Woody Guthrie · 2017-02-21 · Als Woody Guthrie 1912 in der Kleinstadt Okemah in Ok-lahoma...

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JUN/JUL.12 Woody Guthrie

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JUN/JUL.12

Woody Guthrie

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EINSCHLAUFENWonnemonat? Wohl eher Wonnenfi nsternis. Denn wenn wir auf die vergangenen vier Wochen zu-rückblicken, läuft im Hintergrund eine lange Reihe von Nekrologen ab. Im Mai 2012 ha-ben wir einige unserer Besten verloren: Donna Summer, Robin Gibb, Carlos Fuentes, Donald «Duck» Dunn, Maurice Sendak, Fredy Lien-hard, Vidal Sassoon. Sie alle sind nun – nach verdienstvollem Einsatz im Dienste der guten Sache – an einem besseren Ort. Und genau dort befi ndet sich auch Beastie Boy Adam Yauch, der am 4. Mai mit seiner Niederlage im Kampf ge-gen den Krebs die traurige Abfolge von Todes-fällen eröffnet hat.Wie sollen wir damit umgehen? Was können wir tun? Die Fragen wiegen schwer. Doch des Her-zens verbrannte Mühlen – und das haben wir auf dieser Seite immer wieder verkündet – tröstet ein Vers. Damit kennen wir uns aus, zumal unse-re Herzen grundsätzlich mit Flugzeugbenzin ge-tränkt und ergo sehr, sehr leicht entzündbar sind.Wir suchen und fi nden diese Verse freilich nicht einfach irgendwo, sondern tief eingebettet in Werke, deren Weltruf variiert. Ein erstes Bei-spiel? «A bottle of red / a bottle of white / de-pending on your appetite.» Das hat Billy Joel in seinem kleinen Hit «Scenes from an Italian Res-taurant» geschrieben und gesungen. (Das zuge-hörige Restaurant gegenüber der Carnegie Hall gibt es mittlerweile leider nicht mehr).

Impressum Nº 05.12DER MUSIKZEITUNG LOOP 15. JAHRGANG

P.S./LOOP VerlagPostfach, 8026 ZürichTel. 044 240 44 25, Fax. …[email protected]

Verlag, Layout: Thierry Frochaux

Administration, Inserate: Manfred Müller

Redaktion: Philippe Amrein (amp), Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe

Mitarbeit: Philipp Anz, Reto Aschwanden (ash), Thomas Bohnet (tb), Daniel Böniger (boe),Pascal Cames (cam), Michael Gasser (mig), Hanspeter Künzler, Tony Lauber (tl), Mathias Menzl (men), Barbara Mürdter, Philipp Niederberger, Brigitta Niederhauser, Julian Weber

Druck: Rotaz AG, Schaffhausen

Das nächste LOOP erscheint am 12. JuliRedaktions-/Anzeigenschluss: 5. Juli

Titelbild: Woody Guthrie

Ich will ein Abo: (Adresse)10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 33 Franken (in der Schweiz).LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected]

Betrifft: Wo die sauren Trauben wachsen

Wer soll folgen? Natürlich der alte Sack, der «dirty old man», dessen Stern noch immer dun-kel über dem Firmament von Los Angeles leuch-tet. Er hat geschrieben: «Most men who sleep late in the morning are a superior breed.» In einem seiner besten Bücher, das allerdings erst Jahre nach dem Tod des Dichters veröffentlicht wurde, hat Charles Bukowski diese ewige Wahr-heit verkündet.Woodrow Wilson Guthrie hätte mit den vorheri-gen Zeilen überhaupt kein Problem gehabt. Der Mann, den sie «Woody» nannten, hatte ganz andere Sorgen und Nöte. Er besang den Staub und den Golfstrom, die Feigheiten der Ostküs-tenprominenz und die Verlogenheit der Macht-menschen im kalifornischen Westen. Mitte Juli würde der rastlose Protestsänger 100 Jahre alt und gehört deshalb angemessen gewürdigt.Woher hätte ich damals wissen sollen, wer Woo-dy Guthrie tatsächlich ist? Ich war zehn Jahre alt und hörte mir die Springsteen-Liveaufnahmen an. Fünf Vinylplatten in einer glasierten Karton-schachtel. «This Land Is Your Land.» Der Be-ginn eines neuen Lebens.

Guido Protesto

PS. Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss mal noch schnell raus, um mich von meinen Träu-men zu verabschieden.

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RASTLOS & RADIKALVom Wilden Westen in die modernste Stadt der Welt: Woody Guthrie und das amerikanische Jahrhundert. Ein Leben im Schnelldurchlauf.Als Woody Guthrie 1912 in der Kleinstadt Okemah in Ok-lahoma geboren wurde, stand sein Land an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, das das Amerikanische Jahrhundert heissen würde. Noch war viel in seinem Umfeld vom verge-henden Klima des Wilden Westens geprägt. Die Sitten waren rau, und Rassismus war «normal». Oklahoma war gerade fünf Jahre zuvor zum 46. Bundesstaat der USA geworden. Die Great Plains mit ihrem unwirtlichen Klima waren lange von den Weissen als uninteressant betrachtet worden. Hier-hin hatte man Mitte des 19. Jahrhunderts die Indianerstäm-me des Ostens abgeschoben und ihnen das Land verspro-chen, «solange das Wasser fl iesst und das Gras wächst.» Wie üblich hielt man sich nicht lange an die Zusagen.Guthries Kindheit war durch den Niedergang der zunächst wohlhabenden und glücklichen Familie geprägt. Der Vater, ein konservativer Demokrat, der den Sozialismus bekämpf-te und an den Amerikanischen Traum glaubte, war Lands-pekulant und Rechtsberater. Er war stolz, dass seine Familie in den Läden alles auf Kredit kaufen konnte, was ihr Herz begehrte. Doch sowohl seine Politikkarriere als auch sein Geschäft scheiterten. Guthries Mutter litt an der lange undi-agnostizierten Hirnkrankheit Chorea Huntington. Sie ver-lor zunehmend die Kontrolle über sich, benahm sich immer merkwürdiger und wurde zum Gespött der Nachbarschaft. Mit ihrem unberechenbaren Verhalten verängstigte sie die Kinder. Als Woody Guthrie zehn wurde, war die Familie pleite, mit 14 war er auf sich allein gestellt: Die Mutter war im Irrenhaus gelandet, nachdem sie ihren schlafenden Mann in geistiger Umnachtung mit Kerosin übergossen und angezündet hatte. 1929 holte ihn der weitestgehend genesene Vater in die texanische Kleinstadt Pampa nach, wo er Arbeit in einem billigen Bettenhaus für Ölarbeiter gefunden hatte, das gleichzeitig auch ein Bordell war. Im selben Jahr begann die Wirtschaftskrise, die Great Depression, deren Folgen bis zum zweiten Weltkrieg das Leben in den Vereinigten Staaten bestimmen würden. Allerdings hatten der Südwesten und Mittelwesten der USA schon zehn Jahre zuvor einen wirt-schaftlichen Niedergang erlebt, aufgrund von Fehlentwick-lungen in der Landwirtschaft, die auch Guthries Familie ruiniert hatten. So war man Armut gewohnt. Andererseits federte der Ölboom in der Region die Folgen der Depressi-on zunächst etwas ab.

BRANDNEUE MEDIEN

Guthrie, der sich zeitlebens nichts aus Geld machte, jobbte in einer illegalen Bar (bis 1933 war die Prohibition in Kraft), begann ein kleines Business als Schildermaler für lokale Ge-schäfte und erlernte von einem Onkel das Gitarrespielen. Schon in Okemah hatte er sich eine Mundharmonika be-sorgt: Er spielte die anglo-irischen Balladen, die er von sei-ner Mutter gehört hatte, die Cowboysongs des Vaters, die Lieder der durchziehenden Minstrel-Shows und den Blues eines afroamerikanischen Bekannten. Seit Mitte der Zwanzigerjahre waren Radio und Schall-platte als brandneue Medien aufgekommen, und Guthrie übte stundenlang, den Stil von Maybelle Carter zu imitie-ren, der Gitarristin der populären Carter Family. Für die bitte umblättern

aktuelle Musik, die er zu hören bekam, wie Jazz, Western Swing und die Popsongs, interessierte er sich wenig. Er mochte die Hillbilly-Musik, wie Folk und Country damals genannt wurden. Clevere Vermarkter hatten entdeckt, dass die traditionelle anglo-irische Folkmusik in der amerikani-schen Adaption aus dem 19. Jahrhundert, wie man sie im ländlichen Süden der USA noch zu hören bekam, bei eben diesen Bevölkerungsschichten (und auch einigen Städtern) sehr gut ankam – sie schalteten das Radio ein und kauf-ten die Platten, als «Talisman ihrer eigenen Existenz», wie Greil Marcus anmerkte. Denn ihre alte Welt wich gerade dem fortschreitenden Industriezeitalter und seinen massiven Umwälzungen, die sich unter anderem in gewaltigen Mig-

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rationsbewegungen von Süd nach Nord und auch in den Westen zeigte. So kam in den Dreissigerjahren die popu-lärste Hillbilly-Sendung aus Chicago, wohin viele verarmte Farmpächter aus dem Süden gezogen waren.Guthrie begann mit seiner eigenen Band, dem Corncob Trio, bei lokalen Veranstaltungen aufzutreten. Statt die High School zu beenden, verschlang er lieber in der Stadt-bibliothek Bücher zu Themen, die ihn interessierten – von Psychologie über östliche Philosophie, den Bau von Lehm-häusern bis zu impressionistischer Malerei. 1933 heiratete er die Schwester seines Bandkollegen Matt Jennings, Mary. Doch Guthrie war kein Familienmann. Er interessierte sich immer mehr für die Welt der Hobos, der Wanderarbeiter, die per Frachtzug oder Autostop quer durch die USA reisten und die er schon als Teenager bei einem ersten Ausfl ug nach Südosttexas kennengelernt hatte. Als 1935 sein erstes Kind zur Welt kam, wurde Guthrie noch reiselustiger, zumal er in Pampa auch keine Zukunft für sich sah.

In Südosttexas war er zum ersten Mal wirklichem Elend jenseits der verarmten Mittelklasse begegnet. Bei den Ho-bos, die oft eine kapitalismuskritische Haltung hatten, traf er andererseits auch zum ersten Mal Vertreter der linken so-zialen Bewegungen der USA, von Gewerkschaften wie den Industrial Workers of the World (IWW) oder Anhänger der sozialistischen Partei, die zu seiner Zeit gerade in Oklahoma recht stark war und bei einer Wahl sogar 16 Prozent der Stimmen erhielt. Er bekam erste Zweifel am konservativen Weltbild, mit dem er erzogen worden war. Konkret politisch dachte er aber noch lange nicht: An den Hobos reizte ihn vor allem das Image von Freiheit und Abenteuer – und die Möglichkeit, sich bürgerlichen Normen zu entziehen.

IM GOLDENEN WESTEN

1937 machte sich Guthrie wie viele seiner Landsleute end-gültig auf den Weg gen Westen, in den verheissungsvollen «Goldenen Staat» Kalifornien, wo es Versprechen auf Ar-beit gab. Die neu ausgebaute Route 66, die an Pampa vorbei führte, war voller Flüchtlinge, wie man sie aus den berühm-ten Bildern von Dorothea Lange oder Arthur Rothstein kennt, oder auch John Steinbecks «Früchte des Zorns»: Zehntausende Farmerfamilien verliessen Ende der Dreissi-gerjahre die sogenannte «Dust Bowl», mehreren von Dürre betroffene Bundesstaaten in den Great Plains. Ihre ganzen Habseligkeiten waren auf ein klappriges Auto geschnürt, und sie waren auf der Suche nach einem neuen Leben. Sie hatten nicht nur durch die verheerenden Staubstürme, die mehrere Jahre die Gegend heimsuchten, ihr Land verloren, sondern vor allem durch ein ineffektives Landwirtschafts-system, bei dem die Banken das Letzte aus den Pächtern pressten und sie vom Hof jagten, wenn sie nicht mehr zah-len konnten.Als Guthrie nach Los Angeles kam, waren Cowboys gera-de ganz gross in Mode, und er fand einen Job als Hillbil-ly-Musiker bei einem der Dutzend Radiostationen in Los Angeles, KFVD. Der Sender hatte keine besonders starke Leistung und war nur in einem Umkreis von 200 Kilome-tern zu hören. Besonders machte ihn, dass er trotz kommer-zieller Ausrichtung sehr politisch war. Der Inhaber war ein Unterstützer des New Deal, des riesigen Sozial- und Wirt-schaftsprogramms, mit dem Präsident Franklin D. Roose-velt versuchte, die Folgen der Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen. Auf KVFD hörte man vor allem Programme von Gruppen aus dem linken Spektrum, von Liberalen bis Kommunisten. Aufgrund des drohenden Faschismus gab es einen starken Zusammenhalt in der Linken, die sich in der Volksfront, der Popular Front, vereinte. Durch das soziale Elend der Wirtschaftskrise war sozialistisches Gedankengut allgemein populär, denn der Ruf nach einer gerechteren Ge-sellschaft schien notwendig und plausibel. Trotz dieses Umfelds und auch heftiger Arbeitskämpfe, die im konservativ-korrupt regierten Los Angeles tobten, blieb Guthrie politisch zunächst weiter recht unbekümmert. In der Tradition vieler Folksongs setzte er sich allerdings für den «kleinen Mann» ein und schimpfte auf die Banker und Politiker. Ihm fi el auch auf, wie schlecht die zugewanderten «Okies» (von Oklahoma), wie man die Flüchtlinge aus den Great Plains meist abschätzig nannte, behandelt wurden. Sie galten oft nur als lästige Landstreicher und wurden in den zumeist konservativen Medien als Faulenzer und Sozialsch-marotzer dargestellt. Mit Maxine Crissman, einer Bekann-ten, die er «Lefty Lou» taufte, stieg er bald zum Star des Senders auf. Gemeinsam mit ihr sang er die alten Lieder aus der Heimat. Sie sprachen On Air über die Migrationserfah-rung, und Guthrie schreib Songs darüber – eine der ersten (Selbst-)Darstellungen des sozialen Phänomens. Ihre Sen-dung bot eine Art imaginäres Zuhause, einen Zusammen-halt in der Fremde für die Dust-Bowl-Migranten. 1939 standen Gouverneurswahlen in Kalifornien an, und die Chancen standen gut, dass der Kandidat der Demo-

