Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive - Leseprobe · 2016. 3. 23. · Band beigetragen...

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Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive Stefan Alkier | Ioan Dumitru Popoiu (Hrsg.)

Transcript of Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive - Leseprobe · 2016. 3. 23. · Band beigetragen...

  • 9 783374 041107

    ISBN 978-3-374-04110-7

    EUR 28,00 [D]

    Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive

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    Stefan Alkier | Ioan Dumitru Popoiu (Hrsg.)

    Die Beiträge in diesem Band gehen zurück auf eine Tagung

    zur Wunderauslegung in protestantischer sowie (rumänisch-)

    orthodoxer Perspektive, die im Jahr 2013 in Bukarest statt-

    fand. Die Aufsätze dokumentieren nicht nur unterschiedliche

    hermeneutische und methodische Ansätze in der neutesta-

    mentlichen Exegese westlicher bzw. östlicher Prägung. Gerade

    die unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven machen

    deutlich, dass die Wunderdiskussion eine grundlegende Pro-

    blematisierung des jeweiligen Wirklichkeitskonzepts nötig

    macht.

    Kleine_Schriften_FFM-6_Umschlag.indd 1 02.03.15 10:45

  • Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive

  • Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

    Band 6

  • Wunder in evangelischer und orthodoxer Perspektive

    Herausgegeben von Stefan Alkier und Ioan Dumitru Popoiu unter Mitarbeit von Alena Schulz

  • Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2015 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH • LeipzigPrinted in Germany • H 7884

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

    Cover: Kai-Michael Gustmann, LeipzigSatz: Alena Schulz, Frankfurt a. M.Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

    ISBN 978-3-374-04110-7www.eva-leipzig.de

  • ZUM GELEIT

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    Zum Geleit

    Der Streit um Zeichen, Wunder und machtvolle Taten, also um die Aussagen, die für das Christentum und seine Stifterfigur das Wirken menschliche Möglichkeiten über-steigender Kraft behaupten, begleitet das Christentum in seinen nicht nur diversen, sondern teilweise sich gegenseitig gering schätzenden und sogar mitunter bekämpfenden Ausprägungen durch seine Geschichte hindurch und wird es auch weiterhin tun. Die Streitpunkte und Präsuppo-sitionen hingegen, die Anlass zum Disput geben, wechseln mit den jeweiligen Diskussionsteilnehmern und ihren kulturell, historisch und individuell bedingten Plausibili-tätsannahmen.

    Auch auf der gemeinsamen Tagung zum Wunderthema, zu der die Orthodox-Theologische Fakultät ›Justinian Patriarhul‹ der Universität Bukarest den Fachbereich Evan-gelische Theologie der Goethe-Universität im Juni 2013 einlud, machten sich gegenseitige Vorurteile bemerkbar. Die orthodoxe Seite pflegt mehr oder weniger den Verdacht, dass westlich-kritische Theologie der Aufklärung, nicht aber biblischer und patristischer Tradition und religiösem Erle-ben verpflichtet sei und daher die Kontinuität gemeinsamen Glaubens willkürlich zerschnitten habe. Der protestan-tischen Wahrnehmung hingegen fällt es schwer, in der orthodoxen Tradierung von Kirchenväterpositionen über-haupt so etwas wie eine kritische Theologie, die die Geister zu unterscheiden weiß, zu erkennen. Und so wurde diese

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    Differenz auch im Gespräch deutlich in einem Beitrag eines orthodoxen Teilnehmers, der sagte: »Ihr denkt über Wunder nach, wir erleben sie«.

    Wäre es beim Austausch von Vorurteilen geblieben, wäre dieser Band nicht zustande gekommen. Dass sich aber auf beiden Seiten das Gefühl einstellte, es geschehe etwas im Gespräch, das hilft, einen theologischen Dialog auf Augen-höhe zu führen und damit beide konfessionellen Denktraditionen kritisch zu fördern, führte zum Ent-schluss, die Beiträge der Tagung zu veröffentlichen. Der nun vorliegende Band soll ein Zeichen produktiver dialogischer Auseinandersetzung verschiedener christlicher Positionen sein, die gelingen kann, wenn die Beteiligten die jeweils anderen als christliche Geschwister gelten lassen in der Erwartung, vielleicht sogar von ihnen lernen zu können.

