Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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ZEIT WISSEN PERSÖNLICHKEIT 5,90 EURO Österreich, Benelux, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich 6,40 € — Schweiz 10,90 sfr Juni Juli 2014 NR. 4 WENN TIERE ALT WERDEN BIOLOGIE IN ZUKUNFT OHNE ANTIBIOTIKA MEDIZIN 5 PLÄNE, DIE ERDE ZU VERLASSEN. FÜR IMMER RAUMFAHRT TIEFSEE DIE SPRACHE DES MEERES WIE BIN ICH WIRKLICH? Mut zum eigenen Typ: Erfolgsstrategien zwischen Anpassung und Individualität PERSÖNLICHKEIT

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EIT 5,90 EURO Österreich, Benelux, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich 6,40 € — Schweiz 10,90 sfr

Juni Juli 2014

NR. 4

WENN TIERE ALT WERDEN

BIOLOGIE

IN ZUKUNFT OHNE ANTIBIOTIKA

MEDIZIN

5 PLÄNE, DIE ERDE ZU VERLASSEN.FÜR IMMER

RAUMFAHRT

TIEFSEE

DIE SPRACHE

DES MEERES

WIE BIN ICH WIRKLICH?

Mut zum eigenen Typ: Erfolgsstrategien zwischen Anpassung und Individualität

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20. Februar bis 24. August 2014

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DAS BISSCHEN ROCK ’N’ ROLL

Volker Wenzlawski wollte den alten Tieren bei Hagen-beck in Hamburg und im Zoologischen Garten Berlin mit seiner Kamera natürlich möglichst nahe kommen; bis Kilaguni ihn gar nicht mehr in Ruhe ließ – immerzu wollte das Spitzmaulnashorn-Weibchen vom Fotografen gekrault werden: »Wir waren echt schockverliebt.«

Lydia Klöckner hat eine Patientin im Krankenhaus besucht, die mit antibiotikaresistenten Bakterien infiziert war. Als sie sich mit Mundschutz an deren Bett setzte, begriff sie: Infekte, gegen die keine Arznei mehr wirkt, sind kein Horrorszenario – es gibt sie. Ihre Recherche über Alternativen zu Antibiotika machte ihr Hoffnung.Ti

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AUS DER REDAKTION

Ein unangepasster Typ, einer, der auf die Meinung der anderen pfeift. Ein Mann, der nur das tut, was er will, nichts anderes. So einer wollte ich sein. So einer bin ich aber nicht geworden. Man findet mich auch dann am Schreibtisch, wenn ich keine Lust habe zu arbeiten, man sieht mich lächeln, wenn mir nicht danach zumute ist. Allerdings: Einmal war ich mit dem Rolling-Stones-Gitarristen Keith Richards in einem Hotelzimmer. Ich fragte ihn, wie man das denn tatsächlich leben kann, dieses »I’m free, I do what I want all the time«, wie man es jeden Tag praktizieren kann, jedes Jahr, immer. Es war später Nachmittag, er war gerade aufgestanden, und er sah mich ziemlich lange an, und zwar von oben bis unten. Der schläfrige Blick des Krokodils. Dann sagte er: »You? If I look at you, I think a little bit of rock ’n’ roll now and then is enough.« Ein bisschen, hin und wieder ... So einer also war ich geworden. Ein ganz normaler Spießer. Das raue, kurze Lachen des Gutachters in dem Hotelzimmer klingt mir bis heute in den Ohren.

Liebe Leserin und lieber Leser, »Wie bin ich wirklich?« heißt unsere Titelgeschichte, und sie spielt im Magnetfeld zwischen Anpassung und Selbstverwirklichung. Wie kann man dort sein Glück finden, Erfolg haben? Nehmen Sie sich Zeit für die erstaunlichen Erkennt-nisse, die unser Autor Christian Schüle zusammengetragen hat. Vielleicht ändern Sie danach Ihr Leben, muss ja nicht gleich das ganze sein. A little bit is enough.

Andreas Lebert, Chefredakteur

EDITORIAL

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INHALT

FORSCHUNG & TECHNIK

20 On_Off

Diesmal: Das Wetter

42 Dieser Mann hat der Wissenschaft

die Smarties geklaut

Diederik Stapel hat Studien mani-puliert und Kollegen belogen. Jetzt kehrt er an die Universität zurück

76 Arbeitsunterlage

Von Chefs, Kollegen, Geld und Glück

90 DOSSIER

Wann fahren wir los? Wie weit

ist es noch? Wann sind wir da?

Das erstaunliche Comeback der bemannten Raumfahrt. Und fünf Pläne, die Erde zu verlassen

104 Optimist und Pessimist

Niels Birbaumer und Andreas Meyer-Lindenberg über die Frage, obPsychopathen umprogrammierbar sind

UMWELT & GESELLSCHAFT

40 Geordnete Verhältnisse

Sie steht für Mut und Fröhlichkeit:Die Sonnenblume

48 Der Preis des Geldes

Unser Umgang mit Finanzenkann uns teuer zu stehen kommen. Nicht nur auf dem Konto.Zehn nachhaltige Überlegungen

54 DAS ZEIT WISSEN-GESPRÄCH

»Wir werden diese riesigen

Ozeane nie verstehen«

Der Kieler Meeresforscher undGeologe Peter Herzig überKnollen und Korallen, Kupfer und Kontinentalhänge

70 Ekel schützt,

Weisheit hilft

Zwei Wissenschaftlerinnen,zwei Welten: Valerie Curtisund Ute Kunzmann

Das Meer könnte Probleme lösen  S.54Das Weltall könnte eine Heimat werden  S.90

GESUNDHEIT & PSYCHOLOGIE

6 Drei Fragen

Wo liegen unsere Träume, wenn wir sie begraben? Sind wir zuzweit mutiger? Ist das Landlebengesünder als das in der Stadt?

36 Hat der Urmensch gefrühstückt?

Die kleine Ernährungsgeschichte einer gar nicht so wichtigen Mahlzeit

62 Eine Hoffnung

namens Pathoblocker

Antibiotika halten den Siegeszug der Bakterien nicht mehr auf.Ausgefallene Methoden können helfen

74 Das Experiment

Der Ikea-Effekt

78 Wenn Tiere alt werden

Eine Geschichte von steifenHüftgelenken, mutigen Großmüttern,faulen Eseln und Seniorenchecks

Die Bärin Maika könnte ein Vorbild sein  S.78

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22 Mit Ecken, aber bitte ohne Kanten!

Sei, der du bist! Mach was aus dir! Aber fall dabei nicht auf! So lautet der zeitgeistige Identitätsimperativ zwischen Anpassungsdruck und Individualitätszwang. Wie normal darf ich sein? Oder: Wie normal muss ich sein? In diesem Persönlichkeitsdilemma stecken wir heute. Unser Autor Christian Schüle ist bei seiner Recherche zu überraschenden Erkenntnissen gelangt

3 Editorial12 Magazin16 U-Acht18 Ü-Achtzig96 Bücher100 Gadgets 101 Apps102 Leserforum103 Rätsel/Impressum106 Die Welt aus der Sicht …

RUBRIKEN

Studien, Bücher, Artikel, Dokumente: Die Recherche-quellen, die wir für unsere journalistische Arbeit genutzt haben, finden Sie online unter www.zeit-wissen.de/0414quellen zu diesen Texten:

Drei Fragen

Hat der Urmensch gefrühstückt?

Dieser Mann hat der Wissen-schaft die Smarties geklaut

Eine Hoffnung namens Pathoblocker

Dossier: Wann fahren wir los?

Wenn Tiere alt werden

TITEL WIE BIN ICH WIRKLICH?

UNSERE RECHERCHE-QUELLEN

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1. Wo liegen unsere Träume, wenn wir sie begraben?Von Seelenfrieden und Sehnsucht: Woher unsere Wunschträume kommen – und wohin sie verschwinden

AM ANFANG DREI FRAGEN

tersüße Sehnsüchte erhalten«, sagt sie. Bitter, weil sie utopisch sind. Süß, weil sie mit schönen Gedanken ver-knüpft sind und uns erlauben, das Ersehnte auf der Imaginationsebene zu erleben. »Wir versetzen uns sogar gezielt in Sehnsucht, etwa indem wir Musik hören oder Gedichte lesen.« Im Gegensatz zur Melancholie sei Sehn-sucht daher kein negatives Gefühl, sondern könne hel-fen, das nicht perfekte Leben zu akzeptieren.

Anstatt utopische Träume zu begraben, verewigen wir sie in unserer Fantasie, sagt auch die Psychoanaly-tikerin und Philosophin Brigitte Boothe. Statt von Sehn-sucht spricht sie allerdings vom »Wünschen«. »Der Wunsch lässt uns die Kluft zwischen Realität und Er-wünschtem ertragen, die uns sonst innerlich in Spannung und Unwohlsein versetzen würde«, sagt sie. »Wünschen ist ein überaus gesunder Zustand passiver Zufriedenheit.« Boothe stellt sich Wünsche wie einen Schatz vor, den wir in unserem Inneren tragen. Er schütze uns davor, ein Leben lang verlorenen Träumen nachzujagen. Einen Teil dieses Schatzes geben wir an unsere Nachfahren weiter, so Boothe. Die Theorie, dass Eltern ihren Kindern unbe-wusst den Auftrag erteilen, die eigenen unerreichten Wünsche zu verwirklichen, stellte der Psychoanalytiker Helm Stierlin schon in den siebziger Jahren auf. Dass diese Delegation der Wünsche stattfindet, ist bis heute kaum belegt. Boothe hält sie trotzdem für plausibel: »Kinder wachsen in einem Lebensraum auf, den die El-tern gestaltet haben und der ihre Wünsche spiegelt«, sagt sie. »Wir werden schon als Säuglinge auf das geprägt, was unsere Eltern erstrebenswert finden.« Manche Psycho-analytiker halten es sogar für möglich, dass Kinderwün-sche dem unbewussten Bedürfnis entspringen, begrabene Träume zu erfüllen: Der Hobbypilot wünscht sich, dass sein Sohn Astronaut wird. Die Bekleidungsfachverkäu-ferin hüllt ihre Tochter in Prinzessinnenkleider. —

Als ich ein Kind war, wollte ich Pippi Langstrumpf sein. Ich träumte davon, in einer bunten Villa zu wohnen, mit einem Äffchen und einem Pferd. Ich wollte ver-schiedenfarbige Strümpfe tragen und rote, schwerelose Zöpfe. Aus all dem ist

nichts geworden – mein Traum blieb unerfüllt. Aber hat mein Kopf ihn wirklich aufgegeben – gelöscht? Gehen Träume, die sich nicht realisieren lassen, verloren?

»Wenn man sich ewig an denselben unrealistischen Traum klammert, wird man immer wieder mit seinem eigenen Misserfolg konfrontiert. Das ist frustrierend und stressig, es kann sogar unser körperliches Wohlbe-finden beeinträchtigen«, sagt der Entwicklungspsycho-loge Carsten Wrosch von der Concordia University in Kanada. »Das Sich-Lösen von Träumen oder Zielen – ich nenne es Disengagement – ist ein wichtiger Prozess, um gesund zu bleiben.« Das bedeutet allerdings nicht, dass wir sie uns aus dem Kopf schlagen.

Träume, Ziele, Idealvorstellungen erfüllen aus psy-chologischer Sicht einen wichtigen Zweck: Sie geben uns Orientierung und motivieren uns. Deshalb geht das Dis-engagement Wroschs Theorie zufolge unmittelbar in Reengagement über: Wir richten unsere Aufmerksam-keit und psychische Energie auf neue, aber inhaltlich verwandte Träume. Statt Astronaut werden wir Hobby-pilot, statt Prinzessin Bekleidungsfachverkäuferin und statt Hexe Pharmazeutin. Unsere Träume verschwinden nicht, sie verändern nur ihre Gestalt. »Im Jugendalter übersetzen wir dann manche Kindheitsträume in Ziele, die besser mit der Realität vereinbar sind«, sagt Alexandra Freund, Psychologieprofessorin an der Universität Zü-rich. Sie selbst interessiert sich vor allem für jene Träume, die wir weder in realisierbare Ziele ummünzen noch loslassen können. »Manche Träume bleiben uns als bit-

Text Lydia Klöckner Foto Pia Ulin

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2. Sind wir zu zweit mutiger?Batman hatte Robin, Bonnie hatte Clyde, und Thelma hatte Louise. Ist das Duo wirklich die beste Konstellation für kleine und große Heldentaten?

AM ANFANG DREI FRAGEN

unterwegs sind, trauen wir uns zum Beispiel eher zu, jemandem in einer Notsituation zu helfen«, sagt der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg. Allerdings müssen die Beteiligten sich dafür zumindest flüchtig kennen. Sind sie nur zufällig am gleichen Ort, tritt dagegen der Bystander-Effekt ein. Er macht nichts, also mach ich auch nichts. Keiner hat’s gesehen, und der Verletzte bleibt liegen. Sind wir aller-dings mit Freunden unterwegs, zeigen wir eher Courage, egal, wie viele wir sind. »Damit wir mehr Mut haben, reichen zwei Personen in der Tat schon aus«, sagt der Sozialpsychologe Wagner.

Zwei Freunde gegen die Hasenfüßigkeit – ganz so simpel ist es dann doch nicht. Einige Experimente zei-gen nämlich das Gegenteil: In einem Versuch sollten Testpersonen den maximalen Preis beziffern, den sie für einen Lottogutschein zahlen würden. Obwohl das Los stets dasselbe war mit einer 50-prozentigen Chance auf einen 100-Dollar-Gewinn, unterschied sich die Risiko-bereitschaft zwischen Zweier-Teams und Alleinent-scheidern. Während Einzelpersonen im Schnitt 24 Dollar für das Los bezahlen wollten, lag die Schmerz-grenze im Duo schon bei 20 Dollar. Dieses Verhalten ist jedoch nur auf den ersten Blick paradox, wie Andrea Abele-Brehm von der Universität Erlangen-Nürnberg erklärt. »Zu zweit entscheidet man nicht zwangsläufig mutiger, aber in jedem Fall extremer«, sagt die Sozial-psychologin. »Wenn wir sowieso dazu neigen, den Job zu wechseln, dann bestärkt uns der andere in unserer Entscheidung. Umgekehrt wollen die meisten Men-schen beim Geld das Risiko gering halten, also sind wir zu zweit noch vorsichtiger.« Der zweite Mann (oder die zweite Frau) ist also kein Garant für mutigere Entschei-dungen. Aber in jedem Fall bekommen wir einen Schubser in die Richtung, in die wir sowieso wollten. —

Da steht sie an der Bar, hübsches Shirt, vorsichtiger Blick, fischt die Kirsche aus dem Cocktail. Einfach rübergehen und ansprechen? Kommt nicht gut an, oder? »Jetzt trau dich schon!«, sagt der Freund und schiebt mich in ihre Rich-

tung. Plötzlich sind es nicht mehr drei Meter, sondern es ist nur noch eine Armlänge bis zu ihr. Sie guckt ver-dutzt, Stille. Die ersten Worte holpern heraus, unbe-darft, das Herz pocht. Dann lächelt sie kurz. Der Puls beruhigt sich, wir reden, der Abend ist gerettet. Man muss sich halt nur trauen.

Freunde können uns helfen, über den eigenen Schatten zu springen. Mit ihrem Beistand schicken wir endlich die Bewerbung raus oder treten die Weltreise an. Aber auch die ausgefallenen Schuhe in Neongrün kau-fen wir eher im Rudel, weil wir in der Gruppe risiko-reicher handeln. Die Psychologen Margo Gardner und Laurence Steinberg haben diesen Effekt nachgewiesen, indem sie rund 300 Menschen eine Fahrsimulation spielen ließen. Ziel des PC-Spiels war es, möglichst spät zu bremsen, sobald ein Hindernis auf dem Bildschirm auftauchte. Trotzdem sollte es zu keinem Crash kom-men. Solange die Testpersonen alleine spielten, fuhren sie vorsichtig. Selten prallte mal einer auf die Mauer auf. Sobald die Probanden aber noch zwei Zuschauer hinter sich hatten, kurvten sie waghalsig umher. Besonders be-troffen schienen von diesem Mutproben-Effekt die Heranwachsenden zu sein. Mit Zuschauern manövrier-ten sie fast doppelt so oft in einen Crash wie die Allein-fahrer in der gleichen Alterskategorie. Dazu passt, dass junge Straftäter häufig in Gruppen aufgegriffen werden, während Erwachsene häufig Einzeltäter sind.

Doch der Mut zum Risiko muss nicht nur hals-brecherische Folgen haben. »Wenn wir in Gruppen

Text Haluka Maier-Borst Foto Hans Feurer

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3. Ist das Landleben ge sünder als das in der Stadt?

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psychische Störungen, die mit der Stimmung zusam-menhängen. Woran liegt das? Um das herauszufinden, stellten Forscher des Zentralinstituts für Seelische Ge-sundheit in Mannheim gesunden Probanden knifflige Fragen (zum Beispiel Rechenaufgaben) und setzten sie dabei zusätzlich unter Druck: Sie sagten den Freiwilli-gen, sie seien nicht gut genug und müssten sich noch mehr anstrengen. Eine Messung der Hirnaktivität er-gab, dass diejenigen, die in der Stadt groß geworden waren oder jetzt in der Stadt lebten, daraufhin stärkere Stressreaktionen zeigten als Versuchspersonen vom Land. Städter haben sich also keineswegs an den höhe-ren Stresspegel der Großstadt gewöhnt, im Gegenteil: Sie können Stresssituationen weniger gut bewältigen als Landmenschen. Vielleicht macht sie das anfälliger für psychische Störungen.

Um seine psychische Gesundheit zu verbessern, muss man aber nicht unbedingt aufs Land ziehen. Me-diziner der University of Exeter werteten Daten des British Household Panel Survey aus und erkannten, dass Städter, die erst in einem dicht bebauten und dann in einem grüneren Viertel wohnten, sowohl gleich nach dem Umzug als auch drei Jahre später eine bessere psy-chische Gesundheit hatten.

Dass die Natur auch zur Heilung körperlicher Er-krankungen beitragen kann, zeigte erstmals 1984 eine Studie: Patienten, die in einem Krankenhauszimmer mit Blick auf viel Grün lagen, erholten sich schneller von einer Operation und brauchten weniger Schmerz-mittel als Patienten in ähnlichen Räumen mit Blick auf ein Gebäude. Seitdem haben viele Studien bestätigt, dass der enge Kontakt zur Natur die Gesundheit und das Wohlbefinden stärkt. Für diesen Effekt ist allerdings nicht unbedingt ein ganzer Acker oder ein Wald not-wendig – ein Park in der Stadt tut es manchmal auch. —

Beim ersten Hahnenschrei aus den Federn, zum Wachwerden Holz hacken, über die Felder zur Arbeit wandern und abends mit den Burschen fingerhakeln. So wie man sich als naiver Städter das Landleben vorstellt, muss es sehr gesund sein, mit all

der Aktivität an der frischen Luft. So einfach ist es aber nicht. Dass der Landmensch sich mehr bewegt, bestäti-gen Studien nicht eindeutig. In den USA gibt es sogar Hinweise darauf, dass Menschen auf dem Land weni-ger aktiv und dicker sind als Menschen in den Städten.

Dennoch haben Forscher in vielen Studien gezeigt: Das Landleben hat Vorzüge für die Gesundheit. Die aktuelle Untersuchung des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland stellt fest, dass Großstädter häufiger unter allergischen Erkrankungen wie Asthma, Heuschnupfen, Neurodermitis oder Nah-rungsmittelallergien leiden als Landbewohner. Der An-teil der Menschen, die einmal in ihrem Leben von einer dieser Krankheiten betroffen sind, steigt leicht mit der Größe des Wohnorts: In Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern sind es 29 Prozent, in mittelgroßen Städten mit 20 000 bis 100 000 Einwohnern 30 Pro-zent, in Großstädten 33 Prozent.

Einige Wissenschaftler führen die Hygiene-Hy-pothese an, um zu erklären, weshalb Landmenschen seltener an Allergien erkranken. Sie besagt, dass eine Neigung zu Überempfindlichkeitsreaktionen oft gar nicht erst entsteht, wenn man schon in den ersten Le-bensjahren mit bestimmten Mikroben in Kontakt kommt. Anders gesagt: Der ländliche Dreck härtet ab. Andere Forscher vermuten, dass die Luftverschmutzung in den Städten Allergien auslösen könnte.

Wer in der Stadt aufwächst, hat außerdem ein höheres Risiko für Angststörungen, Schizophrenie und

Die frische Luft. Die viele Bewegung. Die schöne Natur. Muss doch gesund sein. Oder?

Text Susanne Schäfer Foto Jim Krantz

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MAGAZIN

Das kleinste Teleskop der Welt hat einen Durchmesser von nur 3,6 Millimetern und bewahrt Patienten mit einer Makuladegene-ration vor Erblindung. Bei dieser Krankheit zerfällt die Netzhaut des Auges im Bereich der Makula, wo die Sehzellen besonders dicht liegen. Dadurch entsteht ein blinder Fleck in der Mitte des Sicht feldes. An dieser Stelle wird das erbsengroße Implantat ein gesetzt. Das Teleskop vergrößert die Bilder, die der Patient mit dem operierten Auge sieht, um mehr als das Zweifache. Nach dem Eingriff muss das Gehirn einige Wochen lang lernen, diese Bilder mit den Eindrücken des gesunden Auges in Einklang zu bringen. Mit dem Teles kop nimmt der Patient Details wahr, mit dem anderen Auge den Rand des Blickfeldes.

Das größte Teleskop der Welt wird bis zum Rand des sichtbaren Universums schauen können – 13 Milliarden Lichtjahre weit. Der Spiegel des European Extremely Large Telescope (E-ELT) soll einen Durchmesser von 40 Metern haben und aus rund 1000 sechseckigen Segmenten bestehen. Bis 2022 will die Euro - päische Südsternwarte das E-ELT auf dem Berg Armazones in der chilenischen Atacama-Wüste errichten. Da das Licht aus der Ferne des Weltalls bis zur Erde sehr lange unterwegs war, blickt das E-ELT in die Vergangenheit. Es soll neue Daten über die Entstehung von Sternen und Galaxien liefern. Außerdem wollen Wissenschaftler mit dem Teleskop nach Planeten in der Um-laufbahn anderer Sterne suchen.

Das kleinste und das größte Teleskop

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Das fragt sich unser Autor Marcus Rohwetter jeden Tag aufs Neue.

Diesmal: Marmeladeninflation

Als Erstes werden die Erdbeeren reif. Es folgen Blau-, Him- und schließlich Johannisbeeren. Dann werde ich beschenkt: mit Erdbeermarmelade, Himbeerkonfitüre und Johannisbeergelee. Alles selbst ge-erntet, eingekocht und in handbeschriftete Gläser gefüllt von Freunden und Verwand-ten. Als Mitbringsel. Sehr nett. Aber zu viel des Guten. Was als exklusive Alternative zu industriell gefertigter Massenware gedacht war, hat eine Marmeladeninflation in meinem Vorratskeller verursacht. Die Lieferung von 2012 habe ich noch nicht aufgegessen, da steht längst die Ernte 2013 im Regal, und die ersten Früchte wachsen schon wieder. Die erste Beerenernte war ja noch etwas Besonderes. Nun aber wissen meine Freunde nicht mehr, wohin mit dem Zeug. Obst-gehölze neigen nämlich zum Wachstum, verhalten sich ökonomisch also äußerst rational. Nur wächst mit dem Angebot an Obst auch die Menge der mir zum Ver-zehr überlassenen Eigenprodukte. Während meine Begeisterung dafür in gleichem Maße abnimmt. Im Spätsommer folgen traditionell Apfel- und Birnenkompott. Bevor die Kürbiszeit beginnt. Und wie lange halten eigentlich Gläser mit Bärlauch-pesto, dem Must-eat-Grünzeug der Saison 2007? Jetzt wollen Bekannte auch noch Honig schleudern. Und Obstler brennen. Ohne mich. Ich brauche keine mit Single-Malt-Whisky abgeschmeckte Birne- Ingwer-Schokoladen-Marmelade. Morgens reicht mir ein 69-Cent-Schälchen aus dem Supermarkt. Schmeckt mir besser. Und ist bestimmt frischer.

GEHT AUCH WENIGER?

Als der Maisanbau in Deutschland in den vergangenen Jahren immer mehr zunahm, schimpften viele über die Vermaisung der Landschaft, Experten sahen die Vielfalt der Pflanzen und Tiere durch die Monokultur bedroht. 2013 ging die Fläche, auf der Mais angebaut wird, erstmals seit elf Jahren zu-rück, und zwar um 2,5 Prozent. Das mel-dete jetzt das Statistische Bundesamt. Etwa ein Drittel der Ernte ist für Biogasanlagen bestimmt. Ein Grund für den Rückgang ist die Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes von 2012. Seither darf in neuen Biogasanlagen höchstens ein Anteil von 60 Prozent Mais oder Körnergetreide zur Energiegewinnung verwendet werden.

GUTE BESSERUNG

Die Vermaisung der Felder geht zurück

Auf dem Bild führe ich eine Tarnkappe vor: Ich lasse eine Holzfigur unsichtbar werden. Dabei fällt Licht durch Glas, das dieses sehr stark bricht. Das Glas ist so konstruiert, dass die Lichtstrahlen in einem Bogen um eine bestimmte Stelle im Inneren herumgelenkt werden. Für den Betrachter sieht es daher so aus, als ob die Figur hinter dem Glas verschwindet. Dieser Aufbau übertrifft die bis-herigen Versuche mit Tarnkappen, die nur sehr kleine Objekte unsichtbar machen konnten. Trotzdem wird es in naher Zukunft wohl keinen Tarn-umhang wie den von Harry Potter geben. Die Technik könnte aber in der Mikroelektronik eingesetzt werden. Wenn Elektronikbauteile zu nah an ein an-der ste hen, stören sich ihre Si gna le gegenseitig. Wenn wir sie mit einer Tarn-kappe für ein an der »unsichtbar« machten, könnten wir sie auf engerem Raum zusammen verbauen. So ließen sich winzige Geräte herstellen.

WORAN FORSCHEN SIE GERADE?Zhang Baile von der Nanyang Technological University in Singapur versucht, Dinge unsichtbar zu machen

PHYSIK KOLUMNE

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GENAU

GENOMMEN Second Life. 2006, als Facebook noch ein unbedeutender Onlineclub für Studenten eini-ger US-Universitäten ist, versetzt ein ganz anderer Onlineclub Nutzer, Medien und Unter-nehmen in helle Aufregung. Second Life scheint die Zukunft des Netzes zu sein: eine vir-tuelle 3-D-Welt, in der sich jeder als Avatar eine neue Identität zulegen, Inseln bebauen, Paläste errichten, ja sogar Geld verdienen kann, sogenannte Linden-Dollars. Millionen Nutzer zieht es ins Second Life, Weltkonzerne halten Konferenzen darin ab, Schweden und andere Länder eröffnen gar Botschaften. Und dann – ist der Hype plötzlich vorbei. Smart phones, Twitter, Face book treten ihren Siegeszug an. Heute tummeln sich nur 500 000 Menschen regelmäßig im Second Life. Die Onlineparty geht woanders ab.

Das Metaversum. Aus dem unbedeutenden Onlineclub namens Face book ist eine digitale Weltmacht geworden. Ende März kaufte sie das nicht einmal zwei Jahre alte Start-up Ocu-lus, das eine Virtual-Reality-Brille für Videospiele entwickelt hat. Die Brille wird es zwar erst Ende 2014 auf dem Markt geben, aber Face book war sie schon jetzt zwei Milliarden Dollar wert. Ein Schachzug gegen Google Glass? Nein, der Anfang von etwas viel Größe-rem: einem Metaversum, in das man per Datenbrille eintaucht. Diese virtuelle Welt hatte Sci-Fi-Autor Neal Stephenson in seinem Roman Snow Crash beschrieben. Oculus-Chef Brendan Iribe schwebt eine Onlinespielwelt von »einer Milliarde Nutzern« vor – so viele hat Face book. In ein paar Jahren werden wir nach Feier abend durch »Faceland« flanieren.

WAS WICHTIG WAR

WAS WICHTIG WIRD

1 Sonnencreme schützt vor UV-Strah-lung. UV-A-Strahlen dringen in tiefere Hautschichten ein und können zu Hautkrebs führen.

2 UV-B-Strahlen lassen die Haut altern, produzieren aber Vitamin-D, den körpereigenen Sonnenschutz.

3 Erst mit 14 Jahren hat die Hornschicht der Haut den vollen Eigenschutz.

4 Eine Umfrage der GfK ergab, dass 80 Prozent der Frauen, aber nur 60 Prozent der Männer ab 14 Jahren gelegentlich Sonnencreme benutzen.

5 2013 hat jeder fünfte Erwachsene in Deutschland Sonnencreme für durch-schnittlich 10,14 Euro gekauft.

6 Die erste Sonnencreme, Delial-Salbe von Bayer, kam 1933 auf den Markt.

7 1956 definierte der Strahlenphysiker Rudolf Schulze den Lichtschutzfaktor.

8 Seit 2006 gelten EU-weit vier LSF- Kategorien für Sonnencreme: von ge-ring (LSF 6) bis sehr hoch (LSF 50+).

9 Bei Stiftung Warentest schlug die Aldi-Sonnencreme 2013 alle teuren Produk-te, die bis zu 24-mal so viel kosteten.

10 Eine Studie ergab 2012, dass nur ein Viertel der 800 getesteten Produkte wirkungsvoll und frei von potenziell schädlichen Inhaltsstoffen ist.

10 Fakten über Sonnencreme

GESUNDHEIT INTERNET

Per Datenbrille ins Metaversum: Suchen wir unser Glück in der virtuellen Welt?

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Es ist paradox: Kinder lernen besonders gut, aber an die ersten drei Lebensjahre können sich Erwachsene nicht erinnern. Eine neue Hypothese ist: Das in dieser Zeit sehr formbare Gehirn ist dafür verantwortlich. Überall bilden sich Nervenzellen, auch im Hippocampus, einer Region, die fürs Lernen verantwortlich ist. Diese Zellen ersetzen die alten, die über ihre Verknüpfungen Erlebtes gespeichert hatten. Bewiesen aber ist das nicht.

BESSERWISSER

DIE BESTE ERKLÄRUNG

»Nehmen wir die Wirklichkeit wahr, oder werden wir nur getäuscht? Laut Platons Höhlengleichnis Letzteres: Wir Menschen sind in einer Höhle gefesselt und nehmen Schatten an der Wand als Wirklichkeit wahr. Einer, der Philosoph, befreit sich und kämpft sich mühsam an die Oberfläche, bis er endlich die Sonne sieht. Als dieser zu den anderen, noch immer Gefessel-ten zurückkehrt und von der Wirklichkeit be-richtet, verstehen sie den Philosophen nicht und töten ihn. Eine Anspielung auf Platons Lehrer Sokrates, den die Öffentlichkeit ebenso wegen Nichtverstehens verurteilt hat. Ist Ihnen der Bezug zu Matrix aufgefallen? Der Protagonist Neo durchläuft einen ähnlichen wirk-lichkeitsfindenden Prozess.«

ZEIT Wissen-Leser erklären einen schwierigen Sachverhalt in knappen Worten. Diesmal: Platons Höhlengleichnis

Wer kann das Gefangenendilemma in 100 Wörtern erklären? Schicken Sie den Text bis zum 22. Juli 2014 an [email protected] oder an ZEIT Wissen, Stichwort: Beste Erklärung, Speersort 1, 20095 Hamburg. Die Autorin/der Autor des abgedruckten Textes erhält die ZEIT-Edition »Wissenschaftsromane« (12 Bände)

DAS WEISS NIEMAND

Warum vergessen wir die ersten Lebensjahre?

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Philipp Koch gewinnt damit die ZEIT-Edition »Wissenschaftsromane«

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Page 16: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Lara Trautmann, 7, Fachgebiet derzeit: Musik Lara hat einen jüngeren Bruder und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Sie besucht die erste Klasse der Rudolf-Steiner-Schule in Hamburg-Nienstedten

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Interview Hella Kemper

Foto Johannes Mink

Lara, du bist erst sieben und spielst schon Geige und Querflöte. Wie kam das? Ich wollte mit vier Querflöte lernen, aber das durfte ich nicht. Angefangen habe ich dann mit Blockflöte und schon morgens vorm Kindergarten geübt. Als ich fünf Jahre alt war, kamen Geige und Querflöte dazu. Die Querflöte zu blasen geht schwer.Warum? Ich muss an vieles denken: an die Lippen, Hände, Finger, den Kopf ... Außerdem pus-tet man ja etwas seitlich in das Loch, nicht einfach geradeaus, und man muss gleich-mäßig pusten, damit der Ton schön klingt.Warum ist das Mundstück gebogen? Dadurch ist die Flöte kürzer, und ich kann alle Tasten erreichen. Meine Geige ist auch nur eine Viertelgeige. Sie ist also ein Viertel kleiner? Nein, das ist eine komplizierte Rechnung.

Sie ist aber kleiner als eine normale Geige und klingt weniger laut und voluminös. Übst du viel?Jeden Tag, ich stehe um fünf Uhr auf, und wenn ich mal nicht üben darf, werde ich richtig wütend. Meistens muss Mama mich stoppen. Denn dann ist mein Bruder dran. Er spielt Klavier und Cello. Ich höre ihm gern zu. Eigentlich würde ich gern auch Klavier lernen. Wenn ich abends im Bett liege, höre ich meinen Opi Klavier spielen. Meine Großeltern wohnen nämlich unter uns, und während ich einschlafe, spielt Opi. Oft spielt er Bach. Magst du Bach? Ja, seine Musik ist sehr ruhig, aber ganz schwer zu spielen. Wenn ich Opi höre, ku-schele ich mich gemütlich ein. Aber ich habe noch nie mit Opi zusammen gespielt. Welche Musik spielst du gern?