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kraten, die sich inzwischen zur liberal-linken Kraft entwi-ckelt hatten, gewinnen würde. Zur Unterstützung hatte der KVFD-Inhaber Frank Burke eine Zeitung gegründet. Er schickte Guthrie im Sommer durch Kalifornien, um als «Hobo-Korrespondent» über das Elend seiner Landsleute zu berichten. Per Autostop oder Frachtzug reisend besuchte Guthrie die sogenannten «Hoovervilles», Elendslager aus Dosenblech, Holzkisten und zerschlissenen Zeltplanen, in denen die Ärmsten wohnten, die auf schlecht bezahlte und trotzdem rare Jobs auf den Obst- und Gemüsefeldern hofften, und die von der Regierung bereitgestellten Camps der Farm Security Administration. Diese galten als Luxus, weil es fl iessend Wasser, sanitäre Anlagen und eine minimale medizinische Versorgung gab. Die mehrwöchige Reise, auf der Guthrie unvorstellbares Elend sah, führte endgültig zu seiner Politisierung. Wieder in Los Angeles, wandte er sich der Kommunistischen Partei zu, und seine Lieder wurden deutlich sozialkritischer. Die Sache der «Okies» machte er zu seiner eigenen, und er begann auch bald, einen grösseren politischen Bogen zu spannen, als er Flüchtlinge aus dem von Faschismus bedrohten Europa kennenlernte. Er wur-de zu einem festen Freund der Sowjetunion und hielt Stalin bis zum Ende für einen grossen Mann. Als er nicht nur den Hitler-Stalin-Pakt, sondern auch die sowjetische Annektion Polens und den Überfall auf Finnland über den Sender gut-hiess, war das selbst für seinen liberalen Chef zu viel, und er entliess ihn.

LUKRATIVE RADIOJOBS

Guthrie sah für den Moment keine Chance mehr in Los An-geles und nahm seine inzwischen drei Kinder und seine Frau, die er nachgeholt hatte, und fuhr mit ihnen zurück in seine texanische Kleinstadt. Hier war er aber mit seinen neuen Erfahrungen und Einstellungen endgültig zum Aussenseiter geworden und hielt es nicht lange aus. Ein Freund aus Los Angeles, der in der Kulturszene einigen Einfl uss hatte, lud ihn nach New York ein, wo er jetzt lebte. Im Februar 1940 traf Guthrie dort ein. New York war damals die modernste Stadt der Welt, mit ihren Wolkenkratzern, einem modernen U-Bahn-Netz, einer internationalen Kultur. Zudem war es Sitz der grossen Radionetzwerke, der Banken – und der Kommunistischen Partei. Es gab eine starke kommunistisch geprägte Subkultur, sowohl im intellektuellen Manhattan als auch in den angrenzenden Arbeitervierteln – Vereine, Verbände, Selbsthilfegruppen und Clubs. Guthrie war hier der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Mit-hilfe seines Freundes Will Geer wurde er schnell Teil der linken Folkszene der Stadt, die allerdings sehr übersichtlich war. Gitarren und Jeans als Alltagskleidung waren noch so auffällig wie ein sechsköpfi ges Tuba-Orchester.Zu seinen neuen Freunden gehörten bald der Blues- und Folkmusiker Huddie Ledbetter (Lead Belly), der angehende Folksänger Pete Seeger und der Folkloresammler Alan Lo-max. Mithilfe des gut vernetzten Lomax, der erste Platten-aufnahmen für das Folkarchiv der Library of Congress in Washington mit ihm gemacht hatte, konnte er seine Lieder über das Elend der Flüchtlinge der Dust Bowl kommerziell aufnehmen. Das Thema war gerade populär, da John Fords Verfi lmung von «Früchte des Zorns» in den Kinos lief. Lo-max verhalf ihm auch zu gut bezahlten Radiojobs, unter anderem beim grossen Netzwerkradio CBS. Guthrie hatte auch eine Sendung angenommen, die von einer Pfeifenta-bak-Firma gesponsert wurde. Hier wurde er recht fürstlich bezahlt, musste aber strenge Regeln einhalten. Vor allem durfte er nicht politisch sein. Das sah er als Beschneidung seiner Integrität und wurde zunehmend unzufrieden. Er war auch überfordert von einem turbulenten Jahr in New York und vom Familienleben – er hatte Frau und Kinder im Herbst nachgeholt. Anfang Januar 1941 warf er alles hin, packte seine Familie in ein angezahltes Luxusauto und fuhr

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über den ganzen Kontinent zurück nach Los Angeles. Hier konnte er allerdings nicht wieder Fuss fassen – die Zeiten hatten sich geändert. Die «Okies» waren von den Felden und aus den Elendsbaracken verschwunden, weil sie Jobs in der Kriegsindustrie gefunden hatten – im Dezember hatte Präsident Roosevelt den bedrängten Briten zugesagt, dass sein Land sie militärisch unterstützen werde, auch wenn es sich nicht aktiv am Krieg beteiligte. Frank Burke von KVFD wollte Guthrie nicht wie erhofft zurück, und auch die kom-munistische Szene in Los Angeles hatte ihn oft genug singen gehört. Wieder war es Alan Lomax, der ihm eine verlockend schei-nende Chance vermittelte. Im Rahmen des New Deal wur-den an im ganzen Land auch grosse Staudämme gebaut, die der Bewässerung und der Energieversorgung dienen sollten. Die Behörden standen in Konkurrenz mit privaten Anbie-tern. Sie produzierten Propagandafi lme, um sich zu profi lie-ren. Da «Amerikanismus» und Volkskultur sowieso gerade hoch im Kurs standen, wollte man einen Folksänger für so einen Film anheuern. Aus dem Film wurde zwar in dieser Form nie etwas, da die Finanzierung nicht stand und auch Guthries Nähe zum Kommunismus problematisch empfun-den wurde. Aber da Guthrie – aus schierer Verzweifl ung, da er keine Arbeit fand – persönlich samt Familie zur zustän-digen Behörde nach Portland, Oregon, am Columbia River

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gekommen war, stellte man ihn für einen Monat ein. Er war angetan von der paradiesischen Landschaft, aber auch vom kollektiven Geist beim Bau des Bonneville-Staudamms, der später das umliegende Land fruchtbar machen sollte, auch als neue Heimat für Dust-Bowl-Flüchtlinge. Die ansässige Bevölkerung konnte Anteile erwerben. All das ging in Rich-tung eines sozialen Systems, wie Guthrie es sich erträumte. Er schrieb den vielleicht inspiriertesten Songzyklus seiner Karriere, in dem er all dies pries.

ERST STREIK, DANN KRIEG

Als der Auftrag zu Ende war, bekam er Post von seinem Freund Pete Seeger aus New York, der ihn zu einer Tour mit seiner neuen Band Almanac Singers einlud. Die Alma-nacs hatte sich zusammengefunden, um politische Lieder zu singen, für die Gewerkschaften und gegen den Krieg, den sie als Krieg der Kapitalisten sahen. Sie wollten als Kollek-tiv zusammen leben und arbeiten, fühlten sich trotz ihrer Mittelklasse-Herkunft zur Arbeiterschaft hingezogen. Und sie liebten Folksongs. Guthrie wurde bald ein wichtiger Teil der Band, die aus wechselnden Mitgliedern bestand. Als sie im Sommer 1941 zu einer landesweiten Tour für die Gewerkschaften aufbrachen, waren 2,5 Millionen US-Amerikaner im Streik, mehr als je zuvor in den USA ausser 1919. Bestimmt waren diese vom neuen radikalen Indus-triegewerkschaftsdachverband Congress of Industrial Or-ganizations. Die Begeisterung für den CIO, der in einigen Kreisen geradezu hip war, rührte vor allem aus einer Neu-formierung der Arbeiterklasse in den grossen Städten. Bei der Gewerkschaftsbewegung waren Einwanderer der ersten und zweiten Generation, die von 1890 bis nach dem ers-ten Weltkrieg in Scharen vor allem aus Südosteuropa in die US-Grossstädte gekommen waren, an vorderster Front mit dabei, ebenso wie Afroamerikaner, die zunehmend auf eine gleichberechtigte Behandlung drängten. bitte umblättern

Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im De-zember 1941 und dem Kriegseintritt der USA verlegten sich die Almanac Singers auf Kriegspropaganda – jetzt ging es um die Verteidigung der Heimat gegen die faschistische Be-drohung. Die Antikriegslieder hatte man schon nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion aus dem Programm genommen, jetzt hatten auch die Gewerkschaften für die Kriegszeit aus Patriotismus einen Streikverzicht erklärt. Da die Almanacs schnell dabei waren, tagesaktuelle Topical Songs zu schreiben und mit die ersten, die Lieder für den «Good War» parat hatten, schien sich eine grosse Karriere anzubahnen. Sie spielten in landesweiten Radiosendungen und hatten ein Angebot für einen Vertrag mit dem Major-label Decca. Nur hatte im Februar 1942 das FBI ihre erste Platte mit Antikriegsliedern aus dem Vorjahr und ihre Nähe zum Kommunismus entdeckt und gab diese Informationen an die Presse weiter. Damit war der kurze Erfolg beendet, und die Band löste sich im Laufe des Jahres auf.

DIE LIEBE SEINES LEBENS

Guthrie, der sich von seiner ersten Frau getrennt hatte, lernte bereits im Januar die Tänzerin Marjorie Greenblatt Mazia kennen, die zur Liebe seines Lebens wurde. Sie wür-de sich nicht nur während seiner langen Krankheit um ihn kümmern, sondern ihr Leben seinem Erbe widmen. Zu-nächst half sie ihm, seine romanhafte Autobiografi e «Bound for Glory» fertigzustellen, an der Guthrie schon einige Zeit arbeitete. Alan Lomax war der erste, der Guthries Schreib- und Erzählstil herausstellte, als dieser ihm ein Manuskript über seine Kindheit zeigte, das er für eine biografi sche Radiosendung verfasst hatte. Nachdem ihn auch andere ermutigt hatten, sah Guthrie die Schriftstellerei als einen möglichen weiteren Karriereschritt. Nachdem eine Lektorin

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SZENE

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JUNI2012

GabbaGabbahey

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PÄDE SCHLETZERBRUNO AMMANN

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BAM«Beautiful People»

(UK 1999, J. DIZDAR)

«Put Lubenica»(HR 2006, B. SCHMIDT)

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LIVE:

JACK PATTERN (LU/ZH)

PAXI & FIXI (SH)

DJs: DJOYSTICKNICOLAI KNIGGE& MARC METHA

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sa9 BACHSTROSSdisco adverto

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GESCHICHTEN, LIEDER & WOLFSGEHEULSKA, ROCKSTEADY & SOULDRAUSSEN: ESSEN, TRINKEN, MUSIK, RAMBA UND AUCH ZAMBA

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8 DANCEHALL REGGAE & MORE

LIVE:

CANSON BAR 25/ZH

DJs: LENNIXMUSICSELIM & ARMINMARC MAURICE

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Yzarc

DJs: MACK STAXKOSI, RUEDI SNARE

& NATTY B

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GROOVE

LIVE:

MARCO CLERC ZH

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SONGWRITERSINGER

in concert

LIVE:

THE BRANLARIANS FDJs:

SMART LION ZH

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fr22 RUDE

ROCK

REGGAE

DJs:MATERAZZI, PANEKA, BEST,

BOTTERON, FROSCH, HIGUITA,SINDELAR, MATHÄUS

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RASTLOS & RADIKALgegen Bezahlung das chaotische Manuskript noch einmal nachbearbeitet hatte, wurde der autobiografi sche Roman, der in vielem nicht Guthries tatsächliche Erlebnisse wieder-gibt, 1943 veröffentlicht und zum erfolgreichen Bestseller. Ein Stipendium, das er daraufhin erhielt, konnte er nicht nutzen, da er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Den leis-tete er zum Grossteil in der Handelsmarine, da er nicht zur Armee wollte. In dieser Zeit, in der er viel las und intensive Gespräche mit Kameraden führte, entwickelte er laut sei-nem Biografen Joe Klein eine konsistente Philosophie aus all seinen Einfl üssen – Marxismus, Christentum, östliche Philosophien. Er begann auch, erste Symptome dessen zu bemerken, was sein weiteres Leben bestimmen würde: Er hatte die Krankheit seiner Mutter geerbt. Da er erlebt hatte, wie seine Mutter verfallen war, wusste er, welch grausame Zeit ihm bevorstand. Chorea Huntington zersetzt das Ge-hirn langsam – zunächst treten Stimmungsschwankungen und eigenartiges, oft unkontrolliert aggressives Verhalten ein, dann kommen physische Symptome wie Zuckungen aufgrund mangelnder Muskelkontrolle hinzu. Irgendwann tritt unweigerlich der Tod ein. Guthrie verdrängte, was ihm bevorstand. Schon 1943 war seine Tochter Cathy geboren worden, die er abgöttisch liebte, und 1945 heiratete er Marjorie. Sie leb-ten in der Mermaid Avenue auf Coney Island, die 50 Jahre später dem Album von Billy Bragg und Wilco dem Namen gab, als sie Texte zu nie aufgenommenen Guthrie-Songs aus dieser Zeit neu vertonten. Guthrie, der schon immer extrem produktiv war, versuchte, so viel wie möglich zu schreiben, wahrscheinlich weil er ahnte, dass es bald nicht mehr geht. Oft waren die Texte jedoch uninspiriert, ihnen fehlte die Leichtigkeit und der Humor der früheren Arbeiten. Zu den schönsten Werken von Guthrie nach dem Krieg gehören sei-ne Kinderlieder für Cathy. Schon 1944 hatte er den Label-betreiber Moses Asch kennen gelernt, der seine Plattenfi rma nach dem Krieg Folkways nannte und für den Guthrie in den nächsten Jahren über 300 Songs aufnahm. Asch küm-merte sich nicht um Geld, sondern er war Musikfreund. Dass bedeutete Freiheit für die Künstler, hiess allerdings auch, dass er kaum zahlte.