    Es war eine beglückende Erfahrung, dass interkonfessio-nelles und interkulturelles Forschen und Lernen möglich und wirklich bereichernd ist. Auf der orthodoxen Seite brach sich die Erkenntnis Bahn, dass Wunderkritik im Zeichen der Aufklärung keine spitzbübische Aushöhlung christlichen Glaubens darstellt, sondern als notwendige Selbstreflexion praktiziert wird, der es um die Denkbarkeit des Glaubens geht und damit in der Tradition der kritischen Prüfung der Geister steht, wie sie bereits Paulus in 1Thess 5, 19 gefordert hat. Der protestantischen Seite aber wurde anschaulich, dass das orthodoxe Gefühl, auch heute noch, mitten im Alltag dieser Welt, Wunder zu erleben, nicht auf einem überholten Aberglauben beruht, sondern lebendiger Ausdruck spiritu-ellen Erlebens ist, das nicht zuletzt durch die Einübung in die Tiefe orthodoxer Liturgie ermöglicht wird.

    Der Band möge dazu beitragen, die eigenen Standpunkte

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    als das zu erkennen, was sie sind: Standpunkte – nicht mehr, nicht weniger. Die Bukarester haben sich bewegt und sind mit ihrer Einladung zum kritischen Gespräch auf uns zugekommen. Wir Frankfurter sind der Einladung gefolgt und haben uns auf den Weg gemacht. Es ist Bewegung in unsere Standpunkte gekommen, und das wünschen wir auch den Leserinnen und Lesern dieses Bandes.

    Ich danke allen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Band beigetragen haben. Ich danke Dr. Cosmin Pricop und Dr. Ioan Dumitru Popoiu, die den Kontakt zwischen den beiden theologischen Fakultäten in Bukarest und Frankfurt hergestellt und sich auch um die Organisation der Reise und der Tagung so trefflich gekümmert haben. Dr. Popoiu hat auch die Mitherausgeberschaft übernommen und die rumänischen Beiträge betreut, sowie die Druckvorlage vorbereitet. Ich danke Alena Schulz, studentische Hilfskraft im Fach Neues Testament und selbst Mitglied der Frankfurter Delegation, dass sie bei der Erstellung der Druckvorlage Dr. Popoiu zunächst tatkräftig unterstützt hat und dann die abschließenden redaktionellen Tätig-keiten selbständig durchgeführt hat.

    Mein besonderer Dank gilt Vater Dekan Prof. Dr. Ștefan Buchiu, der unseren Fachbereich zum theologischen Diskurs nach Bukarest eingeladen hat, und damit eine Zusammenarbeit eröffnete, die wir fortsetzen wollen.

    Schließlich danke ich auch dem Verlag und namentlich Frau Grabmann für die zuverlässige und freundliche Zusammenarbeit. Stefan Alkier, Bochum / Frankfurt am Main, 1. Oktober 2014

  • INHALTSVERZEICHNIS

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    Inhaltsverzeichnis

    Zum Geleit ...................................................................................... 5

    Stefan AlkierDie Wunderdiskussion und die notwendige Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs .................. 11

    Michael SchneiderPaulinische Wunder-Geschichten ..................................... 43

    Michael RydryckGottes Machttaten und Gottes Nähe. Skizzen zur Wunderhermeneutik im lukanischen Doppelwerk ............................................... 61

    Anni HentschelUmstrittene Wunder – mehrdeutige Zeichen im Johannesevangelium .............. 94

    Hermann DeuserWunder als Zeichen der Realität ...................................... 116

    Cosmin Pricop Der Weg des Wunderverständnisses in der orthodoxen biblischen Theologie am Beispiel der Verklärungsgeschichte .......................... 141