Schnelle Musik, sie bringt Spaß und fordert mich. Schnelle Musik ist meistens fröhliche Musik. Vivaldi, Accolay: Die sind tempera-mentvoll! Ich mag aber auch traurige Musik. Traurig ist schön, weil man sich anschmie-gen kann – bei Konzerten setze ich mich auf Mamas oder Papas Schoß. Dann ist die traurige Musik gar nicht mehr traurig. Bei Wettbewerben begleitet dich deine Mutter oft am Klavier. Ist sie streng? Sie korrigiert mich – das mag ich, weil ich ja besser werden will. Mit meiner Mama zu-sammen zu spielen ist fast so schön wie Kuscheln. Musizieren macht mir gute Lau-ne. Ich denke dabei an schöne Sachen. Was magst du besonders an deiner Geige?Ihren Klang. Er klingt so frei und fließt in mein Ohr. Eine Oboe klingt, als sei sie in einem anderen Raum. Bei der Geige strömt der Klang direkt zu mir. —

EXPERTEN-GESPRÄCH

Page 17: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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Ü ACHTZIG

Als Oberin, Nonne und Krankenschwester haben Sie Ihr Leben in den Dienst anderer gestellt. Woher nahmen Sie die Kraft dafür?Gott hat uns geschaffen, damit wir froh sind – und damit wir ihm mit fröhlichem Herzen dienen. Ich war nie ohne Hoffnung und hatte nie das Gefühl, nicht geliebt zu sein. Denn Gottes Liebe ist immer da. Wie haben Sie Ihren Weg gefunden? Ich stamme von einem Bauernhof im Münsterländischen. Dort habe ich als Kind sehr intensiv die Natur erlebt: wie sie wächst, vergeht und wiederkommt. In die-ser Kraft des Wachsens und Entfaltens liegt etwas, das nicht von uns ist. Wie alt waren Sie, als Sie sich entschieden haben, Nonne zu werden? Bewegt hat mich der Gedanke, seit ich 14 war, ich habe ihn aber weggeschoben, mit niemandem darüber gesprochen. Als Pflege-

schülerin ist mir aufgegangen, dass ich mein ganzes Leben dafür einsetzen möchte, Kran-kenschwester zu sein. Mein Name Media-trix bedeutet Vermittlerin, ich habe ihn von Anfang an als Auftrag verstanden. Wie viel Verzicht gehört dazu?Wenn man sich für Gott entscheidet, dann hat das andere keinen Platz mehr. Das war ein langer Prozess, denn vom Verzicht allein kann man nicht leben – aber davon, dass ich die Kräfte, die Gott mir gegeben hat, für andere einsetze: Ich will für die Men-schen da sein. Ich will helfen, dass es ande-ren besser geht. Ich bin da, wenn Patienten oder Mitarbeiter in Nöten sind. Kranken-pflege bedeutet nicht nur, dass ich die rich-tigen Medikamente verabreiche, sondern viel mehr: menschliche Zuwendung. Liebe. Wie geben Sie diese Liebe im Alltag?Ich schenke armen Müttern ein Paket Win-

deln, ich lade sie in die Cafeteria ein. Manch-mal ist es aber auch nur ein Lächeln. Was ist Demut?Der Mut zum Dienen. Der Mut zur Wahr-heit. Ich bin das, was ich vor Gott bin, da ist keine Verstellung mehr möglich. Haben Sie nie mal den Mut verloren? Zweifeln gehört durchaus dazu: Fragen in die Dunkelheit. Aber das Licht war nie ganz aus. Ich habe als Schulmädchen zwei Brüder verloren, sie sind innerhalb von vier Wochen im Zweiten Weltkrieg gefallen. Damals habe ich erkannt: Das Verlorene bleibt mir als schöne Erinnerung, zum Beispiel an fröh-liche Kindheitstage mit den Brüdern. Etwas Weltliches: Ihr kleines Paderborn ist gerade in die Bundesliga aufgestiegen ...Wir haben abends alle ein Bier auf den Auf-stieg getrunken. Aber eigentlich stößt mich die Härte des Fußballspiels ab. —

Interview Hella Kemper

Foto Sandra Stein

Schwester Mediatrix, 82, Fachgebiet derzeit: Dienen Schwester Mediatrix ist Oberin in der Frauenklinik des St.-Vincenz- Kranken hauses in Paderborn. Sie ist Theologin, Kranken-schwester und Physio therapeutin. 24 Jahre lang war sie in der Ordens-leitung der Vincen-tinerinnen tätig

EXPERTEN-GESPRÄCH

Page 19: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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Page 20: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

ON OFF

Früher war das Wetter von mor-gen ein Ritual. Jeden Abend gegen 20.15 Uhr legten sich Hoch- und Tiefdruckgebiete über eine Deutschlandkarte, auf der Bonn eingezeichnet

war, aber nicht Dresden. Am Ende der Wet-tervorhersage erschien eine Windrose, dann piepste es achtmal – eine Morsefolge, drei Buchstaben, »QAM«, der internationale Kurz code für die gerade beantwortete Frage »Wie wird das Wetter?«. Heute ist Bonn von der Karte der Tagesschau verschwunden, und es piepst nicht mehr, dafür haben wir das Wetter der kommenden Tage immer und überall dabei: auf unseren Smart-phones, Tablets, Laptops.

Wir tragen Displays wie Glaskugeln mit uns herum und haben stets ein Stück Zukunft bei uns. Wir können sogar jederzeit erfahren, wie das Wetter an jedem Ort ist, an dem wir uns gar nicht befinden. Mehr ON geht nicht, und das hat erstaunliche Auswirkungen auf den Alltag. Zum Beispiel ist sehr vielen Menschen dieses Woanders-Wetter wichtig. Sie haben in ihrem Smart-phone ehemalige Ur laubs orte oder Städte, in denen Verwandte wohnen, als Favoriten

markiert, sodass sie mit einem Klick oder Wisch das dortige Wetter sehen können. Das führt zu Vergleichen – und die fallen dank selektiver Wahrnehmung meist un-günstig aus. Wenn es bei Tante Traude reg-net: egal. Aber konnte man früher noch ver-drängen, dass es in Rom bereits 20 Grad waren, während man noch eine Winterjacke trug, lächelt einen heute auf dem Bildschirm hämisch eine römische Sonne an.

So etwas kann ein weiterer Grund sein, sich stets am falschen Ort zu fühlen, ein Gefühl, in dem wir uns gerade einrich-ten. Denn eine Prämisse des ON lautet: Egal wo du bist – wo du nicht bist, ist es ein wenig besser. Das Gerät zeigt dir an: Du bist bei dem falschen Konzert, dem lang-weiligeren Fußballspiel. Wo bist du? Hier ist es großartig! Der Platz an der Sonne ist immer woanders. Im ON ist Fernweh ein Naturzustand.

Beim Wetter passiert es beizeiten, dass es um einen herum regnet, während auf dem Bildschirm prall die Sonne scheint. Und wenn das örtliche Wetter nicht mit dem digitalen zusammenpasst, führt das natür-lich zu Verwirrung. Dieser Widerspruch kratzt an dem Versprechen der digitalen

Medien, ihre Fühler überall zu haben, die ganze Welt live in ein Gerät zu packen. Denn wenn schon das Wetter vor Ort nicht richtig angezeigt wird, vielleicht regnet es dann auch nicht in Rom? Und wenn schon das Wetter nicht stimmt, vielleicht sind auch die Börsenkurse falsch? Oder die Nach-richten? Dieser Argwohn, dieser Zweifel könnte ausstrahlen, und der Vertrauensver-lust könnte das ganze Me dium treffen: Ist das ON vielleicht nur besonders gut darin, uns vorzuspiegeln, es wisse alles?

Noch ist das nicht der Fall. Wir ver-drängen den Widerspruch. Schließlich sind wir mit falschen Wetterberichten aufge-wachsen. Und wer ist schon perfekt? Doch was wird geschehen, wenn das Display di-rekt vor unser Auge wandert wie bei der Datenbrille Google Glass? Wenn wir die digitale Sonne sehen und gleichzeitig Regen auf das Brillenglas tropft? Wie werden wir damit umgehen, wenn die Welt offensicht-lich in ON und OFF aus ein an der bricht? Niemand kann das vorhersehen. Das ist wie beim Wetterbericht, über den Meteorologen sagen: Den für morgen, den bekommen wir gut hin, doch mit jedem weiteren Tag nimmt die Treffsicherheit rapide ab. —

Online, offline – und dazwischen wir. Mit unserem Denken, unseren Gewohnheiten, unserer Sprache. Über die neuen Bedeutungen alter Begriffe

Text Sven Stillich

Heute: Das Wetter

Page 21: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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Page 22: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

TITEL

WIE BIN ICH WIRKLICH?

Diese Kunst wird von jedem gefordert: Dass er ein Bild von sich entwirft und es der Welt zeigt.

Ein modernes Abenteuer zwischen Anpassung und Individualität. Sei ganz du selbst – aber bloß nicht

anders als die anderen

Bilder

Sarah Lucas Ernst Ludwig Kirchner

Robert Mapplethorpe Gustave Courbet Maria Lassnig Wanda Wulz

Francis Bacon Joan Miró Chuck Close

Text

Christian Schüle

SERIE: MEIN BESSERES LEBEN

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ANPASSUNG: WELCHES GESICHT WOLLT IHR SEHEN?

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SELBSTBILD: HILFE, WER BIN ICH?

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Die gute Nachricht lautet: Glück ist noch möglich, das Abendland bleibt bestehen, und wir werden weiterhin nach Liebe suchen. Wir müssen an keinen Gott glauben, wir brauchen nicht zu heiraten, wir dürfen unsere

Körper tätowieren. Wir können mit Ringen in der Nase Arzt werden, hetero-, homo-, bi-, pan-, poly- oder sonst-wie-sexuell sein und ohne Aufsehen zu erregen die Kanzlerin beschimpfen. Uneheliche Kinder sind gang und gäbe und Homo-Ehen hoffähig. Wir finden für alles einen Coach und können in zahllosen Optio-nen unser Leben selbst bestimmen. Nie war der Einzel-ne freier als heute. Sei, wer du bist!, ruft uns die Welt entgegen. Entfalte dich! Verwirkliche dich! Mach was aus dir! Das ist der Imperativ des zeitgemäßen Indivi-dualismus. Es passt ins Bild, dass zu den erfolgreichsten Unternehmen weltweit heute ein Konzern gehört, der das freie Ich als Weltformel erfunden hat. Das i in iPod, iMac und iPhone steht für das ICH, den unternehme-rischen Geist des Individuums und seine unbegrenzten Möglichkeiten. Der »iMensch« ist Marke seiner selbst.

Die schlechte Nachricht lautet: Nie war der Glücks- und Erfolgsdruck größer als heute. Wir sind zum Glück verdammt. Wir sind zum Erfolg gezwungen. Wir müs-sen wir selbst sein. Individualismus ist zum Zwang ge-worden. Das Individuum wird paradoxerweise zur An-passung gedrängt an das große Ideal, individualistisch zu sein. Das Resultat ist ein Individualisierungskonfor-mismus, der die entscheidende Frage elegant ignoriert: Weiß der iMensch überhaupt noch, wer er ist?

Erstes Kapitel: Maske

Stellen wir uns folgende Situation vor, die tatsächlich so stattgefunden hat: In einem Seminar zum Thema Selbstmanagement erzählt eine Versicherungsangestell-te, ihr Arbeitgeber habe ihr verboten, die Fingernägel in einem bestimmten Pinkton zu lackieren. Die Farbe sei zu auffällig. Was soll die Frau tun? Soll sie auf ihrem Pink bestehen und das ganze Instrumentarium des mo-dernen Individualismus aufbieten – Selbstbestimmung! Selbstverwirklichung! Selbstentfaltung! Gleichberechti-

FLEXIBILITÄT: KANN ICH MICH VERWANDELN?

Page 29: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

gung! Freiheit? Soll sie einen Streit riskieren, gar ein Zerwürfnis? Oder soll sie froh sein, in ihrem Unterneh-men überhaupt die Nägel lackieren zu dürfen, und sich also für ein unauffälliges Rot entscheiden? Oder soll sie die Nägel gar unlackiert lassen? Lesen wir den Pinkton als Chiffre für einen ausgeprägten Wunsch nach Indivi-dualismus und das Verbot des Vorgesetzten als Zwang zur Anpassung, ist die Blaupause eines klassischen Kon-flikts gelegt: Muss der Mensch von heute seine Kanten abschleifen, um Erfolg zu haben?

Der Seminarleiter rät der Frau abzuwägen: Wie wichtig ist der Job? Wie wichtig ist der Lack, auch wenn der ihre »i«-Marke sein sollte? Denken wir uns weiter in die Frau hinein. Sie kehrt nach Hause zurück und konfrontiert ihren Partner mit dem Verbot des Vorge-setzten. Der Partner sagt: Dann mach den Lack doch einfach ab! Ja, das tut sie auch, aber hat der Mann ver-standen, worum es ihr geht? Die Frau möchte nichts überstürzen und entscheidet sich für unlackierte Nägel, aber es keimt in ihr die Erkenntnis, dass sie in diesem Unternehmen auf Dauer fehl am Platz ist. Kurze Zeit später meldet sie sich bei einem Headhunter und ver-lässt auch ihren Partner. Der Lack der Beziehung war ohnehin seit Langem ab, der Mann hatte nie begriffen, wer die Frau eigentlich war, was sie wollte und was ihre Persönlichkeit ausmachte.

Der Sinn von Persönlichkeit besteht in der wieder-erkennbaren Selbstdarstellung. Das lateinisch-antike Wort Persona heißt übersetzt Theater-Maske. Jeder Mensch trägt seine Maske, jeder Mensch ist Darsteller seiner selbst, und die Welt ist eine Bühne. »Im sozialen Alltag ist alles Selbstdarstellung«, sagt der maßgebliche deutsche Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt-Universität, »und die Selbstdar-stellung wird immer individualisierter.«

Die eine trägt einen gelben Hut, die Zweite lässt sich Brauen, Lippe und Nase piercen, der Dritte geht im Reggae-Look, der Vierte raucht Zigarre mit 32. Nichts ist unmöglich, und die Generation 30 plus hat gelernt, das Leben als Event zu begreifen. Selbst das Dinner mit Freunden wird zur Inszenierung, und aus Unsicherheit darüber, wie man sich möglichst perfekt darstellen soll, um souverän zu wirken, bucht der Gast-geber schon mal einen professionellen Designer, der Zutaten, Gänge und die Choreografie ihrer Präsenta-tion plant. Für Kosmetika und Kleidung geben die Deutschen heute im Schnitt mehr Geld aus als für ihr Essen. Die Werbeindustrie erzeugt heute meisterhaft

die Illusion, gerade dieses eine Ding fehle noch im Be-sitzstand, um wirklich unverwechselbar zu sein.

In den fünfziger und sechziger Jahren waren die Ansprüche der Gesellschaft an den Einzelnen so homo-gen wie der Druck, diese Ansprüche einzuhalten. Man fügte sich den Normen, ging selbstverständlich in die Kirche, Nischen waren kaum zu finden. Mut zum ei-genen Typ bewiesen schon diejenigen, die abends nicht die Tagesschau guckten. Heute ist das nicht mehr so ein-fach, weil es so viele Nischen gibt. »Jeder«, sagt Asen-dorpf, »will sein Ding machen.« Und das heißt gleich-zeitig: Jeder muss auch. Immer geht es um das eigene Profil, die individuelle Persona, die identifizierbare Maske. Permanent souffliert der Geist der Zeit: Du musst dich abgrenzen! Du musst interessant sein! Du sollst einmalig sein! Ja, aber wie soll man das sein, wenn es alle sein sollen? Steckt überhaupt noch Individualis-mus im Individuum? Und wenn ja: Wie viel Exzentrik ist sozialverträglich, gar karrierefördernd?

Zweites Kapitel: Erfolg

Verkürzt gesagt, strebt jeder Mensch nach dreierlei: so-zialer Anerkennung, Erfolg und Glück – im besten Fall verschmilzt alles in einem. Dabei steht der Einzelne heute unter dem Einfluss teilweise höchst gegensätzli-cher Maximalansprüche: Er soll Ecken, aber keine Kan-ten haben. Er soll selbstmächtig sein und sich zugleich dem Schicksal der Globalisierung fügen. Er soll kon-trolliert und rational sein, zugleich aber charismatisch und begeisterungsfähig. Er soll permanent seine Exzel-lenz nachweisen und wird unablässig beobachtet und bewertet. Er ist stets auf sich allein gestellt und muss ständig wählen und sich unentwegt entscheiden, ohne zu wissen, wofür er sich entscheiden soll. Das Spek-trum der Typen und ihrer Unterschiede fächert sich immer weiter auf. Es ist deshalb verblüffend, dass welt-weit so gut wie jedes Individuum in ein Schema einzu-ordnen ist, das Psychologen und Sozialforscher als »Big Five« bezeichnen. Die ersten Schritte zu dieser stan-dardisierten Persönlichkeitsdiagnose wurden Anfang der siebziger Jahre getan, durchgesetzt hat sich das Schema in den neunziger Jahren. Im Deutschen be-schreiben etwa 16 000 Wörter, vornehmlich Adjektive und Verben, die Vielfalt der Persönlichkeit und lassen sich dennoch – um ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen – auf folgende fünf Kategorien reduzieren: 1. Extraversion versus Introversion2. Emotionale Stabilität versus emotionale Labilität3. Gewissenhaftigkeit versus Ungewissenhaftigkeit4. Verträglichkeit versus Aggressivität5. Konventionalität versus Offenheit für neue Erfahrungen

Die fünf Dimensionen sind voneinander unab-hängig, erklären die Hälfte aller erklärbaren Unterschie-de zwischen Menschen und sind eine universell gültige,

Du musst interessant sein! Du musst einmalig sein! Wie soll das gehen, wenn es alle müssen? Und: Wie viel Exzentrik ist karrierefördernd?

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geradezu bewusst naive Rekonstruktion dessen, wie Menschen andere Menschen im Alltag wahrnehmen und beurteilen. Irgendwo in den Weiten der Big Five findet sich zwischen den USA und Japan, dem Kongo und Nordkorea jeder wieder. Wenn dem so ist – müsste dann nicht das ideale Ich und sein Weg zum Erfolg be-schreibbar sein?

Ja, zumindest was Führungspositionen in der Wirtschaft angeht. Offenbar lässt sich beruflicher Erfolg oder Misserfolg anhand der fünf Hauptkriterien erklä-ren. »Emotionale Stabilität zum Beispiel unterscheidet in nahezu allen Berufen die Erfolgreichen von den we-niger Erfolgreichen«, befindet Christof Obermann, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Rheinischen Fachhochschule Köln und Chef einer auf Assessment

und Entwicklung von Führungskräften spezialisierten Beratungsfirma. Über Fragebögen und Arbeitssimula-tionen in Assessment-Centern vermag Obermann zu erkennen, ob er es mit einer zuversichtlichen oder nega-tiv eingestellten, mit einer gewissenhaften oder nach-lässigen Persönlichkeit zu tun hat. Hält man sich eher an Regeln? Ist man genau? Ist man pünktlich? Ist man ambitioniert? Respektiert man Gesetze? Beachtet man soziale Normen? »Sie können einen Polizisten nehmen, die Krankenschwester, die Lehrerin oder den Piloten – bei Menschen, die in ihrem Job erfolgreich sind, werden Sie immer ähnliche Persönlichkeitsstrukturen finden«, sagt er. Erfolgreiche Menschen, so das Fazit, können sich eher anpassen, Regeln beachten, auf andere zugehen, sie sind gewissenhaft, im Durchschnitt eher extravertiert und grundsätzlich offen für neue Erfahrungen.

Diese Einschätzung deckt sich mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen. Der amerikanische Publizist David Brooks hat vor drei Jahren eine un-schätzbar wertvolle Arbeit vorgelegt. In seinem Buch Das soziale Tier fasst er unzählige Studien der jüngeren Vergangenheit aus allerlei Disziplinen zusammen, des-tilliert und konzentriert ihre Aussagen und Erkenntnis-se über das moderne Menschsein an sich. Die Erfolg-reichsten unter uns, so lautet eines der Ergebnisse, hatten nur geringfügig höhere IQs als die weniger Er-folgreichen. Was sie auszeichnete, so Brooks in Anleh-nung an die Kognitionswissenschaftlerin Melita Oden, sei ihre überragende Arbeitsmoral gewesen: »Sie hatten schon als Kinder mehr Ehrgeiz gezeigt.« Die Forscher Steven Kaplan, Mark Klebanov und Morten Sorenson

untersuchten die Fähigkeiten und Eigenschaften von Topmanagern und stellten fest, dass die Charakterzüge Detailgenauigkeit, Beharrlichkeit, Leistungsbereitschaft und analytische Gründlichkeit am stärksten mit Erfolg einhergingen – und dazu die Bereitschaft, Überstunden zu machen.

Die besten Unternehmensführer sind demnach keine großartigen Visionäre, sondern bescheidene, zu-rückhaltende, fleißige, zuverlässige und entschlossene Persönlichkeiten, die einen Bereich gefunden haben, in dem sie sich systematisch zu verbessern suchen. Man muss für den großen Erfolg also nicht, wie manche Human-Resources-Manager raten, bewusste Brüche in seinen Lebenslauf einbauen, um aufregend zu erschei-nen. Man muss aus Karrieregründen keine Wiederauf-bauarbeit in Haiti leisten oder sich einen Irokesenschnitt zulegen, um Mitbewerber auszustechen.

Wenn allerdings, wie Obermann behauptet, fast alle Führungspositionen aufgrund des Big-Five-Sche-mas besetzt werden, könnte man durchaus den Verdacht auf eine gewisse Stromlinienförmigkeit hegen: dass da ein strebsamer, sich selbst ausbeutender Einheitstyp herangezogen wird, der nicht widerspricht, nicht rebel-liert, nicht aufbegehrt, der kuscht und sich fügt, weil er weiß, dass man das von ihm verlangt. Individualismus, Querdenkerei, Ecken und Kanten, die wilde Anders-artigkeit der Anarchie? Scheint ausgeschlossen. Sei gera-de nicht, wer du bist, hieße das. Sei, wer du sein sollst. Aber führt das auf Dauer nicht ins Unglück?

Drittes Kapitel: Glück

Vor einiger Zeit erhielt die Psychoanalytikerin Maja Storch einen irritierenden Anruf. Eine Schweizer Abi-turientin hatte für ihre Matura-Arbeit das Thema »Ent-scheiden« gewählt, und Storch, wissenschaftliche Leite-rin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation in Zürich, fragte zurück, warum die junge Frau gerade darüber schreiben wolle. Weil sie, so die Abiturientin, selbst Entscheidungsschwierigkeiten habe; sie wisse nicht, für welches Fach sie sich einschreiben solle. Ob es um eine Entscheidung nach der Art »Jura gegen Kunstgeschichte« ginge, fragte Storch, und ob die El-tern ihr deswegen Druck machten. Nein, beschwichtig-te die Abiturientin, ihre Eltern seien absolut offen und würden sogar sagen, sie, die Tochter, könne machen, was sie wolle, Hauptsache, sie werde glücklich. Das seien ja Vorzeigeeltern, so Storch. Aber genau das sei das Problem, entgegnete die Abiturientin: Sie habe to-talen Leistungsdruck, glücklich zu werden. »Das arme Kind«, sagt Storch heute, »stand unter Glücksterror.«

Kann es sein, dass wir da etwas falsch verstanden haben? Seit Aristoteles geht die Menschheit davon aus, der Sinn des Lebens sei das Streben nach Glück, nach eudaimonía. In der Antike wurde Glück allgemeingültig

Was für ein Unsinn: Personal-manager raten schon dazu, mit Absicht Brüche in den Lebenslauf einzuarbeiten, um aufregend zu erscheinen

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den der »Must-haves«, den Verbotsschildern und Ver-führungsreizen, der Informationsflut und den Einflüssen der Medien frei. Durch das Training in Lektionen werde eine subjektive Moral und ihre Begründung ge-lernt, eine individualistische, ausschließlich der jeweili-gen Persönlichkeit entsprechende, einmalige Moral.

Gut ist, was sich als gut erspüren lässt – so einfach klingt der Lohn harter Ich-Arbeit. Für dieses Training aber ist eines unabdingbar, das größte Luxusprodukt unserer Epoche: Zeit.

Viertes Kapitel: Zeit

Jeder Mensch bewegt sich immer schon in kulturell und ökonomisch vornormierten Mustern. Unbere-chenbarkeit ist der prägende Faktor unserer Epoche der totalen Mobilität, und Beschleunigung trotz Komplexi-tät ist eines ihrer herrschenden Muster. Nichts ist mehr überschaubar, nichts stabil, nichts von Dauer. Räume lösen sich auf, Zeit verdichtet sich. Alles ist immer im Fluss, alles steht immer auf Anfang und Aufbruch. Weil alles gleich gültig scheint, ist das meiste gleichgül-tig. Der Mensch von heute muss sich in der Unsicher-heit einrichten. Er fühlt sich gehetzt von den Umstän-den, über deren Bedingungen er nichts Genaues weiß. Er ist erschöpft und in seiner Erschöpftheit zugleich hyperaktiv. Er ist nicht imstande, zu sagen, womit ge-nau er seine Zeit aufbraucht, er stellt nur fest, dass er nie genügend hat. Er ist ein Vertreter der dauererregten Leistungsgesellschaft in permanenter Zeitnot und ein Opfer dessen, was der italienische Philosoph Giacomo Marramao mit dem Begriff »Zeitsyndrom« als Grund-lage der globalisierten Gesellschaft erfasst hat: die wachsende Diskrepanz zwischen der Inflation an Er-wartungen und der fehlenden Zeit zu ihrer Erfahrung.

Erfahrung braucht Zeit – mit dieser Gleichung beginnt das spätmoderne Drama, denn am Anfang eines selbstbestimmten Lebens steht heute nicht mehr die Re-bel lion, sondern die Anpassung. Revolten sind dieser Tage irgendwie putzig und verebben sofort, und nicht mal Protest erregt gesteigertes Aufsehen, höchstens die aggressive Nacktheit der Femen-Frauen oder ein Amok-lauf. Wie aber soll der gewaltlose junge Mensch über-haupt noch exzentrisch sein, um darin Geltung bean-spruchen zu können?

Rebellion erfordert Radikalität, und radikal-rebel-lierendes Verhalten verlangt Zeit zu seiner Erfahrung. Diese Zeit, Werte im Trial-and-Error-Verfahren auszu-probieren, gebe es heute nicht mehr sagt Wolfgang Hantel-Quitmann, einer der führenden Paar- und Fa-milientherapeuten im Lande sowie Professor für Klini-sche Psychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. In der Jugendzeit, also der »Adoleszenzkrise« von der Pubertät bis ins frühe Er-wachsenenalter, müsse der junge Mensch klären, was er

nicht will und wer er ist. Wenn aber die Abgrenzung bereits in Anpassung vollbracht und die Identitätsfrage nicht beantwortet wird, wenn stattdessen die zur Ver-fügung gestellten Ich-Schablonen adaptiert werden und der Mensch also bereits im Jugendalter anfängt, seine Rente auszurechnen oder Karriereoptionen zu planen, dann prognostiziert Hantel-Quitmann im Alter von 40 keine vorgezogene Midlife-, sondern eine verspätete Reifungskrise. Schließlich antwortet der plötzlich nach-rebellierende Vierziger auf der mittleren Management-Ebene in Unternehmerseminaren auf die Frage: »Wo-von haben Sie immer schon mal geträumt?« überdurchschnittlich oft mit einem Satz wie jenem: »Mal nackt durch den Wald zu laufen ...«

Das gesamte deutsche Bildungssystem, sagt Han-tel-Quitmann, sei nicht auf Förderung von individuel-len Fähigkeiten ausgerichtet, sondern auf Selektion, um die Spreu vom Weizen zu trennen und Frühförderkar-rieren einzurichten. Der Psychologe sieht den Anpas-sungsdruck wachsen und die Zeit zur Rebellion schrumpfen. »Für alles, was wir beim Menschen an Ent-wicklung haben, brauchen wir in erster Linie Zeit. Wir brauchen Konflikte, Irrwege, Möglichkeiten zu schei-

tern, um aus diesen Erfahrungen zu lernen.« Bei der kognitiven Bildung sei dies mit intellektuellen Kon-strukten noch machbar, die emotionale Bildung aber verkümmere, obwohl genau sie in sozialen Beziehungen das Wesentliche ist. Haltung? Empathie? Eigene Ent-würfe? Fehlanzeige.

Die sozioökonomischen Strukturen reduzieren das Leben auf das Machbare, der Mensch wird geradezu erpresst: Take it or leave it; friss oder stirb! »Freiheits-räume müssen widerständig erkämpft werden, und Widerstand muss man erst lernen«, sagt Hantel-Quit-mann und empfiehlt ehrgeizigen Eltern, ihre Kinder nicht zu früh in Anpassungsprozesse hineinzuschieben, zu narzisstischen Objekten zu instrumentalisieren und sie bei jeder kleinen Verrücktheit sofort in die Therapie zu bringen – wohl wissend, dass Widerständigkeit ein Risiko für Karriere, Gehalt und Erfolg sein könnte.

Mut zum eigenen Typ zu haben heißt, Mut zu haben, sich diesen Mut zu gönnen. Es heißt, Mut zu haben, zu widersprechen und zu scheitern. Es heißt, Mut zur Neugier, Mut zum kritischen Geist und zur Absage an vorgefertigte Muster zu haben. Es heißt, Mut zu haben, vor allem eines zu sein: normal.

Wenn Ich-Schablonen adaptiert werden und der Mensch in der Jugend schon die Rente ausrechnet – dann steuert er auf eine Reifungskrise zu

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DAS GESCHUNDENE ICHWie Künstler sich selbst darstellen

Eigentlich will er doch berühmt, geachtet und be-deutend sein. Was aber tut der Maler Albrecht Dürer? Er macht sich unmöglich, er lässt sich einen Bart wachsen, über den alle spotten, sogar seine besten Freunde. Denn mit so einem Monstrum, am Kinn gestutzt, der Schnauzer üppig, laufen sonst nur ver-wahrloste Bauern herum oder irgendwelche Tölpel. Dürer aber gefällt gerade das: die Abweichung. Er will entschieden anders sein. Und so setzt er sich und seinen Bart immer wieder voller Stolz in Szene, auf mehr als 20 Bildern. Alle sollten sehen, worum es ihm geht: Ich zu sagen aus vollem Herzen.

Heute gilt Dürer vielen Kunsthistorikern als einer der Erfinder des Selbstporträts. Mitten in der Renais-sance, vor gut 500 Jahren, entdeckt der Mensch nicht nur die Welt, er beginnt auch, sich selbst neu zu erkunden. Und die Künstler treiben diese Selbsterkun-dung mit unerhörter Neugier voran. Kein Wimpern-härchen, keine Runzel soll ihnen entgehen, doch Ge-sichter nur zu spiegeln, das reicht ihnen nicht. Vor allem in ihren Selbstporträts wollen sich die Künstler auch selbst ergründen: Wer bin ich eigentlich? Wer möchte ich sein? Sie beginnen ein Spiel der Selbst-entblößung und Selbststilisierung, das noch heute, im Zeitalter der Selfies, der permanenten Identitäts-suche und Imagebildung, viele Menschen umtreibt.

Deshalb zeigen wir auf diesen Seiten lauter Selbstporträts: Es ist erhellend, manchmal auch er-schreckend, wie offen hier die Künstler und Künst-lerinnen mit sich ringen, welche Form sie finden für ihre Ideale, Träume, auch für ihre Verzweiflung. Es sind Bilder, die von der Nahbeziehung des Menschen mit sich selbst erzählen – und davon, wie eng das Bild und das Ich oft verbunden sind.

Wir sind nicht, wer wir sind, diese Erkenntnis spricht aus vielen dieser Selbstporträts. Der Mensch ist nicht ein für alle Mal, was er zu sein scheint, er löst sich auf in viele Facetten und noch mehr Projek-tionen. Er darf und er muss selbst entscheiden, welches Bild er sich von sich selber macht, welches er zeigen möchte. Und stets ist es ein Wechsel-spiel von Eindruck und Ausdruck, immer wirkt der Anschein zurück ins Innere, auf unsere Vorstellung von dem, wer wir sind.

Natürlich waren und sind Künstler auch geschick-te Selbstvermarkter. Sie verstehen sich auf Posen, auf einprägsame Gesten. Und Albrecht Dürer gilt auch in dieser Hinsicht als Pionier, kurzerhand stilisierte er seine Initialen zum Logo. Obwohl seine Selbstpor-träts ungemein authentisch und seelentreu erschei-nen, sind sie meist auch Verkaufe. Denn beides muss sich nicht ausschließen: In der Kunst zeigt sich, dass gelegentlich selbst in den Oberflächen eine tie-fere Wahrheit aufscheint.

Verwegen: Sarah Lucas, geboren 1962, prägte mit ihrer Provokationslust die Bewegung der Young British Artists. Sie

liebt das rotzige Spiel mit Frauen- und Männerrollen, gerne auch mit Spiegelei-Brüsten.

Versonnen: Als Ernst Ludwig Kirchner (1880 bis 1938) dieses Bild malt, liegt schon vieles hinter ihm: Er hatte die Künstler-

gruppe Brücke mit gegründet, war begeistert in den Ersten Welt-krieg gezogen und halb gelähmt daraus zurückgekehrt, er dachte, er würde nie wieder malen können – und doch ist es ein wunderbar heite-res Selbstporträt geworden. Alle Schrecken scheinen vergessen.

Verschwommen: Der amerikanische Fotokünst-ler Robert Mapplethorpe (1946 bis 1989) war

bekannt und berüchtigt für seinen unverhohlenen Blick auf nackte Leiber. Manche fühlten sich provo-ziert, andere waren fasziniert von seiner Direktheit. Für dieses Selbst-porträt wählte er hingegen eine andere Ästhetik: Er zeigte sich wie hinter einem Schleier aus Unschärfe, nur vier Jahre vor seinem Tod.

Verwundert: Für Gustave Courbet (1819 bis 1877), einen der wage mutigsten

Künstler des 19. Jahr hunderts, war die Malerei auch immer eine Suche nach dem wahren Ich. Mal zeigte er sich als zerfurchten Grübler oder als aufgeräumten Jüngling, mal als Rei-ter, als Prophet, Lüstling oder Märty-rer. Und immer staunt er, wie aus diesem Bild, über das eigene Selbst.

Verzagt: Sich selbst bloßzustellen, den eigenen Körper, auch seinen Verfall für alle sichtbar zu machen – die österrei-

chische Malerin Maria Lassnig (1919 bis 2014) schreckte nicht davor

zurück. Nicht das Schöne, sondern das Schonungslose interessierte sie.

