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Yaroslav Trofimov
Anschlag auf Mekka
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Yaroslav Trofimov
ANSCHLAGAUFMEKKA20. November 1979 – Die Geburtsstunde des islamistischen Terrors
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm
Karl Blessing Verlag
Trofimov,AnschlagaufMekka 26.08.2008 7:50 Uhr Seite 3
Titel der Originalausgabe: The Siege of Mecca –
The Forgotten Uprising in Islam’s Holiest Shrine and the Birth of Al Qaeda
Originalverlag: Doubleday/The Doubleday Broadway
Publishing Group, New York
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete
FSC-zertifizierte Papier EOS
liefert Salzer, St. Pölten.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Yaroslav Trofimov
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur,
München – Zürich
Layout und Herstellung: Ursula Maenner
Satz: Leingärtner, Nabburg
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-89667-335-0
www.blessing-verlag.de
SGS-COC-1940
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Für Nicole, Jonathan und Susi in Liebe
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Inhalt
Die wichtigsten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Eine Bemerkung zu den arabischen Namen . . . . . . . . . 11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Kapitel 1-31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23-345
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Eine Anmerkung für den Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
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Die wichtigsten Personen(Mit den Ämtern und Rängen von 1979)
Saudi-Arabien
Prinz Abdullah: Kommandeur der saudischen Nationalgarde.
Abd al-Asis Ibn Bas: Vorsitzender der saudischen Abteilung
für wissenschaftliche Forschung und Unterweisung, eines
Gremiums von Geistlichen mit den Machtbefugnissen eines
Ministeriums und der Aufgabe, das islamische Gesetz zu in-
terpretieren.
Salim Bin Laden: Chef des Bauunternehmens, das die Große
Moschee in Mekka erweiterte; Bruder Osama Bin Ladens.
Brigadegeneral Faleh al-Dhahiri: Kommandeur der König-
Abd-al-Asis-Panzerbrigade der saudischen Armee.
Mohammed Elias: populärer ägyptischer Geistlicher, der an
dem Anschlag auf Mekka teilnahm.
Kronprinz Fahd: De-facto-Herrscher von Saudi-Arabien.
Feisal Mohammed Feisal: einer der wichtigsten Anführer der
Rebellion in Mekka.
Oberst Nassir al-Humeid: Kommandeur des Sechsten Fall-
schirmjägerbataillons der saudischen Armee.
Nassir Ibn Raschid: mit der Verwaltung der beiden heiligen
Stätten in Mekka und Medina betrauter Geistlicher.
Mohammed Ibn Subeil: Imam der Großen Moschee in Mek-
ka und Stellvertreter Ibn Raschids.
König Chalid: König von Saudi-Arabien.
Prinz Najif: Innenminister von Saudi-Arabien.
Major Mohammed Suweid al-Nifei: Kommandeur der Spe-
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cial Security Force, einer Spezialeinheit für Aufstands-
bekämpfung des saudischen Innenministeriums.
Mohammed Abdullah al-Kahtani: der Schwager Dschuhai-
mans und angebliche Mahdi.
Leutnant Abd al-Asis Kudheibi: Zugführer beim Sechsten
Fallschirmjägerbattailion.
Hassan al-Saffar: religiöser Führer der saudischen Schiiten in
der Ostprovinz.
Prinz Sultan: Verteidigungs- und Luftfahrtminister von Saudi-
Arabien.
Prinz Turki al-Feisal: Chef des saudischen General Intelli-
gence Directorate (GID).
Dschuhaiman Ibn Seif al-Uteibi: Korporal im Ruhestand der
saudischen Nationalgarde und oberster Führer der Rebellion
in Mekka.
Ahmed Saki Jamani: Ölminister von Saudi-Arabien.
Mohammed Abduh Jamani: Informationsminister von Sau-
di-Arabien.
Vereinigte Staaten von Amerika
Zbigniew Brzezinski: Nationaler Sicherheitsberater Präsident
Carters.
Präsident Jimmy Carter: Präsident der Vereinigten Staaten
von Amerika.
Herbert Hagerty: Chief Political Officer in der amerikanischen
Botschaft in Pakistan.