  • INHALTSVERZEICHNIS

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    Alexandru Mihăilă The Red Sea Miracle: A Short Comparison between Modern Historical-Critical and Traditional Exegesis .................. 161

    Marian Vild The Place and the Role of Miracles in the Christian Community according to the New Testament. Notes from a Phenomenological Perspective ................. 177

    Ioan Dumitru Popoiu Die Reise des Altvaters Makarios in das Paradies. Typologie der Wunderreisen im asketischen Diskurs der östlichen Kirchen .................... 191

    Alexandru Ioniță»Das un unaussprechliche Wunder« – die Auferweckung des Lazarus. Eine kurze Betrachtung aus der Perspektive der orthodoxen Liturgie mit Blick auf das Judenbild ............................... 211

    Autorenverzeichnis ................................................................... 229

  • DIE WUNDERDISKUSSION

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    Stefan Alkier

    Die Wunderdiskussion und die notwendige Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs

    Wunder sind kein Zufall. Sie verdanken sich intentionalen Handlungen dazu befähigter Akteure. Gott ohne Wunder-kraft zu denken, ergibt in jüdisch-christlich-islamischer Tradition keinen Sinn. Wunder aber gegen alle Denkbarkeit ohne Wenn und Aber als Fakten zu behaupten, diskreditiert die Glaubwürdigkeit und die Diskursbereitschaft dieser Religionen. Mit der Wunderfrage werden Grundfragen des Glaubens und zugleich Grundfragen des Wirklichkeits-verständnisses angerissen: Welche Mächte bestimmen die Wirklichkeit, deren Teil wir sind? Ist das Leben, ist mein Leben, sind wir Produkt eines Zufalls, der den Gesetzen von Ursache und Wirkung gehorcht, oder aber sind wir gewollte Geschöpfe Gottes?

    Um die heutige Problemlage einer der Aufklärung ver-pflichteten evangelischen Theologie des Wunders zu beleuchten, möchte ich in einem ersten Schritt einige Schlaglichter aus der Geschichte der Wunderauslegung 1

    1 Die forschungsgeschichtlichen Ausführungen beruhen weitgehend auf

    meinem Aufsatz: S. ALKIER, Wen Wundert Was?, Einblicke in die

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    präsentieren und in einem zweiten Teil skizieren, warum und wie auch im 21. Jahrhundert die Wunderfrage in ihrer Komplexität notwendig zu stellen ist und wir über Konfessionen und Traditionen hinweg gut daran tun, diese Frage mit unseren unterschiedlichen Traditionen und Denkgewohnheiten gemeinsam zu diskutieren.

    1. FORSCHUNGSGESCHICHTLICHE ASPEKTE

    1.1. Die Wunderdiskussion im Frühchristentum

    Das Neue Testament zeigt, dass Wunder bereits in der Antike keine unhinterfragten Geschehnisse waren, sondern eingehende Diskussionen stattfanden, die die Plausibilität des behaupteten Ereignisses prüften und seine Kontextuie-rung und Klassifizierung kritisch hinterfragten. Die paulinische Mahnung: »Prüft alles, behaltet das Gute« (1Thess 5,21), ist daher Grundlage christlicher Glaubens-

    Geschichte der Wunderauslegung, ZNT 7 (Themenheft Wunder, 2001), 2–12. Ausführlicher und mit mehr Quellenbelegen habe ich die Forschungsgeschichte dargestellt in meiner Habilitationsschrift, S. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 1, Tübingen 2000. Vgl. auch S. ALKIER, Art. ›Wunder – Neues Testament‹, RGG4 (2005), Bd. 8, 1719–1722; S. ALKIER, Art. ›Wunder – Kirchengeschichte‹, RGG4 (2005), Bd. 8, 1723–1725, S. ALKIER, Wunderglaube als Tor zum Atheismus. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zur Wunderkritik Ferdinand Christian Baurs, in: M. Bauspieß / D.C. Landmesser, / Lincicum (Hg.), Ferdinand Christian Baur und die Geschichte des frühen Christentums, Frankfurt a. M., 2014, 285–312.