AUF DER SCHWARZEN LISTE

Überhaupt wurde Guthries Auftragslage seit den Kriegs-jahren zunehmend schlechter, auch wenn nach dessen Ende wieder alles ganz optimistisch weiter zu gehen schien. Mit Seeger und anderen New Yorker Musikern gründete er People’s Songs, eine Gewerkschaft für Folkmusiker, die auch Auftritte vermittelte und Songbücher herausgab. Im Jahr 1946 gab es wieder eine mächtige Streikwelle der CIO – People’s Songs wurde erfolgreich, es gab viele Möglichkei-ten zu Auftritten. 1946 zerbrach allerdings auch die Allianz der Siegermächte, und der Kalte Krieg begann, der zu einer beispiellosen Verfolgung von Linken in den USA führen sollte. 1947 trat als Reaktion auf die Streiks der bis heute gültige Taft-Hartley Act in Kraft, der die 1935 unter Roo-sevelt garantierte freie Wahl der Gewerkschaften wieder einschränkte, und gegen den sogar der antikommunistische Präsident Truman sein Veto einlegte, weil der Gesetzeszu-satz eine Gefahr für die Demokratie sei. In der Folge wur-den aus allen Gewerkschaften die kommunistischen Funk-tionäre entfernt, und auch die Musiker von People’s Songs waren nicht mehr gern gesehen. Nachdem 1948 die von ih-nen unterstützten Wahlkampagne für den ehemaligen Roo-sevelt-Vizepräsidenten Henry Wallace erfolglos verlief, der die Politik des verstorbenen Präsidenten mit einer eigenen Partei weiterführen wollte und sich für freie Gewerkschaf-ten, eine universelle staatliche Krankenversicherungen und Rassengleichheit einsetzte, löste sich die Vereinigung auf. Guthrie schrieb verbitterte, anklagende Briefe an alle mög-lichen Politiker und griff auch Musikerkollegen an, die sich

dem Zeitgeist entsprechend süssen, belanglosen Popmelo-dien widmeten, um im Geschäft zu bleiben. Für kurze Zeit machte so sein Freund Pete Seeger mit den Weavers Karri-ere, die Folksongs aus aller Welt in nette Orchesterarran-gements eingebettet aufnahmen. Sie griffen dem fi nanziell schlecht dastehenden Guthrie allerdings gewaltig unter die Arme, als sie einen seiner Songs aufnahmen, der in die Hitparaden kam und ihm allein 10 000 Dollar Vorschuss bescherte. Doch 1952 gerieten auch die Weavers auf die Schwarze Liste von J. Edgar Hoovers FBI, die immer mehr linke Künstler, auch viele Freunde von Guthrie, mit Quasi-Berufsverboten belegte. Auch über Guthrie gab es seit 1941 eine FBI-Akte, und er kam im selben Jahr wie die Weavers ebenfalls auf die Liste, just als ihm ein Vertrag mit Decca angeboten worden war. Der wäre allerdings sowieso hin-fällig gewesen, da Guthries Gesundheitszustand inzwischen so schlecht war, dass er keine künstlerisch akzeptablen Auf-nahmen mehr zustande brachte.

JESUS UND BOB DYLAN

Seine Frau Marjorie hatte sich von ihm getrennt, weil er sie und die inzwischen drei Kinder in geistiger Umnachtung mehrfach massiv körperlich bedroht hatte. Auf ihr Drängen hin liess er sich einweisen und auf Alkoholismus untersu-chen. Nach diversen Klinikaufenthalten erfuhr er die wahre Diagnose, die er die ganze Zeit verdrängt hatte. Trotzdem brach er ein letztes Mal aus, fuhr zu Freunden nach Los Angeles, die eine Künstlerkolonie gegründet hatten, um die Schwarze Liste zu umgehen. Hier lernte er sogar noch einmal eine Frau kennen, die seinen desolaten Zustand ig-norierte, ihn heiratete und ein Kind mit ihm bekam. 1954 sah Guthrie aber selber ein, dass nichts mehr ging und liess sich endgültig einweisen. Er wandte sich der Bibel zu. Er war auch vorher religiös, nur war Jesus für ihn bisher der Outlaw gewesen, der sich für die Armen einsetzte. Jetzt war er der Erlöser, die letzte und einzige Hoffnung. Trotzdem blieb er auch in der Klinik politisch auf dem Laufenden und verkündete zum Beispiel 1956 zur Wahl, dass er wie immer für die Kommunisten stimmen werde, weil sie die einzigen wären, die in der Rassenfrage, die inzwischen mit der Bür-gerrechtsbewegung zu einem bestimmenden Thema gewor-den war, seine Ansicht verträten.Während es mit Guthries persönlicher Situation nach dem Krieg immer weiter bergab gegangen war, hatte sich seine Ruf verbreitet. Schon als er noch gesund war, hatten sich erste Jünger eingefunden, die ihn für seine Authentizität bewunderten und die Gewerkschaftskämpfe der Dreissi-gerjahre romantisierten, an denen er teilgenommen hatte. Was die nachfolgenden Generationen aber vor allem an ihm faszinieren sollte, war sein Image als Hobo, der mit seiner Gitarre kreuz und quer durch die USA reist und seine Lieder singt. Er wurde zum Symbol der Freiheit. Auch wenn sein Buch und seine in Kleinaufl age erschienen Platten längst vergriffen waren, berief sich die neue Folkszene, die sich Ende der Fünfzigerjahre in Greenwich Village entwickelte, vorrangig auf ihn, nicht zuletzt sein berühmtester Vereh-rer, Bob Dylan. Einen grossen Anteil daran, dass Guthrie zur Legende wurde, hat auch sein Freund Pete Seeger, der Guthries Songs in sein Repertoire aufnahm und ihn uner-müdlich pries. Zu Guthries Mythos als nationale Ikone trug zudem bei, dass sein Verleger einige Songs kostenlos für Schulbücher zur Verfügung stellte. So lernt bis heute jedes Schulkind in den USA «This Land Is Your Land», allerdings ohne die sozialkritischen Textzeilen, die Guthrie 1940 im Geist der Great Depression verfasst hatte – über Menschen in Suppenküchenschlangen und Kritik am Privateigentum. Die bekannten Verse waren es auch, die überall im Land erklangen, als sich im Oktober 1967 die Nachricht von Woody Guthries Tod verbreitete.

Barbara Mürdter

Barbara Mürdter: «Woody Guthrie – Die Stimme des anderen Amerika.»

Verlag Neues Leben, Berlin 2012. (Das Buch wird am 15. Juni veröffentlicht).

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REISENDER PROLETARIERZum hundertsten Geburtstag von Woody Guthrie wird seine fi ktionalisierte Auto-biografi e «Bound of Glory» auf Deutsch neu aufgelegt. Ein Zeitdokument, das ein drücklich die grosse Depression der Dreissigerjahre in den USA nachzeichnet. In einem Interview verriet Bob Dylan einmal, dass er eine Art Woody-Guthrie-Jukebox sei und alle Songs seines grossen Vorbilds spielen könne. Auch ein eigenes Lied hat Dylan sei-nem Meister gewidmet: «Hey Woody Guthrie, ich habe für dich ein Lied geschrieben, aber ich weiss, dass du all das, was ich sage, längst kennst.» Zweimal ist Bob Dylan die Haupt-rolle in einem Film über Woody Guthrie angeboten worden. Beide Male hat Dylan abgelehnt. Ob er wohl geahnt hat, dass Al Ashbys Film «Bound for Glory» von 1976 weder jener düsteren Epoche noch der Persönlichkeit Guthries ge-recht werden würde?Als Filmvorlage diente Ashby Guthries gleichnamige Auto-biografi e von 1943. Der damals 30-jährige Guthrie schilder-te seine Jugend und seine langen Jahre als Wanderarbeiter. Als Lumpensammler verdient er sich sein erstes Geld. Bereits als Dreizehnjähriger hat er, der Sohn eines Preisboxers und Musikers aus Oklahoma, mitbekommen, wie schnell eine Familie nach ein paar Schicksalsschlägen im Land der unbe-grenzten Möglichkeiten in die Armut schlittert. In der Zeit der grossen Depression nach dem Börsencrash von 1929 waren viele Kleinbauern gezwungen, ihre Betriebe aufzuge-ben. Wie unzählige Arbeiter zogen auch sie westwärts, in der Hoffnung, dort auf den Plantagen ihr Brot verdienen zu kön-nen. Hoffnungen, die von den Grossgrundbesitzern ebenso häufi g enttäuscht wie ausgenutzt wurden.

ALPTRAUMSEITEN DES AMERICAN DREAM

Zur grossen Schar dieser recht- und mittellosen Wan-derarbeiter gehört auch Guthrie, der Schriftenmaler gelernt hat. Als schwarz-fahrender Hobo ist er un-terwegs und reist auf den Dächern und Puffern der Güterzüge durchs ganze Land – mit dabei hat er im-mer seine Gitarre. Tage- und nächtelang harrt er hung-rig bei Kälte und Hitze auf den Zugdächern aus. Dort, und in den billigen Kneipen, wo er manchmal auftritt, schreibt er seine Lieder. Für seine Erfahrungen und Be-obachtungen fi ndet Guthrie eine einfache, direkte Spra-che, die jeder und jede ver-steht und die nicht nur Bob Dylan beeindruckt, sondern eine ganze Reihe amerika-nischer Songwriter prägen wird. Mit seinen über 2000 karg intonierten Songs de-fi niert er aber nicht nur die amerikanische Folkballade neu. Der bekennende Sozia-list schildert in herben Wor-ten auch die Alptraumseiten des American Dream. Schnörkellos und schlicht ist auch die Sprache seiner

Autobiografi e «Bound for Glory». Es ist eine fi ktionalisierte Biografi e: Nicht sein persönliches Schicksal steht im Vorder-grund, sondern das Los der amerikanischen Proletarier jener Zeit. Und wie in seinen Songs ist auch in seinen Erinnerungen weder Resignation noch Bitterkeit auszumachen. Selbst in düstersten Zeiten kommen ihm, dem wortgewa ltigen Antifa-schisten, weder Humor noch Hoffnung abhanden. Gleichzei-tig ist Guthrie auch ein glühender Patriot, der sich im Zwei-ten Weltkrieg freiwillig zum Dienst bei der Handelsmarine meldet. Seine Ideale und seine Visionen einer vereinten Arbei-terschaft, die bessere Lebensbedingungen durchsetzen wird, gibt er sein Leben lang nicht auf, so wenig wie er sich von der Plattenindustrie vereinnahmen lässt: Ein gefragter Radiomo-derator ist Guthrie, doch als ihm seine Chefs ein schmuckes Häuschen in Aussicht stellen, wenn er auf politische Lieder und Moderationen verzichte, steigt er nicht darauf ein.

ANBIEDERNDER JARGON

Ein eindrückliches Zeitdokument ist die Autobiografi e, die auf deutsch unter dem Titel «Dies Land ist mein Land» fi r-miert, noch heute. Für die Neuaufl age zu Guthries 100. Ge-burtstag am 14. Juli ist die deutsche Übersetzung von Hans-Michael Bock aber leider nicht überarbeitet worden. Bereits bei der ersten Ausgabe (2001) hätte sich eine stimmigere und zeitgemässere Nachdichtung von Guthries farbigen, mit viel Slang durchsetzten Erzählungen aufgedrängt. Einzig das Vorwort von Billy Bragg sowie das erweiterte Nachwort von Michael Kleff und Nora Guthrie sind aktualisiert worden. Gut zehn Jahre nach der Erstausgabe wirkt der zum Teil ge-sucht schnoddrige und anbiedernde Jargon von Bock noch deplatzierter. Er wird zudem keineswegs dem grossen und kritischen Künstler Guthrie gerecht, der in den Fünfzigerjah-ren McCarthys Hatz gegen die Linke nur entgangen ist, weil er von 1954 bis zu seinem Tod 1967 wegen seiner schweren Nervenkrankheit ans Spitalbett gefesselt war.

Brigitta NiederhauserWoody Guthrie: «Dies Land ist mein Land.» Edition Nautilus, Hamburg 2012.

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DER MODELL-HIPPIEWoody Guthries Sohn Arlo führt die Fami-lientradition fort und zieht als Songwriter durch die Welt. Die turbulenten Phasen der späten Sechzigerjahren hat er haut-nah miterlebt.Bekannt wurde der amerikanische Folksänger Arlo Gu-thrie 1967 mit seinem epischen Song «Alice's Restaurant», der Vorlage für den gleichnamigen Film von 1969. Guthrie übernahm damals die Hauptrolle und trat im selben Jahr in Woodstock auf. Später landete er mit seiner Version von «City of New Orleans» einen weiteren grossen Hit.Guthrie, inzwischen 64 Jahre alt, ist an 300 Tagen im Jahr auf Tour, hält das Erbe seines Vaters Woody Guthrie hoch und hat vor einigen Jahren das Gebäude von «Alice's Res-taurant» gekauft.

In groben Zügen: Was ging dem «Summer of Love» in den USA voraus?Der Folkboom der Sechziger beruhte auf der Sehnsucht nach den alten Cowboysongs, den Songs der Minenarbei-ter aus den Appalachen, den Songs der Kettensträfl inge aus dem Süden. Viele Musiker, die in den Sechzigern berühmt wurden, hatten die seltsame alte amerikanische Musik für sich entdeckt. Die Rolling Stones waren Blues-Experten, und Bob Dylan ist zu den Anfängen von Country und Folk gegangen, um die Struktur dieser traditionellen Lieder zu studieren. Es war in den Sechzigern auch verbreitet, wie in alter Zeit aktuelle Ereignisse in die Songtexte einfl iessen zu lassen. Viele Menschen fürchteten damals, es könnte zum Atomkrieg kommen. Gleichzeitig beschwichtigte uns die Regierung, dass man sich angesichts eines Atompilzes am besten unter den Tisch ducken müsste. Wir trugen unseren Protest dagegen auf die Strasse, und die Musik begleitete dieses Treiben. Wir weigerten uns, so zu denken wie unsere Eltern.