Mark Hambley: Political Officer in der amerikanischen Bot-
schaft in Saudi-Arabien.
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Ralph Lindstrom: US-Generalkonsul in Dhahran in Saudi-
Arabien.
Jack McCavitt: Stationschef der CIA in Tripolis, Libyen.
Cyrus Vance: Amerikanischer Außenminister.
John C. West: US-Botschafter in Saudi-Arabien.
Frankreich
Hauptmann Paul Barril: Stellvertretender Kommandeur der
französischen Kommandoeinheit Groupe d’Intervention de
la Gendarmerie Nationale (GIGN). Leiter des GIGN-Ein-
satzes in Saudi-Arabien während des Anschlags auf Mekka.
President Valéry Giscard d’Estaing: Staatspräsident der Re-
publik Frankreich.
Graf Alexandre de Marenches: Chef des französischen Ge-
heimdiensts SDECE.
Christian Lambert: Teilnehmer des Einsatzes der GIGN in
Saudi-Arabien.
Captain Christian Prouteau: Kommandeur der GIGN.
Ignace Wodecki: Teilnehmer des Einsatzes der GIGN in Saudi-
Arabien.
Andere Länder
Mehmet Ali Agca: Militanter türkischer Islamist, der versuch-
te, Papst Johannes Paul II. zu ermorden.
Oberst Muammar al-Gaddafi: Führer der Revolution in
Libyen.
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Ajatollah Ruhollah Chomeini: Führer der islamischen Revo-
lution von 1979 im Iran.
General Mohammed Zia ul-Haq: Präsident von Pakistan.
Eine Bemerkung zu den arabischen Namen
Es wäre zu umständlich, im ganzen Buch die vollen arabischen
Namen zu nennen, deshalb habe ich nach der üblichen Kon-
vention nur einen Teil des Gesamtnamens verwendet. Die Na-
mensschreibung wurde vereinfacht, damit die Eigennamen für
den nichtarabischen Leser leichter zu erkennen sind.
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Einleitung1
Die heilige Stadt Mekka wirkte täuschend ruhig, als der erste
Morgen des neuen Jahrhunderts hinter den zerklüfteten Bergen
graute.
Der bärtige Imam der Großen Moschee spritzte sich kaltes
Wasser ins Gesicht, dann legte er seinen beigefarbenen Um-
hang um die Schultern und murmelte ein Dankgebet. In weni-
gen Minuten würde er das Morgengebet leiten.
Unter seinem Fenster füllte sich der mit Flutlicht überstrahlte
Innenhof der Moschee rasch. Die Zeit der Hadsch, der großen
Pilgerfahrt, in der insgesamt über eine Million Pilger den Hof
von der Größe eines Stadions besuchten, war bereits zu Ende.
Trotzdem war Mekka immer noch gerammelt voll mit Pilgern.
Viele von ihnen hatten die Nacht am heiligsten Ort des Islam
verbracht und sich auf einem Wollteppich in einem der fast tau-
send Räume des vielstöckigen Labyrinths der Großen Moschee
zusammengerollt.
Wie üblich kampierten diese Pilger mit ihren Bündeln, Mat-
ratzen und Koffern, und niemand hatte sich die Mühe gemacht,
das Gepäck zu durchsuchen. Wie es Brauch war, hatten viele so-
gar hölzerne Särge mitgebracht in der Hoffnung, dass der Imam
einem verstorbenen Verwandten den kostbaren Segen spenden
würde, der nur an diesem heiligen Ort gespendet werden konnte.
An diesem Tag hatten einige der Särge einen ganz ande-
ren Inhalt: Kalaschnikow-Sturmgewehre, in Belgien herge-
stellte FN-FAL-Sturmgewehre, Patronengurte und diverse Pis-
tolen.
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Die Männer, die dieses Waffenarsenal in die Moschee ge-
schmuggelt hatten, verfolgten ein ehrgeiziges Ziel: Sie wollten
den Lauf der Weltgeschichte umkehren und einen Weltkrieg
auslösen, der mit dem totalen Sieg des Islam und der Vernich-
tung der arroganten Christen und Juden enden sollte.