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    reflexion auch bezüglich der Wunderfrage. Wunderkritik ist also nicht erst eine skeptische Einstellung, die dem Glauben entgegengeworfen wird, sondern notwendige Haltung evangelischen Glaubens selbst, wie er in den biblischen Schriften entworfen wird. Die Streitpunkte hingegen, die Anlass zum Disput geben, wechseln mit den jeweiligen Diskussionsteilnehmern und ihren kulturell, historisch und individuell bedingten Ängsten, Sehnsüchten, Hoffnungen und Überzeugungen.

    So bestreiten etwa die in den neutestamentlichen Schriften dargestellten jüdischen Gegner Jesu nicht dessen Wunder (vgl. Mk 3,22–27par) und nicht einmal die Wunder der Apostel (vgl. z. B. Apg 4,7). Ihnen ist aus ihren Über-lieferungen das machtvolle Wirken Gottes, sein Zeichen- und Wunderhandeln inmitten irdischer Zeiten und Räume bekannt, und sie wissen darum, dass seine Propheten mit dieser Wundermacht Gottes begabt werden können. Sie wissen aber auch, dass nicht nur Gott, sondern auch Satan über Wunderkraft verfügt und Wunderkraft an die Seinen weiter geben kann. Wunder gelten in der Antike als Erfah-rungen wirksamer Mächte, die Schaden anrichten oder Gutes hervorbringen. Es handelt sich deshalb um Furcht erregende, weil menschliche Kraft überlegene Machttaten.

    Die Gegner Jesu streiten nicht ab, dass Jesus und seine Apostel Wunder wirken, sondern dass diese Wunder mit der Kraft Gottes zu erklären seien. Wäre die Kraft Gottes für die Wunder Jesu und seiner Anhänger verantwortlich, so wäre damit auch seine Botschaft von Gott her legitimiert. Daher erklären die Kontrahenten Jesu in den Evangelien diese Wunder mit dem Wirken der Kraft Satans. Jesus und seine Mitstreiter werden damit nicht lediglich als trickreiche

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    Illusionäre gekennzeichnet, was dem antiken Denken eine naheliegende Möglichkeit gewesen wäre. Ihnen wird viel-mehr vorgeworfen, im Bund mit Satan zu stehen und nicht – was die Gegner Jesu für sich selbst in Anspruch nehmen – im Bund mit Gott. Schärfer konnten Jesus und die ihm Nachfolgenden nicht attackiert werden. Sie stehen außer-halb des Abrahamsbundes. Sie haben diesen Bund mit dem Satansbund vertauscht (vgl. Mk 3,22–27par).

    Der in den Evangelien dargestellte Streit um die Wunder Jesu zwischen dem Juden Jesus und seinen jüdischen An-hängern auf der einen und seinen jüdischen Kontrahenten auf der anderen Seite ist ein innerjüdischer, theologischer Streit, der innerhalb ein und derselben historisch und kulturell bedingten Wirklichkeitsannahmen stattfindet. Es geht in diesem Streit nicht darum, ob Wunder möglich sind oder wie sie naturkundlich zu erklären seien. Es geht vielmehr darum, wessen Macht sich in ihnen zeigt, es geht also darum, welcher theologische Status ihnen zukommt. Sind sie Zeichen des Bundes Gottes oder Zeichen des Bundes mit Satan?

    Anders verhält es sich bereits mit der Wunderdiskussion, die die Apologeten des Christentums seit seinen Anfängen und ihre Epigonen bis heute mit Bestreitern der Tatsäch-lichkeit der neutestamentlichen Wunderaussagen führen, die außerhalb jüdisch-christlicher Wirklichkeitsannahmen argumentieren. Das berühmte Beispiel des Philosophen Kelsos von Alexandreia, mit dessen 178 n.  Chr. verfasster, das Christentum attackierender Schrift ›Alethes Logos‹ sich Origenes auseinandersetzte, zeigt, dass auch hier zunächst nicht die grundsätzliche Möglichkeit des Wirkens menschliche Möglichkeiten übersteigender Kraft zur

