beschränken sich die antiken Tragödien auf die numerischeEinheit des Ortes.
19 Aristoteles, Poetik, Kap. 5 (übersetzt von Manfred Fuhrmann in der ReclamAusgabe der Poetik,Stuttgart 1982, S. 17).
20 Das ist ein Mittel, zu dem das epische Theater (in einem weiteren, über Brechts Dramatikhinausgehenden Sinn) immer wieder gegriffen hat.
21 D’Aubignac projiziert also den aristotelischen Begriff der Peripetie auf das Verhältnis zwischendramatischer Handlung und Zuschauer. Der Zuschauer gerät in die Rolle des dramatischen Helden, der,wie Ödipus, alle Zeichen mißdeutet, bis ihm plötzlich die Wahrheit offenbar wird. Der antikeZuschauer, der die Geschichte kennt, befindet sich dagegen in einer anderen Lage. Er wird nichtüberrascht. Vielmehr hat er Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie der Heros sich anders hätteverhalten können. Die antike Tragödie ist epischer als ihr Ruf.
22 Vgl. Ette, Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal, a.a.O., S. 11 ff.23 Bockelmann, Im Takt des Geldes, a.a.O., S. 302 ff.
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