Es war der erste Muharram des Jahres 1400 nach islami-
scher Zeitrechnung, der in den Kalendern der westlichen Un-
gläubigen dem 20. November 1979 entsprach.
Für die Einwohner von Mekka, einer Stadt, die von dem Men-
schenstrom lebt, der seit undenklicher Zeit durch ihre heiligen
Stätten fließt, galt es an diesem Dienstagmorgen, ein besonders
freudiges Ereignis zu feiern: den Neujahrstag, an dem die Ein-
wohner Mekkas traditionell selbst zur heiligen Moschee pilgern.
In der Dunkelheit zogen Tausende zu den Randbezirken der
Stadt, legten nach einer Dusche ihre Alltagskleidung ab und
kehrten im schneeweißen ihram, dem Gewand der Pilger (zwei
handtuchartigen Kleidungsstücken, die Reinheit symbolisieren
und die rechte Schulter ihres Trägers unbedeckt lassen) zurück
in das Zentrum der Stadt.
Unter die Mekkaner hatten sich etwa 100000 Besucher aus
aller Welt gemischt: Pakistaner und Indonesier, Marokkaner und
Jemeniten, Nigerianer und Türken. Manche waren nach der
Hadsch noch in der Stadt geblieben: Pilger mit unternehmeri-
schem Ehrgeiz versuchten, sich jedes Jahr ihre Reisekosten zu
verdienen, indem sie in Mekkas Basaren exotische Güter aus
ihren fernen Heimatländern verkauften. Andere waren eigens
nach Mekka gekommen, um dort die Jahrhundertwende zu er-
leben, ein Ereignis, das nur einmal im Leben stattfand.
Mitten in diesem Menschenmeer schwammen Hunderte von
Rebellen, viele mit dem traditionellen rot karierten Tuch der Be-
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duinen als Kopfbedeckung. Einige waren schon seit Tagen in
der Moschee und hatten das Labyrinth ihrer Korridore erkundet.
Andere waren in der Nacht zuvor von ihnen freundlich gesinn-
ten Koranschulen mit Bussen hergefahren worden. Wieder an-
dere waren an diesem Morgen mit dem eigenen Auto in Mek-
ka eingetroffen, in letzter Minute und mit Frau und Kindern,
damit die Wächter keinen Verdacht schöpften.
Die meisten Verschwörer waren Saudis oder Beduinen, ob-
wohl es auch zahlreiche Ausländer in ihren Reihen gab, falls
dieser Begriff für Menschen, die an ein islamisches Weltbür-
gertum glauben, überhaupt eine Bedeutung besitzt. Unter den
Ausländern waren auch afroamerikanische Konvertiten im
Hochgefühl ihres neuen Glaubens und gestählt durch die Ras-
senunruhen in ihrer Heimat.2
Der graue wolkenlose Himmel färbte sich langsam rosa, als
das Morgenritual begann, das zu dieser Jahreszeit um 5 Uhr 18
stattfinden muss. »La ilaha ila Allah«, intonierte eine tiefe Stim-
me den Gebetsruf über die neuen Lautsprecher, die auf den sie-
ben hohen Minaretten der Moschee installiert waren: »Es gibt
keinen Gott außer Gott.«
Barfüßig knieten die Gläubigen in dem mit Marmor gepflas-
terten Hof der Großen Moschee. Der Imam räusperte sich und
nahm das Mikrofon in die Hand, um den Segen zu sprechen. Auf
seinen Wink warfen sich die Gläubigen zu Boden, in einem ge-
waltigen Ring konzentrischer Kreise, der die Kaaba umschloss,
ein uraltes würfelförmiges Gebäude, das sich – in goldbestick-
te, schwarze Seide gehüllt – in der Mitte des Innenhofs erhob.
Dann, gerade als der Imam das Gebet mit der Bitte um Frie-
den beendete, krachten Schüsse. Das knatternde Geräusch wur-
de von den Wänden des Innenhofs wie in einem Hallraum
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zurückgeworfen. Die schockierten Gläubigen sahen einen jun-
gen Mann mit erhobenem Gewehr auf die Kaaba zurennen. Ein
weiterer Schuss scheuchte Schwärme von Tauben auf, die meist
auf dem Platz außerhalb der Großen Moschee herumpickten.