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    Diskussion stand, sondern die Frage, ob sie wirklich im Falle Jesu und seiner Anhänger und auch im Falle der in den Schriften des Alten Testaments erzählten machtvollen Taten Gottes und seiner Propheten gewirkt habe2 oder ob es sich dabei nicht lediglich um Zaubertricks, Ammenmärchen und Lügengeschichten handelte. 3 Auch hier steht nicht die Möglichkeit von Wundern auf dem Prüfstand, sondern die Frage, ob die jüdisch-christliche Tradition einem naiven Wunderglauben aufgesessen ist, der der ernsthaften philosophischen Kritik nicht standhält.

    Diese antike Diskussion zeigt aber deshalb auch, dass nicht schon die Annahme des Wirkens menschliche Möglichkeiten übersteigender Kräfte grundsätzlich als ›naiver Wunderglaube‹ bewertet wurde, sondern die intellektuelle Wunderdiskussion nach Kriterien suchte und mit ihnen argumentierte, um staunenerregende Ereignisse bzw. Berichte von solchen Vorkommnissen sachgemäß und innerhalb damaliger Plausibilitätsannahmen kritisch bewerten und in den zutreffenden Wirklichkeitsbereich einordnen zu können.4 Das intellektuelle Niveau5 und die begriffliche Differenzierung,6 mit der dieser Streit geführt wurde, straft alle Pauschalisierungen Lügen, die für die Antike – und sei es auch nur für die Spätantike – einen 2 Vgl. ORIGENES, Cels I,2.46; vgl. auch ALKIER, Wen Wundert Was, 2. 3 Vgl. ORIGENES, Cels I,6.71; II,14.16.32.51.58;VII,11;VIII,45; vgl. auch ALKIER,

    Wen Wundert Was, 3. 4 Vgl. ORIGENES, Cels I,42; II,51. vgl. auch ALKIER, Wen Wundert Was, 3. 5 Vgl. P. BROWN, Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in

    der lateinischen Christenheit, Leipzig 1991, 79. 6 Vgl. P. BROWN, Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike,

    Berlin 1986, 54.71.89.92f.

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    realitätsfremden, irrationalen und daher freilich »volks-tümliche[n] Wunder- und Aberglaube[n]«, 7 ja sogar eine Wundersucht 8 diagnostiziert haben und nicht nur das Phänomen des Wunderbaren, sondern eine ganze Epoche als ein pathologisches »Zeitalter der Angst« 9 diskreditierten. Diese Fehldiagnose geht einher mit einer undifferenzierten Verfallstheorie, die in der Spätantike nur den Abfall einer idealisierten klassischen Antike zu sehen bereit ist.10

    1.2. Die Wunderdiskussion im Zeichen der Aufklärung

    Demgegenüber hat sich die Frage nach dem Wunder in der Neuzeit mehrfach verschoben. Seit dem 17. Jahrhundert gerät das Wunder unter dem Eindruck der fatalen Folgen des Dreißigjährigen Krieges (1618–48) und der zunehmen-den Erfolge naturwissenschaftlicher Begründungszusam-menhänge zunehmend auf die Anklagebank der Kritik. Alle Kriegsparteien hatten mehr oder minder das Wirken von Gottes Wundermacht für sich reklamiert und damit den Wunderdiskurs als politische Rhetorik einer kriegerischen

    7 G. THEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur

    formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 1974, 266.

    8 J. BECKER, Paulus: Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 253, stellt bereits für die Zeit des Paulus fest: »Die Zeit war insgesamt recht wundersüchtig«.

    9 E.R. DODDS, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Marc Aurel bis Konstantin, Frankfurt a. M. 1985.

    10 Gegen eine Auffassung der Spätantike als eine Verfallsepoche hat sich dezidiert ausgesprochen BROWN, Die letzten Heiden, 19–22.