Verkatert: Nicht nur war Wanda Wulz (1903 bis 1984) eine außergewöhn-liche Fotografin, sie war zum Beispiel auch Pilotin

oder Musikerin einer One-Woman Jazz Band. Und manchmal, das zeigt ihr Selbstporträt, hätte sie sich gern ein paar Schnurrhaare wachsen lassen, so wie ihr Kater Pippo, mit dessen Bild sie hier verschmilzt.

Verformt: Immer wieder hat sich Francis Bacon (1909 bis 1992), einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts, mit

zerdelltem Schädel gemalt, zer-trümmert sind Nase, Wange, Auge. Nicht das ideale, sondern das geschundene Ich begeisterte ihn, er löste sein eigenes Antlitz auf – vielleicht auch, weil er gern ein ganz anderer geworden wäre.

Verloren: Es brauchte über 20 Jahre, bis der spanische Künstler Joan Miró (1893 bis 1983) dieses Selbstbild abge-schlossen hatte. Erst

zeichnete er, dann fuhr er mit breiten Pinselstrichen darüber – und zeigte damit allen, dass sich das eigene Ich nie recht greifen lässt. Und dass es ganz schön sein kann, sich hinter Punkten und Kringeln zu verbergen.

Verkannt: Lange wusste der amerikanische Maler Chuck Close nicht, dass er unter Proso-pagnosie leidet: Es fällt

ihm schwer, Menschen an ihrem Gesicht zu erkennen. Vielleicht hat der heute 73-Jährige deshalb so viele und so riesige Porträts gemalt wie kaum ein anderer Gegenwarts-künstler. Und fast immer scheint er die Gesichter zu mikroskopieren, er zerlegt sie in lauter kleine Teilchen – als wäre Identität nur ein Puzzle spiel.Hanno Rauterberg

Page 35: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Fünftes Kapitel: Normalität

Der Mensch gilt heute nicht mehr als verhaltensauffäl-lig, wenn er Teil einer Subkultur ist, er gilt als verhal-tensauffällig, wenn er es nach einem Monat noch nicht ist. Die Uniformierung des Besonderen, die Nivel-lierung des Individualistischen, die Einverleibung des Exzentrischen in ein allumfassendes System aus Kon-sumgütern und gütigem Konsum erfolgt in immer kürzeren Abständen. Jeder ist heute ein iMensch, und kaum etwas scheint so schwierig zu sein, wie jenem Schlachtruf »Sei abweichend!« Folge zu leisten, der dem höchst erfolgreichen Romanzyklus der 25-jährigen Autorin Veronica Roth zugrunde liegt. In ihrer Science-Fiction-Teen-Story Die Bestimmung werden die Men-schen in Selbstlose, Furchtlose, Gelehrte, Freimütige und Friedfertige unterteilt, und alle 16-jährigen Bürger müssen einen Test ablegen, um zu ermitteln, für welche der fünf Frak tionen sie am besten geeignet sind.

Jeder soll anders sein. Jeder soll abweichend sein. Der Einzelne wird zur Abgrenzung gezwungen. So ist es bekanntlich nicht nur in der Literatur, und das hat freilich Konsequenzen für jede Form von Partnerschaft. Persönlichkeitspsychologe Asendorpf hat in seinen Studien festgestellt: »Die Trennungsrate hat enorm zu-genommen, und Fakt ist, dass man sich heutzutage viel leichter trennt als früher.« Aber warum? Weil das vor-nehmlich die Frauen wollen, die, statistisch betrachtet, 80 Prozent aller Trennungen initiieren, wenn ihre Er-wartungen nicht mehr erfüllt sind. Zwar trennen sich Paare heute viel schneller als früher, aber es finden sich auch viel schneller neue zusammen, was vornehmlich mit den digitalen Partnerbörsen zu tun hat. Untersu-chungen in den USA haben gezeigt, dass 50 Prozent aller Internetnutzer online Partnersuche betreiben und gut ein Drittel aller Ehen online angebahnt wird. Die Online-Partnervermittlung Parship etwa suggeriert, kritisiert Paartherapeut Hantel-Quitmann die Super-markt-Strategie des Unternehmens, »dass es im Um-kreis von 80 Kilometern 350 bessere Partner als den eigenen gebe. Das verändert die Konflikthaftigkeit von Beziehungen enorm.« Dennoch hat sich der Anteil derer, die aktuell keinen Partner haben, über die ver-gangenen zwanzig Jahre hinweg nicht signifikant ge-ändert. Und der Prozentsatz der zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Partnerschaften, hat Asen-dorpf für Deutschland festgestellt, sei erstaunlich kon-stant. Das bedeutet im Umkehrschluss einen erneuten Wertewandel: Jeder weiß mittlerweile, dass eine Bezie-hung von begrenzter Haltbarkeit ist, somit steigt aber ihr Wert. Feste Bindungen sind Mangelware, und für die jungen Leute sind stabile Partnerschaften dieser Tage viel wichtiger als früher. »Treue«, schließt Asen-dorpf, »ist ein enorm großer Wert, weil die Jungen se-hen, dass die Eltern untreu geworden sind. Da hat sich extrem viel verändert.«

Christian Schüle hat sich oft mit der Lage des zeitgenössi-schen Individuums auseinandergesetzt, zuletzt in seinem Buch »Vom Ich zum Wir«. Für die Recherche unseres Themas hat er die ganze Republik durchstreift, viel über Gelassenheit gelernt – und ist trotzdem rechtzeitig zurückgekommen. Zum Glück!

1. TEIL: GESUNDHEITWundermittel

Bewegung

Von Kopfschmerzen bis Krebs: Wissen-schaftler ent decken immer neue Heilwirkungen (ZEIT Wissen 2/2014)

2. TEIL: GELASSENHEITLebensgefährte

Stress

Nur wer ihn gut kennt, kann ihn loswerden oder zum eigenen Vorteil nutzen (ZEIT Wissen 3/2014)

3. TEIL: PERSÖNLICHKEITMit Ecken, aber

ohne Kanten?

Erfolgsstrategien zwischen Anpassung und Indi vidualität (in dieser Ausgabe)

Die vorigen Ausgaben von ZEIT Wissen können Sie bestellen unter www.zeit.de/zw-serie

SERIE

MEIN BESSERES LEBEN

Wenn man nun – wissenschaftlich legitimiert und gewiss etwas überspitzt – von Individualismus-, Glücks- und Zeitterror sprechen darf: Wie kann der Individualist von heute dann darin zufrieden werden? Sich mit sich selbst wohlfühlen? Ja zu sich sagen? Der Zeitgeist ist schon weiter und antwortet mit einem neuen Identitätsgefühl. Es geht nicht mehr um Zufriedenheit und Glück, es geht um Wohlbefinden durch Normalität. Jeder dürfe, jeder solle sein, wie er wolle, sagt Thomas Gensicke, Projektlei-ter der Shell-Jugendstudie und Sozialforscher beim In-stitut TNS Infratest in München. »Es ist aber ein Denk-fehler, zu glauben, die beste Erfolgsstrategie bestehe darin, immer dem neuesten Trend hinterherzulaufen.« Im Gegenteil. Gensicke rät zu einer Art aktiven Realis-mus nach dem Motto: In der Moderne nicht allzu mo-dern sein zu wollen. Seine Fähigkeiten richtig und ver-nünftig einzuschätzen. Sich selbst zu erkennen.

Unter Jugendlichen, ist das Ergebnis der jüngsten Jugendstudie, erlebten die oft belächelten traditionellen Werte eine Renaissance – all jene Werte also, die auf gesellschaftliche Stabilität abzielen: Gesetzestreue, Wertschätzung sicherer sozialer Verhältnisse, Anerken-nung der Leistungsgesellschaft und die Bereitschaft, sich darin einzubringen. »Die ›Generation Rebellion‹ der sechziger und siebziger Jahre hatte das Gefühl, in einer übersicheren, überregulierten Gesellschaft zu leben«, sagt Gensicke, »während die Jugend von heute eine un-sichere und unterregulierte Gesellschaft wahrnimmt.« Anders gesagt: In einer übersicheren Umgebung ist es leichter, Protest zu zeigen und auf Veränderungen zu drängen, als in einer wenig überschaubaren, in der das Gefühl vorherrscht, keine gute Perspektive zu haben. Heute seien Handlungsoptionen gefragt, die den Ein-zelnen sozial verträglich und umgänglich machten, die ihm zu kooperieren und sich in diverse Teams einzufü-gen ermöglichten – von der Familie über die Arbeitswelt bis ins Gemeinwesen. »Das Neue an der Entwicklung«, sagt Gensicke, »ist der Anspruch, dass diese Regeln auch vernünftig sein sollen, dass man sie nicht autoritätshörig zur Kenntnis nimmt, sondern hinterfragt und das Wer-tesystem jetzt bewusst bejaht.«

Es scheint, als wüchse da keine Kohorte angepass-ter Spießer und karrieregeiler Opportunisten heran, sondern eine durchaus kritische, selbstbewusste Gene-ration neuer Realisten, die aller Überspanntheit der Per-sona eine relativ gelassene Normalität entgegenstellt. Der Mut zum Normalen hält letztlich eine wunderbare Botschaft bereit: Nichts sein zu müssen, aber alles sein zu können. Normalität ist die Exzentrik von morgen – eine gute Nachricht, oder? —

Page 36: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Der erste Kanzler des Deutschen Rei-ches, Otto von Bismarck, galt als guter Esser. »Ich kann nicht ordentlich Frie-den schließen, wenn man mir nicht ordentlich zu essen und zu trinken gibt«, soll er einst gesagt haben. Das

Frühstück hat der Eiserne Kanzler der Legende nach besonders zelebriert. Sein Tisch soll reich gedeckt gewe-sen sein: mit Koteletts, Räucherfisch, Wurst, Butter und Eiern. Von Letzteren, so berichtete Bismarcks Leibarzt Ernst Schweninger, soll er an manchen Mor-gen 16 Stück vertilgt haben.

Das Sprichwort »Iss morgens wie ein Kaiser« hat Bismarck also offenbar beherzigt. Von wem dieses fol-genschwere Zitat stammt, ist nur noch schwer nachzu-vollziehen. Aber es hält sich beständig. In kaum einer anderen Esskultur genießt das Frühstück einen so hohen Stellenwert wie in der deutschen. Es gilt als die wichtigs-te Mahlzeit des Tages – eine scheinbar unumstößliche Ernährungsdoktrin. Dramen spielen sich ab, weil Müt-ter ihre Kinder nicht ohne Frühstück aus dem Haus lassen. Wer morgens nichts esse, schade regelrecht seiner Gesundheit, heißt es. Aber stimmt das wirklich? Und haben Menschen schon immer gefrühstückt?

Paläoanthropologen versuchen, die frühzeitliche Ernährung zu rekonstruieren. Ihre Spurensuche ist kompliziert, was sollte schon von urzeitlichen Speisen übrig geblieben sein? Anhaltspunkte dafür, was unsere Vorfahren aßen, liefern immerhin Überreste ihrer Kau-apparate. »Die Vielzahl verschiedener Ausbrüche am Zahnschmelz lässt vermuten, dass vor drei bis vier Mil-

Hat der Urmensch

schon gefrühstückt?

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Page 37: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

lionen Jahren vielfältiger gegessen wurde als heute«, sagt der Paläoanthropologe Ottmar Kullmer von der Sen-ckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Während Nüsse – das »Getreide der Steinzeit« – und Rinden große Ausbrüche an Zähnen verursachten, hinterließen Blätter, Gräser und andere Pflanzen nur kleine Kratzer.

Was der Urmensch gegessen hat, lässt sich also ei-nigermaßen rekonstruieren. Aber ob er gefrühstückt hat, ist schwieriger zu sagen. Wahrscheinlich ist es je-doch nicht: Forscher gehen davon aus, dass die ersten Menschen gar keine geregelten Mahlzeiten kannten. Das Leben der Jäger und Sammler diente primär der triebgesteuerten Beschaffung von Nahrung. Essen konnte, wer etwas Nahrhaftes fand. Und verzehrt wurde es auf der Stelle. Erst die Entdeckung des Feuers vor etwa 1,5 Millionen Jahren, so vermuten Paläoanthro-pologen, veränderte die Ernährungs- und Lebensweise. Die Urmenschen sammelten das Feuer aus Buschbrän-den und Blitzeinschlägen, errichteten Feuerstellen und wurden sesshaft. Ihre Nahrung vertilgten sie nicht län-ger roh auf der Pirsch, sondern garten und aßen sie im Verband. Das Essen am Feuer wurde zum sozialen Akt. Auch Mahlzeiten, ja sogar frühstücksähnliche Situatio-nen wären möglich gewesen. Aber da die Urmenschen am Tag Tiere jagten oder Früchte sammelten, halten Experten es für wahrscheinlich, dass sie vor allem abends am Wärme und Sicherheit spendenden Feuer speisten – und mit leerem Magen in den Tag starteten.

Für die Jagd waren sie dennoch gerüstet. Das be-hauptet zumindest Christoph Raschka, Allgemeinme-diziner und Sportwissenschaftler an der Universität

Das Frühstück hat eine ganz besondere Geschichte.

Denn eigentlich braucht unser Körper morgens keine Nahrung

Text Mareile Jenß

Page 38: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Würzburg. Raschkas Forschungsschwerpunkt ist die Leistungsphysiologie. Aus seiner Sicht hat das Früh-stück keinen Sinn. Er begründet seine These mit den Vorgängen im Körper bei Nacht. Während des nächt-lichen Fastens greift unser Organismus auf die kurz-fristigen Energiespeicher in Leber und Muskeln zurück. Er setzt die Hormone Cortisol und Adrenalin frei, die

Energie zum Aufstehen und Bewegen bereitstellen, und mobilisiert Glukose. Die dient im Blut als Treibstoff für die bevorstehenden Anstrengungen des Morgens. Ein evolutionsbiologischer Trick: So konnte der Urmensch – in einer Welt ohne Vorratshaltung – erst einmal auf die Pirsch gehen, um Nahrung zu beschaffen. Der Me-chanismus ist laut Raschka auch in unseren heutigen Körpern noch intakt. Insofern müssten auch wir eigent-lich nicht frühstücken.

Vielleicht haben die Menschen in einigen Ländern auch deshalb ihr Frühstück später in den Tag verlegt. In Frankreich etwa gibt es das petit déjeuner – das kleine Mittagessen. Wir brauchen das Frühstück also scheinbar nicht, warum aber essen wir es dann?

Vielleicht ist es bloß Gewöhnung. Der menschli-che Körper reagiert auf Mahlzeiten, indem Stoffwech-selprozesse angeregt werden. Im Laufe des Lebens ent-wickeln wir vermutlich eine Art antizipatorisches

Verhalten: Wenn wir von klein auf stets um sieben Uhr frühstücken, dann stellt sich unser Körper mit der Zeit darauf ein – und erwartet sein Frühstück um sieben Uhr. »Mahlzeiten können unseren Stoffwechsel kondi-tionieren«, sagt Susanne Klaus, die sich am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam mit der Physiologie des Energiestoffwechsels beschäftigt.

Hunger und Nahrungsaufnahme werden auch homöostatisch geregelt, das heißt: Sind die Speicher leer, füllen wir sie wieder auf, indem wir essen. Laut Klaus sei die Mahlzeitenrhythmik ein Faktor, der für den Blut-zuckerabfall und schließlich für die Nahrungsaufnahme entscheidend sei. Ernährungswissenschaftler sind sich zunehmend einig: Auf den Rhythmus kommt es an. »Regelmäßige Mahlzeiten sind entscheidender als die Uhrzeit«, sagt Ökotrophologin Gesa Schönberger, die unsere Esskultur erforscht. Ob wir drei oder fünf Mahl-zeiten zu uns nähmen, mache gesundheitlich keinen Unterschied. »Der Körper benötigt etwa vier bis fünf Stunden, um aufgenommene Stoffe abzubauen und neuen Bedarf anzumelden«, sagt Schönberger. Ent-scheidend ist also, dass wir regelmäßig essen. Ob wir um sieben oder um elf Uhr damit anfangen, spielt keine Rolle. Das Frühstück, wie wir es kennen, ist Schön-berger zufolge sehr stark kulturell geprägt.

Es ist das Ergebnis einer jahrtausendelangen Ent-wicklung. Nachdem der Urmensch das Feuer entdeckt hatte, dauerte es noch eine ganze Weile, bis sich die morgendliche Essgewohnheit etablierte. Das erste Früh-stück ist für rund 2500 Jahre vor Christus in Ägypten belegt. Darauf deuten Wandinschriften hin, die For-scher in der Pyramide des Unas, des letzten altägypti-schen Pharaos der 5. Dynastie, fanden. Die Texte erwäh-nen erstmalig drei Mahlzeiten. Wie ein altägyptisches

Ob wir um sieben oder um elf Uhr frühstücken, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass wir regelmäßig essen

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Page 39: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Frühstück ausgesehen haben könnte, lässt sich Listen über Opfergaben entnehmen, die in Gräbern als Teil der Dekoration angebracht wurden. Daraus geht auch her-vor, dass die alten Ägypter die erste Mahlzeit am Morgen Mundwaschung nannten, weil der Mund vorher rituell mit Wasser ausgespült wurde. Anschließend aßen sie verschiedene Arten von Gebäck und Brot, die Früchte

des Christusdornes, Erdmandeln und Feigen. Statt Kaf-fee tranken sie schon zum Frühstück Bier und Wein. Gespeist wurde auf Schilfmatten, niedrigen Sesseln oder Hockern. Die genaue Uhrzeit des Frühstücks dokumen-tierten die alten Ägypter nicht. Es muss aber schon für sie von besonderer Bedeutung gewesen sein, immerhin gab es Beamte, die eigens für das Frühstück des Pharaos zuständig waren. Unser kaiserliches Frühstück ist, streng genommen, also ein pharaonisches.

Erstaunlich, dass sich Lebensmittelfirmen und Werbeindustrie das noch nicht zunutze gemacht haben, blähen sie doch die Bedeutung des Frühstücks gehörig auf. Die Supermarktregale quellen über mit Marmelade, Müsli und Frühstückscerealien. Mit »Es lebe das Früh-stück« (Rama) oder »Zeit für Familie, Zeit fürs Früh-stück« (Hohes C) laden die Hersteller ihre Frühstücks-produkte emotional auf. Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler an der Universität Regensburg,

arbeitet auf dem Gebiet der ethnologischen Nahrungs-forschung. Fragt man ihn, wie das Frühstück hierzulan-de zu dieser Bedeutung gelangte, so macht er deutlich: »Heutzutage wird Essen vor allem auf stofflicher Ebene beurteilt. Dabei ist es in erster Linie ein sozialer Akt.« Das Frühstück werde als Ausdruck familiärer Einheit beworben: Glückliche Familien sitzen am Tisch, Mütter schenken Orangensaft ein, und Kinder löffeln ihre Cornflakes – das moderne Sinnbild eines kaiserlichen Frühstücks. »Das Frühstück vermittelt eine optimisti-sche Haltung vom Tag«, sagt Hirschfelder. Das sei auch der Grund, warum hedonistische Produkte, die dem Körper Gutes tun sollen, wie Functional Food oder Prä- und Probiotika, oftmals Frühstücksprodukte seien.

Dem Urmenschen dürfte das Frühstück, wie wir es heute pflegen, übrigens auch geschmeckt haben, zu-mindest die süßen Speisen. Unsere Vorliebe für Süßes ist nämlich angeboren und sicherte schon unseren Vor-fahren das Überleben. So hatten etwa Früchte als schnel-ler Energielieferant besondere Bedeutung in der früh-zeitlichen Ernährung. Unsere Arme und Beine sind auch deshalb so lang, weil unsere Vorfahren auf Bäumen nach ihnen greifen mussten. Einzig der Latte macchiato und die Milch im Müsli wären dem Urmenschen nicht bekommen. Die Verträglichkeit des Milchzuckers Lak-tose hat sich erst vor schätzungsweise 7500 Jahren durchgesetzt. Eines ist also sicher: Hätte der Urmensch ein Frühstück im heutigen Stil gegessen, wäre er mit gehörigen Flatulenzen auf die Jagd gegangen. —

Mareile Jenß ist Ökotrophologin und hat immer ausgiebig und sehr gerne gefrühstückt. Seit ihrer Recherche lässt sie die erste Mahlzeit des Tages aber öfter mal ausfallen – ganz ohne schlechtes Gewissen.

Die Ägypter starteten den Tag mit einer Mundwaschung, dann aßen sie Gebäck und Brot. Und statt Kaffee gab es Bier und Wein

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Page 40: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

SonnenblumenZu einem richtigen Sommer gehört auch die Helianthus annuus – in der Sprache der Blumen honoriert sie gern Mut und Fröhlichkeit

GEORDNETE VERHÄLTNISSE

10–15%mehr Sonnenenergie gewinntdie junge Blume, indem sieder Sonne folgt. Ihr Kopf dreht sich nach Westen, da der Stän-gel an der Ostseite der Pflanze tagsüber schneller wächst.Nachts wächst die westliche Seite der Pflanze stärker, der Kopf dreht sich nach Osten. Ihr französischer Name: tournesol

HaCYC2cheißt das Gen, das die be-rühmten Sonnenblumen vonVincent van Gogh zu Muta-tionen macht, haben Forscherder University of Georgia herausgefunden. Bei den Pflan-zen ist ein Genschalter gestört. Dieser sorgt eigentlich dafür, dass nur ein Kranz von Zungen-blüten den inneren Blütenkorb umgibt. Bei van Goghs Blumen wachsen diese Blüten jedoch auch an vielen Stellen, an denen sonst nur Röhrenblüten wachsen würden. HaCYC2c lässt sich auch bei Gerbera und Dahlien nachweisen

8,75 mWeltgrößte Sonnenblume, gezogen von Hans-PeterSchiffer aus Vorst, NRW

40,2 Mio. tWeltproduktion an Sonnen-blumenkernen. Marktführer:Russland und die Ukraine

Info

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ungesättigte Fettsäurenfinden sich in den Kernen, dazu vielerlei Vitamine. Kernepro Pflanze: 100 bis > 2000

90%

Jahresdurchschnittspreisevon rohem Sonnenblumenöl für die Biodieselproduktion(Euro/t). Ein sichtbarer Dämp-fer war die Finanzkrise 2009

Beliebtheit von Speiseölenin privaten deutschen Haus-halten. Insgesamt werden 192,2Mio. Liter Speiseöl verbraucht

1200

1000

800

600

400

200

0

Globaler Verbrauch von Pflanzenölen im Wirtschaftsjahr2013/14 (in Mio. Tonnen, Prognose). In den vergangenen15 Jahren hat sich der Verbrauch mehr als verdoppelt. 80 Prozent der Produktion werden im Nahrungsmittelbereich verwendet

Einkaufsmengen von Speiseöldeutscher Haushalte in Mio.Liter. Seit 2009 ist Rapsöl der Favorit. Die Nachfrage nach Sonnenblumenöl sinkt seitJahren kontinuierlich, die Nach-frage nach Pflanzenöl ist ebenfalls geringer geworden

2000 2011

Sonnenblumenöl

sonstige RapsölPflanzenöl

Olivenöl

30,7�%

17,3�%

2,8�%10,1�%

39,1�%

24

56

44

25

15

Sojaöl

Rapsöl

Palmölsonstige Pflanzenöle

Sonnen-blumenöl

40,4�%Rose

10,5�%

9,2�%

4,3�%

Chrysantheme

Tulpe

Gerbera

Sonnenblume3,6�%3,6�%

Die beliebtesten Schnittblumen 2013 in Deutschland.Auf den weiteren Plätzen: Lilie, Amaryllis, Orchidee, Freesie, Pfingstrose. Vor zehn Jahren noch in der Liste: die Nelke

Pflanzenöl

Olivenöl

80

60

40

20

0

Sonnen-blumenöl

Rapsöl

2008 2013

Page 41: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

10�000

5000

2000

1000

1

0

Anbaufläche von Sonnenblumen 2013 in der Europäischen Union (in 1000 ha, Prognose). Nach der wetterbedingten schlechterenSonnenblumenernte 2012 soll der Ertrag wieder gestiegen und die Anbaufläche um vier Prozent gewachsen sein

Öst

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Rumänien1074 Frankreich

770Spanien

829

129

Ungarn592

Bulgarien751

2284

2122

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Ital

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Anbau von Sonnenblumen (in den deutschen Bundesländern in ha). Führend ist seitvielen Jahren Brandenburg. Die Vegetationszeit der Sonnenblume: April bis September.Die Pflanzen (60000–70 000 pro ha) werden direkt auf dem Feld gedroschen

Anbaufläche von Sonnenblumen in Deutschland (in 1000 ha). Der Boom 1994 ist aufdie EU zurückzuführen: Landwirte erhielten in diesem Jahr Prämien, wenn sie Getreide-Anbauflächen stilllegten. Viele bauten daraufhin Sonnenblumen an, etwa für Biodiesel

Namen von Sorten. Botanischer Name:Helianthus annuus, vom griechischen helios (Sonne) und anthos (Blume)

American GiantDouble DandyFriedmannHohe RiesenIrish EyesRing of FireSkyscraperSonnengoldTeddy BearWolgograd

Energieausbeute. Annahmen: Wärme-bedarf eines Haushalts von 21 330 kWh pro Jahr (Heizkessel), Strombedarf von3500 kWh pro Jahr (Blockheizkraftwerk)

1 haSonnen-

blumenanbau

15�900 kmAuto fahren

1 Haushaltmit Stromversorgen

0,2Haushaltebeheizen

2010

17�000

200

100

1500

1900

1900

900

500

500

2012

17�000

500

2300

2400

800

150

100

50

1992 1996 2000 2004 2008 2012

Page 42: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Dieser Mann hat der Wissenschaft dieSmarties geklaut

Text Max Rauner

Der Forscher Diederik Stapel hat mehr als 50 Studien manipuliert, Kollegen belogen und die Psychologie blamiert. Jetzt will

er die Universitäten verändern. Was geht in seinem Kopf vor?

Page 43: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Als Diederik Stapel, nachdem er in seinem Leben ziemlich viel Mist gebaut hatte, auf den Friedhöfen von Tilburg neue Gräber aushob, hatte er endlich keine Angst mehr.

Keine Angst vor dem Tod. Keine Angst vor den Lebenden, die ihm unangenehme Fra-gen stellen könnten. Keine Angst, dass alles auffliegen und die Universität ihn rauswer-fen würde. Das hatte er nun hinter sich, im Herbst 2013, genauso wie die Psychothera-pie und den Ärger mit dem Staatsanwalt. Drei Wochen gemeinnützige Arbeit lautete der Deal mit der Justiz. Tiefer sinken als beim Gräber ausheben konnte er zu Leb-zeiten nicht mehr.

Stapel hatte überlegt, sich umzubrin-gen. Das war an jenem Tag im August 2011, nachdem ihn der Rektor der Universität Tilburg mit den Fälschungsvorwürfen kon-frontiert hatte. Anschließend raste Stapel über die Autobahn, Blinker links, Fernlicht an. Was manche Männer so machen, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet. Aber bei Vollgas gegen einen Baum fahren, das konnte er nicht. Er kehrte heim und beich-tete alles seiner Frau.

Früher riefen Journalisten bei Diede-rik Stapel an, um über seine Forschung zu berichten. Super Schlagzeilen waren das: Menschen äußern sich rassistischer, wenn sie sich in einer vermüllten Umgebung auf-halten (erforscht während eines Streiks der Müllabfuhr in Utrecht, publiziert in Sci-ence). Oder: Der Anblick eines saftigen Steaks macht Versuchspersonen aggressiver (die Nachricht wurde von Vegetariern gefei-ert). Oder: Frauen, die Schönheitsprodukte in der Werbung sehen, fühlen sich hässli-cher (dankbar aufgegriffen von Modejour-nalistinnen). Die New York Times, die Neue Zürcher Zeitung, Spiegel Online und auch ZEIT Wissen schrieben über Stapels Ex-perimente. Dass viele seiner Studien ge-fälscht waren, blieb jahrelang sein schmut-ziges Geheimnis.

Für die Wissenschaft ist der Fall Stapel eine Riesenblamage. Wie kann es sein, dass Dutzende Mitarbeiter, Doktoranden, Fach-zeitschriften und Kollegen nichts von dem Betrug gemerkt haben? In aller Welt bera-ten Ethikkommissionen nun, wie man sol-che Skandale in Zukunft verhindern kann. Das Verrückte ist, dass Stapel ihnen dabei helfen möchte.

An einem Montag im Dezember steht Diederik Stapel zum ersten Mal nach seinem Rauswurf wieder in einem Hörsaal am Red-nerpult. Ein Studentenclub der Universität Utrecht hat ihn eingeladen, rund 60 Studie-rende sind gekommen, geschlossene Gesell-schaft. Stapel sagt: »Es gibt viele Leute, die mich hier nicht sehen wollen.«

Er trägt ein verwaschenes Langarm-Polohemd, Jeans, ein geflochtenes Arm-band, seine schwarzen Haare sind etwas wuschelig. Er sieht irgendwie lässig aus, nicht wie ein gestrauchelter Dekan. Er steht aufrecht neben dem Rednerpult, in der rechten Hand ein Blatt Papier. Früher war er mal Laiendarsteller, aber den Platz an der Schauspielschule hat er abgelehnt, weil er nicht immer dasselbe spielen wollte. Seit

einem Jahr jedoch ist er festgelegt auf die immer gleiche Rolle in einer Ein-Mann-Tragödie. Steiler Aufstieg, jäher Fall, Zu-kunft ungewiss.

Von seiner Doktorarbeit in Amsterdam über seine erste Professur an der Universität Groningen bis zu seiner Entlassung als De-kan an der Universität Tilburg hat Stapel Daten erfunden und manipuliert. Die Be-trügereien flogen auf, als drei Mitarbeiter Verdacht schöpften und sich einem Profes-sor anvertrauten, der wiederum den Rektor der Universität Tilburg alarmierte. Drei Kommissionen an den Universitäten Ams-terdam, Groningen und Tilburg untersuch-ten den Fall. Sie sichteten 137 Veröffentli-chungen, an denen Stapel beteiligt war. In 25 konnten sie Manipulation nachweisen, in 30 waren Daten sogar frei erfunden wor-den. Auch 10 von 18 Doktorarbeiten, die er betreut hatte, enthielten fiktive Daten.

Nun kamen die Journalisten wieder zu ihm, aber diesmal schlichen sie um sein Haus und klopften an die Fenster: »Hallo! Ich kann Sie sehen, Professor. Ich weiß, dass Sie da sind. Hallo?« Viele Niederländer er-kennen ihn heute auf der Straße. »Een sta-peltje doen« ist zum Synonym geworden für

hochstapeln (das Wort gibt es im Nieder-ländischen nicht). Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman forderte die Sozialpsy-chologen auf, ihren Stall auszumisten. »Euer Fach ist heute das Paradebeispiel für fragwürdige Forschung in der Psychologie. Hinter dieser Forschung steht ein großes Fragezeichen, und es ist eure Verantwor-tung, es wieder loszuwerden.«

Am Rednerpult in Utrecht sagt Stapel: »Ich weiß, was ich getan habe, und ich weiß, dass es falsch war.« Er liest den Studenten einen fiktiven Brief an sein zweites Ich vor, in dem es darum geht, dass man die Wissen-schaft nicht vergöttern soll, wie er es tat – ein Plädoyer für mehr Mittelmaß und Vielsei-tigkeit. Vor allem aber will er darüber reden, wie man Wissenschaftsbetrug künftig besser vorbeugen kann.

Der Fälscher als Kronzeuge. Für viele ist das eine Provokation. »Ich würde gerne sehen, dass er etwas anderes macht, als sein Versagen zu zelebrieren«, sagt der ehemalige Rektor der Freien Universität Amsterdam Pieter Drenth, der den Fälschungsfall mit aufgeklärt hat (siehe Interview auf Seite 46).

In der Mehrzahl schweigen Forschungs-betrüger, nachdem sie überführt worden sind. Diederik Stapel redet. Nur nicht mehr mit Journalisten. Aber er und die Studenten waren einverstanden damit, dass ZEIT Wis-sen den Vortrag in Utrecht besucht. Außer-dem hat er eine Autobiografie geschrieben, die einen seltenen Einblick in die Seele eines Wissenschaftsbetrügers gewährt (Auszüge daraus drucken wir hier kursiv):

Ich saß allein in meinem schicken Büro an der Universität Groningen. Ich hatte die Tür extra gut abgeschlossen und meinen Schreibtisch aufgeräumt. Alles sollte sauber und übersichtlich sein. Kein Müll. Ich öffnete eine Tabelle, die ich gerade ausgefüllt hatte, und machte aus einer unerwarteten 2 eine 4. Und etwas weiter in der Tabelle aus einer 3 eine 5. Es fühlte sich nicht richtig an. (...) Ich ließ den Computer rechnen. Als ich die neuen Resultate sah, war die Welt wieder logisch ge-worden. Ich sah, was ich erwartet hatte. Ich war glücklich, aber ich konnte kaum hin-schauen. Ich fühlte mich erleichtert, aber auch traurig. Das war schön, aber auch sehr falsch.

Sozialpsychologen erforschen, wie das soziale Umfeld unser Handeln und Denken bestimmt. Das Stanford-Prison-Experiment

Seine Experimente machten weltweit

Schlagzeilen. Heute kennt ihn jeder nur

noch als Hochstapler

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Page 44: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

und das Milgram-Experiment sind die be-rühmtesten Beispiele dieses Fachgebiets. In Stanford wurden Freiwillige zu Sadisten, nachdem sie in einem Rollenspiel zu Ge-fängniswärtern ernannt worden waren. Und in dem Experiment des Psychologen Stanley Milgram versetzten Probanden einem Un-bekannten, der in Wirklichkeit ein Schau-spieler war, immer stärkere Stromschläge, weil der Versuchsleiter (auch ein Schau-spieler) sie dazu aufforderte. Das würde heute keine Ethikkommission mehr geneh-migen. Stattdessen befragen die Forscher Menschen auf der Straße oder testen ihre Hypothesen mit Studenten in Laborsitua-tionen und Computerexperimenten.

Um die Daten auszuwerten, brauchen sie Statistik. Und hier gibt es viele Möglich-keiten zu manipulieren. Wenn Stapel ein Experiment mit sechs Gruppen von Freiwil-ligen machte, und eine der Gruppen verhielt sich nicht so, wie erhofft, dann ignorierte er die Antworten. In der Veröffentlichung war dann eben von fünf Gruppen die Rede. Wenn die Ergebnisse eines Experiments ent-täuschend ausfielen, suchte er nach Ausrei-ßern in den Antworten und strich sie kurzer-hand aus der Tabelle.