Blitzschnell schwirrten Gerüchte durch die Menge. Was hat-
te das zu bedeuten? Warum der ganze Lärm? Sicher gab es ei-
ne harmlose Erklärung. Vielleicht waren die Männer mit den
Gewehren Leibwächter irgendeines hochrangigen saudischen
Prinzen oder vielleicht sogar des saudischen Königs Chalid
selbst. Vielleicht waren die Gewehrschüsse nur eine besondere
saudische Art, das neue Jahr zu begrüßen.
Viele besser informierte Gläubige waren starr vor Entset-
zen. Sie wussten, dass es eine schwere Sünde war, in der
Großen Moschee ein Gewehr abzufeuern. Und sie konnten sich
nicht daran erinnern, dass ein solches Sakrileg je geschehen
war. Ängstlich sahen sie zu, wie immer mehr Männer auf die
Kaaba zuliefen, die sich mit Gewehren aus den Särgen bewaff-
net hatten. Die offizielle Polizeitruppe der Großen Moschee war
nur mit Stöcken ausgerüstet, um ausländische Gläubige zu
züchtigen, die sich danebenbenahmen. Sie zerstreute sich in al-
le Winde, als zwei ihrer Mitglieder versucht hatten, Widerstand
zu leisten, und an den Toren erschossen worden waren.
In all dem Aufruhr kam Dschuhaiman al-Uteibi aus dem Inne-
ren der Moschee. Der 43-jährige Beduine mit den hypnotischen
schwarzen Augen, den sinnlichen Lippen und dem schulterlan-
gen Haar, das bruchlos in einen schwarzen, lockigen Bart über-
ging, strahlte trotz seiner schlanken Erscheinung große Auto-
rität aus.3 Dem Beispiel des Propheten Mohammed folgend trug
der Rebellenführer ein weißes saudisches Gewand, das zum Zei-
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chen des Verzichts auf materielle Güter auf Wadenhöhe abge-
schnitten war. Im Gegensatz zu vielen seiner Anhänger war er
barhäuptig und hielt seine widerspenstigen Locken nur durch
ein schmales grünes Stirnband im Zaum.
Begleitet von drei Kämpfern mit Gewehren, Pistolen und
Dolchen, bahnte er sich seinen Weg über den Hof und steuerte
auf die Kaaba und den Imam der Großen Moschee zu. Der
Geistliche, der sich gerade erst von der Kaaba ab- und sein Ge-
sicht den verängstigten Gläubigen zugewandt hatte, bemerkte,
dass er unmittelbar neben einem Sarg stand. In diesem Sarg lag
tatsächlich ein totes Kind, und seine Angehörigen nahmen den
Tumult auf dem Platz gar nicht wahr, sondern baten den Imam
inständig, den kleinen Leichnam zu segnen.
Der Geistliche gehorchte und rezitierte die heiligen Sätze,
als sein Gesicht plötzlich einen verblüfften Ausdruck annahm.
Er hatte erkannt, dass Dschuhaiman und einige der anderen
Bewaffneten, die nun schon bedrohlich nahe waren, hier in
Mekka seine Vorlesungen über den Islam besucht hatten. Seine
Verblüffung verwandelte sich in Fassungslosigkeit, als ihn
Dschuhaiman einen Augenblick später unsanft beiseite schob
und das Mikrofon ergriff. Als der Imam versuchte, ihm das
Gerät wieder zu entreißen, hob einer der Eindringlinge einen
scharfen Krummdolch, stieß einen wütenden Schrei aus und
drohte, ihn zu erstechen.
Furcht ergriff die Menge.
Tausende hoben ihre Schuhe auf und strömten hastig zu
den Toren des Rundbaus, der den Innenhof umschloss, aber
alle 51 Tore waren mit Ketten verschlossen.4 Und alle wurden
von struppigen Bewaffneten bewacht, die mit ihren Gewehren
auf die Menge zielten. Völlig verunsichert riefen einige der
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Gläubigen im Chor »Allahu akbar«, »Gott ist groß«, die For-
mel, mit der Muslime im Unglück ihren Glauben beschwören.