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    Auseinandersetzung missbraucht. Die aufgeklärte Wunder-kritik stand im Zeichen der Überwindung autoritärer Geltungsansprüche traditioneller Institutionen, seien es religiöse oder politische. Damit stand aber auch das mit den Wundern verbundene Gottesbild zur Diskussion. Die Wirklichkeit der Wunder wurde bestritten, weil sie Gott als einen unberechenbaren Tyrannen zu verstehen gäben, der wie die Tyrannen im 30jährigen Krieg, gute Ordnungen jederzeit außer Kraft setzte, ganz wie es ihm beliebte. Gott solle aber nicht von der tyrannischen Durchbrechung von Ordnung her, sondern als ihr Schöpfer und Bewahrer gedacht werden. Nicht länger sollten autoritär begründete Machtansprüche, sondern Argumente und Vernunft die Welt regieren, die Leben für alle durch verlässliche Rechts-, Gesellschafts- und Naturordnungen ermöglichten. Der verheerende 30jährige Krieg hatte gezeigt, wohin die unheilige Allianz von autoritären Kirchen und autoritären weltlichen Reichen in der Logik unkalkulierbarer Macht-taten führt.

    Immer wieder hatten nämlich nicht nur Feldherren, sondern auch Bischöfe mit den biblischen Wundern und den Wundern der Heiligen als Beweis des Geistes und der Kraft des Christentums ihre eigene Macht legitimiert. Die aufgeklärte Kirchen- und Theologiekritik setzte folgerichtig an dieser empfindlichen Stelle an. Der Mehrheit der Aufklärer ging es dabei nicht um die Bestreitung der Wahrheit des christlichen Glaubens, sondern vielmehr um die Beendigung der unterdrückenden Macht der Kirchen und Tyrannen, die die Bibel und die von ihnen ausgelegte Tradition als Herrschaftsinstrumente missbrauchten.

    Bereits 1670 hatte der jüdische Philosoph Baruch de

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    Spinoza (1632–1677) gegen die biblischen Wunder angeführt, »daß alle wirklichen Geschehnisse, von denen die Schrift berichtet, sich wie überhaupt alles notwendig nach den Naturgesetzen zugetragen« (106)11 habe. Da Gott selbst die ewigen Naturgesetze erlassen habe, liefe die Annahme ihrer Durchbrechung auf einen Selbstwiderspruch Gottes und letztlich auf »Atheismus« (100) hinaus. Mit einer dreifachen Strategie versucht Spinoza, die vermeintliche Faktizität der biblischen Wunder zu destruieren: 1. Bei den biblischen Wundergeschichten handele es sich teilweise um dichte-rische Ausmalungen, teilweise um stehende Metaphern, die aus der Vorstellungswelt der hebräischen Sprache zu erklären seien und die nur des Hebräischen Unkundige irrtümlicherweise als Wunder auffassten. 2. Wunder-geschichten sind rational zu erklären. Sie beruhen auf naiven Wahrnehmungstäuschungen und dem unzurei-chenden naturwissenschaftlichen Wissen vergangener Zeiten. 3. Zudem sei die Schrift im Laufe der Überlieferung verfälscht worden. In jedem Fall gilt sein Grundsatz:

    »Wenn sich nun manches in der Heiligen Schrift findet, von dem wir die Ursachen nicht anzugeben wissen und das außerhalb der Naturordnung, ja ihr entgegen geschehen zu sein scheint, so darf uns das nicht stutzig machen; wir müssen vielmehr durchgängig annehmen, dass das, was wirklich geschehen ist, auf natürlichem Wege geschah.« (104)

    Dass es sich bei diesem Grundsatz um eine philosophische Prämisse handelt, die der Bibellektüre als unumstößliches

    11 Die in Klammern stehende Seitenzahlen beziehen sich auf B. DE SPINOZA,

    Sämtliche Werke 3. Theologisch-politischer Traktat (auf der Grundl. der Übers. v. C. Gebhardt), G. Gawlick (Hg.), PhB 93, Hamburg 1994.