Haben Sie denn gegen Ihre eigenen Eltern rebelliert?Nein. Mein Vater war als Mitglied der kommunistischen Partei der USA selbst Aussenseiter. Ich habe seine Arbeit mit meinen Mitteln fortgesetzt. Die Probleme vieler Gleich-altriger hatte ich nicht. Meine Eltern unterstützten mich in allem, was ich tat.

Sie haben die ehemalige Kirche von «Alice's Restaurant» inzwischen gekauft. Einmal in der Woche wird dort eine kostenlose Mahlzeit serviert. Musiker kommen von weither, um kostenlose Konzerte zu spielen. Was wir damit versuchen, ist Men-schen mit unterschiedlichem Hintergrund zu versammeln, um mit ihnen eine globale Gemeinschaft zu bilden und da-bei unsere gegenseitigen Vorurteile abzubauen.

Sagt Ihnen dieses Zitat noch etwas: «Wir werden immer hier sein, denn wir sind das Volk.»Das ist der Schluss von John Steinbecks Roman «Früchte des Zorns». Es geht darin um eine Familie zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, um Leute, die alles verloren haben in den Sandstürmen Oklahomas. Sie mussten ihre Heimat verlassen und nach Westen emigrieren. Ein Desaster reiht sich ans Nächste, und trotzdem erinnert die Protagonistin Mutter Joad mit diesen Worten die Leser daran, dass die einfachen Leute immer da sind. Regierungen wechseln, Po-litiker kommen und gehen, aber das Volk macht die Arbeit in guten wie in schlechten Zeiten und zieht Kinder gross.

Mein Vater hat diese Zeilen mehrmals in seinen Texten ver-wendet, und ich benutzte das Steinbeck-Zitat lange Zeit auf der Bühne, weil es eine wirkmächtige und sehr poeti-sche Idee ist, dass die einfachen Leute das Volk ausmachen.

Und was bedeutet Folk?Als mein Vater in den frühen Sechzigern wegen seiner Nervenkrankheit im Krankenhaus lag, brachten wir zum Besuch unsere Instrumente mit, um ihm vorzuspielen. Ich habe ihm damals auch die Platten mit seinen Songs vorge-spielt, die jede Woche per Post aus der ganzen Welt eintra-fen. Durch die Coverversionen habe ich verstanden, was Folk bedeutet. Folk dreht sich um Familie, Traditionen, darum, mit einfachen Mitteln Spass zu haben. Es geht auch darum, das Wort zu erheben. Die Songs meines Vaters be-ruhten auf wahren Begebenheiten. Wenn man wissen woll-te, wer die einfachen Menschen waren, woher sie kamen, was sie dachten, wie ihnen geschah, so konnte man es da-mals nur über solche Folksongs herausfi nden. Folkssongs sind wahre Volksgeschichte. Wir hatten die Songs von Pete Seeger gelernt. Der hatte sie aus der Karibik. Die hatten sie wieder von anderswo. Und wir machten diese Songs zum Teil unserer eigenen Traditionen, die wir wiederum mit Menschen in der ganzen Welt teilten.

Hatten die Morde eines Charles Manson und seiner «Family» mit den Ideen des Summer of Love zu tun?Nein. Manson hatte keinerlei Verbindungen zur Bürger-rechts- oder zur Friedensbewegung. Äusserlich mag er uns Hippies geähnelt haben, aber tief im Herzen war er anders. Wir wollten uns keine Vorteile auf Kosten Schwächerer verschaffen. Manson hat das alles nur zum Anlass eines gewalttätigen Egotrips gegen Wehrlose genommen.

Interview Julian Weber

arlo guthrie

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DER ANDERE WOODY

Wie aus Woody eine Punkikone wurde: Joe Strummer von The Clash war ein glü-hender Verehrer Guthries und lieh sich zwischenzeitlich sogar dessen Vornamen aus.Es ist ein Liebesbrief vom Sommer 1972 an Debbie Kartun: «I can imagine the house and fi elds and woods from when we went there last time. I can see you wandering about like this.» Gezeichnet: «Love, Woody». Der 20-Jährige, der hier mit «Woody» unterschrieb, hiess bürgerlich John Graham Mellor – und sollte später als Joe Strummer und Sänger von The Clash der Welt bekannt werden.Bereits in den letzten Jahren der Grundschule hatte der 1952 geborene John Mellor den Übernamen Woody ange-nommen. Manche seiner damaligen Mitschüler sagen, dies sei bloss eine Weiterentwicklung seines vorherigen Rufna-men Woolly gewesen. Doch in der Gschichtsschreibung von Joe Strummer geht der Name auf Woody Guthrie zu-rück. In einem Interview, das Hosen-Sänger Campino 2001 mit Strummer führte, sagte dieser: «[Der Name kam] von dem Protest- und Folksänger Woody Guthrie. Der hatte

einen enormen Einfl uss auf mich. Als Junge hatte ich seine Biografi e ‹Bound for Glory› gelesen. Genau wie Bob Dylan 15 Jahre vor mir.» Und in einem frühe-ren Interview erklärte er zu The Clash: «Yeah, man könnte uns eine Folk-Band nennen. Ich komme auf eine Art von Woody Gu-thrie her.»

DRAUSSEN AUF DER STRASSE

Als John Mellor zu Beginn der Siebziger in London auftauchte und mit der Kunstschule anfi ng, kann-ten ihn alle nur noch als Woody. Und wie Guthrie begann auch dieser Woody seine musikalische Lauf-bahn nicht in Konzertsä-len, sondern draussen auf der Strasse. Zusammen mit dem Geiger Tymon Dogg –

der heute seinerseits gerne als «Godfather of Anti-Folk» bezeichnet wird – spielte er auf öffentlichen Plätzen und in U-Bahn-Stationen. Strummer zupfte anfänglich auf der Ukulele, weil er dachte, diese sei einfacher zu spielen als eine Gitarre. Zu seinem Repertoire gehörten aber weni-ger Folk-Songs, sondern mehr Coverversionen von Chuck Berry oder Bo Diddley. Als nächstes Projekt folgte 1974 die Pub-Rock-Band 101’ers. «Die Band wurde gegründet, weil es für Strassen-musikanten in London einfach zu hart wurde. Wir mussten ständig vor der Polizei wegrennen», sagte Strummer später. Mit dem Einzug seiner Auftritte in die Hinterzimmer von Pubs, in besetzte Häuser und andere Räume folgte auch seine defi nitive Hinwendung zur Gitarre. Im Mai 1975 heiratete er eine junge Frau aus Südafrika, damit diese die Aufenthaltsbewilligung erhielt. Als «Gegenleistung» für diese Hilfe bekam er 120£ und investierte diese sogleich in eine 1966er Fender Telecaster. Zwar gibt es auch hier Behauptungen, Strummer hätte das Instrument ausgewählt, um das Gitarrenspiel von Guthrie zu imitieren. Sein Vorbild diesbezüglich war aber Wilko Johnson, der Gitarrist von Dr. Feelgood. Als Reminiszenz an Guthrie und dessen Schriftzug «This machine kills fas-cists» auf der Gitarre kann jedoch durchaus der Kleber «Ignore Alien Orders» gesehen werden, den Strummer alsbald an gleicher Stelle anbrachte – und der dort bis zu seinem Tod im Dezember 2002 bleiben sollte. Er benutzte die Telecaster über all die Jahre, was ihr einen legendären Ruf einbrachte (ein Fan hat sie sogar exakt nachgebaut: strummerguitar.com).

WUT, IRONIE UND MITGEFÜHL

In die Zeit der 101’ers fällt auch der nächste – und endgül-tige – Namenswechsel von John «Woody» Mellor. Allan Jones, damals Journalist beim «Melody Maker» und heute Chefredaktor des Musikmagazins «Uncut», erinnert sich an ein Interview von 1975: «Die Band stellte sich vor. Als Woody an der Reihe war, reichte er mir eine Liste mit Namen und sagte, ich könne mir einen aussuchen. Den einzigen, an den ich mich erinnern kann, war ‹Joe Strum-mer›.» Wieso Strummer genug von Woody hatte, ist nicht bekannt. Den neuen Namen erklärt Kris Needs in seiner Strummer-Biographie wie folgt: «Er war Linkshänder und hatte auf einfache, wilde Art auf Gitarren für Rechtshän-der zu spielen gelernt. Um seinen rechten Unterarm beim Spielen zu schützen, trug er jeweils eine ‹Strum Guard› aus Bandagen und Gaffer-Tape. Joe kam daher, weil er sich einfach für den gewöhnlichsten Namen auf dem Planeten entschied.»Jedenfalls wollte John fortan nur noch Joe und nicht mehr Woody genannt werden. Der Einfl uss Guthries aber blieb auch bei den sich bald darauf formierenden The Clash. We-niger in der Musik, jedoch in den Lyrics von Strummer, in denen sich politische Statements mit genauen Alltagsbeob-achtungen abwechseln, in denen Wut, Ironie und Mitge-fühl gleichermassen ihren Platz haben. So prägte Joe Strummer wiederum eine nächste Generation von Songwritern, etwa Billy Bragg, der The Clash und Gu-thrie zu seinen grössten Einfl üssen zählt. Zum Geburtstag schenkte Bragg Nora Guthrie, der Tochter von Woody und Verwalterin seines Archivs, einmal das Clash-Buch «The Last Gang In Town». Nach der Lektüre schrieb sie im Mai 2001 in ihrem Blog: «Back to my dream: ... ‹My friend Stevey› Nelson appears on the next go-round and a song, ‹Antyfascist Steve› plays from a boombox. I reach way up high and grab ‹Woody› Mellor and The Clash.»

Philipp Anz

joe strummer

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NEUES AUS DEM NACHLASSEin Mann, ein Wort, und das fast täglich. Woody Guthrie war der Vielschreiber des Folk und verfasste so gut wie jeden Tag einen Text. Billy Bragg und Wilco verton-ten einen Bruchteil davon. Zu Guthries Hundertstem sind alle Teile des Meister-werks veröffentlicht.Was wäre, wenn? Der amerikanische Musikjournalist Geoffrey Himes hat in seiner Geschichte «Mermaids Across the Universe» Woody Guthrie in einem Paralleluniversum angesiedelt, in dem der Songwriter kerngesund und voller Tatendrang ist. Statt politische Lieder zum Zeitgeschehen («Die Friedensbewegung braucht Songs zum Mitsingen») schreibt und singt der ungestüme Guthrie Songs über UFOs, Joe DiMaggio, Walt Whitman, Ingrid Bergmann. Bekanntlich war es anders, Guthrie schrieb «nur» Texte über besagte Themen. Amerikas patriotischster Kommu-nist war todkrank, arm und nahezu verstummt. Mitte der Sechzigerjahre gehörte er zu den «altehrwürdigen Vorbil-dern der Vergangenheit» wie zehn Jahre später Paul Nelson im «Rolling Stone» feststellte, aber niemand spielte seine Songs. Auch ein Dylan nicht, der oft zu Besuch kam. Keine Covers, keine Tantiemen. Das Geld kam erst viel später, nachdem Billy Bragg und ein Mann der manchmal wie Dylan singt, Jeff Tweedy, Guthries Texte vertonten. Nicht ganz unschuldig daran war Guthries jüngste Tochter Nora, die lange Zeit ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Vater hatte.

WEITE UMWEGE

Wie so oft müssen weite Umwege gegangen werden, bis man zum Naheliegenden kommt. Für Nora Guthrie, 62, war dieser Weg besonders weit. «Mit Folkmusik konnte man mich jagen», erzählte sie dem Magazin «Alert» und berichtet, dass sie lieber Motown hörte und tanzen ging, während daheim ein Phil Ochs und ein Dylan beim be-rühmten Papa hockten. Null Idealismus. «Bevor ich die Welt rette, rette ich lieber meine Kinder. Ich war und bin völlig abgestumpft gegenüber den sogenannten grossen Ideen und Werten, für die mein Vater so erbittert gekämpft hatte.» Das Anti dauerte 40 Jahre. Dann kam die Einsicht. Sie heuerte halbtags bei einem gewissen Harold Leventhal an, seines Zeichens eine Art Nachlassverwalter Woody Gu-thries, und fi schte aus diversen Kartons Texte ihres Vaters hervor. Das Papier war schon am verbröseln. Sie war zur rechten Zeit am rechten Ort. Ungefähr 3000 Texte hat sie gerettet, fast 50 wurden vertont.Auf Nora Guthries Initiative bekamen Billy Bragg («Son-ne, See und Sozialismus») und Jeff Tweedy die Texte. Be-kanntlich wurde daraus eines der schönsten Folk-Rock-Al-ben neueren Datums, dessen Titel sich auf den damaligen Wohnort der Familie Guthrie bezieht, die Mermaid Avenue in New York. Im Booklet gibt es auch etliche Fotos von Guthrie aus dieser Zeit. Der Sozialist Bragg startete die Spurensuche in Woodys Heimat Okemah, Oklahoma, und entdeckte dort im Gestrüpp die Grundmauern des Hauses der Familie Guthrie. War 30 Jahre später schon Gras über die Geschichte gewachsen? Für Bragg wurde Guthrie zum «ersten alternativen Musiker» und «grossen Vorbild». Er

staunte nicht schlecht: «Woody Guthrie hat jeden Tag die Zeitungen gelesen und Ausschnitte an die Wand gepinnt. Daraus sind dann fünf oder sechs Songs entstanden – pro Tag!» Die Aufnahmen mit Wilco sowie Nathalie Mer-chant und Coris Harris fanden Ende der Neunzigerjahre in Dublin statt. Zwei reguläre Alben (1999, 2000) wurden in Irland eingespielt, diese und weitere Songs, darunter die Wilco-Songs «When the Roses Bloom Again» und «The Jolly Banker», wurden jetzt zu einem Dreifach-Album zusammengefasst.