Und gänzlich unerwartet stimmten die Bewaffneten in ihren Ruf
mit ein, bis er sich in der ganzen Menschenmenge verbreitete
und zu einem ohrenbetäubenden Donnern anschwoll.
Als der Ruf verklungen war, bellte Dschuhaiman eine Rei-
he knapper militärischer Befehle in das Mikrofon. Auf seine
Anweisung hin verteilten sich Dutzende seiner gut ausgebilde-
ten Anhänger auf dem Gelände, und einige bauten auf den sie-
ben Minaretten der heiligen Stätte Maschinengewehrnester auf.
Pilger wurden gezwungen, ihnen zu helfen. Einige mussten die
Tausende von schweren Teppichen im Innenhof aufrollen und
sie gegen die zugeketteten Tore lehnen. Die kräftigsten Mo-
scheebesucher wurden mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen,
Wasser und Munitionskisten die steilen Treppen der Minarette
hinaufzutragen. Das Allerheiligste des Islam wurde schnell und
vollständig besetzt.
Die Minarette waren 89 Meter hoch. Sie überschauten fast
die ganze Innenstadt von Mekka und boten den Scharfschützen
der Rebellen ein riesiges Schussfeld. Mit dem Finger auf dem
kalten Metall des Abzugs suchten sie die benachbarten Straßen
nach potenziellen Feinden ab. »Wenn ihr einen Soldaten der Re-
gierung seht, der die Hand gegen euch erheben will, habt kein
Mitleid und erschießt ihn, denn er will euch töten«, befahl
Dschuhaiman seinen Scharfschützen mit seinem gutturalen
Wüstenakzent. »Schießt ohne Zögern!«
Im Hof unter den Minaretten begriffen selbst Saudis, die des
lokalen Dialekts mächtig waren, kaum, was da vor sich ging.
Das Weinen der Frauen, das Husten der Alten und das Schlur-
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fen nackter Füße füllten den Hof der Großen Moschee mit
einem Geräusch der Angst. Viele Ausländer unter den Zehn-
tausenden von Geiseln sprachen überhaupt kein Arabisch. Sie
standen wie erstarrt in dem Getümmel und baten gebildetere
Landsleute in einer Vielzahl von Sprachen, ihnen die Lage zu
erklären.
Doch die Verschwörer hatten mit Sprachproblemen gerech-
net, und sie wollten verstanden werden. Also versammelten sie
die pakistanischen und indischen Besucher auf der einen Seite
der Moschee, wo ein in Pakistan geborener Rebell seinen ver-
wirrten Landsleuten die Erklärung Dschuhaimans in Urdu über-
setzte. Eine Gruppe Afrikaner bekam einen englisch sprechen-
den Dolmetscher zugeteilt. »Setzt euch und hört zu«, brüllten
Dschuhaimans Bewaffnete, und wer nicht gehorchte, bekam
ihre Gewehrkolben zu spüren.
Als die Gläubigen schließlich in angstvoller Erwartung auf
dem Boden saßen, bekamen sie von der seltsamen Gruppe zu
hören, dass sich ihre Herrschaft weit über die Große Moschee
hinaus auch auf die wichtigste Geschäftsstadt Saudi-Arabiens
und auf seine zweite heilige Stadt erstrecke. »Mekka, Medina
und Dschidda sind in unserer Hand«, verkündeten die Rebel-
len durch die Lautsprecheranlage der Moschee, so laut, dass
man ihre Worte in der ganzen Innenstadt von Mekka hören
konnte.5
Dann übergab Dschuhaiman das Mikrofon einem Adju-
tanten, der ein besseres, klassisches Arabisch sprach. Es war
höchste Zeit, den Sinn des gewagten Unternehmens zu erklären.
In der folgenden Stunde übermittelten die Rebellen über die
Lautsprecher der Moschee ihre schockierende Botschaft an die
Milliarde Muslime auf dem Planeten. Sie verkündeten, dass
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sich endlich eine uralte Prophezeiung erfüllt habe und die Stun-
de der Abrechung angebrochen sei. Als die gelegentlich von
Gewehrschüssen unterbrochene Rede zu Ende war und die
Lautsprecher schwiegen, wurde Mekkas gesamte Innenstadt
von Panik ergriffen. Selbst die Kellner der Straßencafés in der
Nähe der Moschee rannten davon.