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    Prinzip vorangestellt wird, war Spinoza voll und ganz bewusst:

    »[...] bei den Wundern, ist das, was wir suchen (ob man nämlich zugeben kann, dass etwas in der Natur geschehe, was ihren Gesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten lässt), etwas rein Philosophisches.« (110)

    Es blieb aber den Aufklärern des 18. Jahrhunderts vorbe-halten, der Wunderkritik zur gesellschaftlichen Akzeptanz zu verhelfen. In seiner 1757 veröffentlichten ›Natural His-tory of Religion‹ rechnet David Hume (1711–1776) Wunder zu den »religions principles, which have, in fact, prevailed in the world. You will scarcely be persuaded that they are any-thing but sick men's dreams«.12 Hume definierte in seinem Essay ›An Enquiry Concerning Human Understanding‹ (1748/58):

    »Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze, und da eine feststehende und unveränderliche Erfahrung diese Gesetze gegeben hat, so ist der Beweis gegen ein Wunder aus der Natur der Sache selbst so vollgültig, wie sich eine Begründung durch Erfahrung nur irgend denken läßt.«13

    Dieses Theorem der empirisch begründeten Undurchbrech-barkeit der Naturgesetze bildet zusammen mit einer von Hume suggerierten – und bis in die Wunderexegese des 21. Jahrhunderts hinein wirksamen – Assoziationskette 12 D. HUME, The Natural History of Religion, in: D. Hume, The Philo-

    sophical Works 4. Essays. Moral, Political and Literary II, T.H. Green / T.H. Grose (eds.), London 1882, Aalen 1964, 362.

    13 D. HUME, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, R. Richter (Übers.), J. Kulenkampff (Hg.) u. den Beilagen David Hume: Mein Leben, Brief von Adam Smith an William Strahahn, PhB 35, Hamburg 1993, 134.

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    sowohl den Grundpfeiler der Argumentation des 10., ›On Miracles‹ betitelten Abschnitts von Humes ›Enquiry‹ als auch von Humes psychologisierendem Entwurf der Reli-gionsgeschichte, wie er ihn in seiner ›Natural History of Religion‹ vorlegte. Hume fasste den Wunderglauben als Aberglauben für Ungebildete auf und behauptete folgende Assoziationskette: Wunder (miracles) – Fiktion (fiction) – Aberglaube (superstition) – Angst (anxiety) – Unbildung (uneducated) – Soziale Unterschicht (social lower class).

    Der umfangreiche Wunderartikel in Zedlers ›Universal-lexikon‹ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts sieht Spinoza nicht zu Unrecht als naturalistischen Begründer der Wunderkritik.

    Der bisher nicht bekannte Verfasser des Artikels setzt diesem eine supranaturale Wunderdefinition entgegen, die aber dem naturalistischen Wunderbegriff Spinozas fort-schreibt und den Supranaturalismus als gelehrte Reaktion auf den naturalistischen Wunderbegriff zu verstehen aufgibt:

    »Wunder, Wunderwercke, Lat. Miracula, sind übernatürliche Würckungen, welche nicht von denen von Gott erschaffenen Ursachen, sondern von Gott selbst geschehen«.

    »Nemlich wir nennen übernatürliche Dinge, welche dem Lauffe und Gesetze der Natur ganz zuwider sind, und weder in dem Wesen, noch in den Kräfften der erschaffenen Dinge, und also nicht in ihrer Natur, noch auch im Wesen und in den Kräfften der ganzen Welt, und also auch nicht in der ganzen Natur gegründet sind; sondern nur allein aus des Schöpfers freyen Willen und Macht erfolgen und entstehen. Denn, nachdem wir aus Betrachtung der Weltschöpfung und einmahl fest gesetzten Ordnung der Natur, Gott als ein freywilliges Wesen erkennen lernen, der die Natur und Creatur auch anders und nicht so machen können, und auch in derselben anders und nicht so würcken können: so beweiset er die Freyheit seines