DAS KONZEPT IST TOT

Die Neuausgabe eröffnet ein weites Feld: Da gibt es knur-rige Country-Musik, Folk und Rocksongs, Gassenhauer und Pop, Songs, wie sie vielleicht von den Byrds gespielt, aber so nicht unbedingt gesungen worden wären, astreine Wilco-Songs, Worksongs, Shantys für die Seele, Pop für den Körper und hitverdächtiges wie «California Stars», das in einer besseren Welt oder einem Paralleluniversum eine Nummer eins geworden wäre. Sogar Braggs Desaster als Rocksänger («Union Prayer») macht Laune. Die Songs verhandeln UFOs, Joe DiMaggio, Walt Whitman und Guthries Wunsch nach gemeinsamen Kindern mit Ingrid

Bergmann. Um es kurz zu machen: das Album ist an keiner Stelle langweilig und ehrt einen grossen Mann, ohne in Ehrfurcht zu erstar-ren. Es ist der überfällige Nachschub für die all ame-rican Jukebox. Das Werk schreibt ein Happy End für eine Vatersuche und do-kumentiert nicht nur den Glanz, sondern auch die Aufl ösung der Kollaborati-on von Bragg und Tweedy/Wilco. Der Brite und der Amerikaner sollen sich ent-zweit haben. Das Konzept ist tot, Guthries Musik lebt.

Pascal Cames

Billy Bragg & Wilco: «Mermaid

Avenue – The Complete Sessions»

(3 CDs + 1 DVD, Nonesuch/Warner)

billy bragg (links) und wilco

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AB JUNI IM KINO RIFFRAFF & BOURBAKI

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DIE NEUEN PLATTEN

Tim & Puma MimiThe Stone Collection of Tim & Puma Mimi(Mouthwatering/Irascible)

Vorurteile haben Vorteile. Vor allem, wenn sie (halb-wegs) zutreffen. Wie im Fal-le von Tim & Puma Mimi. Das Vorurteil hier: Wenn Japaner(innen) mit am Mu-sikwerk sind, dann wirds fröhlich, unweigerlich. Zu-fallsgetroffen haben sich Tim alias Christian Fischer, ein Zürcher, und Mimi ali-as Michiko Hanawa 2003 an einer Nikolaus-Party in Holland. Man entschloss sich trotz oder wegen Be-trunkenseins zur Zusam-menarbeit. 2004 folgte die erste EP «The Adventures of Tim and Puma Mimi». Seither kollaborieren die beiden unablässig weiter, live oder via Skype. Ihr Metier ist der Elektro-Pop-Streich, so auch auf ihrem neuen Album «The Stone Collection of Puma Mimi». Da fi ndet Puma Mimis ent-spannter und mehrheitlich japanischer Kieksgesang zusammen mit getüftelten Sounds, die vom Klingelton Tokioter Züge oder schwe-rem Sommerregen inspiriert sind. Casios, Minimoogs und Fender Rhodes sind tonangebend, doch es gibt auch jede Menge obskurer Klangplätzchen für Ripsch-gurke, Glockenspiel und Ukulele. Das piekt, das glu-ckert, das plingt. Und das nicht etwa schwer verdau-lich, sondern ebenso wun-der- wie sonderbar fröhlich. Ganz dem schönen Vorur-teil entsprechend.

mig.

Lotus PlazaSpooky Action at a Distance(Kranky)

Zwei Jahre ist es her, seit Lockett Pundt zumindest ein wenig aus dem Schat-ten seines Bandkollegen Bradford Cox treten konn-te – dank seines brillanten Lieds «Desire Lines» auf der letzten Deerhunter-Platte «Halcyon Digest». Nun legt der Gitarrist und Songwriter als Lotus Pla-za sein erstes grosses Al-bum vor, das mehr als ein ungefähres Ausloten von Ambient-Geistergitarren bietet. Das treffend betitel-te «Spooky Action at a Dis-tance» enthält Songs, die in Eigenregie eingespielt und aufgenommen wurden, linde scheppern und neben schlaufenden Gitarren die schläfrige und liebe Stim-me Pundts präsentieren. Halbwach ist hier vieles in diesen Traum-Liedern, von denen das tröstende, beinahe hymnische «Mo-noliths» mit seinem hellen Refrain herausragt. Und so wird dank dieser Lie-dersammlung, die sich mit einem langen Gespenster-ton aufl öst, auch 2012 zum Deerhunter-Jahr.

bs.

Caravan PalacePanic(Warner)

Electro-Swing erfreut sich seit einigen Jahren gröss-ter Beliebtheit, wobei das Interesse gegenwärtig eher noch zu- als abnimmt. Die Erfolge der holländischen Sängerin Caro Emerald und des Österreichers Parov Stelar legen das nahe – ge-nauso wie all die Electro-Swing-Partys, die zurzeit im deutschsprachigen Raum zwischen Zürich und Berlin gefeiert werden.Mit zu den Wegbereitern dieser Melange aus Electro und altem Swing gehören die Pariser Caravan Palace. 2005 von drei Musikfans gegründet, ergänzte man Bass, Gitarre und Geige rasch mit einer Klarinette und der Sängerin Colotis Zoé. Es folgten erste Hits wie das fantastische «Jolie Coquine», ehe man 2008 mit dem Album «Caravan Palace» debütierte. Der rasante Erstling verkaufte sich in Frankreich stolze 150 000-mal. Auch das zweite Werk «Panic» bringt die gewohnte Mischung aus Oldtime-Swing, Sinti-Jazz im Django-Reinhardt-Stil und Vaudeville auf der ei-nen, Electro und trippigen Sounds auf der anderen Sei-te. Stark sind Caravan Pa-lace immer dann, wenn es wild und ungezügelt wird. Auch die ruhige Schiene mit «12 Juin 3049» gefällt. Ge-legentlich klingt das dann aber doch auch ein wenig beliebig – und wie schon auf dem Erstling gibt es ei-nige Titel, die nicht so rich-tig zünden wollen.

tb.

Allo Darlin Europe (Fortuna Pop)

Schon mit dem vor zwei Jahren erschienenen Debüt «Dreaming» machte das anglo-australische Quartett Allo Darlin klar, dass noch vieles möglich ist im Twee-Pop. Auch wenn das ganze Nett-kurlig-herzig-farbig-Ding in den USA mittler-weile vom Mainstream aufgesogen, verfl acht und verkauft wurde. Unterlegt mit einer immer freundli-chen Ukulele stürmten Allo Darlin nicht nur unbeirrt, sondern auch mit einem breiten Grinsen die Ohren und Herzen von FreundIn-nen der Musik von Belle & Sebastian und Konsor-ten. Und auch der Zweit-ling macht weiter so – und macht gute Laune. Wenigs-tens musikalisch. Denn, und das ist das so schön Schizophrene am Twee-Pop: Die Inhalte sind bei wei-tem nicht so luftig und lo-cker, wie die angeworfenen Klangwelten vortäuschen. Es geht ums Hängenblei-ben in Träumereien, ums Verlassensein und die Ver-gänglichkeit. Dem positiven Eindruck dieser Platte tut das aber natürlich keinen Abbruch. Die zweite Ebene macht diese eher noch grös-ser. So gross, dass der von Sängerin und Ukulelistin Elizabeth Morris formu-lierte Zweifel «I’m wonde-ring if I’ve already heard all the songs that will mean something» als rhetorisch abgetan werden kann. Von dieser Band alleine dürften noch zwei, drei wichtige Songs zu erwarten sein.

nin.

Sebastién TellierMy God Is Blue(Record Makers) Rein optisch geht der ver-rückte Pariser mit den lan-gen Haaren und dem vollen Bart ja schon länger als grosser Spiritualist durch. Inzwischen driftet der Soundtüftler Tellier auch musikalisch und textlich immer weiter ins Spirituelle und in die Esoterik ab. So klingt das neue Werk «My God Is Blue» gelegentlich doch etwas verquast, auch wenn in dieser Mischung aus Prog-Pop, Neo-Chan-son, Electro, Easy Listening, Softporno-Soundtrack, Jean-Michel-Jarre-Synthesi-zerseligkeit und Indie-Pop einige sehr tolle Songs zu fi nden sind. Da ist etwa die Single «Cochon Ville» – die mit einem expliziten Sex-Video für Aufmerksamkeit sorgte –, aber auch «Sedu-lous» und die andere Single «Pepito bleu». Zwischen-durch quält uns Tellier, der 2008 beim Eurovision Song Contest mit seinem tollen Popsong «Divine» deutlich herausragte, auch mal mit Prog-Geschwurbel, was den guten Gesamteindruck nur leicht trübt. Andere Stücke wie «Russian Attractions» oder «Mayday» erinnern mich an britischen Pop der Marke Pet Shop Boys oder Scritti Politti.

tb.

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DIE NEUEN PLATTEN

Hot Chip In Our Heads (Domino/MV)

Neben Veröffentlichungen mit diversen Nebenprojek-ten – beispielsweise The 2 Bears oder die About Group – und Nominie-rungen für den Mercury Prize und die Grammys vertreiben sich die selbst-ernannten Nerds und Elec-tro-Romantiker ihre kost-bare Zeit wieder einmal mit ihrem Hauptprojekt Hot Chip. Das mittlerweile fünfte Album innert zwölf Jahren begeistert auf An-hieb. Hot Chip jonglieren gekonnt zwischen House, Disco, Pop, Electro, Soul und R’n’B. Auch auf der neuen Platte drehen sich viele Songs um die Liebe – wie kann man es anders von Electro-Romantikern erwarten? Die ganze Plat-te kommt äusserst unan-gestrengt rüber, die Hits wirken wie aus dem Ärmel geschüttelt. Es hat sich also nichts geändert bei Hot Chip.

men.

The Jeffrey Lee Pierce Sessions ProjectThe Journey Is Long(Glitterhouse/Irascible)

Schöne Sache, traurige Sa-che. Schön, weil The Jeffrey Lee Pierce Session Project mit «The Journey Is Long» ein zweites Mal an das 1996 verstorbene Kreativober-haupt der Punk-Blues-Kö-nige The Gun Club erinnert. Traurig, weil man damit in einer tiefen Wunde rumsto-chert: Die 18 auf dem Al-bum versammelten und auf Fragmenten beruhenden Lieder hätte man am liebs-ten von Pierce vollendet ge-hört. Immerhin: Eingespielt wurden die Stücke von «alten Freunden, Wegge-fährten und Bewunderern». Das Projekt ist also keine Leichenfl edderei, sondern vielmehr eine Ehrensache. Nick Cave intoniert zum Auftakt «City Pain» als ur-banen Blues, leicht dreckig und betont schlampig. As-tro Unicorn hingegen un-terziehen «Body and Soul» einer Dream-Pop-Kur, Lydia Lunch drückt «The Brink» in Richtung Brecht/Weill, und Debbie Harry – mit Cave duettierend – lässt «The Breaking Hands» wie eine Mörderballade klin-gen, auch wenns keine ist. Denselben Song gibts auch in einer (allerdings wenig ergreifenden) Fassung von Mark Lanegan und Isobell Campbell. Summa summa-rum ergibt das: Eine Platte im Geiste von Pierce, frei von Anbiederung. Und lässt drum auf die dritte Folge vorfreuen, die bereits in Ar-beit ist.

mig.

GarbageNot Your Kind of People(Stuntvolume/Universal)

Mitte der Neunziger bilde-ten Grunge und Brit-Pop die Pole des Alternative-Rock. Weder zum einen noch zum anderen gehörten Garbage, die Gruppe um Star-Produzent Butch Vig. Ihr Rock klang technoid, die Songs waren überladen, enthielten auf den ersten beiden Alben aber einige der denkwürdigsten Ref-rains des Jahrzehnts. Nach mehrjähriger Sendepause kehrt das Quartett mit ei-nem neuen Album und eige-nem Label zurück. Garbage ist auch 2012 ein Hybrid aus Rock und Elektronik. Butch Vig neigt noch immer zum Produktions-Overkill, der Songs wie «Control» unter sich begräbt. Doch es gibt auch eine Handvoll Hits: Die Single «Blood for Poppies» liefert Radiofutter der bekömmlichen Sorte. Der Titeltrack ist eine feine Hymne auf Andersartige und Aussenseiter, von Shir-ley Manson ungewohnt zärtlich und ungemein be-rührend intoniert. «I Hate Love» beginnt als Rave-Rock-Mutant und endet als einer jener Pophits, die so verdreht nur Garbage, bes-ser gesagt: Shirley Manson hinkriegen. Denn es ist und bleibt die Sängerin, die Gar-bage zu etwas Besonderem macht. Fasziniert hört man zu, wie die schöne Border-linerin aus dem Gymi als gereifte Frau noch immer im selben Atemzug verstört und verführt. Und verfällt ihr einmal mehr.

ash.