Damit allerdings ist er nicht allein, wie eine anonyme Umfrage unter mehr als 2100 Psychologen an amerikanischen Universitä-ten zeigte: 23 Prozent haben schon mal Zahlen falsch gerundet, damit das Ergebnis als signifikant galt; 22 Prozent haben schon mal mit der Datenerhebung aufgehört, als das erwartete Resultat vorlag; 43 Prozent haben schon mal Daten verworfen, nach-dem sie berechnet hatten, wie diese Ent-scheidung das Ergebnis beeinflussen würde. All diese Verhaltensweisen können For-schungsergebnisse verzerren, sodass die Ar-beiten am Ende weniger die Wirklichkeit als die Wunschvorstellungen der Forscher wi-derspiegeln. Die meisten von ihnen waren sich darüber im Klaren, dass ihr Verhalten nicht sauber war.

Es war alles an der Grenze oder schon darüber, aber wenn frühere Studienergebnisse wirklich knapp waren, fast gut, dann mussten sie einfach wahr sein. Weil es so logisch war, so eine gute Idee. Ich war nicht der Einzige. Was ich tat, war nicht schneeweiß, aber auch nicht rabenschwarz. Es war grau, und es war gängi-ge Praxis. Wie konnten die anderen sonst so tolle Ergebnisse erzielen?

Schritt für Schritt näherte sich Stapel der Königsdisziplin des Wissenschaftsbe-trugs, dem Fälschen. In der Umfrage unter Psychologen gaben knapp zwei Prozent der Forscher zu, schon mal einen Messwert er-funden zu haben. Das erste Mal änderte Stapel nur eine »2« in eine »4«. Doch er wurde dreister. Die Fälschungen folgten ei-nem Muster. Meistens entwarf er zunächst zusammen mit einem Mitarbeiter ein seriö-ses Experiment. Sie formulierten eine plau-sible Hypothese, druckten Fragebögen und besorgten Hilfsmittel. Stapel »hatte ein gu-tes Gespür dafür, welche Themen gerade »in« waren«, schreibt die Untersuchungs-kommission. Fremdenfeindlichkeit, Mob-bing, Vorurteile, Schlankheitswahn – zu je-dem Thema, das die Öffentlichkeit bewegte,

schien dem Professor ein geniales Experi-ment einzufallen. In einem Fall ließ er das Wort »Kapitalismus« auf Tassen drucken und kaufte viele Tüten Smarties. Die Pro-banden sollten einen belanglosen Fragebo-gen ausfüllen und saßen dabei vor einem Glas mit den Süßigkeiten. Diejenigen, die dabei aus der »Kapitalismus«-Tasse trinken, würden Smarties im Übermaß essen, ver-muteten die Forscher. Für ein anderes Ex-periment kaufte Stapel Dutzende Schoko-ladenriegel, die Hälfte davon fair gehandelt. Er wollte die These überprüfen, dass Men-schen eher eine Fair-Trade-Schokolade aus-wählen, wenn sie vorher Begriffe wie »Zu-kunft« und »wir« hören. So weit, so normal. Doch dann begann die Datenerhebung. Seine Art von Datenerhebung.

Während viele Professoren diese Arbeit von Doktoranden erledigen lassen, küm-merte Stapel sich selbst darum. Er lud Fra-gebögen und Schokolade in den Kofferraum seines Autos und deponierte sie zu Hause in der Garage. Seinen Kollegen in Tilburg erzählte er, er mache die Experimente in Groningen, wo er noch eine Forschungs-gruppe betreute. Den Kollegen in Gronin-gen erzählte er dasselbe von Tilburg. Oder

er erzählte von den Schulen, zu denen er an geblich exklusiven Zugang habe, um Ex-perimente mit Schülern zu machen. Doch statt zu Schulen zu fahren oder Studenten zu befragen, saß er nachts in der Küche an seinem Laptop und füllte die Antworttabel-len selbst aus.

Die Fair-Trade-Schokolade warf er ein paar Straßen weiter in einen Müllcontainer. Die Smarties aß er selber auf. Die erfunde-nen Forschungsergebnisse wurden veröf-fentlicht. Keiner der Gutachter schien etwas zu bemerken. Besonders absurd: Die Kapi-talismus-Studie wurde von anderen For-schern wiederholt – und bestätigt.

Was logisch erschien und ausgedacht war, wurde wahr. Ich machte Menschen glücklich. Ich gab ihnen, was sie von mir erwarteten. Ich zeigte ihnen, dass die Welt logisch und vorher-sehbar war. Ich gab meinen Mitarbeitern mehr Stoff für einen besseren und schöneren Lebens-lauf, damit sie fit waren für den Arbeitsmarkt. Ich spielte Gott und konnte nur überleben, weil ich es für mich selbst behielt und stark daran glaubte. Es war alles wahr. Ich wurde noch ein-samer. Ich wurde mir selbst fremd. Ich hatte immer mehr zu verbergen und trug immer mehr Geheimnisse mit mir rum.

Stapel lud seine Studenten auch mal zu sich nach Hause ein, aber wenn sie die Ori-ginaldaten ihrer Abschlussarbeiten sehen wollten, wurde er ungemütlich. Einem Masterstudenten drohte er: Wenn du hier weiter arbeiten willst, solltest du zeigen, dass du etwas zu Ende bringen kannst. »Herr Stapel ließ keinen Zweifel daran, wann je-mand aufhören sollte, Fragen zu stellen«, schreibt die Untersuchungskommission. Nachdem Stapel diese Anschuldigungen des Berichts gelesen hatte, habe er einen Zu-sammenbruch gehabt, erzählte seine Frau später dem New York Times Magazine. Er rief seine Mutter an, wollte aus dem Fenster springen, rastete aus. Kurz darauf flog er mit seinem Bruder für eine Woche nach Buda-pest, um den Journalisten und ihrer immer gleichen Frage zu entkommen. Warum?

»Ich bin ein Verkäufer.« Langsam, aber sicher setzte sich diese Idee in meinem Kopf fest. Ich wusste, dass ich punkten musste. Ich war in die Wissenschaft gegangen, weil ich vom Inhalt fasziniert war, aber ich fand mich im-mer mehr in Situationen, in denen der Inhalt

Besonders absurd: Eine der gefälschten Studien wurde von

anderen wiederholt – und prompt bestätigt

Page 45: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

nebensächlich war (...) Ich wollte wirklich sehr gut sein. Und ich wollte in den besten Fach-zeitschriften publizieren und in den größten Sälen Vorträge halten (...) Ich wollte etwas Überweltliches schaffen. Etwas wie die großen sozialpsychologischen Erkenntnisse, die mich immer so berührt hatten, von göttlicher Klar-heit und menschlicher Einfachheit. Aber ich konnte es nicht. Ich war kein Mozart. Ich kam nicht mal nahe dran, ein Salieri zu sein.

Die Universität leide unter der Öko-nomisierung, sagt Stapel heute. Professoren müssten permanent und in vielen Häpp-chen ihre Forschungsergebnisse veröffentli-chen, sie müssten performen, und statt Forschung machten sie Marketing. Diese Kritik ist nicht falsch. In den Niederlanden werden Professoren noch stärker als in Deutschland gemessen, evaluiert und be-wertet. Für jeden verliehenen Doktortitel erhalten die Universitäten eine Prämie.

»Unser heutiges Universitätssystem ist krank, und Stapel ist ein Symptom«, bloggte der Historiker Wouter Hanegraaff von der Universität Amsterdam. Viele Akademiker würden die neoliberale Universität als stres-sig, frustrierend und demotivierend erfah-ren. Wissen sei nicht mehr das Ziel, sondern der Zweck.

Die Ironie ist, dass Stapel als Fallstudie seiner eigenen Disziplin taugt. Wurde da ein unbescholtener Forscher von seinem Um-feld zu Schandtaten getrieben? Oder haben nicht doch die Persönlichkeitspsychologen recht, wenn sie die Beweggründe jedes Ver-haltens vor allem im Charakter suchen?

Die Wahrheit liegt in der Mitte. Stapel ist das jüngste von vier Kindern. Beim Spie-len hasste er es, zu verlieren. Selbstkontrolle fiel ihm schwer. Heimlich klaute er After-Eight-Täfelchen aus dem Fach über dem Kühlschrank. Erst als die Eltern ein Schloss anbrachten, hörte er auf zu naschen. Als

Diederik Stapel Professor war, gab es nieman-den mehr, der ihm einen Riegel vorschob.

Niemand kontrollierte mich. Sie ver-trauten mir. Ich habe alles alleine gemacht. Ich war Legislative, Exekutive und Judikative zu-gleich. Ich wollte wirklich gut sein, schöne Sachen machen und viele Publikationspunkte einheimsen. Ich machte alles allein, und neben wir war das große Süßigkeitenglas, ohne Mut-ter, ohne Schloss, sogar ohne Deckel, voll bis oben hin, ich musste nur zugreifen.

In den Monaten bevor alles aufflog, ar-beitete Stapel an einem Gegenentwurf zur neoliberalen Universität. Er formulierte die Vision einer Forschungskultur, die Teams statt Einzelkämpfer belohnt und Sorgfalt statt Schnelligkeit. Das Heftchen wurde auch gedruckt, aber die Fälschungsvorwürfe ka-men dazwischen. Die Vision endete im Reiß-wolf. Heute möchte Stapel sie wiederbeleben,

Smarties kaufte Diederik Stapel für seine Probanden als Belohnung. Er aß sie selbst auf,

denn die Experimente gab es nicht

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Page 46: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Pieter Drenth hat den Wissenschaftsbetrug von Diederik Stapel mit auf-geklärt. Er leitete die Kom-mission der Universität Amsterdam, wo Stapel 1997 promoviert wurde. Drenth war Rektor der Freien

Universität Amsterdam und ist Präsident der All European Academies (Allea). Im Auftrag von Allea und der europäischen Forschungsgemeinschaft verfasste er den Verhaltenskodex für wissenschaft-liche Integrität.Professor Drenth, wie sind Sie Diederik Stapel auf die Spur gekommen? Pieter Drenth: Die Whistleblower an der Universität Tilburg haben den Anstoß gegeben, ihnen verdanken wir viel. Unsere Aufgabe in Amsterdam war es, herauszu-finden, ob Stapels Doktorarbeit einwand-frei zustande gekommen war. Es lagen keine Originaldaten mehr vor. Mein Kolle-ge Chris Klaassen hat dann mit statisti-schen Methoden berechnet, dass die Dok-torarbeit mit hoher Wahrscheinlichkeit teilweise auf manipulierten Daten beruht. Woran sieht man das?Wir Menschen sind schlecht darin, uns zufällige Zahlen auszudenken. Wenn man andere auffordert, eine zufällige Zahl zwischen 0 und 10 zu nennen, kommt fast nie eine 0 vor. In Stapels Doktorarbeit fanden wir eine Reihe solcher Unstimmig-keiten, die darauf hindeuten, dass die Daten nicht rein zufällig waren, wie man es von den Experimenten erwarten würde. Stapel lebt heute von Sozialhilfe, steht am Pranger der Öffentlichkeit und musste 120 Stunden Sozialarbeit ableisten. Ist er damit genug bestraft? Mir ging es nie um Bestrafung. Ich wollte nur dafür sorgen, dass die Sozialpsycho lo-gie von diesem ansteckenden Virus geheilt wird, das zu über 50 gefälschten Artikeln mit 70 Co-Autoren führte. Unser Bericht sollte ein Weckruf sein, aber nicht seine Existenz ruinieren. Ich freue mich für ihn, dass seine Familie bei ihm geblieben ist. Er hält Vorträge und möchte der Wissen-schaft helfen, Betrug besser vorzu-beugen. Nehmen Sie das Angebot an?

Ich würde gerne sehen, dass er etwas an-deres macht, als sein Versagen zu zele-brieren. Warum sucht er sich nicht einfach einen Job bei einer Versicherung oder in der Industrie? Vielleicht weil er keinen bekommt? Wenn die Wissenschaft Stapel jetzt reha-bi litieren würde, dann wäre das ein falsches Signal. Stapel meint, die Ökonomisierung der Universitäten befördere das Fehlverhalten in der Wissenschaft. Ja, die Unis sind ökonomisiert, und es gibt durchaus Anreize für Korruption. Aber da sind 98 Prozent Wissenschaftler, die nicht fälschen. Man ist kein wehrloses Opfer der Gesellschaft, und Stapel war es erst recht nicht.Was kann die Wissenschaft aus dem Fälschungsskandal lernen? Seit Adam und Eva gibt es Betrug, und wir werden ihn nicht aus der Welt schaffen können. Aber wir können Betrügern das Leben erschweren. Daten sollten trans-parent archiviert werden, sodass Expe ri-mente von anderen leicht wiederholt werden können. Die Wiederholung von Experimenten muss einen höheren Stellenwert bekommen, auch in Fachzeit-schriften. Alle Co-Autoren tragen volle Verantwortung für den gesamten Inhalt, außer es ist anders angegeben. Der Ombudsmann einer Universität darf nicht der Rektor sein, wie das in Tilburg der Fall war. Es geht darum, eine Kultur der Verantwortung zu schaffen. Und eine Kultur der Abschreckung?Was auch immer wir tun: Wissenschaftler sollten nicht deshalb integer sein, weil sie sich vor den Strafen fürchten. Sondern weil sie wissen, dass ihr Verhalten am Ende die Wissenschaft zerstören würde.Vor Kurzem tauchten Manipulations-vorwürfe gegen einen anderen Sozial-psychologen auf, Jens Förster ... Der Fall wird untersucht, und ich wäre voreilig, wenn ich das jetzt kommentieren würde. Försters erste Reaktion, dass es eine Art Hexenjagd auf die Sozialpsycholo-gie gebe, mag psychologisch verständlich sein, ist aber ungerechtfertigt und sicher-lich keine Entschuldigung.

aber er ist jetzt ein anderer Mensch. »Ich kann das hier nicht weiter umsonst machen«, sagt er den Studenten. »Ich lebe von Sozialhilfe.«

Dann packt er seinen Laptop ein, geht zur Straßenbahn und fährt zurück nach Tilburg. »Ich habe in Gedanken sein Leben gescannt«, sagte Stapels Frau Marcelle ein paar Wochen nachdem ihr Mann als Be-trüger entlarvt worden war, »Diederik als Vater, als mein Ehemann, mein bester Freund, der Sohn seiner Eltern, der Freund von Freunden, Bürger, Nachbar – und der Wissenschaftler. Und ich habe für mich herausgefunden, dass all diese anderen Teile okay waren. Nur Diederik und die Wissen-schaft, das war die toxische Kombination.«

Stapel hat verloren, aber vielleicht hat die Wissenschaft gewonnen. Mehr als 150 Psychologen aus aller Welt haben eine Ini-tiative gegründet, um Experimente zu wie-derholen. Mit dem Reproducibility Project wollen sie herausfinden, wie zuverlässig em-pirische Studien in der Psychologie sind – und wie sich die Dokumentation verbessern lässt. Und die Studenten reden jetzt über Ethik. Vier von ihnen sitzen nach dem Vor-trag noch in der Kneipe. »Das war sehr calvi-nistisch«, sagt Paulus. Stapel habe sein Leben als Sünder akzeptiert. Und Joost fühlt sich darin bestätigt, den Fälscher eingeladen zu haben. »Das ist wie mit Hackern«, sagt er. »Die machen eigentlich etwas Böses. Aber dann werden sie von Unternehmen angeheu-ert, um das System sicherer zu machen.«

Über Jahre hinweg habe ich langsam, aber stetig mein eigenes Grab ausgehoben. Und als ich hineinrutschte, zog ich viele Unschuldi-ge mit in die Tiefe. Meine Familie, meine Ver-wandten, meine Kollegen, meine Doktoran-den. Ich hatte mich umgebracht, aber ich war immer noch da. Leider. Kein Doktor, kein Professor, kein Dekan, kein Wissenschaftler. Nur ein Körper, der atmet. Alles, was ich mit Schweiß und Tränen aufgebaut habe, hatte sich verfangen in einem Netz aus Lügen, Fantasien und großen, tiefen, gigantischen Unwahrheiten. Ich war entgleist. —

Max Rauner erhielt von Diederik Stapel das Angebot, die englische Rohfassung der Auto-biografie einzusehen, wenn er dafür nicht schlecht über ihn schreiben würde. Rauner verzichtete. Er dankt der Journalistin Rosanne Kropman für die Hilfe beim Übersetzen der niederländischen Version (Ontsporing, Prometheus Verlag, 19 Euro).

»ES GIBT ANREIZE FÜR KORRUPTION«Betrüger wird es immer geben, sagt einer der Aufklärer, aber man kann ihnen das Leben erschweren

Page 47: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Deutschlands grüne Bank

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Page 48: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Börse Antwerpen 1888: Kathedrale der Macht

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FINANZEN

Der Preis des Geldes

Unser Umgang mit Finanzen kann uns teuer zu stehen kommen, nicht nur auf dem Konto

Text Niels Boeing Illustration Carsten Raffel

Page 49: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Börse Frankfurt 2014: Tempel der Daten

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Was genau ist Geld?

Seit Jahrtausenden sind die Menschen von Geld glei-chermaßen fasziniert und abgestoßen. Generationen von Dichtern und Denkern versuchten, seine wahre Natur zu ergründen. Die Wirtschaftswissenschaft gibt heute eine nüchterne Antwort. »Geld ist das Schmier-mittel des Tauschsystems«, heißt es im Standardlehr-buch Volkswirtschaftslehre von Paul Samuelson und William Nordhaus. Anstatt mühsam etwa Tische gegen Äpfel direkt zu tauschen, lassen sich Schreiner und Bauern Geld für beides geben. So müssen sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie viele Äpfel ein Tisch wert ist. Das ist praktisch, aber leider noch nicht alles. Geld ist nicht nur Wertmaßstab, etwa wenn ein Apfel 50 Cent und ein Tisch 300 Euro kostet. Es kann Werte auch für die Zukunft aufbewahren, indem man es erst einmal nicht ausgibt. Und es ist noch mehr: Schon Karl Marx hatte erkannt, dass Geld auch selbst eine Ware sein kann. An Devisenmärkten wird es heute als Dollar, Euro oder Yen gehandelt. Vor allem aber ist Geld im-mer auch Kredit. Es ist also immer mehr als ein Tausch-mittel. Mit seinem vielseitigen Charakter schafft es nicht nur Wohlstand, sondern auch Probleme.

Die Kaufkraft des Euro ist seit seiner Einführung 2001 deutlich gesunken

100�€

90�€

80�€

2001 2013

Kaufkraft

Page 50: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Natürlich muss niemand sein Geld in die Abholzung des Regenwalds investieren. Für Andreas Neukirch, Vorstand der GLS Bank, ist die entscheidende Frage, »mit welcher Qualität das Geld angelegt werden soll«. Wie andere alternative Banken achtet die GLS darauf, dass eine Geldanlage nicht nur nach ihrer nackten Ren-dite beurteilt wird, sondern auch nach der Transparenz, der Zukunftsorientierung und der sozialen Verantwor-tung eines Unternehmens. Die Verbraucherzentralen beraten Anleger, welche »ethisch-ökologischen« Anla-gen zu ihnen passen würden. Die schnitten hinsichtlich Risiko, Laufzeit und Liquidität nicht automatisch schlechter ab als andere Anlagen, betont Ulrike Brendel von der Verbraucherzentrale Bremen. »Es ist gerade nicht wie im Supermarkt, wo das Biogemüse teurer ist.«

Können Finanzprodukte zur Nachhaltigkeit beitragen?

Wie hängt Geld mit Nachhaltigkeit zusammen?Wer Geld für eine Tankfüllung ausgibt, unterstützt in-direkt den Klimawandel – ökologisch nicht nachhaltig. Geht Geld für ein spottbilliges T-Shirt über den Laden-tisch eines Textildiscounters, unterstützt es womöglich Kinderarbeit in Bangladesch – sozial nicht nachhaltig. Nachhaltigkeit hat aber noch eine dritte, wirtschaftli-che Seite. Wenn von »nachhaltigen Investments« die Rede ist, sollen diese über längere Zeit eine gute Ren-dite bringen. Das können auch Anlagen bei einem Ölkonzern sein, der ein neues Ölfeld im Regenwald erschließen will. Was fehlende wirtschaftliche Nach-haltigkeit noch bedeutet, wurde vielen Menschen mit Ausbruch der Finanzkrise 2008 klar: Banken krachten zusammen, und viele Geldeinlagen waren plötzlich weg. Die Banken hatten langfristige Immobilienkredite ver-geben, die sich als faul entpuppten. Das Schmiermittel Geld wurde knapp, die Weltwirtschaft taumelte.

Wie lange musste man 1950 für einen Liter Milch arbeiten und wie lange 2009?Für das Schweinekotelett musste man viel länger arbeiten, für den Kabeljau nur ein wenig länger

Bohnenkaffee (500 g)

Herrenanzug (1 St.)

Kleiderschrank (1 St.)

Fernseher (1 St.)

Mischbrot (1 kg)

Vollmilch (1 l)

Eier (10 St.)

Schweinekotelett (1 kg)

Kabeljau (1 kg)

0 1 2 3Stunden

Tage0 5 10 15

4

19502009

Können Steuern sozial, ökologisch, fair sein?

Im Prinzip ja, doch längst nicht alle sind es. »Eine Quel-le der Unfairness ist sicher die recht geringe Besteuerung von Vermögen und Erbschaften«, sagt Dorothea Schäfer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Einkommen aus Arbeit werden hingegen stär-ker besteuert. Einige Ökonomen wollen deshalb die Einkommensteuer senken und den Konsum stärker be-steuern – über eine höhere Mehrwertsteuer. »Die belastet jedoch kleine Einkommen relativ stärker«, sagt Schäfer. Klarer scheint der Fall bei Ökosteuern: Die Besteuerung etwa von Kohlestrom nutzt der Umwelt.

Page 51: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Welche Geschäftsform ist am nachhaltigsten?

Gibt es bessere Wirtschafts indikatoren als das Brutto-inlandsprodukt?Wie gut eine Volkswirtschaft dasteht, zeigt das Brutto-inlandsprodukt (BIP) – die Summe aller Dienstleis-tungen und Warenverkäufe. Leider geht auch der wenig umweltfreundliche Braunkohletagebau ins BIP ein, ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe oder Haushaltsar-beit hingegen nicht. Deshalb denken Wissenschaftler über neue Kenngrößen nach: den Nationalen Wohl-fahrtsindex, das Ökosozialprodukt oder gar das – im Himalayastaat Bhutan erfundene – Bruttonational-glück. Sie sollen Ökologie und Soziales berücksichti-gen. Wie es um beides bestellt ist, müsste aber zum Teil durch Umfragen ermittelt werden. Viel zu schwammig, schimpfen Statistiker. Dennoch räumen immer mehr Ökonomen ein, dass das BIP alleine den Zustand eines Landes nicht vollständig abbilden kann. »Wir brauchen ein ›Armaturenbrett‹ verschiedener Kenngrößen«, sagt Lars Feld, einer der fünf Wirtschaftsweisen. Die sollen nun in jeder Legislaturperiode einen Bericht vorlegen, wie Ökologie und Soziales gemessen werden könnten.

Aktiengesellschaften, die dem Shareholder-Value-Kon-zept folgen, haben nicht den besten Ruf: Um den Marktwert des Unternehmens zu erhöhen, streichen sie mitunter trotz Milliardengewinnen Jobs oder in-vestieren in ökologisch fragwürdige Geschäfte. Sind Aktiengesellschaften also wenig nachhaltig – und Ge-nossenschaften besser? Nicht automatisch, sagt GLS-Vorstand Andreas Neukirch. Für Genossenschaften spricht aber, dass sie den gegenseitigen Nutzen ihrer Mitglieder erhöhen wollen und niemanden entlassen, wenn das Geschäft gut läuft. Genossenschaften stehen dabei für personengestützte, Aktiengesellschaften für kapitalgestützte Unternehmen. »Die Nachhaltigkeit hängt aber eher vom Geschäftsmodell des jeweiligen Unternehmens ab«, sagt auch Jürgen Koppmann, Vor-stand der Umweltbank.

Trägt es zum sozialen Frieden bei, wenn

jeder sieht, was der andere verdient?

»Über Geld spricht man nicht«, lautet eine Maxime der Deutschen. Anders in Skandinavien: In Schweden wer-den seit 1766 einmal im Jahr Einkommen, Vermögen und Steuerhöhe eines jeden Bürgers veröffentlicht, in Norwegen seit 1863. Dahinter stand der Wunsch nach einem transparenten Steuersystem. Das zeigte Wir-kung: Die Steuermoral ist in beiden Ländern sehr hoch, Tricksereien sind verpönt. So kann es sich der Staat leisten, höhere Steuern zu verlangen und mehr soziale Leistungen zu finanzieren. Als Medien begannen, die Einkommenslisten im Internet und passende Analyse-Apps anzubieten, wurde den Norwegern mulmig: Seit 2011 darf nur der Staat die skattelister veröffentlichen.

Der Gini-Koeffizient zeigt die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen: 0�=�alle bekommen gleich viel, 1�=�eine Person hat alles

0,4

0,3

0,2

1985 1990 1995 2000 2005 2010

Überschuldete private Haushalte Die wichtigsten Auslöser für eine Überschuldung, gerundet in Prozent, Stand: 2011

Arbeitslosigkeit

Erkrankung, Sucht, Unfallunwirtschaftliche Haushaltsführung

gescheiterte Selbstständigkeit

gescheiterte Immobilien-finanzierung

unzureichende Art der Kredit- oder Bürgschaftsberatung

Zahlungsverpflichtungen aus Bürgschaft, Übernahme oder Mithaftung

Sonstige

Trennung, Scheidung, Tod des Partners/ der Partnerin

27

14

1211

8

4

33 18

Page 52: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Wie wirkt sich das Finanzsystem auf unseren Alltag aus?

Ist das Digitalgeld Bitcoin nachhaltig oder nerdhaltig?

24 Stunden am Tag werden an den Börsen rund um den Globus aberwitzige Summen umgesetzt. 2007, ein Jahr vor der Finanzkrise, betrug ihr Gesamtvolumen das 75-Fache des globalen BIP. Ein großer Teil davon sind rein spekulative Geschäfte zu Währungen, Börsen-indizes oder Aktienkursen, die Wetten im Casino glei-chen. Doch entkoppelt von der »Realwirtschaft« sind die Finanzmärkte damit nicht. Lösen Devisenspekula-tionen eine Währungskrise aus, die zum Absturz einer Währung führt, verteuern sich schlagartig sämtliche Importe, was die Verbraucher des betroffenen Landes bald spüren. Weil auf den Finanzmärkten enorme Ren-diten zu holen sind, beteiligen sich längst auch Banken und Industrieunternehmen daran. Das kann dazu füh-ren, dass Banken ihr Hauptgeschäft nicht mehr in Kre-diten an investitionswillige Firmen sehen, während In-dustrieunternehmen weniger in die Produktion und Arbeitsplätze investieren. Verspekuliert sich gar ein Pensionsfonds, verlieren im schlimmsten Fall Tausende von Arbeitnehmern ihre betriebliche Altersvorsorge.

Seit 2009 die ersten Bitcoins das Licht des Cyberspace erblickten, hat die Digitalwährung viel Aufsehen erregt. Optimisten sehen in ihr die Zukunft des Geldes: eine Währung, die nicht von einer Zentralbank ausgegeben, sondern elektronisch erzeugt wird, die nicht manipu-lierbar ist, deren Geldmenge durch einen Algorithmus auf 21 Millionen Bitcoins beschränkt ist und die so gegen Inflation geschützt sein soll. Ökonomen halten nichts von dem Hype. Denn Bitcoin ist nirgendwo ein gesetzliches Zahlungsmittel, in dem Steuern beglichen und Kredite zurückgezahlt werden können. Der Auf-bau des Sozialstaates gelang jedoch dadurch, dass die Industrieländer im 19. Jahrhundert den Wildwuchs verschiedener Währungen beendeten, indem sie eine zum gesetzlichen Zahlungsmittel erklärten – und damit ihre Einnahmen beträchtlich erhöhten. »Bitcoin wird deshalb das offizielle Geldsystem nicht ersetzen«, prog-nostiziert der Wirtschaftsweise Lars Feld.

Zu einem nachhaltigen Finanzsystem würden vermehrt Kredite und Geldanlagen beitragen, die in sozial- und umweltverträgliche Geschäfte fließen. »Wir fordern hierfür gesetzlich definierte Mindeststandards, die gibt es bisher nicht«, sagt Ulrike Brendel von der Verbrau-cherzentrale Bremen. Das Finanzsystem muss aber auch in sich nachhaltig sein. Kriterien hierfür hat 2013 Dorothea Schäfer vom DIW formuliert: Banken sollen selbst die Kosten tragen, die sie verursachen, und nicht mehr vom Staat gerettet werden; Banken müssen einen viel höheren Anteil an Eigenkapital vorhalten als bisher, sodass sie in Krisenzeiten widerstandsfähiger sind; sie müssen ihre Geschäfte langfristig ausrichten und glaub-würdig sein; und es muss eine Vielfalt von Banken ge-ben, ähnlich einem Ökosystem mit großer Artenviel-falt. »Ein Finanzsystem, das aus wenigen Großbanken besteht, ist weniger stabil und damit weniger nachhal-tig«, sagt Schäfer. Die Entwicklung geht in eine andere Richtung: Seit 2008 sind allein in Europa rund 500 Banken verschwunden. Andere sind zu noch größeren Banken fusioniert, um ihre Risiken zu verringern.

Wie kann das Finanz-system nachhaltig gestaltet werden?

Niels Boeing, ursprünglich Physiker, verfolgt seit Langem Geschichte und Theorie des Geldes. 2011 schrieb er in ZEIT Wissen über alternative Währungen. Er glaubt aber nicht daran, dass das Finanzsystem jemals wirklich nachhaltig sein wird.

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2013 Die Leuphana Universitätintegriert Nachhaltigkeit in den akademischen Alltag

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DAS ZEIT WISSEN-GESPRÄCH

»Wir werden die Ozeane nie verstehen«Sie brauchen keine Taucherbrille, aber schnallen Sie sich an. Der Tiefpunkt des Gespräches mit dem berühmten Meeres forscher Peter Herzig liegt bei 6000 Metern

Peter Herzig hat ein bisschen Meer vor dem Fenster: Sein Büro im Forschungsinstitut Geomar liegt an der Kieler För-de. Auf seinem Schreibtisch stehen Modellschiffchen, auf

der Fensterbank liegen riesige Muscheln, Kunststoffnachbildungen von Tiefseekrab-ben und geheimnisvolle schwarze Knollen, die entfernt an Blumenkohl erinnern. Im Laufe des Gesprächs wird er einige von ih-nen noch brauchen.

Professor Herzig, Meeresexpeditionen wa-ren mal große Abenteuer. Schiffe kenterten oder froren im Eis ein. Ist es heute noch ein Abenteuer, als Forscher zur See zu fahren?Ich bin zum Glück auch nie auf solchen Fahrten gewesen, die kurz davor waren, dass das Schiff sinkt. Ich habe auch nie ei-nen Hurrikan an Bord erlebt. Mein schlimmstes Erlebnis auf See war, dass sich ein Matrose einen Arm halb abgetrennt hat, den der Mannschaftsarzt wieder zusam-menflicken musste. Grundsätzlich ist heute eine gewisse Routine in der Forschung auf See eingekehrt. Sie hat daher nicht mehr den Abenteuercharakter wie früher. Viel-

leicht ist auch der Spaßfaktor geringer, weil man über jede Minute und jeden Euro Re-chenschaft ablegen muss.Aber stehen Sie als Wissenschaftler nicht immer noch mit Staunen vor dieser riesi-gen anderen Welt der Ozeane?Doch, mit großem Staunen. 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Meerwasser be-deckt. Und davon kennen wir – nehmen wir mal die Beschaffenheit des Meeresbo-dens – vielleicht zehn Prozent, wenn es hochkommt. Auf Expeditionen stoßen wir immer wieder auf unterseeische Berge und große Schluchten in der Tiefe, von denen wir nichts wussten. Insofern kennen wir die Ozeane kaum besser als vor 30 Jahren. Ich glaube, es wird auch in Zukunft nicht ein-fach sein, sie in ihrer Gesamtheit zu kennen oder zu verstehen. Das wird nur über auto-nome Fahrzeuge gehen, die ausschwärmen, durch die Tiefsee fahren und den Meeresbo-den kartieren. Aber letztlich werden wir nie alle Bereiche der Ozeane erfassen können.Was war Ihr erstes Erlebnis mit dem Meer?Ein Badeurlaub im belgischen Knokke.Sie stammen vom Niederrhein und haben Rohstoffgeologie studiert. Wie kommt man denn von da zur Meeresforschung?