So begann ein langwieriger Kampf, der Mekka mit Blut be-
flecken und für die islamische und die westliche Welt einen
wichtigen Wendepunkt darstellen sollte. Binnen weniger Stun-
den sollte die Besetzung der heiligen Stätte eine weltweite di-
plomatische Krise auslösen und noch Tausende Kilometer ent-
fernt Tod und Zerstörung verursachen. Amerikanische Piloten
und europäische Kommandoeinheiten würden daran beteiligt
sein, die Herrschaft des saudischen Königshauses über die Hei-
ligtümer des Islam wiederherzustellen. Bald schon sollten auch
Amerikaner ihr Leben verlieren, und die USA sollten feststel-
len, dass sie in einer zunehmend feindseligen Welt mehr und
mehr isoliert wurden.
Die Folgen dieser vergessenen Krise, die bis heute aus den
Geschichtsbüchern Saudi-Arabiens und vieler anderer musli-
mischer Länder gestrichen ist, sind noch heute zu spüren.
Die Reaktion der saudischen Regierung auf Dschuhaimans
Angriff auf ihre heiligste Stätte war von einer erstaunlichen Mi-
schung aus Arroganz, Inkompetenz und Missachtung der Wahr-
heit geprägt. Das Ansehen des Königshauses wurde für immer
beschmutzt. Viele Muslime in Saudi-Arabien und anderswo,
darunter auch der junge Osama Bin Laden, waren so entzetzt
über das Gemetzel in Mekka, dass ihre Loyalität zu schwinden
begann. In den folgenden Jahren gerieten sie allmählich in
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offene Opposition zum saudischen Königshaus und seinen ame-
rikanischen Unterstützern. Die fanatische Ideologie, die Dschu-
haimans Männer zu Mord und Totschlag im größten aller isla-
mischen Heiligtümer inspiriert hatte, nahm immer grausamere
Züge an, um schließlich im Todeskult der al-Qaida zu kulmi-
nieren.
Aufgrund eines weltpolitischen Zufalls empfanden die füh-
renden amerikanischen Politiker – und das saudische Königs-
haus – unmittelbar nach der Krise in Mekka ausgerechnet diese
Ideologie als ein äußerst zweckmäßiges Instrument für die
Schlachtfelder des Kalten Kriegs. Deshalb wurde Dschuhai-
mans brutale Spielart des Islam keineswegs unterdrückt, sondern
unterstützt und genährt, sodass sie ab 1979 auf dem ganzen
Planeten metastasierte. Heute sprengen die spirituellen Erben
Dschuhaimans mit dem selbstzufriedenen Lächeln wahrer
Gläubiger Flugzeuge, Touristenhotels und Pendlerzüge auf vier
Kontinenten in die Luft.
Die Bedeutung des Angriffs auf Mekka wurde damals selbst
von den hellsichtigsten Beobachtern nicht erkannt. Zu viele Be-
drohungen beschäftigten damals den Westen. Die Besetzung der
Großen Moschee – die erste große Operation einer internationa-
len Dschihad-Bewegung in der Neuzeit – wurde schulterzuckend
als lokales Ereignis abgetan, als anachronistischer Rückfall in
die Beduinenvergangenheit der Arabischen Halbinsel.
Im Rückblick jedoch herrscht schmerzliche Klarheit: Der
Countdown zum 11. September, zu den terroristischen Bomben-
attentaten in London und Madrid und zu dem grausamen isla-
mistischen Terrorismus, der Afghanistan und den Irak verwüs-
tet, begann an jenem warmen Novembermorgen im Schatten
der Kaaba.