Sound SurprisenNein, eine ganz so grosse Säuberung wie die vom Sommer 2007, die knapp 3000 Opfer forderte, wird es 2012 nicht geben. Als ich mich mit meinem Vinyl zu beschäftigen be-gann, merkte ich schon bald, dass ich mich mit dem Aus-sortieren von zwei- bis dreihundert Platten würde begnü-gen müssen – aber das wäre schon mal gut, so könnte ich meine Schallplatten in ein einziges Regal stellen, und das sähe in der neuen Wohnung ordentlicher aus.Wohnungswechsel. Der Horror für Menschen mit vielen Tonträgern und Büchern. Andererseits ist die Umzugsvor-bereitung eine schöne Zeit: Man freut sich darauf, Ballast abzuwerfen und Platz für Neues zu schaffen und taucht deshalb tief ein in seine Sammlungen und damit – zumin-dest im Fall von Vinyl – in die Vergangenheit. Ich räume ein, dass das Vinyl mein Leben bis zirka 1992 abdeckt und dass die meisten Schallplatten seit Jahr und Tag wie die Schöne im eingedornten Schloss vor sich hin schlummern. Indem ich Platte um Platte, von ABBA bis Zorn (John) he-rauszupfte und jeden Zweifelsfall (und davon gab es viele!) kurz oder lang, ein- oder mehrmals aufl egte, kehrte ich in die Achtzigerjahre zurück, erinnerte mich an Konzer-te, vergegenwärtigte mir meine Anfänge als Redaktor und Moderator von Sounds! auf DRS3 und die dazu passenden Sounds!-Gassenhauer, erinnerte mich auch an Interviews und andere Begegnungen. Natürlich steckte diese Antiqui-tätenschau voll mannigfaltiger Überraschungen – gewisse Platten waren besser als in meiner Erinnerung abgespei-chert und wanderten fl ugs zurück ins Regal, vermeintliche Evergreens entpuppten sich als überfl üssig und öde, und als ich nach dem weiteren Geschick von Bands und Inter-preten wie Screeching Weasel oder Damien Lovelock zu forschen begann, entdeckte ich mit einer gewissen Verblüf-fung, dass mein Vinyl weit weniger wertlos ist, als ich ge-dacht hätte.Ich lebte im Vinyl, und die Musik gab mir Halt, und ich war so glücklich, wie ich in diesen Wochen sein konnte. Im April war mein Vater gestorben, nachdem ich mich in den drei Wochen davor um ihn gekümmert hatte. Es war eine intensive und aufreibende Zeit gewesen, und als ich nach seiner Beerdigung in ein Loch zu fallen drohte, waren meine Platten da, und das warme, leicht knisternde Vinyl umarmte mich, und einmal mehr begriff ich, wie wichtig und magisch Musik sein kann.Nun stehen zehn Migros-Tüten voller Platten herum. Den Plattenhändler meines Vertrauens, der damit bestimmt ei-nen hübschen Gewinn erzielen könnte, habe ich noch nicht angerufen. Manchmal kommt jemand vorbei und möchte mir die eine oder andere Platte abkaufen – meistens reisse ich sie ihm mit den Worten, «die nicht, nein, die ist aus Ver-sehen in dieser Tüte gelandet!» wieder aus den Händen. Vielleicht schaffe ich es, diese Platten noch vor meinem Umzug Mitte September loszuwerden – brauchen tue ich sie wirklich nicht mehr. Vielleicht aber behalte ich sie aus Dankbarkeit für die schönen Momente, die mir auch diese eher mittelmässigen Platten in einer schwierigen Phase be-schert haben.

Christian Gasser

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DIE NEUEN PLATTEN

Regina Spektor What We Saw from the Cheap Seats (Warner)

Regina Spektor, gebürtige Russin und seit 1989 in den USA, liebt augenscheinlich den Song und dessen Mög-lichkeiten: die Artistik, den Wechsel der Melodien, den Spot auf den einzelnen Ton, die Folge von langsam auf schnell, den Kontrast von laut und leise – und ihr Kla-vier. Billige Effekte? Nein, gute alte Schule. Sie macht eben das, was jeder geschei-te Songwriter und jede ge-scheite Songwriterin in ei-gener Sache auch tun sollte, nämlich: den Song ausloten und nach Gold schürfen. Mit ihrem sechsten Album gelingt ihr das besonders gut, vor allem im ersten Lied «Small Town Moon» zeigt sie, was Sache ist. Hier laviert Regina Spektor zwi-schen Schräg- und Klarheit, zwischen Jazz und Main-stream wie eine Joni Mit-chell vor langer, langer Zeit. Der vielleicht grösste Song des Albums ist das gefühli-ge «How», das den Verlust von Elton Johns Songwri-ting-Talent bewusst macht, der früher so knietief in den Emotionen waten konn-te, ohne sich mit Kitsch zu besudeln. Und wer ist denn schon immun gegen dieses süsse Gift der Melancholie?

cam.

FreddaL’Ancolie(Le Pop Musik)

Die Pariser Sängerin und Songwriterin Frédérique Dastrevigne, die sich schlicht Fredda nennt, legt eine neue Platte vor. Be-kannt wurde die Dame mit der schönen, sanften Stim-me als singende Gattin des umtriebigen Musikers und Produzenten Pascal Pari-sot, mit dem sie auch heute noch das Sixties-Duo Ra-diomatic bildet. Fünf Jahre nach dem letzten Fredda-Album «Toutes mes aven-tures» gibts nun ein neues Werk. Einen Hit wie «Barry White» von der ersten Platte sucht man auf «L’Ancolie» zwar vergeblich, dennoch sind die zwölf meist eher im mittleren Bereich gehal-tenen Songs schön gewor-den. Unaufgeregt singt sich Fredda durch luftige Som-mermelodien wie in der Single «Il ne me reste» und entwickelt Pop-Charme mit Ausschlägen Richtung Folk, Easy Listening oder in den Walzertakt. Zwei der Songtexte steuert die in Tucson lebende Songwriter-Kollegin Marianne Dissard bei, den angenehmen Titel-song hat der bei uns leider nicht sehr bekannte Song-schreiber Bastien Lallement komponiert. Am besten ge-fällt «Constant» mit seinem dezenten Westernthema und einem skurrilen Män-nerchor. Bemängeln könn-te man allenfalls das kaum abwechslungsreiche Tem-po der Platte – sowie den Wohlklang, der dann doch zu sehr regiert.

tb.

Silver Firs«Silver Firs»(Oh, Sister/Namskeio)

Erst gehört, dann gelesen und drum voll daneben ge-dacht. Silver Firs stammen nicht wie zunächst vermu-tet aus dem endlosen Mitt-leren Westen, sondern aus Bern. Die Band, entstanden aus den Überbleibseln der Post-Punker Must Have Been Tokyo, klingt nach Holz, Erde und Wurzeln. Aber nicht nach einsamem Waldschrat der Sorte Bon Iver, sondern eher nach hippieskem Kollektiv in Richtung Incredible String Band – allerdings durchaus eigenständig. Die Silver Firs erliegen ganz ihrer eigenen Romantik, predigen das Unverfälschte und versprü-hen tonnenweise Optimis-tisches. Der jubilierende Gesang ist nah an den Fleet Foxes, kehlig, kastraten-gleich, mehrschichtig und verträumt. Erinnert an eine Mönchsbruderschar, die glaubt, das ewige Licht für sich entdeckt und gepach-tet zu haben. Die Gitarren frohlocken, das Glocken-spiel klingt heller als hell und die Rhythmen fi nden zur Beschwingtheit. Gegen diesen Ausbund an Freude stellt sich einzig die Per-kussion, die immer wieder mal den Hang zum leichten Querulantentum hat – was den Sound befruchtet. So bestechen weniger die ein-zelnen Lieder. Vielmehr ist es die schiere Klangfl ut, die mitreisst.

mig.

London HotlineDer englische Volksmund hat einen neuen Musikstil ge-prägt: «Landfi ll-Indie». Wohl zum ersten Mal in der Pop-geschichte ist damit eine Stilschublade gezimmert worden für Bands, die sich in absolut nichts vom grauen Mittel-mass abheben. «Landfi ll-Indie» – man kann sich das rich-tig bildlich vorstellen: Hoch zu Ross und mit einer Art Schmetterlingsnetz bewaffnet, trabt der Indie-Polizist an und lauscht mit gefalteter Stirn der Klänge. Und dann, wenn es für seine Ohren absolut keine Zweifel mehr gibt, dass die Band da oben auf der Bühne nur eine Eigenschaft aufweist – nämlich die, dass nichts an ihrer Musik eine besondere Eigenschaft darstellt –, packt er sein Netz und wedelt damit in der Luft, um gnadenlos jedes Tönchen der Band einzufangen und abzutransportieren in den «Indie Landfi ll». Der «Indie Landfi ll» ist das musikalische Pen-dant für die Gruben im Grünen, wo die englischen Behör-den ihren Abfall einlochen, wenn sie nichts besseres damit anzustellen wissen. Leider nur können Klänge nicht einfach in einer Grube begraben und allenfalls noch mit einem Grabstein in die ewige Ruhe befördert werden. Nein, Musik ist perfi der. Es ist mit ihr ein bisschen so wie mit den Bildern in der Boule-vardpresse von misshandelten Tieren: Man kann sie nicht vergessen. Die Sache mit dem Nichtvergessen von Landfi ll-Indie ist eine Frage der Quantität. Jeder sofort vergessene Landfi ll-Indie-Refrain hinterlässt in unseren Gehirngän-gen, die sich mit dem Genuss von Musik beschäftigen, eine graue Spore. Und je mehr neue Sporen dazukommen, desto dicker wird der Pilzteppich, der sich über unsere musika-lischen Geschmacksnerven legt. Die Folgen sind für einen echten Musikfan verheerend: Ohne, dass er wüsste warum, ist ihm die Lust an der Musik vergangen, und er hat sich in einen zynischen Sauertopf verwandelt.Landfi ll-Indie ist eine Seuche: endlose Schrummelgitarren, Melodien, die klingen wie der vierte Wiederaufguss vom zweiten U2-Album, beziehungsweise dem Debüt von Oa-sis, oder auch von zwei, drei Liedern auf dem ersten Li-bertines-Album, und erst recht vom einzigen Strokes-Song, der je etwas taugte, ferner eine Prise Snow Patrol und et-was Coldplay, voilà, fertig ist der toxische Musiksud. Wer zuviel davon abbekommt, kann tatsächlich lebensmüde werden. Und jeden Monat kommen Dutzende von Land-fi ll-Indie-Platten heraus. Wer wissen will, wie sowas tönt, braucht nur kurz ins neue Cribs-Album hineinzuhören. Und doch ist es ein schönes Zeichen der Passion, mit der die Briten an ihre Musik herangehen. Nämlich, dass sie selbst für eine Musik, für die nur schon das Wort «langwei-lig» vollauf reichen würde, einen schönen Schubladenbe-griff austüfteln. Ein typisches Beispiel für die sachgerechte Verwendung des Begriffes war im «Guardian» zu fi nden: Jahrelang habe man die Maccabees als eine typische Land-fi ll-Indie-Combo angesehen, seit ihrem letzten Album aber habe sich der Eindruck mächtig geändert. Kurzum: Der Nutzen des Begriffes für jede Stammtisch-konversation über Musik ist leicht zu erkennen. Hoch lebe also der neuste Musiktrend: Landfi ll-Indie – der Begriff, nicht die Musik!

Hanspeter Künzler

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DIE NEUEN PLATTEN

DiveraLove and Taboo(Sounds & Media)

Genug des Sidewoman-Daseins, genug der Kollek-tive. Vera van der Poel, die man hierzulande vor allem als Teilzeitsängerin der Nits oder als Frontfrau diverser Formationen um Simon Ho kennt, will es endlich mal selber und solo wissen. Unter dem Künstlernamen Divera ergeht sich die Hol-länderin nicht in irgend-welchen Stilexperimenten, sondern frönt dem Singer/Songwriter-Pop mit leichter US-Note. Das Ergebnis ist luftig und häufi g verträumt. Vor allem ihre Stimme, die fetzt und funkt, aber auch honigsüss umschmeicheln kann, hallt nach. Die im schönen weiten Feld zwi-schen Joni Mitchell und Ri-ckie Lee Jones angesiedelten Lieder dienen van der Poel in erster Linie als Gesangs-spielwiese, um sich auszu-toben und um zu verführen. «Love and Taboo» ist rand-voll gepackt mit satten und geschmackvollen Gitarren-parts aus den Händen von Oli Hartung. Der Berner agiert überaus plattendien-lich, spielt der Musikerin zu und lässt sie in noch glanz-vollerem Licht erscheinen. Eine Ausgangslage, die van der Poel klug zu nutzen ver-steht: zu einem sparsam ar-rangierten Werk, das ruhig dahinfl iesst und umgarnt. Dabei ragen das lüpfi ge «Me and My Garden», das fein-dramatische Titelstück und «Amnesia», das den sachten Blues pfl egt, heraus.

mig.

Kim Baxter The Tale of Me and You(kimbaxtermusic.com)

Kim Baxter aus Portland kannte man bis anhin vor allem als Gitarristin, Sän-gerin und Songwriterin der grossartigen Twee-Bubb-legumpop-Supergroup All Girl Summer Fun Band. Da gabs massig LaLaLaLa, viel Hall auf den Gitarren, und gesungen wurde un-ter anderem darüber, wie Jason Lee in den Träumen Baxters Kickfl ips mach-te. Diese Zeiten scheinen nun vorerst vorbei zu sein. Baxter hängte die Gitarre aber glücklicherweise nicht gleich ganz an den Nagel – im Gegenteil. Anfang Jahr erschien ihre erste Solo-platte, die sie ganz im Sin-ne des Spiritus Rector von Portland in ihrem Keller-studio mit ihrem Ehemann in Eigenregie aufnahm und nun auch selbst vertreibt – D.I.Y. or die, eben. «The Tale of You and Me» ist ein buntes Pop-Pourri mit vielen Charakteren gewor-den. Bratzige Elemente fi nden sich ebenso wie re-duzierte Folkismen. Der Überhit der Platte («Tallest Tourist») versteckt sich al-lerdings weder hinter einer Gitarrenwand noch hinter klebrig-breiten Analogsyn-thesizerklängen. Vielmehr tänzelt er unaufdringlich durch die Zeit – musika-lisch leichtfüssig, inhaltlich tonnenschwer. Ein Song, der fortan auf keinem Mixtape fehlen darf, egal ob es um Abschiede oder die ganz grosse Liebe oder aber beides geht.

nin.