Interview Niels Boeing und Claudia Wüstenhagen

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Ende der siebziger Jahre wurden die Schwarzen Raucher entdeckt, diese Heiß-wasserquellen am Meeresgrund. Wir haben schnell festgestellt, dass viele Erzlagerstätten an Land, etwa in Australien, Kanada oder den Vereinigten Staaten, ehemals am Grun-de von Urozeanen entstanden sind. Am Meeresboden können wir heute also beob-achten, wie neue Lagerstätten entstehen. 1983 bin ich zum ersten Mal zur See gefah-ren, auf einer 60-tägigen Forschungsfahrt zu Schwarzen Rauchern im Indischen Oze-an. Seitdem war ich von der Meeresfor-schung infiziert.Wie war diese erste Tour?Wahnsinnig aufregend. Damals war es wirklich ein Abenteuer für mich. Da war diese Euphorie, dass wir etwas Neues im Meer entdeckt haben. Überall fand man diese heißen Quellen. Was hat Sie daran so begeistert?Mit so einem Riesenschiff, mit dieser gan-zen Technologie, einer Crew von 30 See-fahrern, Steuerleuten und Matrosen und genauso vielen Wissenschaftlern an einem Thema arbeiten zu können. Schon im Stu-dium habe ich gemerkt, dass ich nicht je-mand bin, der für den Rest seines Lebens Sandsteinbänke im Ruhrkarbon zählen möchte. Ich habe dann doch mehr die Dol-larzeichen in den Augen gehabt und mir gesagt, ich möchte etwas machen, bei dem mein Wissen auch Anwendung findet. Wie wichtig wird es für die Zukunft sein, die Ozeane immer besser zu verstehen?Wir sind jetzt 7,5 Milliarden Menschen auf dem Planeten, 2050 werden es neun Milli-arden sein. Dann werden wir es uns nicht mehr leisten können, ausschließlich auf dem »30-Prozent-Planeten« der Kontinente zu leben. Wir werden auch diese 70 Prozent Erdoberfläche benötigen, um zu überleben. Die vielen Menschen werden Bedürfnisse haben, die man zum Teil aus dem Ozean decken muss. Dabei müssen wir aber eine Balance hinbekommen. Eine 100-prozenti-ge Ausbeutung der Weltmeere können wir uns nicht leisten.Wenn wir uns das Meer als Kaufhaus vor-stellen, was wäre dort im Angebot? Natürlich Nahrung – Fische, Meeresorga-nismen, Algen. In der Abteilung Energie gibt es sogenannte Gashydrate. Das ist die-ses brennende Eis, Methangas in fester Form zusammen mit Wasser. Deren Ener-gieinhalt ist, ganz konservativ abgeschätzt,

doppelt so groß wie alles, was wir an Ener-gie in Öl- und Gasvorräten an Land und im Meer zurzeit kennen. Das sind keine Pea-nuts. In der Abteilung Metallrohstoffe ha-ben wir Kupfer, Zink, Gold und Silber in den Massivsulfiden, die sich an den Schwar-zen Rauchern bilden, Nickel, Kupfer und Kobalt in den Manganknollen, aber auch Elemente wie Indium, das Sie brauchen, um Flachbildschirme zu beschichten. Und es gibt sogar Schmuck: Vor der Küste von Namibia finden Sie Diamanten in Top-Schmuckstein-Qualität. Wie kommen diese ganzen Rohstoffe überhaupt ins Meer?Zum Teil aus zerklüfteten vulkanischen Re-gionen am Grund der Ozeane. Das Meer-wasser, das unter enormem Druck steht, dringt in den Meeresboden ein, wird ein bis zwei Kilometer tief hineingepresst. Dort trifft es auf Kammern aus vulkanischer Magma, die bis zu 1200 Grad heiß ist. Das Meerwasser heizt sich auf, wird weniger dicht, steigt wieder nach oben. Dabei ver-ändert es sich chemisch zu einer aggressiven Suppe, die aus den Gesteinen Schwefel und Erze herauslöst. Tritt es an den Schwarzen Rauchern durch den Meeresboden aus und

vermischt sich mit zwei Grad kaltem Tief-seewasser, lösen sich diese Erze wieder he-raus, es bilden sich Mineralien.

Herzig steht auf und holt ein dunkles, schla-ckenartiges Gebilde von einem Nachbartisch.

Das hier ist ein Schnitt durch den Schlot eines Schwarzen Rauchers, den habe ich selbst mit einem französischen Tauchboot in der Nähe der Tonga-Inseln gepflückt. Aus dem Schlot kam eine heiße Lösung von 340 Grad raus.Wie haben Sie den abmontiert?Mit dem Greifarm des Tauchboots.Was ist das für ein schimmernder Ein-schluss hier?Das ist ein Kupfermineral, es enthält aber auch Gold. Diese Proben haben etwa 240 Gramm Gold pro Tonne Material. Zum Vergleich: An Land bauen wir heute Gold-lagerstätten ab, die zwei Gramm Gold pro Tonne haben. Wir haben hier also hoch konzentriertes Gold auf kleinstem Raum. Jetzt verstehen wir die Dollarzeichen in Ihren Augen. Aber dürfen wir da unten wirklich so weitermachen, wie wir hier auf der Erde angefangen haben? Nein. Natürlich wollen wir die Fehler, die wir im Landbergbau gemacht haben, nicht wiederholen. Wir müssen Umwelt standards einhalten. Wir werden es uns aber nicht leisten können, hundert Prozent der Meere zu schützen. Es wird immer wieder Situa-tionen geben, in denen wir Rohstoffe auch aus dem Meer gewinnen müssen. Genau wie es einen Steinbruch an Land geben muss, wird es auch Kupferminen im Meer geben. Aber ich glaube – und da ist bei mir ein gewisses Umdenken eingetreten –, dass solche Aktivitäten räumlich begrenzt sein sollten. Es müssen auch Kontrollsysteme her, die dann belegen, welche Auswirkun-gen der Bergbau hat.Wer könnte denn unabhängige Kontrol-len organisieren?Die »Lufthoheit« für den Meeresbergbau zum Beispiel vor Papua-Neuguinea – wo die kanadische Firma Nautilus Minerals jetzt erstmals Sulfiderze abbauen will – hat natürlich die Regierung von Papua-Neu-guinea. Denn das Abbaugebiet liegt in ihrer 200-Meilen-Zone, also in jener Zone, in der ein Staat das wirtschaftliche Nutzungs-recht hat. Die Regierung wird wahrschein-lich gar nichts machen. Ich kann mir aber

»2050 werden neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Sie werden Bedürf-nisse haben, die man auch aus dem Meer decken muss«

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Unter dem Meeresspiegel sterben Fische und Korallen. Doch kaum jemand sieht es. 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt – ein riesiges Ökosystem, doch dem Menschen ist es schutzlos ausgeliefert

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vorstellen, dass Firmen wie Nautilus, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit zum ersten Mal metallische Rohstoffe aus der Tiefsee holen, alles daransetzen, Um welt-stan dards einzuhalten. Was passieren kann, wenn man den Roh-stoffunternehmen vertraut, hat die Öl-katastrophe 2010 im Golf von Mexiko gezeigt. Warum sollten Goldschürfer mehr Rücksicht auf die Meere nehmen als Ölkonzerne? Einen Missbrauch der Meere kann ich nicht ausschließen, wenn nun plötzlich in Fi-dschi, Neuseeland, Tonga und in Papua-Neuguinea Firmen entstehen, weil sie Profit machen wollen. Die Meeresforschung hat die Vorarbeit ge-leistet. Haben Sie ein schlechtes Gewissen?Wir müssen jetzt behilflich sein, Standards aufzustellen und Rahmenbedingungen zu entwickeln, die einen nachhaltigen Meeres-bergbau erlauben. Aber in letzter Instanz werden Sie nicht die 200-Meilen-Zonen aller Küstenstaaten, die solche Vorkommen haben, kontrollieren können. Bei Massiv-sulfiden bleibt die Schädigung immerhin auf eine begrenzte Umgebung beschränkt, anders als bei Manganknollen.Was sind das für Gebilde – wie entstehen die eigentlich? Auf jeden Fall sehr langsam! Sie wachsen in einer Million Jahre nur ein bis drei Milli-meter.

Herzig holt drei knubbelige Gebilde von der Fensterbank und stellt sie auf den Tisch. Die Knollen sind tiefschwarz und schwer – und wie Trophäen auf Sockel montiert.

Der Bundespräsident hat seit einiger Zeit auch so eine Knolle. Man wüsste ja gerne, wo er die aufbewahrt. Haben Sie ihm die geschenkt?Ja. Er hat auch einen wunderbaren Behälter dazubekommen, der war fast schöner als die Knolle.Ehrlich gesagt, so richtig schön sind die Knollen auch wirklich nicht. Warum sind die so begehrt?Wegen der Metalle in ihrem Inneren. Die Knollen bilden sich aus ganz feinen, fluffi-gen Sedimenten. Diese häufen sich zu me-terdicken Schichten auf, die vom Wasser darüber zusammengequetscht werden. Da-bei steigen Bläschen aus den Sedimenten auf, die mit Wasser gefüllt sind und ver-

schiedene metallische Elemente enthalten: Nickel, Kupfer, Kobalt, Mangan, Eisen. Treffen die am Meeresboden auf einen Kris-tallisationskeim – etwa einen herabgesunke-nen Haifischzahn –, lagern sie sich dort ab, in vielen konzentrischen Schichten. Der ganze Spaß dauert Millionen von Jahren.Diese Knollen sind eine unglaublich lange Zeit herangewachsen. Und jetzt sollen wir sie in ein paar Jahrzehnten ernten? Ich habe einmal zwei Kisten Rotwein da-rauf gewettet, dass der Abbau gar nicht um-weltverträglich machbar ist. Und das sehe ich immer noch so. Ich stehe einem um-weltverträglichen Rohstoffabbau nicht ne-gativ gegenüber, aber es gibt Grenzen. Und für mich ist die Grenze der Manganknol-lenbergbau.Warum?Diese Knollen schwimmen quasi im Sedi-ment. Das ist nicht so wie im Watt, auf dem etwas platt draufliegt. Wenn wir früher Manganknollenfelder untersucht und nur aus Versehen mit einem Gerät den Boden berührt haben, staubte das Sediment der-maßen, dass klar war: Die nächsten Wo-chen brauchen wir hier nicht mehr hinzu-fahren, wir sehen nichts mehr. Wenn wir

anfangen, diese Knollen zu ernten, werden wir einen Staubsturm im Pazifik auslösen. Viele sagen, die Sedimente kämen irgend-wann wieder herunter. Das stimmt aber nicht, weil dort dummerweise das antarkti-sche Bodenwasser von Süden nach Norden fließt und immer wieder für Bewegung von aufgewirbeltem Sediment sorgen wird. Was hätte das für Folgen?Es würde die Atmungs- und Navigations-organe von Meeresorganismen beeinflus-sen, die in der Tiefsee unterwegs sind, wenn da immer wieder ein trüber Strom durch die Ozeane geht. Man würde diese Organis-men beeinflussen, wobei wir nicht wissen, mit welchem Ergebnis. Hinzu kommt, dass Sie beim Manganknollenbergbau nie nur Knollen fördern, sondern immer auch Sedi-ment. Und das müssen Sie wieder ins Meer einleiten. Man kann es ja schlecht an Bord der Förderschiffe lagern. Dann heißt es ger-ne, das leiten wir nahe dem Meeresboden wieder ein. Ohne Staubwolke? Das funk-tioniert alles nicht. Es würde an die hun-derttausend Jahre dauern, bis die Sedimente sich wieder abgesetzt hätten. Da helfen auch keine unterseeischen Ausgleichsflä-chen, die man in Ruhe lässt, wie es die In-ternational Seabed Authority in Kingston, Jamaika, vorschlägt.Warum interessiert man sich überhaupt jetzt wieder für die Knollen? In den siebzi-ger Jahren wollte man sie schon einmal ernten, ließ es dann aber bleiben.Der Grund ist nicht, dass es keine Landla-gerstätten von Nickel, Kupfer und Kobalt mehr gäbe, sondern dass es hier eine künst-liche Verknappung gibt. Immer mehr La-gerstätten gehören immer weniger Firmen in immer weniger Ländern. Es bilden sich also Monopole heraus. Aufgrund der Nach-frage in Asien steigt der Preis. Im Meer würde der Preis nicht steigen, wenn man sich die Rohstoffe selber holen könnte. Aber die Metallrohstoffe im Meer werden nie die Landrohstoffe ersetzen können. Der Kanadier Mark Hannington hat kürzlich vorgerechnet, dass die Gesamtmenge der Sulfiderze im Ozean etwa 600 Millionen Tonnen ist. Das ist nicht viel: 600 Millio-nen Tonnen bauen wir jedes Jahr in den Landlagerstätten ab, die ehemals am Mee-resboden gebildet wurden. Das heißt, wir reden hier nicht über Bonanzas in der Tief-see, auch nicht über die Rettung der Menschheit, aber durchaus über relevante

Peter Herzig ist Direktor des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel. Ursprünglich beschäftigte sich der rheinländische Geologe und Mineraloge mit Rohstoffen an Land. Doch das Meer mit seinen Geheimnissen und Schätzen hat ihn in den Norden gelockt. Heute beschäftigt sich Herzig unter anderem da-mit, wie man Gashydrate, Erze und andere Rohstoffe aus dem Meer nutzen kann, ohne das Ökosystem aus dem Gleichgewicht zu bringen.

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Mengen, um die Bedürfnisse der wachsen-den Bevölkerung befriedigen zu können.Wie viel Zeit haben Sie bei Ihrer Arbeit schon unter Wasser verbracht? Auf See war ich insgesamt zwei Jahre, unter Wasser immer nur für einige Stunden. Wenn ich alle Tauchgänge zusammenrech-ne, komme ich etwa auf fünf bis zehn Tage. Was war der faszinierendste Augenblick für Sie im Meer?Als ich mit dem französischen Tauchboot Nautile in einem Schwarze-Raucher-Gebiet gelandet bin und zum ersten Mal mit eige-nen Augen diese Lebenswelt gesehen habe. Da sitzen Garnelen zu Milliarden an diesen heißen Schloten. Sie haben keine Augen, sondern Temperaturfühler und tasten sich umher. Das hat gar nichts mit Rohstoffen zu tun, sondern damit, plötzlich in einem Lebensraum zu sein, den noch nie jemand gesehen hat und von dem man noch vor Jahren gar nicht wusste, dass er überhaupt existiert.Gibt es da unten Meeresungeheuer?Wenn Sie damit ganz ungewöhnliche Lebe-wesen meinen: nein. Obwohl ich erstaunt

war, in 6000 Meter Wassertiefe Oktopoden oder andere Kreaturen zu sehen.6000 Meter – ist das Ihr persönlicher Tie-fenrekord?Ja. Wenn Sie da unten sind, kommt schon ein Gefühl der Hilflosigkeit auf. Sie sitzen mit zwei Piloten in so einem Tauchboot, über Ihnen sechs Kilometer Wasser. Sie schauen aus ganz kleinen Bullaugen – je größer die Tauchboote, desto kleiner die Fenster – und landen auf einem Teil des Planeten, auf dem noch niemand war. Mit den Scheinwerfern kann man zehn oder fünfzehn Meter weit sehen. Da merkt man, wie groß und gewaltig die Ozeane sind. Da läuft einem ein Schauer über den Rücken.Ist das beklemmend?Es kann auch beklemmend sein, ja, wenn man plötzlich merkt, wie klein man als Mensch in diesem Tauchboot ist.Wie viel Platz hat man da?Das ist eine Titanhohlkugel mit zehn Zen-timeter Wandstärke und zwei Meter Durch-messer. Zu dritt muss man sich da schon ziemlich reinquetschen.Zehn Zentimeter Wandstärke?!

Sie haben in 6000 Meter Wassertiefe einen Druck von 600 Bar, das sind 600 Kilo-gramm pro Quadratzentimeter – als ob ein ganzes Auto auf die Fläche einer Briefmarke drückt. Diese Tauchboote haben im Inne-ren Aluminiumgestänge als Auskleidung. Wenn man vor dem Tauchgang zwischen Alustange und Bootswand ein Notizbuch klemmt, dann kriegt man das auf 6000 Meter Tiefe nur noch schwer wieder raus. So sehr verformen sich die Wände. Die sechs Kilometer Wasser über mir haben mich zwar nicht nervös gemacht, aber ich spürte so etwas wie Demut, dass ich Orte besuchen durfte, die noch nie jemand gese-hen hat und wahrscheinlich auch nie wie-der jemand sehen wird.Hat das Meer noch große Geheimnisse?Auf jeden Fall in der Tiefsee. Das ist the last frontier. Ich stelle mir manchmal vor, dass all die interessanten Organismen, die wir noch nicht gefunden haben, um den Scheinwerferkegel des Tauchboots schwim-men und sagen: Da gehen wir nicht hin, sonst sehen die uns.Das heißt, es gibt womöglich Kreaturen

Gewaltige Kräfte kann das Meer entfalten – und damit Küstenbewohner in Gefahr bringen. Wir Menschen werden die Ozeane niemals ganz bezwingen können, sagen Forscher. Und vielleicht ist das auch gut so

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da unten, die wir niemals kennen werden?Davon bin ich überzeugt. Es hat ja auch ewig gedauert, bis man den Quastenflosser entdeckt hat, diesen urzeitlichen Fisch, der aber nicht so tief lebt. Wie geht es dem Meer heute?Das Meer erinnert mich in mancher Hin-sicht an einen Patienten auf der Intensiv-station. Wir haben es überfischt, neunzig Prozent der großen Raubfische sind welt-weit ausgestorben. Die Biodiversität nimmt ab. Es gibt immer mehr Microplastics: win-zige Partikel aus Plastikmüll. Die Industrie verschmutzt es, dazu kommen immer wie-der Ölunfälle. Viele sagen: Die Mikroorga-nismen richten das schon wieder. Ich bin anderer Meinung. Nehmen Sie die Erwär-mung der Ozeane und ihre Versauerung durch einen steigenden CO₂-Gehalt. Sau-reres Wasser und Kalk gehen nicht gut zu-sammen. Korallenriffe lösen sich allmäh-lich auf, aber was noch schlimmer ist: Auch die Kalkschalen kleiner Mikroorganismen lösen sich auf.

Dabei ist das Volumen der Ozeane so ge-waltig, dass man meinen könnte, das Meer sei unverwundbar. Wie empfindlich ist dieses Gesamtökosystem?Das wissen wir eben nicht. Wir wissen nicht, welche Abwehrkräfte es hat. Um mal bei der Ozeanversauerung zu bleiben: Wenn diese kalkschaligen Mikroorganis-men nicht mehr da sind, könnte das Öko-system vielleicht so reagieren, dass es pazi-fikweit giftige Blaualgenblüten gibt.Wenn man im Urlaub am Strand liegt, be-kommt man von all den Problemen nichts mit, sieht man einmal von dem ange-schwemmten Plastikmüll ab.Hätte man die Katastrophe der Überfi-schung sehen können, wäre sie nicht pas-siert. Aber sie ist unter Wasser passiert. Wir sehen sie nicht. Und so fällt es leichter, ein solches Chaos anzurichten.Wie müsste ein internationales Fischerei-management dafür aussehen?Wir müssen für eine bestimmte Zeit Schutzzonen ausweisen und die Quoten

reduzieren, damit die Bestände eine Chance haben, sich zu erholen. Nachhaltig können wir es dann schon befischen, das zeigen Si-mulationen. Das müssen wir aber kontrol-lieren und auch international umsetzen. Es gibt allerdings noch ein anderes Problem: Wenn vor der Küste Mosambiks 29 Fi-scherboote auf Thunfischjagd gehen, dann gehört nur eins davon Mosambik, die ande-ren 28 kommen aus Industrieländern. Nachdem wir also unsere eigenen Meere leergefischt haben, machen wir nun bei den anderen weiter.Könnten wir nicht andere Nahrung aus dem Meer gewinnen? In dem Science-Fic-tion-Film Soylent Green gibt es zum Bei-spiel »Planktonkekse«. Plankton habe ich noch nie probiert. Aber die Grundidee, nicht nur Fisch, sondern andere Organismen zu essen, ist nicht ver-kehrt. Es gibt ja heute schon Algensalat, und in Asien essen die Menschen Quallen-salat. Fisch wird aber auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Bizarre Wesen bevölkern das Meer. Einen Rochen im flachen Wasser kann jeder sehen, aber welche Kreaturen sich unten in der Tiefsee verbergen, dort, wo niemals Licht hindringt, wissen nicht einmal Forscher genau

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Page 61: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

In welcher Sprache verständigt sich ein Wissenschaftler mit dem Meer? Das Meer spricht durch physikalische und chemische Reaktionen zu uns oder auch durch biologische Veränderung: Ihr Men-schen überdüngt die Ozeane durch Land-wirtschaft, sodass meine Organismen in mir, dem Meer, sich wunderbar vermehren, und das führt dazu, dass diese Organismen, wenn sie denn absterben, absinken und ir-gendwo dann Sauerstoff verbrauchen, wenn diese organische Substanz vergeht. Damit bilden sich riesige Zonen aus, in denen es kaum noch Sauerstoff gibt. Vor den Kap-verdischen Inseln haben wir so eine Region. Mit welchen Instrumenten belauscht die Wissenschaft die Ozeane?Mit Tiefendriftern und Bojen, aber wir müssen diese Netze ausbauen. Wir haben heute auf allen Meeren 3500 Argo-Drifter, die Sauerstoff- und Salzgehalt und neuer-dings auch die Chlorophyllmenge messen. Davon brauchten wir viel mehr, und sie müssten noch tiefer tauchen können. Mein Punkt ist, dass wir den Patienten in be-stimmten Bereichen besser überwachen müssen, wie man das auch beim Menschen macht, bei Herz oder Lunge. Ich will nicht sagen, dass die Ozeane eine große Kloake sind, aber wir müssen sie eben an neuralgi-

Niels Boeing und Claudia Wüstenhagen lieben das Meer. Er schwimmt gern vor den Kykladen, sie taucht im Roten Meer – allerdings nur 30 Meter tief. Dass Herzig schon 6000 Meter unter der Oberfläche war, hat beide beeindruckt.

»Ich will nicht sagen, dass die Ozeane eine große Kloake sind, aber wir müssen sie an neuralgischen Punkten überwachen, damit ihr Zustand nicht schlechter wird«

schen Punkten überwachen, um zu vermei-den, dass ihr Zustand noch schlimmer wird.Lassen Sie uns in Gedanken noch einmal vom Meeresgrund die Kontinentalhänge hochklettern. Dort lagern die Methanhy-drate, die Sie als mögliche Energiequelle schon erwähnt hatten. Wie weit ist man davon entfernt, sie abzubauen?Ich glaube, dass man es technisch machen könnte. Man würde dabei nur die Lager-stätten angehen, die sich in einer horizonta-len Lagerung befinden und über denen ei-nige zehn, vielleicht auch hundert Meter Sediment liegen. Das Methan wird heraus-geholt und Kohlendioxid hineingepumpt, das dann, mit Wasser vermischt, erstarrt. Das ist die Idee – die wir aber vorher gut testen müssen. Wenn das Methan nämlich unkontrolliert entweicht und durch das Wasser in die Atmosphäre gelangt, würde es als Treibhausgas pro Molekül dreißig Mal so viel Schaden anrichten wie Kohlendi-oxid. Das wäre gar nicht gut. Wenn Sie mit dem Meer oder seinen Be-wohnern einen Tag lang sprechen könn-ten, mit wem würden Sie am liebsten re-den, und was würden Sie ihn fragen? Mit Walen würde ich mich schon ganz gern mal unterhalten. Ich würde sie fragen, was wir Menschen dem Meer antun, worunter sie leiden. Ich würde schon gern wissen: Was tut euch weh? Was sind eure Probleme, die wir verursachen? Dem Meer würde ich sagen: Pass gut auf dich auf. Fehlt der hochtechnisierten Menschheit von heute die Demut vor dem Meer?Vielleicht ist Demut nicht der richtige Be-griff – eher Respekt. Ich glaube, der fehlt uns schon. Ich habe das Wochenende mit Freunden aus Kanada und Australien auf Hallig Hooge verbracht, wir haben uns Fil-me über Sturmfluten angeschaut. Da sieht man einfach unsere Grenzen. Wird der Mensch das Meer jemals so be-herrschen können wie das Land?Wir werden an bestimmten Stellen viel-leicht Dinge machen können, die wir ma-chen wollen. Aber das Meer beherrschen – das ist völlig unmöglich. —

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Page 63: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Gerda Jäker begriff nicht, warum die Pflegerin plötzlich einen Mundschutz hatte. Auch die grüne Plastikhaube, die Gummihandschuhe und den Ein-wegkittel hatte die junge Frau vorhin noch nicht getragen. »Das Labor hat

angerufen«, sagte sie nun mit ungewohnt ernster Mie-ne. »Die Ergebnisse sind da, Sie haben einen Keim in der Wunde, wir müssen Sie isolieren, es ist MRSA.«

Gerda Jäker erinnert sich noch gut an den Abend Ende März, als sie diese Dia gno se bekam. Denn danach änderte sich alles für die 80-jährige Dame mit der Querschnittsläh-mung. Ursprünglich war sie wegen zweier wunder Stellen am Gesäß – Folgeerscheinungen des ständigen Liegens – ins Krankenhaus gekom-men. Nun bereiteten ihr die Wunden nicht mehr nur leichte Schmerzen, sondern Todesangst. »Ich hatte in der Zeitung allerhand Schauergeschichten über diesen Keim gelesen«, erinnert sie sich. »Ich dachte, jetzt endet alles und ich sterbe – ich habe drei Tage nur geweint.«

Jäker hat die Infektion überlebt, doch von einer Heilung ist sie noch immer weit entfernt. Seit Wochen liegt sie in ihrem Einzelzimmer, in dem es immer leicht nach Des infek tions mit tel riecht. »Ich fühle mich wie im Gefängnis«, sagt sie. Alles, was sie berührt, muss sofort sterilisiert oder entsorgt werden. Jeder, der ihr Zimmer betreten möchte, muss sich zunächst in Schutzkleidung hüllen. Selbst ihren Mann, ihre Töchter und ihre Enkel bekommt Jäker niemals unvermummt zu Gesicht.

Wann Jäker wieder entlassen werden kann, wissen die Ärzte nicht. Die Wunden müssen erst keimfrei sein.

Hier liegt das Problem: MRSA (die Abkürzung steht für Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) lässt sich nicht so leicht ausmerzen. Es gibt kaum noch Antibio-tika, die gegen den Keim etwas ausrichten können.

Unheilbare Infektionskrankheiten, ratlose Medi-ziner – das erinnert an Vorkriegszeiten, an düstere Ka-pitel unserer Geschichte, als der Mensch Bakterien hilflos ausgeliefert war. Dank Antibiotika wähnen wir uns heute auf der erfolgreichen Seite im Kampf gegen

die Keime. Doch das ist eine ge-waltige Fehleinschätzung: Eine Stu-die der Welt ge sund heits orga ni sa-tion (WHO) ergab jüngst, dass sich auf der ganzen Welt immer mehr resistente Keime ausbreiten, gegen die Antibiotika nicht mehr wirken. »Eine postantibiotische Ära, in der verbreitete Infekte und harmlose Verletzungen wieder tödlich sein können, ist eine sehr reale Möglich-

keit für das 21. Jahrhundert«, warnte die WHO. Doch Geschichten wie die von Gerda Jäker zeigen: Das post-an ti bi o ti sche Zeitalter hat schon längst begonnen. In der Europäischen Union erliegen Schätzungen zufolge jährlich mehr als 25 000 Menschen den Folgen einer In fek tion mit resistenten Bakterien. Und bald könnten wir endgültig mit leeren Händen dastehen.

Was tun wir ohne Antibiotika? Mit dieser Frage beschäftigen sich Menschen auf der ganzen Welt, sie ist zu einer der entscheidenden der gesamten Menschheit geworden. In ihren Laboren tüfteln Forscher an Alter-nativen zu herkömmlichen Bakterienkillern. Ihre Ideen sind mal vielversprechend, mal realitätsfern – und mal auch etwas ekelhaft. Aber sie vereint eine gemeinsame Vi sion: von einer Medizin, die ohne traditionelle Anti-

Eine Hoffnung namens Pathoblocker

Text Lydia Klöckner Illustration Michael Paukner

Antibiotika können den Siegeszug der Bakterien nicht mehr aufhalten. Das Prinzip Töten hat ausgedient. Forscher

entwickeln deswegen ganz neue Methoden zur Verteidigung

Das Zeitalter ohne wirksame Antibiotika hat längst begonnen.

Wir dürfen nicht wehrlos dastehen

Page 64: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

biotika auskommt. Von Therapien, die sogar gegen multiresistente Bakterien helfen – ohne neue Resisten-zen hervorzurufen. Dafür gehen sie ganz neue Wege. So wollen sie die Keime zum Beispiel nicht mehr abtöten – was lange Zeit als Ideallösung galt.

Die Fähigkeit zur Resistenz ist für Bakterien eine Art Geheimwaffe. Dabei nutzen sie eine Schwäche aus: Selbst aggressive Antibiotika töten nie alle Keime ab, sondern nur etwa 99 Prozent. Meist überlebt eine kleine Gruppe von Außenseitern: Man kann sie sich vorstellen als ein widerständisches gallisches Dörfchen. Sie haben zwar keinen Zaubertrank, aber besondere genetische Eigenschaften, die ihnen die Fähigkeit verleihen, Anti-biotika abzuwehren. Dieses übrig gebliebene, resistente Grüppchen von Bakterien erhält plötzlich jede Menge Platz, weil das Antibiotikum ihnen die Konkurrenz vom Leibe schafft. Das gallische Dörfchen wächst zur Millionenmetropole heran, und die Keime können ihre Resistenzgene – die Teile ihres Erbguts, die sie gegen-über Antibiotika unempfindlich machen – über spezielle Transport-mechanismen an benachbarte Kolo-nien und sogar andere Arten weiter-geben. So fördern Antibiotika nicht nur die Vermehrung resistenter Bakterien, sondern auch die Ausbreitung der Resisten-zen selbst. Wo viele Antibiotika zum Einsatz kommen, etwa in der Tiermast und in Krankenhäusern, werden resistente Keime also geradezu gezüchtet. Höchste Zeit, umzudenken. Wenn Antibiotika nicht mehr wirken, brauchen wir originellere Behandlungsmethoden.

Eine davon ist eine neue Therapie gegen den Durch-fallkeim Clostridium difficile. Er befällt meist Menschen, deren natürliche Darmflora geschwächt ist, etwa durch eine vorangegangene Antibiotikatherapie. Mangelt es an gutartigen Bakterienstämmen, können sich schädliche Clostridien leichter ausbreiten. Hier setzt die neue Me-thode an: Die Patienten erhalten »Stuhlspenden« – kleine Portionen von Fäkalien von gesunden Verwandten, in denen sich vor allem gute Bakterien tummeln. Sie werden in den entzündeten Darm geschleust. Geht alles gut, eta-blie ren sich die neuen Bakterienstämme in ihrer neuen Umgebung und machen den Clostridien Konkurrenz.

Die Methode mag abstoßend klingen, doch die Erfolge sprechen für sich. Die erste klinische Studie führte die Medizinerin Els van Nood mit ihrem Team vor etwa einem Jahr an der Universität Amsterdam durch. Die Forscher teilten 29 an Clostridien erkrankte Menschen nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zu: 16 von ihnen erhielten Fäkalien von Ver-wandten, den restlichen 13 verabreichten die Ärzte das Antibiotikum Vancomycin. Die Ergebnisse waren so spektakulär, dass die Mediziner die Studie abbrechen mussten: Aus der Stuhlspendengruppe erholten sich 15 der Probanden binnen weniger Tage. Vancomycin ver-half dagegen nur 4 von 13 Studienteilnehmern aus der Kontrollgruppe zur Genesung. Die Fäkalientherapie erwies sich als so wirksam, dass es geradezu unethisch

gewesen wäre, sie den anderen Pa-tienten zu verwehren.

Die Aussagekraft der Studie ist begrenzt, allein wegen der niedrigen Probandenzahl. Trotzdem ist die an-fangs als »Ekeltherapie« verspottete Heilmethode heute so anerkannt, dass immer mehr Kliniken sie durch-führen. Es könnte sie künftig sogar als Pille geben: Kanadische Forscher haben spezielle Gelatinekapseln ent-wickelt, mit denen die Fäkalbakte-

rien in den Darm geschleust werden können. Leider sind die Anwendungsgebiete begrenzt. Das Prinzip, böse Keime mit guten zu verdrängen, kann zwar durch-aus auch gegen andere Krankheiten helfen – Wundent-zündungen zum Beispiel –, aber eben nicht gegen alle.

»Die eine neue Wundermedizin, die Antibiotika ein für alle Mal ablöst, wird es wohl nie geben«, sagt Winfried Kern, bis 2013 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie und derzeitiger Sprecher der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Fachgesell-schaften in der Infektionsmedizin. »Aber vielleicht viele unterschiedliche Therapieformen, mit denen man gezielter gegen die krank machende Wirkung verschie-dener Bakterien vorgehen kann.« Spezifität sei das Zauberwort des post anti bio ti schen Zeitalters – für jede Krankheit eine maßgeschneiderte Therapie. Dazu müsste man die Infektionserreger und ihre Auswirkun-gen auf den Körper aber noch besser kennenlernen.

Auf Spezifität setzen:Für jede Krankheit eine maßgeschnei-

derte Therapie – das ist die Zukunft

Mit unkonventionellen Methoden gehen Forscher inzwischen gegen Bakterien vor. Sie entwickeln neue Möglichkeiten ge-gen einen Feind, der immer stärker wird. Nanoschwämmchen haben eine Ober-fläche, die der eines roten Blutkörperchens ähnelt. Daher fangen sie Bakterientoxine ab, die normalerweise die Blutkörperchen angegriffen hätten.

Sogenannte Adhäsionshemmer verhin-dern, dass sich Bakterien an mensch lichem Gewebe wie dem der Blase verankern können – etwa indem sie die Funktion der Pili, kleinen haarähnlichen Fortsätze, ein-schränken. Dadurch, dass sich die Keime nicht mehr »festhalten« können, werden sie schneller fortgeschwemmt und können kein Unheil anrichten.

Mit Galliumionen nutzen Forscher das Prinzip der Täuschung. Die Galliumionen werden von der Biochemie des Bakteri-ums (den »Siderophoren«) mit Eisenionen verwechselt. Die Siderophoren können kein Eisen mehr in die Bakterien schaufeln, welches sie aber brauchten, um zu wachsen und Energie zu gewinnen. Die Bakterien werden dadurch lahmgelegt.

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NANO-SCHWÄMMCHEN

ANTI-BIOTIKUM

ADHÄSIONS-HEMMER

GALLIUM-IONEN

BAKTERIEN-KOLONIE

Eisenion

Sidero-phore

Der neue Weg Mittel wie Galliumionen oder Nanoschwämm-chen sollen Bakterien nicht mehr abtöten, sondern die schädlichen Folgen einer Infektion ab schwächen. Will-kommener Nebeneffekt: Die Keime bilden keine Resistenzen mehr und sind deshalb auch auf Dauer gut zu beherrschen

Der alte WegDie vielen verschiedenen Antibiotika haben meist ein Ziel: Bakterien (gegen Viren wirken sie nicht) zu töten und komplett zu vernichten. Doch das gelingt fast nie ganz: Etwa ein Prozent einer Bakte-rienkolonie überlebt den Angriff – und bildet damit den Augangspunkt für Resistenzen

mit

mitmit

ohne

ohneohne

totes rotesBlutkörperchen

totes Bakterium

Toxin

Gewebe

rotesBlutkörperchen

Page 66: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Wie genau machen sie uns krank? Warum schaden sie uns? Je besser man das weiß, desto gezielter kann man sie unschädlich machen – sogar ohne sie töten zu müs-sen. Wenn man Bakterien ihrer Waffen berauben könn-te, hätte unser Immunsystem bessere Chancen, mit ihnen fertigzuwerden. Bisher zielten Therapien aber vor allem darauf ab, sie möglichst schnell und groß-flächig auszumerzen.