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    Willens und seine Macht noch immer in der That, weil er die Welt und die Dinge in der Welt, als was zufälliges, nicht nur in ihrer zur Würcklichkeit gebrachten Ordnung, und nach dem einmahl eingerichteten Lauf erhält und regieret, und also in, mit, und durch die Natur würcket; sondern auch oft ohne, über und wider den ordentlichen Lauf der Natur auf eine ganz ausserordentliche und ungewöhnliche Weise hervorbringet«.14

    Naturalismus und seine Kritik durch den Supranaturalis-mus streiten nicht um die Frage, ob dieses oder jenes Wunder geschehen sei. Sie kämpfen entschieden und mit bedenkenswerten Argumenten auf beiden Seiten um die prinzipielle Frage, wie Wirklichkeit zu begreifen ist, und damit unmittelbar verknüpft streiten sie um die Konse-quenzen aus der jeweiligen Position für den Gottesbegriff. Der Naturalismus tritt bei allen Differenzen in seinen verschiedenen und nicht einfach zu harmonisierenden Ausprägungen überwiegend für eine entpersonalisierte Gottesidee ein, der das Wirken der Naturgesetze und Gottes Wirken weitgehend oder sogar gänzlich koextensiv sind. Die Konzepte von »Natur« und »Gott« sind dem neuzeitlichen Naturalismus zufolge austauschbar mit Blick auf die Bestimmung der Wirklichkeit, als das, was realiter die Welt und den Menschen mit ihren Wirkkräften bestimmt. Die theologische Konsequenz ist ein Gott, der nicht in die

    14 Art. ›Wunder, Wunderwercke‹, Zedlers grosses vollständiges Universal-

    lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 59, Halle / Leipzig 1752, Sp. 1897–2086 (darauf folgen weitere Artikel zu Komposita bzw. Syntagmen mit »Wunder« Sp. 2086–2156). Das zwischen 1733 und 1754 erschienene 64 bändige Universallexikon nennt keine Verfasser.

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    Prozesse der naturbestimmten Abläufe eingreift, weil er entweder als Urheber dieser Kräfte oder als konzeptuelle Idee dieser Wirkkräfte gilt.15 Das unterbrechende Eingreifen in die Wirkkräfte wäre ein konzeptioneller Widerspruch, der im Wirklichkeitsverständnis des Naturalismus deshalb zum Atheismus führen würde, weil er den favorisierten Gottesge-danken aufhebt. Die Allmacht Gottes wird nämlich gedacht als kontinuierliches, alles Seiende regelhaft bestimmendes Wirken geordneter Kräfte. Ein personaler Gott, zu dem man nicht nur beten kann, sondern der auch antwortet, kann mit diesem Konzept nicht mehr gedacht werden.

    Das ist aber der entscheidende theologische Einwand des Supranaturalismus. Ihm geht es letztlich darum, Gott in Übereistimmung mit den biblischen Gottesdarstellungen und seiner trinitarischen Interpretation als souverän handelnde Person zu denken, die intentional die Welt und alles Leben geschaffen hat, sie erhält und dabei den empirischen Gesetzen der Wirklichkeit seiner Schöpfung

    15 H. DEUSER, Theologische Implikationen des Naturalismus, in: Religion

    und Bildung, Gießener Hochschulgespräche und Hochschulpredigten der ESG, Gießen 2003, 153–162, grenzt den Naturalismus der Neuzeit von dem der Antike und dem der Evolutionstheorien seit dem 19. Jh. ab; DEUSER, Theologische Implikationen, 153: »Als polemischer Naturalis-mus können alle neuzeitlichen Positionen zusammengefasst werden, die entweder mit naturwissenschaftlichem Akzent das ›Buch der Natur‹ in seiner Eigenständigkeit gegenüber dem ›Buch der Offenbarung‹ entdecken, oder die Göttlichkeit der Natur (Spinoza) bzw. die Natur ohne Gott konzipieren. Als typischer Gegenbegriff steht hier der (theologische) Supranaturalismus zur Verfügung oder überhaupt die Metaphysik der christlichen Philosophie in antik-mittelalterlicher Tradition.«

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