ChromaticsKill for Love (Italians Do It Better)

Auf der Verpackung der CD könnte stehen: «Die-se Band hat auch Musik zum Film ‹Drive› beige-steuert, der dich, wenn du ihn schaust, cooler macht, als du wirklich bist.» Na ja, fast. Von den vier Chromatics-Mitgliedern haben es nur Johnny Jewel und Kumpel Nat Walker auf den Soundtrack von «Drive» geschafft – mit ih-rem Seitenprojekt Desire. Aber man möge den Chro-matics zugestehen, dass sie den Regisseur von «Drive», Nicolas Winding Refn, zu seinem Kunstwerk zumin-dest massgeblich inspiriert haben. Die 2007er-Platte von den Chromatics heisst nämlich «Night Drive», und hört man sich dieses Album sowie den neusten Output «Kill For Love» an, so wähnt man sich unwei-gerlich in den Film hinein-versetzt. Daneben ist John-ny Jewel so etwas wie der neue Godfather von Italo- und Synthie-Disco. Er ver-öffentlicht als Chromatics, Glass Candy oder Desire Songs am Laufmeter. Auch auf «Kill for Love» fi nden sich 17 Tracks über 91 Mi-nuten Spielzeit. Jewels Out-puts werden in Anlehnung an die cinematographi-schen Referenzen oft auch als Disco Noir bezeich-net. Düster, kühl, berech-nend und hypnotisierend sind seine Songs. «Kill for Love» macht da keine Aus-nahme. Ach ja, das Album hört man am besten nachts beim Autofahren.

men.

Garland JeffreysThe King of in Between(Luna Park)

Seit 1973 gilt Garland Jef-freys als Geheimtipp – ge-schätzt von Kollegen wie Lou Reed oder Springsteen. Von den Verkaufszahlen her waren seine Platten aber Flops. Auf dem exzel-lenten Comeback-Album «The King of in Between» pendelt er einmal mehr zwi-schen Rock, R&B, Ska und Reggae. Jeffreys war nie ein begnadeter Sänger, dazu ist der Umfang seiner Stim-me zu gering. Seine Stärke liegt woanders. «Coney Island Winter» heisst der erste Track. Groove und schneidender Text entwi-ckeln einen Sog, der uns mit der brutalen Realität auf den Strassen des Big Apple konfrontiert. «All Around the World» transportiert düsterere Botschaften zu fröhlichem Ska-Rhythmus. «The Contortionist» klingt wie ein Stones-Outtake von «Some Girls», Lou Reed steuert das Chörli bei. Kämpferisch gibt sich der 68-Jährige im Boogie «I’m Gonna Wail ’Til John Lee Hooker Calls Me», sein «Love Is Not a Cliché» könnte von John Fogerty stammen, wäre da nicht der beissende Text. «Roller Coaster Town» schliess-lich ist eine Liebeserklä-rung an seine Stadt: «New York’s the place/Where everybody’s here from the human race/Where they lift you up when you’re feelin’ down/That’s why I love this roller coaster town». tl.

Wallace VanbornLions, Liars, Guns and God(Eastrecords/TBA)

Aufs erste Hinhören sind Wallace Vanborn nichts besonderes: harter, recht melodiöser Rock, der trotz offensichtlichem QOTSA-Einfl uss irgendwie nach eu-ropäischer Herkunft klingt. Doch je länger dieses zwei-te Album rotiert, desto kla-rer offenbart es das Talent der Musiker. Gern spickt das Trio sein Rockgerüst mit tanzbaren Grooves und schlauen Hooks und schafft so eine Art Stoner-rock für die Studi-Disco. Seltsam wirkt das nur so-lange, bis man erfährt, dass die Band aus Belgien (Gent) stammt. Denn dort ist das Wildern in verschiedenen Stilen so eine Art musi-kalischer Nationalsport. Wallace Vanborn operieren weniger eklektisch und nu-anciert als Millionaire se-lig oder gar Ghinzu. Zwar wurde mit David Bottrill ein Grammy-dekorierter Produzent engagiert, und der Wille zur Form ist deut-lich vernehmbar. Trotzdem geht es ziemlich ungestüm zur Sache, zählt im Zwei-felsfall Vehemenz mehr als Raffi nesse. Das gilt auch für Sänger Ian Clement, der sich allerlei getraut, am liebsten aber knurrt und röhrt nach Rockerart à la Glenn Danzig und Ian Ast-bury. In der Summe macht das «Lions, Liars, Guns and God» zum unterhalt-samen Zweitwerk einer jungen Band, die erst ange-fangen hat, ihr Potenzial zu auszuschöpfen.

ash.

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F.S.K.Akt, eine Treppe hinabsteigend(Buback)

«Es ist rockig, aber kei-ne Rockmusik», heisst es vom Plattenlabel zum neu-en, dreizehnten Album der Freiwilligen Selbstkontrolle alias F.S.K., die nun schon seit 31 Jahren Diskurse ver-misst und in ihrer Musik Kunst und Pop und Kopf und Tanz vereint. Und ja, rockig ist es, dieses Album, das die Band um Thomas Meinecke und Michae-la Melián eingespielt hat. Verzerrte und laute Gi-tarren, Schlagzeug, kurz: Alles Instrumentarium für eine klassische Rockplatte ist da – wären da nicht die grossartig verkrümmten Beats von Carl Oesterhelt, die die Platte weit weg vom Beuteschema der abrocken-den Zunft verschieben. Die Texte dieser loophaf-ten «Denkmusik» zitieren – wie Meineckes letzter Roman «Lookalikes» – Fi-guren wie Josephine Baker oder Judy Garland, adap-tieren Erykah Badu, drop-pen weitere Namen und weben ein Referenz-Netz, das man nicht verstehen muss, um dieses Album gut zu fi nden. Denn die tropische und doch kelle-rige Musik auf «Akt, eine Treppe hinabsteigend», sie ist grossartig.

bs.

Silversun PickupsNeck of the Woods (Dangerbird Records)

Die Frage steht schon seit sechs Jahren im Raum: Wa-rum ist diese Band in Eu-ropa nicht bekannter? Ihr ohrwurmiger Alternative-Rock ist wie gemacht für grosse Hallen und Radio-stationen, die auch mal et-was Rock spielen möchten, ohne die Hörer zu erschre-cken. Immerhin, «Carna-vas» (2006) und «Swoon» (2009) haben die Kalifor-nier in ein «Germany’s Next Top Model»-Finale gebracht und ins Vor-programm von grösseren Hallen-Headlinern in Eu-ropa. Mehr ging aber nicht. In den USA haben beide Veröffentlichungen je eine halbe Million Einheiten verkauft, und die Band kratzt am Durchbruch. Ob dieser mit «Neck of the Woods» bewerkstelligt wer-den kann, wage ich hier mal zu bezweifeln. «Neck of the Woods» ist düster, melan-cholisch und nachdenklich ausgefallen. Da beissen kei-ne neuen Fans an. Die Silversun Pickups werden ja oft mit den Smashing Pumpkins vergli-chen: «Neck of the Woods» könnte diesbezüglich als ihr «Aurora» eingestuft werden. Jemand, der sich gerne länger mit einer Platte beschäftigt, kriecht diesen komplexeren und verschnörkelten Songs und versteckten Hits früher oder später auf den Leim, Schnellhörer werden hastig zum eingängigeren Hype weiterziehen.

men.

DIE NEUEN PLATTEN

Land Covered With Briar Briar(Briar)

Ei, was für ein Debüt. Land Covered With Bri-ar, 2007 von der Bassistin Rahel Steiner gegründet, verbinden auf ihrem ersten Album «Briar» fein Gestri-chenes mit – Bandnomen est omen – Dornigem. Das in Luzern und Bern behei-matete Quartett teilt so manche Klangzärtlichkeit aus, agiert aber nie nur lieblich, nie handzahm. Das bereits im Februar in aller Stille veröffentlichte Werk, das erst jetzt seine Runden zu ziehen beginnt, ist von einem Schleier der Schwer-mut durchzogen, zeigt sich aber nie fragil oder schwach – sondern herausfordernd und mutig. Land Covered With Briar meisseln mit gepfl egter Zurückhaltung zerklüftete Klanglandschaf-ten, die von fein getupften Gitarren und widerborsti-gen Rhythmen durchzogen sind. Dazu gesellt sich Stei-ners fl üsternder und leicht entrückter Gesang. Was zusammen viel Frösteln-des ergibt. «It is so cold in my heart», lässt Steiner in «Traumbasse» wissen, wo-mit sie – nicht zum letzten Mal – nagende Gefühle der Einsamkeit und des Zwei-fels vermittelt. Die Sonne ist auf «Briar» fern, es herrscht die Traurigkeit. Keine, die alles zu verschlingen droht, sondern eine, die aufbe-gehrt. Musik, die sich unter die Haut ritzt. Tief.

mig.

Barbara CarlottiL’amour, l’argent, le vent(Atmosphériques)

«L’amour, l’argent, le vent» ist das seit längerem er-wartete dritte Album der eleganten Sängerin, die mit ihren ersten beiden Werken «Les lys brisés» (2006) und «L’idéal» (2008) bereits Ach tungserfolge erzielt hatte. Die neue Platte der 37-jährigen Korsin bringt zwölf feine, vorwiegend düstere, melancholische Lieder – durchdrungen von dunklen Vokabeln wie «Insomnia», «Automne», «Cauchemars», «Nuit sans lune» oder «Lunettes noires». Tolle, eher ruhig gehaltene Songs wie das Ti-telstück, «Ouais ouais ou-ais ouais» oder «Marcher ensemble», die ganz der warmen, dunklen Stimme der Carlotti untergeordnet sind, fi nden sich da – aber auch fl otte Stücke wie das poppige «Occupe-toi de moi». Etwas sperriger ist «La grande autoroute» geraten sowie «Quatorze ans», bei dem New Wave anklingt. Das passt, zählen neben Scott Walker doch Depeche Mode, Soft Cell und die French-Wave-Ikone Etienne Daho zu ihren Ein-fl üssen. Einer der schönsten Songs ist jedoch «Mon dieu mon amour», ein Duett mit Frankreichs exzentrischem Popstar Philippe Katerine. Und so gelingt Barbara Carlotti ein exzellentes Al-bum zwischen klassischem Chanson, French Pop und Nouvelle Chanson.

tb.

Tenacious D Rize of the Fenix (Sony)

Tenacious D, die Band der Hollywoodstars Jack Black und Kyle Gass, startet er-neut durch – mit «Rize of the Fenix», einer leiden-schaftlichen Hommage an den Heavy Metal. Ob Iron Maiden, Led Zeppe-lin, Kiss oder Metallica: Keiner ist vor den durch-geknallten Spassvögeln des Rock’n’Roll sicher, alle kriegen sie ihr Fett weg. Genüsslich parodieren die beiden Mittvierziger jenes Genre, das sie seit ihrer (nie endenden) Pubertät abgöt-tisch lieben. Das musika-lische Fundament dafür liefern Foo-Fighters-Front-mann Dave Grohl (Schlag-zeug), John Konesky (Gi-tarre) und John Spiker (Bass und Keyboards). Mit «Rize of the Fenix» hängen Tenacious D die Latte hoch (siehe Coverbild!). Kaum vom Laserstrahl stimuliert, ereilt den Hörer beinahe eine Ejaculatio praecox – zu gut fährt das Titelstück ein. «The Ballad of Hollywood Jack and the Rage Kage» schildert, was Black und Gass so getrieben haben, während ihr Bandprojekt auf Eis lag. «Deth Starr» beginnt mit verträumten Jazzakkorden, die von kra-chendem Metal niederge-walzt werden. Mit mattem Knurren gibt Black in «39» seine stärkste Performance – eine ergreifende Ode an eine Reisebegleiterin. Fazit: In ihren besten Momenten liefern Tenacious D eine Qualitätsarbeit ab, die den absurden Klamauk bei wei-tem übersteigt.

tl.

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DIE NEUEN PLATTEN

Anders OsborneBlack Eye Galaxy(Alligator)

Bewaffnet mit einer alten Stratocaster, kombiniert der gebürtige Schwede An-ders Osborne auf «Black Eye Galaxy» schwere Riffs, Psychedelia und introspek-tive Texte, in denen er eine Reihe von Themen wie sei-ne Vergangenheit als Junkie oder seine Beziehung zur Wahlheimat Louisiana ab-handelt. Ihn als Bluesgitar-risten zu bezeichnen, greift zu kurz. Osborne kennt keine Scheu, auch mal rich-tig laut draufl os zu rocken. Hier jedoch lässt er es ledig-lich auf subtile Weise don-nern. Er adaptiert diverse Americana-Stile, lässt etwas Country-Blues in «Tracking My Roots» einfl iessen, um schliesslich im Titelstück zu einem ausufernden Jam anzusetzen. Die grösste Überraschung kommt zum Schluss: «Higher Ground» beginnt mit einer besinn-lichen Streicherpartie, die eher an zeitgenössische Klassik erinert als an den stilistischen Gumbo, wie man ihn mit der Musik am Delta assoziiert. Groove und Feeling dieses Stücks zeigen Osbornes Qualität als herausragenden Song-writer. Vielleicht würde Jackson Browne so klin-gen, wenn er mit Jimmy Page in New Orleans auf-gewachsen wäre. Punkto Geschlossenheit kommt das Album nicht an «American Patchwork» (2010) heran. Dennoch markiert es eine weitere Station auf Anders’ faszinierendem Trip durch den Süden.

tl.