Neuere Ansätze richten sich nicht gegen die Erreger selbst, sondern vor allem gegen ihre schädlichen Eigen-schaften. Hinter diesem Prinzip steckt eine ganz neue Denkweise: Die krank machenden Prozesse, die sie in unserem Körper lostreten, rücken nun ins Blickfeld, und es werden Wirkstoffe entwickelt, die diesen Prozessen entgegenwirken könnten, sogenannte Pathoblocker. Etwa gegen Bakterien mit dem Namen Pseudomonas aeruginosa. Diese Keime schaden vor allem durch die Absonderung eines Stoffs namens Pyocyanin, der unser Gewebe angreift. Bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem kann das Bakterium Lungenentzündun-

gen, Wundinfektionen und Blutvergiftungen hervor-rufen. Die Erreger produzieren das Gift allerdings nur als Gruppe, in der sie sich über chemische Si gna le mit-ein an der verständigen. So können sie als Gemeinschaft agieren und mit vereinter Kraft einen Angriff starten. Um den abzuwenden, müsste man die Kolonie also am Kommunizieren hindern. Genau das gelang kürzlich Wissenschaftlern vom Helmholtz-Institut für Pharma-zeutische Forschung im Saarland. Sie entwickelten einen Wirkstoff, der den Bakterien quasi den Briefkas-ten zuklebt, ihre Kommunikation so unterbricht und verhindert, dass sie einen Angriff aushecken können.

Im Labor ging der Plan auf: Bakterienkolonien, denen die Forscher den Wirkstoff verabreicht hatten, produzierten tatsächlich weniger giftiges Pyocyanin. Auch erhöhte der Klebstoff die Überlebensrate von Larven und Würmern, die mit Pseudomonas infiziert waren. Zwar lassen sich Erfolge aus Tierversuchen nie ohne Weiteres auf den Menschen übertragen – schon gar nicht, wenn es sich bei den Tieren um Larven han-

Anteil der gefürchteten MRSA-Keime in Bakterienabstrichen europäischer Labors. Länder mit strengen Auflagen haben den Keim unter Kontrolle

EUROPAKARTE DER RESISTENZEN

IS(1,7�%)

IE(23�%) UK

(14�%)

BE(17�%)

NL(1,3�%)

LU(15�%)

FR(19�%)

ES(24�%)

PT(54 %)

DK(1,3�%)

NO(1,3�%) SE

(< 1�%)

FI(2,1�%)

EE(8�%)

LV(9�%)

LT (10�%)

PL(29�%)

CZ(13�%)

DE(15�%)

SK(22�%)

AT(8�%)

SI(10�%)

IT(35�%)

HR(21�%)

HU(25�%)

RO(53�%)

BG(20�%)

GR(41�%)

CY(35�%)

MT(47�%)

Page 67: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

delt. Interessant ist der Ansatz dennoch. »Im Gegensatz zu Antibiotika greift unser Wirkstoff nicht in lebens-wichtige Stoffwechselwege der Bakterien ein, sondern blockiert deren Pathogenität«, erklärt Rolf Hartmann vom Helmholtz-Institut. Das Mittel tötet die Bakte-rien also nicht und verschafft mutierten, resistenten Keimen so auch keinen Vorteil. Anders ein Antibioti-kum: Es würde einen Großteil der Kolonie ausrotten und dadurch den resistenten Keimen bessere Bedin-gungen bieten.

Auch der Biologe Rolf Kümmerli forscht mit seiner Arbeitsgruppe an der Universität Zürich an Möglich-keiten, Infektionen zu bekämpfen, ohne Bakterien zu töten. Sie wollen die Keime am Wachstum hindern, indem sie sie davon abhalten, Eisen aufzunehmen. Das benötigen sie nämlich zum Wachstum und zur Ener-giegewinnung. Pseudomonas aeruginosa setzen soge-nannte Siderophore – griechisch für »Eisenträger« – frei, mit denen sie sich Eisenteilchen außerhalb der Zelle angeln und sie aufnehmen können.

Mit einem Trick gelang es den Forschern, die Side-rophore lahmzulegen: Sie verabreichten den Bakterien Gallium, ein Metall, das Eisen ähnelt. Anstelle des Eisens nahmen die Siderophore nun Gallium auf – was die Bakterien daran hinderte, zu wachsen. Und wenn Keime nicht weiterwachsen, schaden sie ihrem Wirt weniger.

Zwar wirken auch einige Antibiotika auf diese Weise. Dennoch bezweifelt Kümmerli, dass Bakterien irgendwann Resistenzen gegen Gallium entwickeln, weil die meisten bekannten Resistenzmechanismen sich nur gegen Wirkstoffe richten, die in die Bakterienzelle hineingelangen. Manche Keime haben etwa spezielle Pumpen in ihrer Hülle, die Antibiotika zurück in die Um gebung schleusen. »Wenn man Gallium richtig dosiert, gelangt es aber gar nicht erst ins Innere der Bakterien, sondern wirkt von außen. Es kann also auch nicht hinausgeschleust werden«, so der Forscher. Die richtige Dosierung zu finden sei allerdings nicht einfach.

Von der Marktreife ist Kümmerlis Idee noch weit entfernt. Zudem existieren neben Pseudomonaden noch Tausende andere Keime, die uns Menschen auf verschiedenste Art und Weise krank machen können. Brauchen wir also wirklich gegen jeden Keim eine ei-gene, maßgeschneiderte Kampfstrategie? Nicht unbe-dingt. Eine Gruppe von Ingenieuren hat eine Methode entwickelt, die zumindest gegen mehrere verschiedene Infektionen helfen könnte: Sie bastelten im Labor schwamm ähn li che Kügelchen aus Nanopartikeln, die Toxine der Erreger Staphylokokken und Streptokokken gewissermaßen aufsaugen können. Die Gifte dieser Bakterienarten löchern die Hüllen unserer Blutzellen und zerstören sie auf diese Weise.

Genau diese Angriffstaktik machten sich die For-scher für das Design der Nanoteilchen zunutze: Sie überzogen sie mit Zellhüllen roter Blutkörperchen. An-schließend spritzten sie die verkleideten Partikel in die

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Page 68: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Blutbahn von Mäusen und verabreichten ihnen dann eine tödliche Dosis des Bakteriengiftes. Tatsächlich fielen die Giftteilchen auf den Trick herein: Sie bohrten sich in die Hüllen der als Blutkörperchen getarnten Kügelchen. Dank der Nanoteilchen überstanden fast 90 Prozent der Labormäuse die letale Giftdosis. Als die Ingenieure den Mäusen die Schwämmchen erst nach dem Toxin spritzten, überlebte immerhin noch knapp die Hälfte. Nach 40 Stunden war im Blut der überleben-den Nager nur noch etwa die Hälfte der Nanoschwämm-chen übrig geblieben. Ihr Körper hatte also nicht nur die Kügelchen, sondern auch die Gifte abgebaut – of-fenbar ohne dabei selbst Schaden zu nehmen. »Das Be-sondere an dieser Methode ist, dass sie auch multiresis-tente Erreger ungefährlich machen könnte«, sagt einer der Erfinder, Liangfang Zhang. »Außerdem kann man damit ein breites Spektrum von Bakteriengif-ten neutralisieren.«

Gegen Erreger, die uns schon durch ihre bloße Anwesenheit scha-den, hilft diese Methode natürlich nicht. Wenn etwa Darmbakterien unsere Harnwege und Nieren über-schwemmen, verursachen sie eine schmerzhafte Entzündung – einfach weil sie dort nicht hingehören. Um die Infektion zu heilen, muss man die Erreger also be-seitigen – aber nicht unbedingt töten: Die schwedische Chemikerin Anette Svensson hat Stoffe entdeckt, die die Keime der Fähigkeit berauben, sich in der Blasenschleim-haut festzusetzen. Sie und ihre Mitarbeiter fanden he-raus, dass bestimmte Stoffe Bakterien daran hindern können, sogenannte Pili auszubilden. Das sind haar ähn-liche Anhängsel, mit denen sich die Keime an Wirtszellen verankern. Wenn sich die Erreger nicht festhalten kön-nen, werden sie mit dem Urin wieder ausgeschwemmt. Das zeigte ein Experiment mit infizierten Mäusen.

Ins Apothekenregal haben es diese Wirkstoffe bis-lang nicht geschafft, ebenso wenig wie die Nano-schwämmchen und andere Pathoblocker. Noch steht etwa der Beweis aus, dass sie auch Menschen helfen können. Es müsse außerdem geklärt werden, ob sie auch bei einer ausgebrochenen Infektion wirken, sagt Mark Brönstrup vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsfor-schung in Braunschweig. Zudem könne die Spezifität vieler Pathoblocker – also dass sie genau auf eine Erre-gergattung zugeschnitten sind – eine Schwäche dar-stellen: »Um den richtigen Wirkstoff einsetzen zu kön-nen, muss der Arzt zunächst wissen, welche Bakterienart hinter der In fek tion steckt. Das setzt eine sehr genaue Dia gnos tik voraus, die Zeit kostet.« Bei einer akuten lebensbedrohlichen In fek tion sei ein Breitbandantibio-tikum unter Umständen die sicherere Alternative.

Der Biologe Jörg Hacker, Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, schreibt den

Pathoblockern aber durchaus Zukunftspotenzial zu: »Der Ansatz ist vielversprechend, und ich halte es für wichtig, ihn weiterzuverfolgen.« Große Hoffnung setzt er zudem in sogenannte wirtsbasierte Therapien, die ebenfalls nicht direkt den Krankheitserreger bekämpfen, sondern statt-dessen das Immunsystem des Erkrankten aktivieren. Das bekannteste Beispiel ist die klassische Impfung. Eine neuere Form der Immuntherapie, die auch gegen resis-tente Erreger helfen könnte, beschrieb kürzlich eine Forschergruppe um den Immunologen Wilhelm Schwae-ble von der Universität Leicester. Sie kreierte mit gentech-nischen Mitteln eine besonders aktive Variante des natür-lichen Blut ei wei ßes Properdin, das dafür zuständig ist, unsere körpereigene Abwehr in Gang zu setzen. Um den Schutzeffekt des Eiweißes zu verstärken, erschuf das

Forscherteam im Labor eine aktivere Version. Bei Labormäusen zeigte es eine sehr gute Wirkung gegen töd-liche Meningokokkenkeime.

»Eine septische Meningokok-keninfektion führt beim Menschen unbehandelt zu einer Sterblichkeit von bis zu 40 Prozent. Und selbst nach optimaler Behandlung mit An-tibiotika liegt die Sterblichkeitsrate von Patienten mit septischem Schock bei zehn Prozent, also noch inakzep-

tabel hoch«, sagt Schwaeble. Denn Antibiotika töten zwar die Bakterien ab, diese setzen dabei jedoch ihre giftigen Bestandteile frei. »Der größte Vorteil unserer Therapie ist, dass im Zuge der durch das künstlich her-gestellte Properdin aktivierten, natürlichen Immunant-wort auch die giftigen Keimteilchen unschädlich gemacht werden«, sagt Schwaeble. Er und sein Team planen wei-tere Experimente mit anderen Krankheitserregern, auch mit MRSA. »Da Properdin ganz anders wirkt als Anti-biotika, sehe ich keinen Grund, warum es nicht auch gegen resistente Erreger wirken sollte«, sagt er. Aber erst in vier bis fünf Jahren sind Tests am Menschen geplant.

Es ist zwar möglich, dass Properdin sich als unwirk-sam entpuppt oder unerwünschte Wirkungen zeigt. Die Gefahr besteht bei den meisten neuartigen Behandlungs-methoden. Dennoch könnten die neuen Ideen eine Grundlage für zukünftige Therapien liefern. »Wir wer-den vielleicht nie ganz ohne Antibiotika auskommen, und wir brauchen dringend neue antibiotische Stoff-klassen – aber es ist auch an der Zeit, dass die Forschung ausgetretene Pfade verlässt«, sagt Leopoldina-Präsident Jörg Hacker. Und dann kann vielleicht auch Menschen wie Gerda Jäker geholfen werden. —

Lydia Klöckner musste ihre Einstellung zur Psychologie über-denken, als sie Folgendes in einer Studie las: »Führt man eine Stuhltransplantation bei einer Maus durch, übernimmt sie die Charaktereigenschaften der Spendermaus.« Ein Teil der Per-sönlichkeit steckt also wohl im Stuhl – zumindest bei Mäusen.

Es ist an der Zeit, ausgetretene Pfade

zu verlassen: Bakterien nicht töten, sondern entwaffnen

Page 69: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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Page 70: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

EKEL(RATTEN, HUNDESCHEISSE, VERFAULTES FLEISCH, KOTZE, MÜLL, PICKEL, EITER, SCHWEISS, SCHLEIM)

Valerie Curtis zieht einen Hun-dehaufen aus ihrer Tasche und reicht ihn ins Publikum. Eine Ratte hat sie auch dabei, einen alten Kaugummi und eine Rei-he blutverschmierter Zähne.

Im Theatersaal des Winchester College plaudert die Forscherin an diesem Abend über »Scheiße« und »Kacke«, über Durch-fall und Latrinen. Curtis, 55 Jahre alt und Professorin an der London School of Hy-giene and Tropical Medicine, verfolgt ein großes Ziel: Sie möchte mit Forschung über das Ekelgefühl die Welt verbessern. Die Anthropologin und Epidemiologin führt seit Jahrzehnten weltweit Studien

über das Ekelgefühl und das Hygienever-halten des Menschen durch, in Burkina Faso zum Beispiel, Nepal und Kirgisistan. Sie gehört zu den führenden Köpfen der Ekelforschung.

Die hoch gewachsene Forscherin läuft in flachen Schuhen vor den Schülern des Internats hin und her. Was sie besonders anwidere, möchte sie von ihnen wissen. »Verschimmeltes Essen«, antwortet ein Jun-ge. »Körpergeruch«, erwidert ein anderer. Curtis nickt, ein Beamer wirft Fotos an die Wand, die sie vor drei Jahren für eine On-linebefragung unter 2500 Menschen ver-wendet hat: Sie zeigen feuchte Wunden, die bei den Befragten größeren Ekel hervor-

riefen als trockene. Eine U-Bahn voller Menschen, die die Teilnehmer der Umfrage abstoßender fanden als eine leere. Und einen Mann mit Fiebersymptomen, der als ekeliger bewertet wurde als derselbe Mann ohne Krankheitszeichen.

Curtis erklärt den Schülern den Hauptgrund, warum die Befragten so rea-gierten: »Ekel schützt uns vor Infektionen« – was der Mensch ekelhaft finde, sei zumeist auch eine gefährliche Infektionsquelle, das heißt: Wenn uns etwas anwidert, weichen wir automatisch davor zurück. So verhin-dert Ekel, dass wir überhaupt mit Keimen in Kontakt kommen. Den Zusammenhang hat Curtis vor 16 Jahren erkannt – und da-

Porträt einer Wissenschaftlerin, die sich seit 25 Jahren um unsere Hygiene sorgt

und die Ekel-ForscherinVALERIE CURTIS

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Text Astrid Viciano

Page 71: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

WEISHEIT(ERFAHRUNG, INTELLIGENZ, KLUGHEIT, ALTER, ERINNERUNG,

ENTSCHEIDUNG, NEUGIER, INTUITION, ERKENNTNIS)

Sie hat die Strukturen unseres emotionalen Wohlbefindens er-forscht, Lebensläufe analysiert und über die Entwicklung le-benspragmatischer Kompetenz im Erwachsenenalter habilitiert.

Seit 14 Jahren beschäftigt sich Ute Kunz-mann, Professorin für Entwicklungspsycho-logie an der Universität Leipzig, mit Weis-heit. »Traditionell versuchen sich eher die Philosophen dem Begriff zu nähern«, sagt die 49-Jährige, doch auch die Psychologie habe zu dem Thema einiges zu sagen. Kein Wunder, schließlich »ist Weisheit wohl das Höchste, was die Menschheit im Laufe ihrer kulturellen Evo lu tion hervorgebracht hat«.

Frau Kunzmann, gibt es für Sie persönlich einen Menschen, den Sie weise finden? Nein, zumindest nicht absolut weise. Men-schen sind fehlbar. Vollkommene Weisheit ist ein Ideal, das wir nicht in einem einzigen Menschen finden werden. Kann nur weise sein, wer große Taten voll-bringt wie Gandhi oder Mandela?Nein, man kann auch in ganz alltäglichen Dingen weise sein. Und wir sind auch nicht ganz oder gar nicht weise. Unsere Forschung basiert auf der Annahme, dass Weisheit re-lativ ist. Zu Weisheit gehören zum einen eine tiefe Einsicht in fundamentale Proble-me und ein sehr gutes Urteilsvermögen – diesen Aspekt von Weisheit nennen wir

weisheitsbezogenes Wissen –, zum anderen das Handeln. Personen, die ein hohes Maß an weisheitsbezogenem Wissen haben, sind eher am gemeinsamen Guten interessiert als andere. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass sie sich ausschließlich um andere küm-mern und völlig altruistisch sind.Was zeichnet einen Weisen noch aus?Menschen, die wir weise nennen, schweben nicht völlig losgelöst und emotionslos über den Dingen wie Buddha, sondern können durchaus emotional sein. Das haben Unter-suchungen in unserem Labor gezeigt. Dazu erfassen wir erst, wie viel weisheitsbezogenes Wissen die Probanden haben. Dann zeigen wir ihnen Fotos oder Filme tiefemotionaler

Gespräch mit einer Wissenschaftlerin, die sich dem Gipfel der kulturellen Evolution nähert

und die Weisheits-ForscherinUTE KUNZMANN

Interview Susanne Schäfer

Page 72: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

mit alle gängigen Modelle zur Erklärung des Ekels über den Haufen geworfen. Lässig lehnt sie nun an einem Holztisch des Theatersaals und nimmt die alten Theorien auseinander: Sie erklärt Freuds These für überholt, dass Ekel den Zweck habe, die niederen Instinkte des Menschen in Zaum zu halten. Sie widerspricht dem Pionier der Ekelforschung, Paul Rozin, der Ekel als Hilfsmittel des Menschen sah, um dessen eigene Sterblichkeit zu verdrängen. Wun-den erinnerten uns an unsere eigene Ver-letzlichkeit, so der amerikanische Psycho-loge. Curtis widerspricht: »Ekel erlernen wir nicht erst im Laufe des Lebens. Ekel hat sich im Laufe der Evolution entwickelt und ist fest in unseren Genen verankert.«

Doch ekelten sich nicht alle Menschen gleich stark. »Ich habe kein sehr ausgepräg-tes Ekelgefühl, sonst könnte ich nicht daran forschen«, sagt sie. Kot, Kadaver und Eiter scheinen aber bei den meisten Menschen die größten Ekelgefühle auszulösen – auch über

die Kulturen hinweg. Das ergaben Befra-gungen, die Curtis in Afrika, Indien und Europa durchführte. »Jene Sekrete des Kör-pers sind auch die gefährlichsten«, sagt Cur-tis. Ein Gramm Kot zum Beispiel enthalte Milliarden von Mikroben. Mehr als zwei Millionen Menschen sterben jedes Jahr weltweit an Durchfall. »Die Ansteckung durch Exkremente hat weltweit schlimmere Folgen als mancher Krieg.«

Curtis beschäftigt sich seit 25 Jahren mit der Krankheit und der Frage, wie man sie vermeiden kann. Als Ingenieurin lernte sie, wie wichtig der Zugang zu sauberem Wasser ist. Während des Bürgerkriegs in Uganda 1984 und der Hungersnot in Äthio-pien 1985 baute sie dort Brunnen in Flücht-lingscamps. Später berechnete sie, dass allein das Händewaschen mit Seife das Durchfall-risiko um 47 Prozent senken kann. Doch nur ein Fünftel aller Menschen wäscht sich nach dem Toilettenbesuch überhaupt die Hände, so das unappetitliche Ergebnis einer Studie, die Curtis vor drei Jahren publizier-te. Das will die Forscherin ändern. Vor rund fünf Jahren hat sie mit Kollegen den Global Handwash Day ins Leben gerufen, eine weltweite Kampagne, die unter anderem von der Unicef und der Weltbank unter-stützt wird. Vor allem aber arbeitet Curtis möglichst vor Ort in Entwicklungsländern.

Am Morgen nach dem Vortrag am Winchester College sitzt sie am Küchentisch ihres Hauses und telefoniert mit Projektma-nagern in Jakarta und Genf. Sie planen der-zeit eine Kampagne zum Thema Hände-waschen in zehn Dörfern der indonesischen Provinz Ost-Java. Als sich ein indonesischer Kollege in ausschweifenden Erklärungen verliert, klopft Curtis ungeduldig mit dem Kugelschreiber auf ihren Block und bedeu-tet ihm, kurz und deutlich zu antworten. »Wir brauchen in unserer Kampagne klare Aussagen«, sagt sie. Filme und Poster mit emotionalen Slogans soll es geben, Broschü-ren mit nüchternen Informationen dagegen nicht. »Die bringen nichts«, sagt Curtis.

Um etwas zu verändern, müsse man nicht den Verstand der Menschen anspre-chen, sondern deren Emotionen. Etwa die Angst davor, als abstoßend empfunden zu werden. Menschen lernen sehr früh, andere nicht anzuwidern, um nicht als potenzielle Infektquelle aus der Gemeinschaft ausge-

schlossen zu werden. Wir waschen unseren Körper, putzen unsere Wohnung, wenn wir Besuch erwarten, und hüten uns davor, den Besuchern ein schmutziges Handtuch an-zubieten. »Manners maketh man«, gutes Be-nehmen macht uns zu Menschen, steht so-gar im Wappen des Winchester College geschrieben. »Gute Manieren stellen eine der wichtigsten Waffen im Kampf gegen Infektionskrankheiten dar«, sagt Curtis.

Diese Waffe setzt sie ganz bewusst ein: Für eine Kampagne in Indien entwarf sie Zeichentrickfilme und Poster, auf denen eine Mutter zu sehen ist, die versucht, ihr Kind zu guten Manieren zu erziehen. Vor allem soll es lernen, sich die Hände mit Seife zu waschen. Die Botschaft kam an: Während sich vor der Kampagne nur ein Prozent der Dorfbewohner die Hände mit Seife wusch, waren es ein halbes Jahr danach 37 Prozent. Ein Jahr später waren es immerhin noch 29 Prozent, berichtet Curtis.

Allerdings lässt sich Ekel nicht nur für gute Zwecke nutzen. In der Geschichte wurde das Gefühl auch instrumentalisiert, um Ressentiments gegen bestimmte Men-schengruppen zu schüren. Die Nationalso-zialisten bezeichneten Juden als Ratten. Und im Vorfeld des Völkermords in Ruanda ver-unglimpften Hutu die Tutsi als Kakerlaken. »Andere Menschen als ekelhaft abzustem-peln ist eine mächtige Waffe in der Propa-ganda von Politikern«, sagt Curtis. Umso wichtiger sei es, über die Wirkungen solcher Vergleiche zu informieren. »Denn je besser wir uns selbst verstehen, umso eher können wir begreifen, wie wir zu besseren Menschen werden können.« —

»Ekel hat sich im Laufe der Evolution entwickelt und ist fest in

unseren Genen verankert«

Vor fünf Jahren hat Valerie Curtis den Global Handwash Day erfunden – ein Tag, der weltweit viele Leben rettet

Astrid Viciano (@vicigo auf Twitter) ist als Ärztin durch Ekliges nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Doch bei der Lektüre von Studien zu potenziellen Widerwärtigkeiten drehte sich sogar ihr manchmal der Magen um.

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Probleme wie Tod, Krankheit, Krieg oder Umweltzerstörung und erfassen ihre Reak-tionen. Menschen mit viel weisheitsbezoge-nem Wissen reagieren empathisch, lassen sich aber nicht ganz überwältigen und fin-den schneller wieder zu Gelassenheit als weniger weise Personen. Sie halten so Un-gewissheiten besser aus, die in Krisen oft eine Rolle spielen. Es gelingt ihnen eher, Lebensprobleme von einer Metaebene aus zu betrachten und ruhig zu bleiben.Wie messen Sie, wie weise jemand ist?Wir legen Testpersonen Aufgaben vor, zum Beispiel: »Jemand steht am Ende seines Le-bens und hat das Gefühl, er habe etwas Ent-scheidendes nicht erreicht. Was könnte er jetzt denken oder tun?« Die Antworten werten wir aus und vergeben einen Wert zwischen eins und sieben – den höchsten Wert erreicht aber fast niemand.Wie löst ein eher weiser Mensch das?Er erkennt Bezüge. Wo zum Beispiel steht die Person im Leben: Ist sie 50 Jahre alt oder 80? Lebt sie alleine? Ist das Ziel über-haupt zu erreichen? Wer das Problem in ei-nen größeren Zusammenhang stellt, würde einen etwas höheren Wert bekommen. Weise Antworten haben zudem immer et-was Positives, Menschenfreundliches, sind nie verzweifelt oder frustriert.Woran merke ich, ob ein Rat weise ist?Der weise Rat kann schlicht daherkommen. Dass er weise ist, kann man nur erkennen, wenn man den Denkprozess kennt, an des-sen Ende der Rat steht. Es liegt an Ihnen, ob Sie die Weisheit darin sehen können und was Sie daraus machen.Wie wird man weise?Nur Bücher zu lesen reicht nicht, Weisheit ist immer erfahrungsbezogen. Gerade in Krisen haben wir die Chance, Wissen zu gewinnen. Dazu brauchen wir eine Tole-ranz für negative Erlebnisse und die Fähig-keit, diesen einen Sinn zu geben.

Also sind Intelligenz und Bildung keine Voraussetzung für Weisheit?Beides schadet nicht, aber man muss keinen IQ von 180 haben. Eine wichtigere Voraus-setzung für Weisheit ist Mo ti va tion. Viele Menschen leben angepasst, erfüllen ihre Pflichten, fügen sich in eine gegebene Si tua tion ein und sind damit zufrieden. Andere wollen mehr verstehen, über das Gegebene hinausgehen, sich erweitern und etwas ge-stalten. Das ist der Weg, auf dem man eher weise wird. Das passiert aber nicht von

selbst. Man muss gerade dann wei ter-machen, wenn es anstrengend wird – und dann zum Beispiel zu einem Freund sagen: »Ich möchte wirklich verstehen, was du für ein Problem hast.« Oder zum Partner: »Ich möchte wirklich verstehen, warum wir uns immer streiten.« Muss man alt sein, um weise zu werden?Das könnte man denken, weil wir uns unter weisen Menschen oft Ältere vorstellen. Und es ist auch plausibel, denn mit dem Alter sammeln wir Erfahrungen. Es ist aber, wie gesagt, nicht die Erfahrung per se, die weise macht, sondern die Art, wie wir mit ihr umgehen. Jedes Alter hat seine Herausfor-derungen. Für junge Erwachsene ist das Aushandeln von Intimität und Unabhän-gigkeit in Paarbeziehungen ein Thema. Äl-tere sind öfter damit konfrontiert, dass im eigenen Umfeld Menschen krank werden oder sterben. Bei Beziehungsproblemen be-

sitzen die Jungen deshalb sogar höheres weisheitsbezogenes Wissen als Ältere.Das heißt, man verliert ein Wissen wieder? Die Fähigkeiten sind zumindest weniger verfügbar. Ich gehe aber davon aus, dass man sie wieder aktivieren kann. Sich nach langer Zeit noch einmal mit einem Problem zu beschäftigen ist leichter, als sich ganz neu damit zu konfrontieren.Was sind die biologischen Voraussetzun-gen dafür? Man wird mit zunehmendem Alter ja nicht gerade schneller im Kopf.Die Psychologie unterscheidet zwischen fluider und kristalliner Intelligenz. Die flui-de bestimmt zum Beispiel, wie schnell ich Ihre Fragen verstehen, das Wesentliche he-rausfiltern und präzise antworten kann. Logisches Denken, räumliche Wahrneh-mung und Effizienz spielen eine Rolle. Die kristalline Intelligenz dagegen ist wissens- und erfahrungsbasiert. Zu ihr gehören Schulwissen, Vokabular, berufliche Experti-se und eben die tiefe Einsicht in fundamen-tale Lebensprobleme. Die fluide Intelligenz lässt schon mit 20 Jahren nach, ab 80 be-obachten wir einen starken Rückgang. Die kristalline Intelligenz bleibt stabil und kann sogar zunehmen. Insofern können wir im Alter weise werden, das Alter macht uns aber nicht automatisch weise.Wie weise sind Sie selbst?Ich nehme an, dass ich nach unserem Para-digma nicht ganz unweise bin, weil ich mich sehr viel damit beschäftige. Aber selbst wenn ich nicht weise bin, macht das für meine Tä-tigkeit als Forscherin nichts, denn Menschen sind sehr gut darin, Weisheit zu erkennen, auch wenn sie selbst nicht weise sind. —

»Der weise Rat kommt schlicht daher . Es liegt an Ihnen, ob Sie die Weisheit darin sehen und was Sie daraus machen«

»Weisheit ist immer erfahrungsbezogen. Man muss keinen IQ von 180 haben«

Susanne Schäfer wollte wissen, wie weise sie selbst ist, und bat Ute Kunzmann, sie während des Interviews zu testen. Die lehnte ab – Schnellver-fahren findet sie unseriös. Dafür lud sie die Autorin ein, als Versuchsperson an einer Studie teilzunehmen.

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Es war nur eine Frage der Zeit, bis Psychologen den Ikea- Effekt entdecken würden. Wo sonst lassen sich die Abgründe der Menschen so gut beobach-ten wie in einem Ikea-Markt?

Da fläzen sich Männer mit Schuhen auf dem Bett und prahlen, wie schnell sie den letzten Pax-Schrank aufgebaut haben. Da zürnen Kunden, weil Lampenschirme ver-griffen sind, raffen Frauen Teelichter und Tischtücher zusammen, wühlen Kinder in Bergen von Plüschmäusen, stehlen Kunden ein an der in der Lagerhalle die Einkaufs-wagen und schlagen sich den Bauch mit Köttbullar und Soft eis voll. Die sieben Tod-sünden – hier kann man sie alle beobachten.

Gut, dass das endlich mal wissenschaft-lich aufgearbeitet wird, könnte denken, wer auf die Studie von Michael Norton, Daniel Mochon und Dan Ariely zum »Ikea- Effekt« stößt. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Es ging den Forschern nicht um das zweifelhafte Verhalten der Menschen beim Möbelkauf, sondern um das, was sich danach abspielt. Um die einzigartige Bindung, die zwischen Mensch und Möbelstück entsteht

– wenn Schraubenzieher und Inbus wüten, wenn Schweiß fließt. Was geht in jemandem vor, der mit eigenen Händen etwas erschafft? Um das herauszufinden, luden die Forscher Versuchspersonen ins Labor ein und ließen sie basteln. Zunächst sollten sie Aufbewah-rungsboxen von Ikea zusammensetzen. Das war nicht gerade anspruchsvoll, für echte Möbel hatte das Budget vielleicht nicht ge-reicht. Aber dann wurde es kniffliger: Die Probanden mussten aus Papier filigrane Frösche oder Kraniche im Origami-Stil fal-ten. Ein anderes Mal sollten sie Hubschrau-ber aus Legosteinen zusammenstecken.

Die ganze Sache muss wie eine Bastel-stunde im Kindergarten gewirkt haben. Dabei ging es hier um ernsthafte Erkennt-nisse über die menschliche Psyche: um Wertschätzung. Im Anschluss fragten die Verhaltensökonomen die Bastler nämlich, wie viel sie für ihre eigenen Werke zu bezah-len bereit wären. Bezahlen? Die spinnen wohl, hätte man da denken können. Warum soll ich für etwas bezahlen, das ich selbst gemacht habe? Aber die Probanden reagier-ten anders. Sie waren ganz im Gegenteil sogar bereit, mehr für die Boxen und Frö-

sche zu bezahlen, wenn sie diese selbst ge-bastelt hatten. Die eigenen Handgriffe schienen den Wert der Gegenstände zu steigern. Für die eigenen Frösche oder Kra-niche hätten die Handwerker sogar fast fünfmal so viel bezahlt wie außenstehende Testpersonen, die ebenfalls ein Gebot abge-ben konnten. Sie gingen wie selbstverständ-lich davon aus, dass auch andere den Wert ihrer Werke erkennen müssten. Von wegen: Für Unbeteiligte waren die Gebilde kaum mehr wert als verkrumpeltes Papier – was in einigen Fällen eine objektive Beschreibung gewesen sein mag (Fotos der Origami-Tiere enthält die Pu bli ka tion leider nicht).

Was sagt uns das? Der Ikea-Effekt be-legt den Wert der Arbeit: Wir fühlen uns gut, wenn wir etwas zustande bringen. Er zeigt aber auch einmal mehr, wie sehr wir von uns selbst eingenommen sind. Wir hängen an Dingen, die wir selbst fabriziert haben. Wenn wir Arbeit investieren, dann muss das Ergebnis doch wertvoll sein! Eine Todsünde ist das nicht – aber ziemlich eitel. —

DAS EXPERIMENT

Psychologen ergründen das menschliche Wesen mit ungewöhnlichen Versuchs anordnungen. Diesmal geht’s um Selbstwert

Text Claudia Wüstenhagen Illustration Heinz Pfuschi Pfister

Der Ikea-Effekt

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Männer mit Kindern verbringen mehr Zeit im Büro als Kinderlose – das haben Wissenschaftler des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) herausgefun-den. Väter zwischen 25 und 39 arbeiten im Schnitt pro Woche zwei Stunden länger als ihre Kollegen ohne Nachwuchs, Väter aus der Altersgruppe der 40- bis 59-Jährigen sogar fünf Stunden länger. Mütter hin-gegen verbringen unabhängig vom Alter weniger Stunden am Arbeitsplatz als Frauen ohne Kinder. Das wäre kein Problem, wenn die Eltern sich nicht andere Arbeits-modelle wünschen würden. Tatsächlich nimmt vor allem die Unzufriedenheit der Männer zu. 82 Prozent der Väter wollen weniger arbeiten, so eine neue Untersuch-ung der Väter gGmbH, einer Unter-nehmensberatung für familienorientierte Arbeitgeber. Jeder dritte Vater hält eine Wochenarbeitszeit von 32 Stunden für ideal. 74 Prozent würden vorübergehend Teilzeit arbeiten, damit ihre Partnerinnen nach der Geburt leichter in den Job zu-rückkehren können. Mütter von kleinen Kindern wünschen sich nach der Unter su-chung, für die 1000 Eltern befragt wurden, eine Wochenarbeitszeit von 26 Stunden.