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Gläubige auf dem Platz vor der Großen Moschee. (Abdulla Y. Al-Dobais/Saudi Aramco World/PADIA)
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1
Das Gelände, das Dschuhaiman und seine Männer in Mekka
besetzten, war buchstäblich das Zentrum des muslimischen
Universums. Die Muslime auf der ganzen Welt verbeugen sich
bei ihren Gebeten fünfmal am Tag in Richtung der Kaaba, dem
mit schwarzem Tuch überzogenen, würfelförmigen Gebäude,
das auch als »Haus Gottes« bezeichnet wird und im Hof der
Großen Moschee steht.
Jeder Muslim, der es sich leisten kann, muss die Kaaba min-
destens einmal im Leben während der jährlichen Hadsch besu-
chen, wobei er den zweiteiligen Ihram anlegt und das Gebäude
siebenmal gegen den Uhrzeigersinn umrundet. Zu jeder Tages-
und Nachtzeit wird die Kaaba von zahlreichen Männern und
Frauen umkreist, und zwar so regelmäßig wie die Planeten die
Sonne umkreisen – bis Dschuhaiman das Ritual unterbrach.
Laut dem Propheten Mohammed ist ein Gebet an diesem heili-
gen Ort, der Achse zwischen Himmel und Erde, so wirksam
wie 100 000 anderswo gesprochene Gebete. Sogar begraben
werden Muslime mit dem Kopf Richtung Kaaba.
Der einfache Steinbau ist 16 Meter hoch und zwölf Meter
lang und wurde, wie die Muslime glauben, vor vielen Jahrtau-
senden von dem Propheten Ibrahim errichtet – dem Stamm-
vater der Araber und der Juden, der in der Bibel Abraham ge-
nannt wird. Nach christlicher und jüdischer Überlieferung ist
Isaak, der von Abrahams Frau Sara geborene Stammvater der
Juden, der rechtmäßige Erbe Abrahams. Nach der muslimi-
schen hingegen ist Ischmael, der Stammvater der Araber und
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Yaroslav Trofimov
Anschlag auf Mekka20. November 1979 - Die Geburtsstunde des islamistischenTerrors
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 13,5 x 21,5 cm30 s/w AbbildungenISBN: 978-3-89667-335-0
Blessing
Erscheinungstermin: Oktober 2008
Der Tag, an dem das Undenkbare geschah – und seine weltweiten Folgen Am Morgen des 20. November 1979 besetzen bewaffnete Rebellen die Große Moschee inMekka. Sie fordern die sofortige Abkehr Saudi-Arabiens vom Westen und einen radikalenUmbruch in der gesamten muslimischen Welt. Der erste islamistische Terrorakt der Modernebeginnt. Er sollte Schule machen. Erstmals wird in dieser spannenden und umfassendenReportage ein Ereignis untersucht, das zur Geburtsstunde von al-Qaida und des globalenDschihad wurde. Es war die größte anzunehmende Katastrophe. Eine fanatische, internationale Gruppe um dencharismatischen Anführer Dschuhaiman stürmte die bedeutendste aller heiligen Stätten, dieGroße Moschee, nahm Tausende Pilger als Geiseln und stellte die Saud-Dynastie als Herrscherund als Hüter des Heiligtums infrage. Erst eine Fatwa der obersten Gelehrten des islamischenRechts erlaubte es dem Königshaus, mit Waffengewalt gegen die Rebellen vorzugehen. Zweiverlustreiche Wochen später hatten Soldaten das Gelände zurückerobert. Dschuhaiman undseine Gefolgsleute wurden kurz darauf öffentlich enthauptet. Um ihr Gesicht zu wahren, setztedie saudische Regierung nun die konservative, dogmatische Auslegung der heiligen Schriftendurch – just jene, die Dschuhaiman gefordert hatte – und förderte den grenzüberschreitendenKampf gegen Ungläubige allerorts, so auch gegen die sowjetischen Truppen, die im Dezember1979 in Afghanistan einmarschierten. Einer der ersten unter den Radikalen, die Dschuhaimanbewunderten und Saudi-Arabien in Richtung Hindukusch verließen, war ein 22-jähriger Eiferernamens Osama bin Laden. • Ein ausgewiesener Nahostexperte analysiert, wie der Gotteskrieg zum globalen Phänomenwurde• Auswertung bislang geheimer CIA-Akten und Aussagen noch heute verfolgter Beteiligter