Bill EvansDragonfl y (CD Baby)

Seit 2005 strebt der ame-rikanische Saxofonist Bill Evans mit «Soulgrass» eine Fusion von Jam, Rock, Funk, Bluegrass und Jazz an. Auf dem dritten, bisher zugänglichsten Album der Reihe, präsentiert Evans bodenständige Komposi-tionen mit Gesang (vom singenden Drummer Josh Dion), Rockgitarre (Mitch Stein) und Banjo (Ryan Cavanaugh). Was jedoch «Dragonfl y» wirklich aus-zeichnet, sind die zupacken-den Funk-Rock-Grooves einer echten All-Star-Band, allen voran die Gitarren-Grössen Warren Hay-nes (Gov’t Mule, Allman Brothers Band) und Steve Lukather (Toto), Bassist Andy Hess sowie die beiden Organisten John Medeski und Danny Louis (Gov’t Mule). Druckvoll und vir-tuos drückt Bill Evans’ Sax jedem Stück seinen Stempel auf. Die ersten drei Tracks sind im Soul und Funk an-zusiedeln, wobei auf «Mad-man» wenigstens rudimen-täre Spuren von Bluegrass auszumachen sind. Das bä-renstarke Instrumental «Tit for Tat» ist der eigentliche Abräumer: Zum pulsieren-den Jazz-Funk-Groove do-miniert hier die mal grum-melnde und fauchende, mal entfesselt jubilierende Gi-tarre von Warren Haynes. «Forbidden Daffodils», ein weiteres Instrumental, könnte vom gemächlichen Tempo her als Jazzballade durchgehen. Evans spielt hier betörend schön, und Lukathers Gitarrenlick ist schlicht brillant.

tl.

Hour of 13333(Earache/Non Stop Music)

Im Metal-Untergrund be-sinnt man sich auf die klassischen Tugenden des Genres. Nach Jahren des produktionstechnischen Wettrüstens verschreiben sich vermehrt Bands der ursprünglichen Dröhnung durch Röhrenverstärker. An der Schnittstelle von ok-kultem Siebziger-Hardrock und frühem Heavy Metal brachten es The Devil’s Blood und Ghost zu eini-gem Ansehen. Dahinter lauern Geheimtipps wie Year of the Goat oder Hour of 13, um deren drittes Al-bum es hier geht. Artwork und Texte zeigen die Ameri-kaner als Diener jener fi ns-teren Mächte, vor denen uns einst der Dorfpfarrer warnte. Musikalisch aber suchen Hour of 13 keines-wegs die Extreme. Die Riffs kommen straff, melodiös und brutzelnd, das Tempo bleibt tendenziell gedrosselt – und dann wird repetiert und gezielt variiert, bis die überlangen Lieder ihren suggestiven Sog entfalten. Dazu singt Phil Swanson mit viel Hall und schneiden-der Stimme zwischen Ozzy und Rob Halford. So ent-steht doomiger Hardrock aus der Sabbath-Schule, der frei von Effekthuberei mit geschmackssicherer Selbst-genügsamkeit überzeugt. Als Partysoundtrack funk-tionieren diese fi nsteren Brocken natürlich nicht. Manch metallisch soziali-siertem Mitmenschen dürf-te «333» gleichwohl einen Heidenspass bereiten.

ash.

45 PrinceNach seiner beinahe zu gut produzierten LP «First Blood» begibt sich Nobunny wieder zurück in die schmierige LoFi-Garage, in der er mit den Sneaky Pinks gestartet ist. «Ass-holes» (Goner) ist ein Fugg-u an die ganze Welt im beinahe Hardcore-Stile der Angry Samoans, «At the Mall» ein wei-terer Hit im patentierten Bubble-Dumb-Gewand, «I Can’t Stop» der zukünftige Live-Burner, «I Saw Swastikas» ein verstörter Synthie-Punker ohne Synthie und «Lizard Liars» das stonesige Ende. Bleibt zu hoffen, dass es im Herbst ein paar dieser fünf Songs auf die neue LP schaffen.In den Liner Notes zu der 1997 erschienenen LP mit Demo-aufnahmen von Evil wurde der Song «From a Curbstone» als noch vermisstes Kronjuwel angekündigt – auch wenn es ziemlich unmöglich schien, andere Monster-Songs wie «I’m Movin’ On» zu übertreffen. Nun hat Florida Archi-ve Recordings den in einer Hutschachtel gefundenen Song endlich veröffentlicht und bisherige Vermutungen bestä-tigt. Aufgenommen 1966 in Florida, passt dieser Garage-Punk-Klassiker mit seinen unzähligen Temposteigerungen zur Aussage «Most of us are a little deaf today because of the volume» von Sänger John Doyle. Das ebenfalls unver-öffentlichte «Short Life» ist die ebenso unwirklich erschei-nende, gespenstisch gefährliche B-Seite. Unglaublich.Da stehe ich nun seit längerem mit offenem Mund vor dem Plattenspieler und kanns nicht recht fassen. «Cancer and High Heels» (Smoking Hell) von Les Chevaux Savages aus St. Gallen komprimiert Zero Boys, Misfi ts und Rea-tards zu einer 90-Sekunden-Garage-Punk-Attacke, um am Ende doch noch Melodie mittels eines Haute-cuisine-Gitarrenausklangs draufzuträufeln. Klar schreit da jedes R’n’R-Hirn nach einem erneuten Kick. «Seeking Love» repräsentiert eher ihr aktuelles Live-Repertoire, wo Sixties-Garage der Marke Fleshtones mit modernem Feeling-of-Love-Zeugs gepimpt wird. Aufgepasst!

Philipp Niederberger

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NACHTSCHICHT

Signalisieren mit Bit-Tuner

Gewichtige Electronica ists, die Marcel Gschwend alias Bit-Tuner auf seiner neuen EP «Signals» (Hula Honeys) produziert: Der Bass ist natür-lich immer noch heavy, wenn auch nicht mehr so schwer wie auf seinem Vorgänger «Drome», die Synthies wabern retrofuturistisch und fl ackern durch den angstvollen Raum, während die Beats hart, aber in gedrosseltem Tempo nach vorne klatschen. Neu in der Welt von Bit-Tuner, der neben seinen Produktionsarbeiten als Stahlberger-Bassist amtet, blitzt eine beina-he lustige V erspieltheit im Track «Veteran» auf, wie auch eine melancho-lische Sinnlichkeit in «Up-Stairs» zu vernehmen ist. Bit-Tuner teilte in der jüngsten Vergangenheit die Bühnen mit der einschlägigen Prominenz – von Shackleton bis Zomby – und verlängert dank der Nacht im Südpol die il-lustre Liste mit den Namen Laurel Halo sowie Actress. Hinter diesem Alias versteckt sich der Engländer Darren Cunningham, der eben sein beinahe beatloses, dennoch pulsierendes Werk «RIP» veröffentlicht hat und sein Grenzgängertum zwischen Club- und Kopfhörermusik weiter zuspitzt. (bs)

8.6., Imagine Festival, Basel; 9.6., Südpol, Luzern (mit Actress und Laurel Halo); 14.6., Rössli, Bern

Rüpeln mit den Black Lips

Die Rüpel im Popzirkus sind noch nicht ganz ausgestorben – auch dank den Black Lips. Die selbsternannte Flower-Punk-Band aus Atlanta zählt zu diesen seltener gewordenen Wesen, die von Festivals wie dem schönen ATP nicht mehr eingeladen werden, da sie einst auf der Suche nach Schnaps Fe-rienhütten aufgebrochen haben. Auch wurden die Buben auf Tour von der indischen Polizei gesucht – wegen unziemlichen Verhaltens auf der Bühne. Und so kommen, schauen und fl üchten die Black Lips immer wieder aufs neue, doch die aufgekratzten, zart hymnischen Songs, die bleiben. Daran ändert auch die geschliffenere Produktion des Falschmünzers Mark Ron-son auf der letzten Platte «Arabia Mountain» nichts . Viel eher war das ein neues lustiges Spiel dieser unfl ätigen Jungen, die wahrscheinlich nur ein bisschen Spass wollen – auch in Zürich. (bs)

20.7., Rote Fabrik, Zürich

Danger

Highexplosive

in-pit-

ffzzzosh

Bzzzzzzz

woooooshh

ÖffnungszeitenDo: 17.30 - 01.30FR: 17.30 - 04.30SA: 11.00 - 05.00

asdfasdf

The field (Swe) Breton (UK)

I break Horses (SWE)

Peter Licht (GER)

King Khan & the Shrines

(CAN) u.v.m.

B-Sides FestivalSonnenberg Kriens 14. - 16. Juni

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NACHTSCHICHT

Erkunden mit Baby Jail

«Es isch emal en Tubel gsi» – und wenn man denkt, so lange sei das noch gar nicht her, deutet das auf ein Verdrängen des eigenen Alterns hin. Baby Jail beschallten in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern die Deutschschweizer Jugend, die Musik jenseits von MTV zu schätzen wuss-te. Musikalisch kultivierte die wechselnde Besetzung um Boni Koller und Bice Aeberli über Jahre einen am Punk geschulten Dilettantismus, über die Texte allerdings fanden die Zürcher Eingang in den Kanon schweizeri-schen Liedschaffens. Vordergründig gern ein bisschen infantil, begründeten Stücke wie «Rapperswil ZH», «Sex» oder «Der dumme Student» bei ge-nauerem Hinhören das Lumpeliedli als Kunstform. Die aber irgendwann ausgereizt schien: 1994 war Schluss, 2003 kam die Werkschau «Auf Wie-dersehen» heraus. Eine eigentliche Reunion (mit Drummer Aad Hollan-der und Nico Feer an der Gitarre) gibts erst jetzt. Bis in den Spätherbst hinein werden Baby Jail unterwegs sein. Ob sich die jungen Leute dafür interessieren, ist unsereinem ziemlich schnurz. Wir freuen uns einfach, für einmal nicht mit den Goofen zu Schtärneföifi zu pilgern, sondern mit den Schulgspänli von einst die Wirkung von Pogo auf die Midlife-Crisis zu erkunden. (ash)

31.5., Dachstock, Bern; 7.6., Holästei, Glarus; 8.6., Selig, Chur; 6.7., Kulturfestival, St. Gallen; 1.8., Helsinki, Zürich; 5.8., Obensky Festival, Huttwil; 15.8., Musikfestwochen, WinterthurWeitere Daten: www.babyjail.ch

Freuen mit dem Openair St. Gallen

Bald schweben die gelben Schützengarten-Ballons wieder über dem Sitter-tobel. Und so durchmischt wie das treue Publikum des Openair St. Gallen ist einmal mehr auch das Musikprogramm: Girlies mit roten Kurzhaar-frisuren und orangefarbenen Pilotenbrillen werden sich über Beth Ditto und ihre Band Gossip (Bild) freuen, die Jungs in blau-weiss gestreiften Matrosen-Shirts am bezirzenden Pop des hamburgerisch-zürcherischen Duos Boy. Die Langhaar-Fraktion, ob nun in Schwarz gekleidet oder nicht, dürfte beim rauhen Siebzigerrock von Wolfmother aus der sonnengerö-teten Haut fahren. Die Freunde des süsslichen Rauchs wiederum werden synkopisch mitwippen, wenn Mundart-Reggaemusiker Phenomden sei-ne Songs zum Besten gibt, und ganz bestimmt schwingt jemand dazu die rot-gelb-grüne Rastafahne. Nicht genug: Das bunte Line-up wird ergänzt von Songwriter Ed Sheeran, den CH-Rappern Knackeboul und Stress, den Rockformationen Incubus, The Kooks und Züri West, zum wiederholten Male am Openair, diese Maschine, die louft u louft u louft… Das alles wird freundlich unterstützt von Metzger Gämperli und seinen braun gegrillten Fünfl iber-Hamburgern. Bleibt nur die Frage, wie man Bommerlunder zwei Tage lang eisgekühlt behält – denn Hauptact am Samstagabend sind die Toten Hosen. (boe)

28.6.–1.7., Sittertobel, St. Gallen; www.openairsg.ch

Flüchten mit dem Gartenfestival

Am zweieinhalbsten Juliwochenende fl üchtet man bereits zum vierzehn-ten Mal vor der Gurten-Meute auf dem vollgestopften Hausberg, der ja ohnehin nicht richtig zur Bundesstadt gehören will, fährt zwar nicht am Grauholz vorbei, aber der Weg Richtung Autobahnzubringer, der stimmt. Denn der Ort, an dem sich feine Leute einfi nden, sofern man sie sucht, ist das Café Kairo in der Lorraine. Dort gönnt man sich eine feine Verkösti-gung vom arabischen Grill, schlüpft in den Hinterhof-Garten und stürzt sich später am Abend in den Keller, um der Musik von alten, neuen und al-lenfalls noch werdenden Freunden zu huldigen. Dieses Mal programmiert am Gartenfestival: Der alte Dead Brother Pierre Omer (Bild) mit seiner neuen Combo The Stewarts Garages Conspiracy Crew, sein ehemaliger Bandkumpel Delaney Davidson, die Haudegen der Aeronauten, die neu-seeländischen Caribou-Freunde vom Orchestra of Spheres, der heimatsu-chende Merz und die derangierten The Monofones. Kurz: Die Flucht, sie lohnt sich. (bs)

13.–14.7., Café Kairo, Bern; www.cafe-kairo.ch

Verdunkeln mit dem B-Sides

Es gibt in der Schweiz wahrlich mehr als genug Openairs. Sorgfältig pro-grammierte Festivals sind allerdings die Ausnahme. Eine solche bildet das B-Sides auf dem Sonnenberg in Kriens. Schon zum siebten Mal lockt es mit einer Mischung aus sicheren Werten und entdeckenswerten Geheimtipps in die Zentralschweiz. Auf ihre Kosten kommen beim B-Sides auch Men-schen, die bei hohen Temperaturen nicht automatisch heiter gestimmt sind. Esben and the Witch (Bild) verdunkeln den Sonnenberg mit opulentem Goth-Rock, die hierzulande wenig bekannten, aber unbedingt entdeckens-werten Piano Magic sorgen für dunkle Wave-Epen und die grossartigen Les Yeux Sans Visages komplettieren das Finsterrock-Triumvirat. Weniger trüb, aber ebenfalls mit Hang zum Drama werkelt Tom Huber aus Zürich an Songs zwischen Cowboy-Romantik und Roadmovie-Feeling. Die Tanz-garantie schliesslich liefern King Khan & The Shrines: Ihr Soulpunk aus der Garage wird dem Publikum den Schweiss auf die Stirn treiben, selbst wenn der Sonnenberg im Regen stehen sollte. (ash)

14.–16.6., Sonnenberg, Kriens; www.b-sides.ch

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