Die BIB-Forscher Martin Bujard und Katrin Schiefer haben gleich zwei Erklärun-gen für die langen Arbeitszeiten von Vätern. Erstens: Ökonomisch erfolgreiche Männer gründen früher und häufiger Familien. Der Preis für ihren Erfolg sind lange Arbeitszeiten, diese Männer arbeiten also schon viele Stunden, bevor die Kin-der kommen. Zu dieser Theorie passt, dass im öffentlichen Dienst Männer mit be-fristeten Arbeitsverträgen im Schnitt ein Kind haben, Männer mit unbefristeten Verträgen hingegen 1,3 Kinder. Nach der anderen Theorie arbeiten Väter wegen der Familie länger. Die Forscher schreiben, das geschehe »selbst bei egalitären Partnern«. Die meist jüngeren Frauen verdienen weni-ger und setzen länger aus als ihre Partner, die Männer müssen umso mehr verdienen.

Frauen, erwartet von Vätern nicht zu viel Solidarität, wenn ihr euch über Meetings nach 17 Uhr beschwert! Bloß weil der nette Kollege mit dem süßen Baby neuerdings auch manchmal über Schlafmangel klagt und neulich einen Milchbreifleck auf der Hose hatte, ist er noch lange kein Ver bün-de ter. Im Gegenteil, wenn das nächste Kind kommt, wird er wahrscheinlich noch län-ger im Büro sitzen und noch freund licher lächeln, wenn er am späten Nachmittag noch schnell etwas erledigen soll. Klar, es gibt Ausnahmen. Bestimmt viel mehr als früher. Aber wer wie ich gegenüber einer Kita in Prenzlauer Berg wohnt, weiß: Selbst im Bezirk mit den vermutlich meis-ten Holzspielzeuggeschäften und Baby-kleidungsdesignern in ganz Deut schland werden die Kinder morgens von Papa gebracht und nachmittags von Mama abge-holt. Klar, denn Papa ist ja noch im Büro.

GelerntGefunden Was es bedeutet

P.S.: Jeder dritte Vater weiß laut Väter gGmbH nicht, dass es auch für Männer möglich ist, mehr als zwei Monate lang Elterngeld zu beziehen! Es könnte also auch an der Informations-politik der Regierung liegen, dass Väter nicht länger aussetzen

Chefs, Kollegen, Gehalt und Glück: Unsere Kolumnistin Elisabeth Niejahr sucht nach neuen Forschungser gebnissen, die uns im Beruf weiterbringen

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WENN TIERE ALT WERDENEine Geschichte von steifen Hüftgelenken, mutigen Großmüttern, faulen Eseln und dem Respekt vor Erfahrung

Fotos Volker Wenzlawski Text Susanne Schäfer Kleintexte Hella Kemper

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Eine Zeit lang vermuteten Wissen-schaftler, Tiere würden sich nur für ihre ei-genen Nachkommen einsetzen und so den Fortbestand ihrer Gene sichern. Doch sie irrten sich. Ältere Languren-Weibchen zum Beispiel schützen bei Angriffen auch junge Tiere, mit denen sie nicht verwandt sind. Und zwar mit vollem Körpereinsatz, in Kämpfen riskieren sie bereitwillig Verlet-zungen. Anders als die Löwinnen bekom-men die Affen-Weibchen dafür allerdings keinen Dank – die Jüngeren, selbst ihre ei-genen Töchter, schnappen ihnen die Nah-rung weg oder vertreiben sie von schattigen Plätzen, um sich dort selbst hinzulegen. Die Großmütter nehmen es hin und üben sich in Gelassenheit.

Für ihr Wissen und ihre Erfahrung werden die Älteren oft geschätzt. Manchmal erlange ein Tier sogar den Status des alten Weisen, schreibt die kanadische Zoologin Anne Innis Dagg von der University of Waterloo in ihrem Buch The Social Behavior of Older Animals, für das sie Forschungser-gebnisse aus mehreren Jahrzehnten gesam-melt hat. Alte Elefanten sind für die Ge-meinschaft so wichtig, dass manchmal die Stabilität ganzer Herden ins Wanken gerät, wenn mehrere erfahrene Alttiere von Wilde-rern getötet werden. Die Gruppe verliert dann ihr kulturelles Wissen: wie man mit anderen Elefanten umgeht, kommuniziert, Konflikte löst und in der Wildnis überlebt. Bei keiner anderen Art sei die Weisheit der Älteren von so großer Bedeutung, schreibt Anne Innis Dagg.

Das berüchtigte Elefantengedächtnis kann ganze Herden retten: Alte Tiere er-innern sich leicht, wo man während einer Dürre Wasser aufspürt – auch wenn sie vor 40 Jahren das letzte Mal dort waren. Sie wissen, wie man den Sand aufwühlt und darunter Feuchtigkeit findet. Und dass man zu Menschen besser Abstand halten sollte. Die Matriarchin trifft alle täglichen Ent-scheidungen für ihre Herde. Sie schützt ihre Untergebenen vor Gefahr. Dagg schildert in ihrem Buch eine eindrucksvolle Szene: In Tansania beobachtete eine Anführerin ihre Herde beim Baden in einem Wasserloch. Plötzlich tauchte sie ihren Rüssel ins schlam-mige Wasser, zog ein mehr als vier Meter langes Krokodil heraus und trug es zum Ufer. Sie hielt es hoch über ihrem Kopf und schlug es dann immer wieder auf den Bo-

Erst tut der Rücken weh, dann wird die Hüfte steif, irgend-wann fallen die Zähne aus. Keine schöne Aussicht, doch der alternde Mensch weiß sich immerhin zu helfen. Was aber

tut ein Löwe in der Savanne, wenn er keine Zähne mehr hat?

Auf dem Arbeitsmarkt haben selbst die Erfolgreichsten ein Verfallsdatum, werden aussortiert und abgelöst. Das mag kränken, ist in unserer Menschengesellschaft aber nicht lebensbedrohlich. Verliert dagegen ein Schimpansen-Alphamännchen seine Kräfte, geht es für ihn um die pure Existenz.

Und ja, natürlich hat das Älterwerden auch schöne Seiten. Großeltern spielen heu-te oft als liebevolle Betreuer und erfahrene Vorbilder eine wichtige Rolle für ihre Enkel. Bei Tieren ist es nicht anders: Auf die Weis-heit von Elefanten-Matriarchinnen etwa sind ganze Herden angewiesen.

So fremd uns wilde Tiere erscheinen mögen, so viel haben wir mit ihnen in einem Punkt gemeinsam: Wir werden alle alt. Auch Tiere bewegen sich mit den Jahren langsamer, sie können Arthritis, Diabetes, Krebs, Herzschwäche und Osteoporose be-kommen, manche leiden sogar unter geisti-ger Verwirrung. Alternde Tiere sehen und hören schlechter, das Fell geht ihnen aus, sie werden inkontinent, die Zähne brechen ab oder verfaulen, sie dösen viel.

Forscher beobachten schon seit Jahr-zehnten in Wäldern, im Dschungel, in Step-pen und in Ozeanen, wie Tiere sich im Alter verändern und wie sich ihre Rolle in der Gemeinschaft wandelt. So haben die Wis-senschaftler nicht nur wichtige Erkenntnisse gewonnen, sondern auch rührende Ge-schichten von Tieren gesammelt, die, genau wie wir, einen Weg suchen, irgendwie mit dem Älterwerden zurechtzukommen.

Viele Tiere werden im Alter unfrucht-bar, Weibchen in der Regel früher als Männ-chen. Aber auch dann leben sie noch lange weiter und bleiben oft Teil der Gemein-schaft. Biologen wundern sich darüber, weil die Natur hier in Einzelne investiert, die nicht mehr dazu beitragen können, dass Nachwuchs zur Welt kommt und der Fort-bestand der Gruppe gesichert wird. Eine mögliche Erklärung für das Phänomen ist die sogenannte Großmutter-Hypothese. Diese besagt, dass Weibchen auch im höhe-ren Alter noch wichtig für die Gemeinschaft

sind: Sie kümmern sich um die Enkel, sodass die Mütter entlastet sind und zum Beispiel auf die Jagd gehen können. Bei Grindwalen ist das der Fall. Grindwal-Weibchen tauchen auf der Suche nach Nahrung mehrere Hun-dert Meter tief. Weil ihre Jungen solchen extremen Tauchgängen noch nicht gewach-sen sind, lassen die Mütter sie an der Ober-fläche zurück – in der Obhut älterer Weib-chen. Die Großmütter gehen liebevoll mit den Nachkommen der eigenen Gruppe um und verteidigen sie vehement gegen Angrei-fer von außen. So tragen die Großmütter indirekt zum Erhalt der Gruppe bei.

Manchmal werden sie von der Herde sogar verpflegt: So haben Forscher ältere Löwinnen beobachtet, die von erlegten Tie-ren fressen durften, obwohl sie nicht selbst mitgejagt hatten.

Lothar, 16Dem Nordchinesischen Leoparden (S. 79) wächst seit ein paar Jahren immer mehr weißes Fell im Gesicht; seine Zähne sind auch nicht mehr die besten – in freier Wildbahn würde das seine Überlebens-chancen schmälern, im Tierpark Hagenbeck spielt es keine Rolle.

Maika, 31Die Malaienbärin (links) ist mit 31 Jahren sehr alt und schlecht-sichtig. Bären sehen ohnehin nicht besonders gut, aber als Maikas Augen schwächer wurden, fürchtete der Berliner Tierarzt zunächst, sie sei er-blindet. Zähne hat sie nur noch vier, vielleicht weil ihre Lieb-lingsspeise Eierwaffeln sind.

Bella, 53Das Orang-Utan-Weibchen (S. 78) mag es inzwischen gern gemächlich, aber Alters-beschwerden hat es keine. Die gutmütige Bella galt viele Jahre im Tierpark Hagenbeck als Vorzeige-Mami, weil sie nicht nur sechs Babys geboren, sondern auch zwei fremde Jungtiere adoptiert hatte. Lesen Sie weiter auf Seite 87

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Leopold, 104Die Seychellen-Riesenschildkröte befindet sich im besten Alter. Beschwerden hat Leopold nach mehr als einem Lebensjahrhundert keine. Das Fressen scheint er nach wie vor zu genießen, vielleicht hält er auch darum sein üppiges Gewicht von rund 200 Kilogramm – seinen 100. Geburtstag feierte er in seinem Gehege im Tierpark Hagenbeck mit einer großen Gemüsetorte. Wo Leopold geboren wurde, weiß heute nach so vielen Jahren niemand mehr – seine Lebenserwartung liegt bei ungefähr 150 Jahren.

Paul, 16Für einen Löwen ist er mit 16 Jahren schon recht alt, denn in freier Wildbahn werden Löwen selten älter als 15 Jahre. Paul wurde im Zoologischen Garten Berlin geboren und phasenweise mit der Flasche auf-gezogen, weil seine Mutter nicht genügend Milch für ihren Nachwuchs hatte. Paul zählt bis heute zu den Publikumslieblingen im Berliner Zoo – mag aber inzwischen nicht mehr so gern von den Pflegern gestreichelt werden und schläft dafür umso lieber lange und ausgiebig.

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Alte, 12Das Rote Riesenkänguru (rechts) lebt im australischen Outback von Hagenbeck. Zusammen mit Emus, wilden Wellensittichen, Buschhühnern und Bennett-Kängurus bildet es den Fünften Kontinent des Tierparks. Alte ist mit den Jahren ruhiger geworden. Appetit hat sie nach wie vor, allerdings fehlen ihr ein paar Zähne, sodass sie nun ihre Kartoffeln und Karotten lieber gekocht frisst.

Bento, 20Der Onager (ganz rechts) gehört zu den Asiatischen Eseln, die eine Pferdeart sind und viele pferdeähnliche Merk-male haben. Bento wurde in Rotterdam geboren und lebt heute im Tierpark Hagenbeck. Sein Fell wird langsam heller und an manchen Stellen räu-dig, auch mag er es nicht mehr so wild. Fressen tut er nach wie vor gut, und so ließ er sich auch durch den Fotografen nicht vom Heufressen abhalten.

Omi, 18Die Mähnenspringerin bei Hagenbeck hat noch immer kräftige lange Haare, auch wenn sie allmählich grau wer-den. Mehr Pflege brauchen ihre Klauen, die mit den Jahren brüchig geworden sind und sich nicht – wie in ihrer Heimat, den Felsenwüsten Nordafrikas – beim Klettern abreiben.

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Kilaguni, 40Das Spitzmaulnashorn ist sehr, sehr alt und wird mit jedem Jahr bedächtiger. Vier Junge hat Kilaguni auf die Welt ge-bracht, jetzt ist sie aus dem gebär fähigen Alter raus. Sie wurde nicht im Zoo geboren – wie die meisten Zootiere –, sondern kam als sogenannter Wildfang aus Kenia nach Berlin.

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den. Um ganz sicherzugehen, trampelten sie und ein anderer Elefant schließlich noch auf dem Krokodil herum.

Nicht einmal Altersgebrechen schei-nen die Elefanten-Anführerinnen bremsen zu können. Das zeigt das Beispiel einer Matriarchin, die noch im betagten Alter von 60 oder 70 Jahren drei Junge hatte. Eines davon säugte sie sogar, außerdem leitete und kontrollierte sie ihre Herde, wenn nötig, aggressiv. Eine Obduktion nach dem Tod der Elefantendame ergab jedoch, dass die so agile Matriarchin schon seit Jahren an Venenproblemen, einem Geschwulst an der Aorta und verstopften Arterien gelitten ha-ben musste. Angemerkt hatte man ihr das kein bisschen.

Die Weisheit und Zähheit der alten Damen ist auch unter Wasser ein Erfolgs-prinzip: Alte Orka-Weibchen nutzen eben-falls ihr Wissen und ihre Erfahrung, um Gruppen anzuführen. Sie können die ande-ren Tiere zu Ruheplätzen bringen oder dort-hin, wo viele Lachse entlangschwimmen. Jüngeren bringen sie Jagdtechniken, Echo-Ortung und die Dialekte anderer Walgrup-pen bei. Verständlich machen sie sich unter anderem durch expressive Mimik. Selbst an-strengende Mentorenaufgaben nehmen sie auf sich: So tourte eine Wal-Anführerin, die schon über 70 war, Daggs Schilderung zu-folge mit ihrem Sohn einen Sommer lang durch ein mehrere Hundert Kilometer lan-ges Gebiet, um es ihm mit allen Wasserwegen und Inseln zu zeigen. In der Beschreibung der Zoologin bekommt die Wal-Dame gera-dezu etwas Majestätisches: Immer wenn ein

Wal in der Nähe war, schwamm er zu der Matriarchin und ihrem Sohn, begrüßte sie, blieb ein paar Minuten und verschwand wieder. So erlaubte er ihnen, ihren Weg durch sein Revier fortzusetzen.

Während das Alter dem Status solcher Matriarchinnen nichts anhaben kann, ihn oft sogar noch erhöht, erleiden andere Tiere ein übles Schicksal, wenn sie in die Jahre kommen. Einem Gorilla kann es so erge-hen. Gorillas leben in kleinen Gemein-schaften, weil sie von Patriarchen geführt werden – die Anführer dulden keine ande-ren erwachsenen Männchen in ihrer Grup-pe, weil die sexuelle Konkurrenten sind. Um so viele Nachkommen wie möglich zu produzieren, hilft es, sich einen hohen so-zialen Status zu erarbeiten und Konkur-renten in Schach zu halten. Wird ein Alpha-tier aber älter, laufen ihm oft jüngere, stärkere Tiere den Rang ab. Forscher haben beobachtet, wie Titanen fallen.

So wie Schimpanse Goliath. Er ge-hörte zu den ältesten Bekannten der For-scherin Jane Goodall im Gombe-National-park in Tansania. Er hatte sich von ganz unten in der sozialen Rangfolge zum Alpha-männchen hochgearbeitet. Eines Tages je-doch forderte ein junges Tier ihn und seine Begleiter heraus. Der Neuling hatte Kero-sinkanister gefunden und schlug diese an-ein an der, was einen Riesenlärm machte. So stieß er Goliath vom Thron und wurde selbst zum Anführer. Goliath schaffte es mit seiner aggressiven Art, seinen hohen sozia-len Status auch nach seiner Entthronung noch fünf Jahre lang zu halten. Dann wur-de er krank und verlor dadurch auch seine Aggressivität. So fiel er fast ganz ans untere Ende der Hackordnung. Als er 37 Jahre alt war, wurde er von seinen früheren Beglei-tern umgebracht.

Mike, dem Störenfried mit den Kero-sinkanistern, erging es später nicht viel bes-ser. Indem er geschickt taktierte, hielt er seine Machtposition zwar sechs Jahre lang. Jane Goodall bescheinigt ihm, er sei ein Meister »strategischen Denkens, taktischer und sozialer Ma ni pu la tion« gewesen. Am Ende seiner Herrschaft versuchte er noch, mit gekonnter Selbstdarstellung seine Macht zu erhalten, doch irgendwann erkannten die anderen Tiere die Täuschung. Als er mit 32 Jahren abgelöst wurde, sah er schon alt aus, mit abgenutzten Zähnen und spärlichem Fell. Er fügte sich in sein Schicksal und

Petzi, 35Die hübsche Braunbärin hat es faustdick hinter den Ohren: In ihrer Jugend ist sie nämlich einmal ausgebrochen und gemütlich durch den Berliner Zoologischen Garten spaziert. Heute hätte Petzi an einem solchen Ausflug wohl keinen Spaß mehr: Der Bärin tun inzwischen die alten Knochen ziemlich weh, sie leidet unter Arthrose und mag sich gar nicht mehr gern bewegen. Mit den Jahren ist Petzi außerdem eine echte Einzelgängerin geworden – denn ihre Partner hat sie allesamt überlebt.

SO ALT WERDEN TIERE

Quelle: Alexander Scheuerlein, MPI für demografische Forschung, Rostock, DATLife Datenbank (www.datlife.org)

Afrikanischer Elefant

Gemeiner Schimpanse

Westlicher Gorilla

Eisbär

Löwe

Wimperfledermaus

SÄUGETIERE

Graureiher

Star

Spottdrossel

Kohlmeise

VÖGEL

Tropfenschildkröte

Australisches Krokodil

Pennsylvania-Klappschildkröte

Gewöhnliche Strumpfbandnatter

REPTILIEN

Die durchschnittliche Lebens-erwartung (dunkle Farbtöne) und das Rekordalter (helle Töne) von ausgewählten Tieren

28 80

36 61

28 54

24 45

12 30

4 15

5 24

2 21

2 20

2 9

31 110

34 60

11 40

3 10

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Herr Steidl, was sind die häufigsten Alterserschei-nungen bei Haustieren? Heutzutage werden Haus-tiere besser gepflegt, altersgerechter ernährt und tierärztlich intensiver versorgt; dadurch hat sich die Lebenserwartung von Haustieren wie Hund und Katze in den vergan-genen Jahren enorm erhöht. Aber auch die Zahl der Alterserkrankungen hat zugenommen. Ähnlich wie beim Menschen haben wir es bei Haustieren oft mit orthopädischen Problemen wie Arthrose und mit Tumorerkran-kungen zu tun. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich auch im Gehirn von Hund und Katze de-menzähnliche Vorgänge abspielen. Das könnte zukünftig neue Behand-lungen erfordern.Gibt es neue Ansätze in der Alterspflege?Diagnose und Therapie von Tumorerkrankungen haben in den vergan-genen Jahren gute Fort-schritte gemacht. Da-durch ist es oft möglich, die Lebensqua lität eines Tieres – trotz unheilbarer Erkrankung – über einen längeren Zeitraum zu erhalten.Wie verändert sich das Verhalten eines Haustiers im Alter?Mit dem Alter werden Tie-re bequemer und bewe-gen sich weniger – das ist ein natürlicher Vorgang, nicht krankhaft. Allerdings können manche Verhal-tensweisen von Alters-erkran kun gen herrühren. So haben etwa demente

Hunde und Katzen häufig keinen regelmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus mehr, geben unmotivierte Laute von sich, werden inkon-tinent oder unrein. Häufig ist aber nicht klar, ob wirklich Demenz oder ein organisches Versagen dahintersteckt. In welchen Fällen sind regelmäßige Besuche beim Tierarzt ratsam? Ältere Tiere, zum Beispiel normal große Hunde, sollten, wenn sie älter als acht Jahre alt sind, im Rahmen der Vorsorge mindestens einmal im Jahr, besser alle sechs Monate tierärztlich untersucht werden. Durch diesen Seniorcheck können viele Krankheiten frühzeitig erkannt und mit einer guten Prognose behandelt werden. Wir empfehlen zudem eine umfassende Laborunter-suchung. Wann ist denn eine Einschläferung unausweichlich?Über eine Einschläferung sollten Besitzer dann nachdenken, wenn das Tier unheilbare Leiden ertragen muss, die auch therapeutisch nicht zu lindern sind. Lebens-verlängernde Maßnahmen sind nur dann sinnvoll, wenn das kranke Tier unter tierärztlicher Behandlung seine Lebensqualität behält.Was sollten Tierbesitzer bei der Ernährung eines alten Tieres beachten?Da viele Tiere im Alter bequemer werden, sollten Besitzer die Ernährung an den verringerten

Bedarf anpassen. Sonst werden die Tiersenioren dick und bekommen womöglich Diabetes. Außerdem ist ein gut ver- trägliches Futter wichtig, damit keine Verdau-ungsstörungen auftreten. Dafür gibt es eigens Seniorenfutter.Wie gehen Besitzer mit dem Altern ihres Haustieres richtig um? Hunde, Katzen, Kaninchen oder Meerschweinchen werden oft als Familien-mitglieder betrachtet. Meiner Erfahrung nach gehen Besitzer darum mit dem Altern ihres Tieres sehr gut um und machen selten etwas falsch, da sie Parallelen im Umgang mit alten Menschen er-kennen. Gleichzeitig haben viele Angst davor, dass ihr Tier alt wird und sie es verlieren. Dabei hat ge-rade das hohe Alter von Tieren einen besonderen Reiz. Das Tier ist einem vertraut. Tier und Besitzer sind ein eingespieltes Team, das keine Rang-kämpfe mehr auszutragen braucht. Es herrscht Nachgiebigkeit auf beiden Seiten. Alte Tiere entwi-ckeln zudem einen einzig-artigen Charakter!

Interview: Mareile Jenß

Thomas Steidl ist Präsident der Landes-tierärztekammer Baden-Württemberg

zeigte bald selbst vor Tieren des niedrigsten Rangs untergebenes Verhalten. In seinen letzten vier Lebensjahren wurde er zum Einzelgänger.

Rotschwanzmeerkatzen haben eine raffinierte Strategie, um ihre Macht so lange wie möglich zu halten. Merkt ein Alphatier, dass seine Kräfte schwinden, vermeidet es Konflikte, um sich den heranwachsenden Konkurrenten nicht im Kampf stellen zu müssen. Egal, wie konfliktfreudig der Affe zuvor war, ändert er nun seinen Führungsstil und leitet die Gruppe möglichst harmo-nisch. So zögert der Anführer seine Ablö-sung hinaus und kann sich weiter mit all seinen Weibchen paaren – zumindest eine Zeit lang. Normalerweise bleiben die ande-ren Männchen am Rand der Gruppe, aber in der Zeit des Machtwechsels wagen sie sich vor und versuchen, sich auch mit den Weib-chen zu paaren. In Kämpfen entscheidet sich, wer der stärkste Herausforderer ist. Er löst schließlich den Patriarchen ab.

Manchmal danken Anführer auch von selbst ab, so wie ein Wolf in Alaska, der seine Herrschaft mit einem spektakulären Abgang beendete. Der Forscher Rick Mc-Intyre beobachtete in den neunziger Jahren, wie der Rudelführer langsam älter wurde. Der Wolf hinkte, vermutlich war er einmal in eine Falle getappt. Bei der Jagd riss er sich zusammen und lief so schnell, dass er seine Beute erwischte, ließ sich dann aber vor Schmerzen fallen, blieb flach liegen und leckte seine verletzte Pfote. Als das Rudel weiterzog, musste es immer wieder auf das alte Alphamännchen warten, weil es mit seinem Hinkebein nicht mithalten konnte. Eines Tages beschloss der alte Wolf, noch einmal sein gesamtes Rudel zu ernähren, und machte alleine Jagd auf einen ausge-wachsenen Elch, der bestimmt fünfmal so viel wog wie er selbst. Der Kampf dauerte 36 Stunden, am Ende gewann der Wolf, er war aber schwer verletzt. Das Rudel holte sich die Beute, der Forscher sah den Wolf bald nicht mehr wieder.

Dass das Rudel immer wieder auf den alten Wolf gewartet hatte, ist etwas Besonde-res. Nicht einmal Elefanten, die ihre Alten ja sehr schätzen, machen das. Wenn Elefanten mit ihrer Gruppe nicht mehr mithalten kön-nen, bleiben sie meist zurück. Damit sie sich noch eine Weile ohne Zähne ernähren kön-nen, lassen sie sich an Flüssen nieder, wo die Ve ge ta tion weich ist. Sehr alte Tiere werden

Wenn Hund und Katze in die Jahre kommen ...

HAUSTIERE

BUCHTIPP:Christina Hucklenbroich »Das Tier und wir. Einblicke in eine komplexe Freund-schaft«, Blessing 2014, 367 S.

...�ist der Mensch gefragt. Der Tierarzt Thomas Steidl sagt, was zu beachten ist

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pression und starb selbst drei Wochen später.Ein anderer Beleg stammt aus dem Zoo von Boston, wo ein Gorilla-Weibchen vor eini-gen Jahren an Krebs starb. Das Tier wurde aufgebahrt, sodass sein langjähriger Beglei-ter es noch einmal besuchen konnte. Er heulte und schlug sich auf die Brust. Dann legte er seiner Gefährtin ein Stück Sellerie in die Hand – ihr Lieblingsessen – und ver-suchte, sie aufzuwecken.

Mitunter scheinen Tiere regelrechte Trauerrituale abzuhalten: Elefanten und Gorillas legen manchmal Blätter und Zweige über einen toten Körper, wie bei einem Be-gräbnis. Eine Elefanten-Matriarchin brachte einmal ihre Herde zum Körper eines Elefan-ten, den Löwen getötet hatten. Jedes Tier blieb kurz neben dem toten Tier stehen und ging dann weiter.

Die amerikanische Forscherin Francine Patterson hat sogar eine Ahnung davon be-kommen, wie intelligente Tiere sich den Tod vorstellen. Sie brachte der Gorilla-Da-

me Koko bei, sich mithilfe von Zeichen mit Menschen zu verständigen. Ob Affen die menschliche Sprache lernen können, ist um-stritten, die Dialoge mit dem Gorilla-Weib-chen, die man sich in Videos auf You Tube ansehen kann, sind jedoch faszinierend. Kokos Antworten ergeben durchaus einen Sinn. Fragt man sie, wer das im Spiegel sei, zeigt sie mit Gesten: »Ich – Gorilla.« Auf die Frage »Was fällt dir ein, wenn ich ›ängstlich‹ sage?« antwortet sie: »Umarmung.«

So lässt Koko uns hoffen, wir könnten die Welt aus der Sicht der Tiere betrachten. »Wohin gehen Gorillas, wenn sie sterben?«, fragte die Trainerin einmal. Koko überlegte, dann antwortete sie: »Gemütlich – Höhle – auf Wiedersehen.« —

oft Einzelgänger. Nur manchmal finden sie einen Begleiter, der auch seine Herde ver-lassen musste. Ohne den Schutz der Ge-meinschaft sterben die Alten bald, weil sie leicht zur Beute von Raubtieren werden oder nicht mehr richtig fressen können.

Ist ein Tier bei seinem Tod noch Teil der Gruppe, spielen sich manchmal drama-tische Szenen der Trauer ab. Lange waren Forscher davon überzeugt, Tiere hätten keine Emotionen. Sie warnten davor, menschliche Eigenschaften auf Tiere zu übertragen. Doch insbesondere die Beob-achtungen an Tieren, die um andere trau-ern, haben viele umgestimmt. Jane Goodall begleitete die Schimpansin Flo in Tansania viele Jahre lang. Flo hatte mehrere Junge erfolgreich großgezogen, doch ihr Sohn Flint wurde nicht selbstständig. Noch mit acht Jahren schlief er in ihrem Nest und ritt auf ihrem Rücken. Er war geistig behindert, vermuten Forscher. Als Flo starb, war Flint von Trauer tief getroffen, fiel in eine De-

Susanne Schäfer hatte früher mal eine Cocker-spaniel-Dame und konnte gut beobachten, wie diese mit zunehmendem Alter immer gelassener wurde. Dass es für die Wissenschaft fraglich ist, ob Tiere überhaupt Gefühle haben, hat sie erstaunt.

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DOSSIER

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Wann fahren wir los?Wie weit ist es noch?

Wann sind wir da?Das erstaunliche Comeback der bemannten Raumfahrt.

Und fünf ernst gemeinte Pläne, die Erde zu verlassen. Für immer

Text Niels Boeing und Max Rauner Illustration Carsten Raffel

Andrea Boyd hat auf der Erde eigentlich genug erlebt. Sie ist auf Sizilien zur Schu-le gegangen, hat Wüsten durchquert und in einer australischen Uranmine Maschi-nen repariert, die Antarktis steht noch auf ihrer To-do-Liste. Jetzt nippt sie in

einer Kneipe der niederländischen Stadt Leiden an ei-nem dunklen Bier, twittert nebenbei und redet über den nächsten logischen Schritt ihrer Biografie: die Reise zum Mars. Ohne Rückflug. Sie ist eine von 705 Kandidaten für einen Platz auf einer Marsfähre, die im Jahr 2025 starten und nie zurückkommen soll. Mars One heißt die private Initiative. »Ein unglaublich faszinierendes Experiment« hat der Physik-Nobelpreisträger Gerard ’t Hooft sie genannt. Als »dumme Mission« bezeichnete sie Johann-Dietrich Wörner, Chef des Deutschen Zen-trums für Luft und Raumfahrt (DLR). »Ein aufregendes Projekt«, sagt Boyd, »ich möchte unbedingt fliegen.«

Andrea Boyd ist keine Spinnerin, im Gegenteil. Wenige Menschen kennen den Alltag im Weltall so gut wie sie. Fast täglich hat sie Kontakt zu den Astronauten auf der Internationalen Raumstation (ISS). Vom Euro-päischen Astronautenzentrum in Köln aus koordiniert sie mit ihren Kollegen die Forschung im europäischen Modul der ISS. Sie ist 30 Jahre alt und hat alle medizi-nischen Eingangstests bestanden, die auch Bewerber für eine Astronautenausbildung absolvieren müssen. Was sagt ihre Familie zum Marstrip? »Die erwarten von mir nichts anderes.«

Es ist noch nicht lange her, da galt die bemannte Raumfahrt als überholt. Es sei billiger und ungefährli-cher, Roboter ins All zu schicken, hieß es. Heute sind

Menschen im All wieder cool. Das Weltraumdrama Gravity heimste sieben Oscars ein. Der Astronaut Chris Hadfield begeisterte Millionen Menschen mit einem Musikvideo von der ISS. Und einige Internetmilliardä-re haben nach dem Cyberspace nun den realen Welt-raum entdeckt. Elon Musk etwa, reich geworden mit dem Bezahldienst PayPal, baut mit seinem Unterneh-men SpaceX Raketen, die aus Weltraumtransporten ein Geschäftsmodell machen sollen. Sogar Deutschland ist wieder oben: Alexander Gerst schwebt nun ein halbes Jahr lang auf der ISS um die Erde. »Die Menschen werden versuchen, andere Planeten zu besiedeln. Davon bin ich fest überzeugt«, sagt DLR-Chef Wörner.

Motive gibt es genug: die Entdeckernatur des Men-schen, das Risiko eines Asteroideneinschlags, die Über-bevölkerung, die Suche nach Rohstoffen. Spätestens in ein paar Hundert Millionen Jahren müssten sich unsere Nachfahren ohnehin eine zweite Heimat suchen. Dann werden die Ozeane verdampfen, weil die Sonne sich auf-bläht und die Erde dabei immer stärker erhitzt. Aber können wir dauerhaft im All leben? Wie kommen wir da hin? Was essen wir? Und was machen wir den ganzen Tag?

Erstaunlich viele Forscher denken darüber nach. Mit ihrer Hilfe haben wir fünf Reiseziele im Weltraum verglichen: die Erdumlaufbahn, den Mond, den Mars, die Asteroiden und Trabanten der großen Gasplaneten – und das nächstgelegene Sonnensystem um den Stern Alpha Centauri. Kein Zweifel, es wartet noch viel Arbeit auf Forscher und Ingenieure, um Aussiedler dorthin zu bringen. Aber an Freiwilligen wird es nicht mangeln: Für die Hinfahrt zum Mars reichten 200 000 Erdenbürger eine Bewerbung ein.

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Sollen die Menschen Kolonien im Weltall errichten? »Wir haben schon längst damit begonnen«, sagt der kanadische Astronaut Chris Hadfield. Er sitzt er in ei-nem Hamburger Luxushotel und gibt Interviews im Halbstundentakt. Er wirkt schmächtiger als in dem Video, mit dem er berühmt wurde, vielleicht weil die Schwerkraft wieder an ihm zieht. Hadfield sang vor ei-nem Jahr auf der ISS Space Oddity von David Bowie, schwebend und Gitarre spielend, und filmte sich dabei. »Vor dreizehneinhalb Jahren haben wir mit der Kolo-nialisierung begonnen«, sagt er nun, »nicht als Nation, sondern als Spezies.« Damals starteten die ersten As-tronauten zur ISS. Für Orbitalstädte mit mehreren Ki-lometern Durchmesser, wie sie der Physiker Gerard O’Neill in den siebziger Jahren entwarf, ist es zwar noch zu früh. Die Baupläne sind aber längst in Arbeit.

Wie kommen wir da hin? Die Raumfahrt nutzt seit jeher Wegwerfraketen, die Hunderte Tonnen Treib-stoff verbrennen, um eine Geschwindigkeit von über 28 000 Stundenkilometern zu erreichen. So schnell müssen sie sein, um in die Umlaufbahn der Erde zu kommen, und kein anderer Antrieb erreicht derzeit in so kurzer Zeit den nötigen Schub. »Das klassische Ra-ketentriebwerk ist gar nicht so schlecht«, sagt der Raum-fahrtingenieur Peter Rickmers von der Universität Bre-men. Aber da geht noch was. Die britische Firma Reaction Engines entwickelt derzeit das »Skylon«, eine

Mischung aus Flugzeug und Rakete, das eine Nutzlast von zwölf Tonnen in den Orbit bringen und wieder landen soll. Es würde nicht nur Flüssigsauerstoff wie das Space Shuttle, sondern anfangs auch Sauerstoff der At-mosphäre nutzen und soll zwei Tage nach der Landung wieder startklar sein. Das Unternehmen SpaceX dagegen will seine Rakete nach der Rückkehr wieder aufrecht stehend landen – abgebremst nur durch die Triebwerke. Ein Testflug in 750 Meter Höhe war erfolgreich. Da-durch würden sich die Startkosten drastisch reduzieren.

Wie überleben wir? Eines der größten Risiken für Menschen im All ist die Teilchenstrahlung der Sonne und aus dem Kosmos. Auf der Erde schützen uns das Erdmagnetfeld und die Atmosphäre weitgehend davor, im All fehlt dieser Filter. Wer sich ein Jahr lang auf der ISS aufhält, bekommt eine Dosis von 160 Millisievert ab (die typische Jahresdosis von Piloten beträgt ein bis fünf Millisievert). Die Wahrscheinlichkeit, dadurch an Krebs zu erkranken, beträgt für einen 45-jährigen As-tronauten etwa zwei Prozent, für Frauen etwas mehr. Eine raffinierte Idee, die Bewohner einer Raumstation zu schützen, ist ein künstliches Magnetfeld. Nasa-For-scher experimentieren mit supraleitenden Materialien und stellten im April eine Konzeptstudie vor, wie man einen magnetischen Schutzschirm erzeugen könnte.

Was machen wir den ganzen Tag? In künftigen Raumstationen würde geschraubt und geschweißt – so stellt es sich jedenfalls Reaction Engines vor. Die Firma hat eine Werft für Marsfähren entworfen. Die Orbital Base Station soll eine Länge von 100 Metern und einen Durchmesser von 40 Metern haben. Zehn Milliarden Dollar und 72 Skylon-Flüge wären nötig, um die Bau-teile in die Umlaufbahn zu bringen. Außerdem sollten die Menschen viel Zeit auf Fitnessgeräten verbringen. Astronauten auf der ISS hatten nach sechs Monaten im Durchschnitt 13 Prozent ihres Wadenmuskelvolumens eingebüßt – obwohl sie 50 Minuten am Tag auf dem Laufband oder einem Rad trainiert hatten. Im All müss-te man zwar keine Lasten heben, aber Muskeln sind wichtig für das Knochengerüst und das Herz-Kreislauf-System. Welche Folgen ihr Verlust für die Gesundheit hätte, müssten die Siedler erst am eigenen Leib auspro-bieren. Sie wären ihre eigenen Versuchskaninchen.

Seit den Apollo-Missionen kennen wir den Mond ziemlich gut. Er hat keine Atmosphäre, dafür Felsen, Sand und Staub. »Der Mond sollte kein strategisches Ziel der bemannten Raumfahrt mehr sein«, sagt Bernd Dachwald, Raumfahrtingenieur an der RWTH Aa-chen. Interessant sei er allenfalls als Testlabor und Tankstelle auf dem Weg ins Sonnensystem. Allerdings könnte die Wissenschaft auf dem Erdtrabanten noch einiges über die Entstehung des Sonnensystems lernen.

1. Die Stadt im Orbit

2. Die Mondsiedlung

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So wird auf dem Mond in einigen Jahrzehnten wo-möglich ebenso wie in der Antarktis eine Reihe von Stationen entstehen, in denen Spezialisten ihrem Ge-schäft nachgehen.

Wie kommen wir da hin? Die Nasa könnte heute keine Astronauten auf den Mond schicken – ihr fehlt eine geeignete Rakete. Die legendäre Saturn V wurde in den siebziger Jahren eingemottet. Inzwischen ist eine neue Rakete in Planung, das Space Launch System SLS. Auf ihr könnte in einigen Jahren die neue Raumkapsel Orion zum Mond fliegen. Sie soll ein Drittel mehr Schubkraft haben als die Saturn V, weil man ihr zur Unterstützung die beiden Feststoffraketen des Space Shuttle an die Seite schnallen würde.

Wie überleben wir? Ob man Wasser zum Trinken und Sauerstoff zum Atmen aus dem Boden extrahieren könnte, will die Nasa 2018 am Südpol des Mondes mit Robotern testen. Die ersten Langzeitbewohner müssten wohl in natürlichen Lavaröhren wohnen, um vor der Teilchenstrahlung aus dem All und von der Sonne ge-schützt zu sein.

Was machen wir den ganzen Tag? Die ersten In-genieure erkunden, wie man unterirdische Behausun-gen in Felsen anlegt. Astronomen errichten Teleskope auf der Rückseite des Mondes. Und Chemiker bauen Anlagen, um aus dem Mondgestein Helium-3 zu gewin-nen, eine Zutat für die Kernfusion, die auf der Erde nicht natürlich vorkommt. Zur Entspannung hüpfen die Bewohner mit langen Sprüngen durch die Mond-wüste – wie einst Neil Armstrong.

In den Archiven der Raumfahrtbehörden liegen mehr als 1000 Studien über einen bemannten Flug zum Ro-ten Planeten. Doch die Kosten – je nach Studie 25 bis 400 Milliarden Euro – ließen Politiker immer wieder davor zurückschrecken. Auch Barack Obama hat zwar Vorbereitungen für eine Marsreise gebilligt, will aber zunächst einen Asteroiden anfliegen lassen. Der Mars ist von allen Planeten im Sonnensystem der Erde am ähnlichsten. Im Permafrostboden ist Eis vorhanden, das Menschen auftauen, entsalzen und trinken könn-ten. Ein Marstag dauert nur 40 Minuten länger als ein Erdentag, und die Schwerkraft ist etwa ein Drittel so groß wie die der Erde. Lebensfeindlich ist jedoch die Atmosphäre: Hundertmal dünner als die Erdatmosphä-re, besteht sie zu 95 Prozent aus Kohlendioxid.

Wie kommen wir da hin? Generationen von In-genieuren haben Raketen entworfen, um Menschen in rund 200 Tagen zum Roten Planeten zu bringen. Soll die Besatzung zur Erde zurückkehren, müsste die Rake-te Unmengen an Treibstoff transportieren. Raumfahrt-experten sind sich einig, dass klassische, chemische An-triebe eine Notlösung sind. Eleganter wären sogenannte

Ionentriebwerke: Sie stoßen elektrisch geladene Atome aus, vorzugsweise die schweren Ionen des Edelgases Xenon, und erzeugen damit einen Rückstoß, der die Rakete antreibt. Während klassische Raketen ihren Treibstoff in wenigen Minuten abbrennen, feuert der eher sanfte Ionenstrom unablässig – und erreicht über einen längeren Zeitraum einen viel größeren Schub. Dabei brauchen Ionentriebwerke zwar weniger Treib-stoff, dafür aber viel elektrische Energie. Die Raumschif-fe müssten Isotopenbatterien oder riesige Solarmodule mitführen. Zweite Herausforderung: Ionentriebwerke, die heute schon Satelliten antreiben, nutzen durch das Bombardement der geladenen Teilchen stark ab. Neue Konstruktionen sollen die Erosion auf ein Tausendstel verringern und so die Lebensdauer verlängern.

Wie überleben wir? Die genetische Vielfalt von 500 bis 5000 Bewohnern würde ausreichen, um der Gemeinschaft ein dauerhaftes Überleben zu sichern, schätzen Biologen. Die Siedler müssten die Luft zum Atmen selbst herstellen, indem sie Eis schmelzen und mithilfe von Solar- oder Nuklearstrom in Sauerstoff und Wasserstoff spalten. Außerdem müssen sie mit dem Strom heizen, denn an der Marsoberfläche herrschen im Mittel nur minus 60 Grad. Das größte Problem ist wieder die Strahlung. Der Astrobiologe Dirk Schulze-Makuch schlägt als natürliche Heimstatt Lavaröhren vor. Anzeichen für solche Hohlräume wurden vom Weltraum aus erspäht. Mars One dagegen möchte die Raumfahrtmodule mehrerer Flüge zu einer Wohnung zusammenstöpseln und mit Geröll abdecken. Fünf Meter Gestein liefern denselben Schutz wie die Atmo-sphäre der Erde. Die Bewohner sollen sich nur wenige Stunden in der Woche draußen aufhalten. Die Lebens-

3. Mars, nur Hinflug

Oben: Wer sich im Freien aufhalten will, braucht überall im Sonnensystem einen Schutzanzug. Vielleicht kann es aber gelingen, Pla-neten mit Sauer-stoff anzureichern

Links: Im Vergleich zu dem hypothe-tischen Raumschiff Daedalus mit Fusionsantrieb ist die Saturn-V-Rakete ein Winzling

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erwartung der ersten Siedler wird 20 Jahre niedriger sein als auf der Erde, schätzt Schulze-Makuch.

Was machen wir den ganzen Tag? Terraforming heißt die Idee, den Mars durch Klimamanipulation be-wohnbar zu machen. Dafür extrahieren Chemieanlagen aus den Salzen im Marsboden das Element Fluor. Da-raus werden Super-Treibhausgase wie Perfluorpropan (C₃F₈) hergestellt, die in der Atmosphäre eine globale Erwärmung in Gang setzen. Nach 100 Jahren beträgt die Temperatur minus 20 Grad, und man könnte Cya-nobakterien und erste Flechten anbauen, nach 200 Jahren Moose. Die Pflanzen erhöhen den Sauerstoffge-halt, und nach 900 Jahren wären Nadelbäume überle-bensfähig, schätzt der Botaniker James Graham von der University of Wisconsin. Allmählich schmelzen dann die Gletscher, es bilden sich Wolken, es regnet. Viel-leicht würden die Pflanzen nach Hunderttausenden Jahren genug Sauerstoff zum Atmen produziert haben.

Im Sonnensystem gibt es Hunderte Monde und Aste-roiden, und auf einigen von ihnen könnten Menschen theoretisch Fuß fassen. Saturn und Jupiter werden je-weils von mehr als 50 Monden umkreist. Die beiden größten, der Saturnmond Titan und der Jupitermond Ganymed, sind mit über 5000 Kilometer Durchmesser größer als der Planet Merkur. Asteroiden umkreisen die Sonne zu Hunderttausenden, zumeist zwischen Mars und Jupiter. Ceres, 900 Kilometer im Durchmesser, hat eine Oberfläche so groß wie Argentinien. Weitere 200 Asteroiden bieten immerhin mehr Platz als Griechen-land. Sobald diese unwirtlichen Orte Wasser und Roh-stoffe enthalten, werden sie für eine Besiedlung interes-sant – wenn auch nicht gemütlich.

Wie kommen wir da hin? Die Schwerkraft der Asteroiden ist so gering, dass Raumschiffe für den Rück-flug keinen starken Schub brauchen. So genügte der japanischen Raumsonde Hayabusa 2005 ein herkömm-liches Ionentriebwerk, um eine Gesteinsprobe auf dem

Asteroiden Itokawa einzusammeln und zur Erde zu-rückzubringen. Eine Premiere. Um weiter als zum Mars zu reisen, wären stärkere Triebwerke nötig. Ein Favorit ist derzeit der Vasimr-Antrieb, den die Nasa entwickelt. Er würde geladene Teilchen nicht elektrisch, sondern magnetisch beschleunigen. Sein spezifischer Impuls – ein Maß für den Rückstoß pro Kilogramm Treibstoff – wäre zehn Mal größer als der von heutigen Ionentrieb-werken und hundert Mal größer als der der neuen SLS-Rakete. Die benötigte Energie ließe sich aber nur mit einem Kernreaktor erzeugen. Und der müsste erst ein-mal sicher in die Erdumlaufbahn gebracht werden. Man könnte auch 15 herkömmliche Ionentriebwerke auf einem Raumschiff bündeln. »Damit können Sie schon ganz gut zum Jupiter oder zum Saturn fliegen«, sagt Rainer Killinger, Antriebsexperte bei Airbus Defence and Space. Vier bis fünf Jahre würde der Flug aber im-mer noch dauern.

Wie überleben wir? Das Magnetfeld des Jupiters lenkt Elektronen und Protonen der Sonne in die Um-laufbahnen der Monde. Auf dem Mond Europa würden Menschen nach einigen Stunden tödlich verstrahlt sein. Sie könnten dort allenfalls in Iglus überleben. Der Mond Kallisto ist weiter entfernt, dort kommt weniger Strahlung an. Daher wurde er von Nasa-Forschern im Projekt »Hope« 2003 als potenzielles Reiseziel für sechs Astronauten auserkoren. Unter freiem Himmel herr-schen dort allerdings minus 140 Grad Celsius.

Von den Saturnmonden ist Titan noch der interes-santeste Wohnort. Am Äquator ist er meist trocken, an den Polen regnet es Flüssiggas (Methan, Ethan). Die Atmosphäre ist eineinhalb mal dichter als die der Erde und schützt vor Strahlung. Aber sie besteht überwiegend aus Stickstoff. Den Sauerstoff zum Atmen und Heizen müsste man auch hier aus Wasser erzeugen: 100 Kilo-meter unter der Oberfläche befindet sich ein Ozean aus Wasser und Ammoniak, schließen Forscher aus Radar-messungen der Cassini-Sonde. Größte Herausforde-rung: Temperaturen von minus 180 Grad Celsius.

Nicht weniger spekulativ als die Besiedlung des äußeren Sonnensystems sind Dörfer auf Asteroiden.

4. Asteroiden und mehr

Rechts: In einem abgeschlossenen Rover könnten Raumfahrer auch mal ihre Anzüge ausziehen. Hier ein Design der Nasa

Unten: Wie ein Reihenhaus sollen die Module des Mars -One-Projekts zusammenge-stöpselt werden. Fünf Meter Geröll darüber würde ausreichend vor Strahlen schützen

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Der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov hatte die bi-zarr-geniale Idee, Siedlungen nicht an der Oberfläche, sondern innerhalb ausgehöhlter Asteroiden aufzustel-len. Dort sind sie vor der kosmischen Strahlung ge-schützt. Licht müsste man über Prismen ins Innere lenken, und eine künstliche Schwerkraft ließe sich auch erzeugen: indem man den Asteroiden in Rotation ver-setzt. Durch die Fliehkraft könnten die Menschen dann an den Wänden spazieren.

Was machen wir den ganzen Tag? Wegen ihrer geringen Schwerkraft könnten Raumschiffe regelmäßig zwischen Asteroiden hin- und herpendeln, um Bauma-terial zu besorgen. Denn einige der Brocken sind reich an Eisen, andere enthalten Kohlenstoff, Stickstoff, Was-sereis oder Edelmetalle. Außerdem könne man den Asteroiden selbst beschleunigen und als Taxi durchs Sonnensystem nutzen. Seriöse Szenarien dazu gibt es keine, nur die Ausbeutung der Rohstoffe mithilfe von Robotern wird ernsthaft diskutiert – und von einigen Firmen als Geschäftsmodell verfolgt. Laut neuen Be-rechnungen amerikanischer Raumfahrtingenieure lässt sich ein sieben Meter dicker Asteroid mit herkömmli-cher Technik einfangen und in eine Umlaufbahn um den Mond bugsieren. Wenn solche Manöver mit größe-ren Brocken gelängen, könnte man diese an lebens-freundlichen Orten im All parken.

Jeder der 300 Milliarden Sterne unserer Galaxie, der Milchstraße, ist im Durchschnitt von 1,6 Planeten um-geben, schätzen Astronomen. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie einen erdähnlichen Planeten aufgespürt haben. Mit den heutigen Raketenantrieben würde jedoch selbst die Reise zu unserem Nachbarstern Alpha-Centauri 75 000 Jahre dauern. Dieses Sternsys-tem, in dem bereits ein Exoplanet entdeckt wurde (Al-pha Centauri Bb), ist 41 Billionen Kilometer entfernt.

Die British Interplanetary Society entwarf in den siebziger Jahren mit Daedalus ein gewaltiges Raumschiff

für interstellare Reisen. Die Energie für den Antrieb soll-te aus der Kernfusion von Deuterium und Helium-3 kommen und das Schiff auf sieben Prozent der Licht-geschwindigkeit beschleunigen. Schnell genug, um Al-pha Centauri in weniger als 50 Jahren zu erreichen. Al-lerdings wären dafür 50 000 Tonnen Brennstoff nötig. Weltweit werden heute nur acht Kilogramm Helium-3 pro Jahr verbraucht. Außerdem tun sich die Physiker mit der Kernfusion schwer. Daedalus bleibt eine Utopie.

Auf den Physiker Robert Forward geht die Idee zurück, einen gewaltigen Laserstrahl auf ein Solarsegel zu richten. Der Impuls des Lichts würde dann einen Schub erzeugen, der das Raumschiff bis auf zehn Pro-zent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Alpha Centauri wäre damit nach 40 Jahren erreicht. »Es ist das einzige neue Konzept für Reisen außerhalb des Sonnen-systems, das ich nach heutigem Wissen für physikalisch wirklich realisierbar halte«, urteilt Bernd Dachwald von der RWTH Aachen. Möglich heißt aber nicht machbar. Der Laser müsste in einer sonnennahen Umlaufbahn installiert werden und eine Leistung von mindestens 65 Gigawatt haben – ein Drittel der Leistung aller Energie-erzeuger in Deutschland.

Marc Millis, ehemaliger Leiter des Breakthrough Propulsion Physics Project der Nasa, sieht in der Ener-gieversorgung denn auch das größte Problem für den Flug zu den Sternen. Er spekuliert, dass die Menschheit frühestens im Jahr 2200 in der Lage wäre, die nötigen Energiemengen zu erzeugen. Der Astronaut Chris Had-field sagt: »Wir sind in der bemannten Raumfahrt da, wo sich Kolumbus 1491 kurz vor seiner Atlantik-Über-querung befand.« Es habe danach Jahrhunderte gedau-ert, bis die Europäer Amerika tatsächlich besiedelt hat-ten. »Wir sind nicht in Eile. Es gibt zurzeit keinen Grund für ein Wettrennen zu den Sternen.« —

5. Ab zum Exoplaneten

Niels Boeing und Max Rauner haben für diesen Artikel zwei »Unkonferenzen« der SpaceUp-Bewegung besucht. Dort diskutieren Raumfahrtingenieure und -enthusiasten in sponta-nen Referaten über neue Ideen. Eine ganze Session widmeten die Beteiligten prompt diesem ZEIT Wissen-Dossier. Danke!

Für alle, deren Astronautenträume nie wahr wurden.Chris Hadfield: »Anleitung zur Schwerelosigkeit« Heyne, 368 S., 20 Euro

Gute Übersicht zur Marsforschung bis 2009. Noch aktuell.Ulf v. Rauchhaupt: »Der neunte Kon-tinent«, Fischer Verlag, 288 S., 9,95 Euro

So funktioniert Terraforming im Sci-ence-Fiction-Drama.Red Planet, DVD, 100 Min., 13,90 Euro

MEHR WELTALL

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»Ohne Begriffe kann es kein Denken geben, ohne Analogien gibt es keine Begriffe«

»Von den apokalyptischen Ängsten, die mit der

künstlichen Befruchtung verbunden waren,

bleibt nichts übrig«

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Familie im Zeitalter der Reproduktionstechnik Manches Kind hat fünf Eltern-teile: Samenspender, Eizellspen-derin, Leihmutter und zwei Menschen, die es aufziehen. Ein Extremfall, aber auch ein Sym-bol dafür, was die Re pro duk-tions me di zin heute zu leisten vermag. Die assistierte Emp-fängnis ist in vielen Variationen Routine. Was heißt das für die Idee von Familie? Wie verän-dern Reproduktionstechnolo-gien das Menschenbild? Andreas Bernard argumentiert in seiner Habilitationsschrift Kinder machen für eine über-raschen de These. »Gerade die wuchernden, ›unreinen‹, durch Unterstützung von Dritten und Vierten entstandenen Famili-en«, schreibt er, versorgten das symbolisch ausgezehrte Lebens-modell der blutsverwandten Kleinfamilie »mit neuer Reprä-sentationskraft«. Wer sich mit-hilfe der Medizin den Kinder-wunsch erfülle, begegne dem Lebensmodell Familie umso empathischer. Bernard, Redakteur beim SZ-Magazin, führt im Reportage stil durch Kliniken, Samenbanken und Kinderzimmer. Er schil-dert, wie sich das Wissen um die Biologie der Zeugung über Jahrhunderte verändert hat – und entlarvt kulturell geprägte Fehlkonzepte wie das des kraft-vollen Spermiums, das die pas-sive Eizelle penetriert. Die biologisch fragmentierte Familie, so das Fazit, taugt nicht zur Warnung vor Zucht oder Eugenik. Die Befruchtungs-technik ICSI etwa macht Män-ner zu Vätern, deren Spermien

zu schlapp für eine natürliche Zeugung sind. Es geht nicht um Auslese. Es geht um das Glück, Kinder zu haben. Max RaunerAndreas Bernard: »Kinder machen« S. Fischer, 544 S., 25 €

Denken im Sprachdschungel»Es ist durstig.« Ein winziger Versprecher nur, ein Mix aus »Es ist heiß« und »Ich bin durs-tig«. Aber er kann verraten, wie der Mensch denkt. Sekündlich knüpft das Gehirn einen Tep-pich aus Assoziationen. Norma-lerweise geht das so schnell, dass wir im Gesprochenen das Web-muster der Ideen kaum noch erkennen können. Doch manchmal geschieht ein Fehler. Ein Knäuel bildet sich und ver-rät, welche Gedanken gleich-zeitig durch unser Gehirn ge-rauscht sind. In Analogie schildern Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander viele solcher Beispiele, die das Wechselspiel von Den-ken und Sprache(n) offenbaren. Während wir Deutschen darü-ber nachdenken, ob wir zu Fuß oder per Vehikel von A nach B kommen, und entsprechend die Verben »gehen« oder »fahren« nutzen, sind die Engländer höchst prosaisch. Egal, ob mit Auto, Fahrrad oder zu Fuß, ih-nen reicht in jedem Fall das schlichte Wort »go«. Es hätte nicht wirklich 700 Seiten gebraucht, um die un ge-wöhnliche Geschichte der Spra-che zu erzählen. Hofstadter-Fans sind allerdings daran ge-wöhnt. Am Ende werden selbst Sprachmuffel wie Physiker er-kennen, dass die Relativitätstheo-

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Ich messe, also bin ich Fast täglich fahre ich mit dem Rad zur Arbeit, elf, zwölf Kilo-meter, je nach Ampelphasen dauert das zwischen 30 und 40 Minuten. Lange Zeit war ich dabei sehr entspannt – bis ein Kollege mir eine App empfahl, mit der ich die Fahrzeit messen kann. Fortan guckte ich gehetzt aufs Smart phone: 32 oder 34 Minuten? 18 oder 19 Stunden-kilometer im Schnitt? »Egotuning« nennt Stefan Selke den neuen Trend zur »digitalen Selbstvermessung«. Apps spei-chern unsere Leistung, messen medizinische Parameter und bewerten unser Leben. Die per-manente Datenaufzeichnung verschiebe den Fokus der Wahr-nehmung vom eigenen Gefühl hin zu Datenreihen, kritisiert Selke. Das Gespeicherte ersetze menschliche Zuwendung; so-ziale Interaktion werde dele-giert. Lifelogger verwechseln die Messbarkeit der Welt mit der Wirklichkeit der Welt, so

der Autor. Bedeutung brauche Zeit. Das heißt: Würde ich mei-ne Fahrtzeit mit einem Bleistift in den Kalender kritzeln, würde ich sie mir merken, ohne App. Denn, so Selke, Schreiben ist eine Form der Wachsamkeit sich selbst gegenüber. Ich teile seinen Kulturpessimismus nicht vollständig. Aber die App nutze ich nicht mehr. Hella KemperStefan Selke: »Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert« Econ, 362 S., 17 €

Beispiele für eine bessere StadtWir wissen alle, dass es mit un-serem nicht nachhaltigen Wirt-schaftssystem so nicht weiter-gehen kann – geschenkt. Aber wie dann? Rob Hopkins, einer der Begründer der sogenann ten Transition-Town-Bewegung, er zählt nun in seinem Buch von Menschen, die »eine andere Zu-kunft wollen« und in ihrer Stadt schon mal angefangen haben. Sie alle teilen Hopkins’ Credo: Handeln vor Ort kann die Welt verändern. Selber erneuerbare Energie in der Stadt fördern, Nachbarschaftsgärten anlegen, eigene lokale Währungen wie

das »Bristol Pound« herausge-ben oder kollektiv finanzierte Bäckereien für gesundes Brot aufbauen – die Beispiele, die Hopkins aus aller Welt zusam-menträgt, sind inspirierend und zum Teil verblüffend. All das beschreibt Hopkins an-genehm klar und ohne jeden Polit-Jargon. Einen blinden Fleck hat das Buch dennoch: Wie man die Gentrifizierung der Großstädte, das Investoren-Monopoly in der Stadtentwick-lung und die Privatisierung des öffentlichen Raums beendet, darauf hat es keine Antwort. In kleineren Städten ist das viel-leicht kein drängendes Pro-blem. In den Großstädten aber verdichtet es sich zu sozialem Sprengstoff. Niels Boeing Rob Hopkins: »Einfach. Jetzt. Machen!« oekom, 192 S., 13 €

Es lebe das PapierEigentlich ist es nichts als un-ansehnlicher Matschebrei, eine pampige Fasersuppe, die flach verteilt und dann ganz, ganz langsam entwässert werden muss – damit Papier entsteht. Vor 2200 Jahren war ein Chine-se der erste Matschepampen-koch. Die Europäer kratzten

derweil noch auf Pergament, also auf gespannter Tierhaut, die Ägypter nutzten Papyrus, wie der chinesische Brei auch ein pflanzliches Produkt, aber eben aus einem Geflecht ent-standen. Seitdem haben viele Köche viele verschiedene Breie zubereitet, und denen ist der kluge französische Schriftsteller Erik Orsenna um die halbe Welt nachgereist. Orsenna traut sich wie nur wenige Sachbuch-autoren, mit großer Emphase und zugleich sehr poetisch zu erzählen. Darum folgt man ihm auf seinen verschlungenen We-gen allzu bereitwillig und weiß nach der Lektüre nicht nur alles über die 400 Millionen Tonnen Papier und Pappe, die jährlich weltweit hergestellt werden, sondern auch einiges über stin-kende Gingkos, kanadische Flößer, Eukalyptusplantagen, böse Tinte und andere Famili-engeheimnisse. Dass man dieses schöne Buch aus säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (laut Impressum) gern in der Hand hält, die Oberflächen von Schutzumschlag und Papier immer wieder abtastet, ist bei dem Thema naheliegend, aber nicht selbstverständlich – denn

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Unpolitische Forscher Die Physiker und die Nazis –diese Geschichte ergänzt der ehemalige Nature-Redakteur Philip Ball in Serving the Reich um einen Protagonisten, der hierzulande selten im Vorder-grund steht: Peter Debye. Der Niederländer unterzeichnete 1938 als Präsident der Deut-schen Physikalischen Gesell-schaft einen Aufruf an die jüdi-schen Mitglieder, aus der Gesellschaft auszutreten. Ball rekonstruiert das Verhalten von Max Planck, Werner Heisen-berg und Peter Debye in all sei-nen Widersprüchen. Die Ge-schichte hat eine Moral: Der vermeintlich rationale und un-politische Wissenschaftler hat in moralischen Fragen keinerlei höhere Weisheit bewiesen. Im Gegenteil. Oft waren die For-scher in politischen Fragen naiv. Sie taten alles, um ihre For-schung zu retten. Max RaunerPhilip Ball: »Serving the Reich« Bodley Head, 300 S., 20 €

Nackt bis auf die Haut Viel Lob bekam Marc Elsberg für seinen akribisch recherchier-ten Roman Blackout, in dem ein Stromausfall Europa in eine Ka-

tastrophe treibt. Blackout wurde zur Lieblingslektüre von Kraft-werksingenieuren – und ein Bestseller. Mit seinem neuen Buch Zero hat sich Elsberg wie-der ein hochaktuelles, brisantes Thema vorgenommen und ei-nen Thriller inszeniert. Diesmal geht es um Datenkraken: um Internetfirmen, die alles über die Bürger wissen und ihr Ver-halten manipulieren. Online-Aktivisten kämpfen gegen die Übermacht der Alleswisser und die Naivität der Bürger. Eine Journalistin gelangt in die Schusslinie. Obwohl die Technologien – Smartwatches, Datenbrillen, Drohnen, Fitness-Apps – tat-sächlich allesamt schon existie-ren, treibt Elsberg ihre mögli-chen Folgen mit dramatischer Konsequenz auf die Spitze und malt eine Zukunftsdystopie aus, die aufrüttelt. Die Idee ist gut, die Story spannend, die Erzähl-weise allerdings etwas platt und zuweilen klischeehaft. Wer sich davon nicht stören lässt, wird eine Big-Brother-Gänsehaut be-kommen. Claudia WüstenhagenMarc Elsberg: »Zero – Sie wissen, was du tust« Blanvalet Verlag, 480 S., 19,99 €

gutes Papier hat seinen Preis. Warum das so ist, das wissen wir jetzt auch. Hella Kemper Erik Orsenna: »Auf der Spur des Papiers. Eine Liebeserklärung« C. H. Beck, 336 S., 19,95 €

Im Dunstkreis des Higgs-TeilchensJede Menge Elementarteilchen und viele abstrakte Begriffe prasseln auf Leser ein, sobald sie Rüdiger Vaas’ Buch auf-schlagen. Vom Gottesteilchen zur Weltformel beschreibt die Phy-sik rund um das berühmt ge-wordene Higgs-Teilchen. Die extreme Nähe, die das Werk dabei zum Paralleluniversum der Teilchenphysiker hat, ist seine Stärke und Schwäche zu-gleich. Interessierte, die nicht nur das Phänomen Higgs er-klärt haben wollen, sind hier richtig aufgehoben. Das Buch beleuchtet den Dunstkreis der mit dem Higgs verbundenen Theorien wie der Supersymme-trie und liefert zudem lesens-werte Anekdoten, etwa über all die Kuriositäten rund um die jüngste Nobelpreisverleihung. Laien jedoch, die nicht regel-mäßig mit Vektoren, skalaren Feldern und zusätzlichen Di-

mensionen zu tun haben, ver-lieren bei diesem Buch schnell den Anschluss. Entsprechend ist es nur für wirkliche Teil-chenphysik-Fans ein Genuss. Haluka Maier-BrostRüdiger Vaas: »Vom Gottes-teilchen zur Weltformel« Kosmos Verlag, 500 S., 25 €

WAS LESEN NOBELPREIS-TRÄGER?

Dorothy Crawford und Alan Rickinson: »Cancer Virus« »Dieses spannende Buch be-schreibt die Entdeckungs-geschichte des ersten mensch-lichen Virus, das mit Krebs in Verbindung gebracht wurde. Es ist für jeden interessant, der sich für die Geschichte der Tumorvirologie interessiert.« Oxford Univ. Press, 256 S., 16 €

Harald zur Hausen, Medizin- Nobel preis 2008

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GADGETS

Mobiler PannenhelferDass der Akku im Smartphone mal schlapp macht, ist ge-lernter Alltag. Dass der Akku im Auto mal schlapp macht, ist nicht ganz so gelernter Alltag – kommt aber trotzdem vor. Gut, dass der JunoJumpr beide aufladen kann.JunoJumpr von Junopower, 89,99 $, junopower.com

Coffee to driveApropos Auto und Akku: Beides braucht man in funk-tionsfähigem Zustand für diese Espressomaschine. Dann kann man recht ein fach über den Zigaretten -anzünder einen richtig hei -ßen, leckeren Espresso brühen.Espressgo von Lavazza, 149 € , www.lavazza.de

RaumbeherrschungBloß nicht draufstellen, dieses Gerät ist keine Digitalwaage! Aber ruhig in den Weg stellen, denn dieser Roboter scannt mit Laserstrahlen fünfmal in der Sekunde den Raum und ist so jederzeit in der Lage, seinen Job als Staubsauger zu erledigen. Botvac von Neato, ab 549 € , www.neatorobotics.com/series/botvac/

Old School»Boys don’t cry«, »Bigmouth Strikes Again«, »New Year’s Day«: Songs, die in den Achtzigern auf ein gutes Mix-Tape gehörten. Die Erinnerung kann man nun aufleben lassen mit diesem Kassettendeck, äh, Entschuldi-gung: iPhone-Lautsprecher. Eines aber wird fehlen: der Bandsalat.iRecorder von thumpsUp!, ab 32 € , www.thumbsupuk.com/de

Bunter FreisprecherZugegeben: Die Leute schauen einen schon ein wenig komisch an, wenn man diesen kabel-losen Kopfhörer trägt. Dafür wird man mit einem Gerät entschädigt, bei dem kein Kabel den Musikgenuss stört und mit dem man auch noch frei-sprechend telefonieren kann.hi-Edo von hi-Fun, 79,90 € , www.hi-fun.de/Hi-Edo

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ZEIT WISSEN:

Neu fürIhr iPadDie neue E-Paper-App von ZEIT WISSEN ist da: Schneller Zugang zu vielen Wissens-themen, komfortables Blättern und mobiles Lesen, brillante Farben, sowie Pinnwand- und Archiv-Funktion.

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1 Mathe malenDiese App ist wie ein Taschenrechner, der Hand- schrift lesen kann: Man schreibt wie auf einem Zet-tel, und die App löst selbst komplexeste Aufgaben. »MyScript Calculator«, iOS und Android (gratis)

2 Summa summarumWie viele Bienenvölker gibt es hierzulande? Mit welchen Balkon- oder Gartenblumen können wir Bienen helfen? Die App des Bundesland-wirtschaftsministeriums hat Ant wor ten. Und ein Quiz!»Bienen App«, iOS, Android und Windows Phone (gratis)

3 Oxytocin, mon amourIst Liebe nur eine chemi-sche Reaktion? Sollte Alko- hol verboten werden?

Diese App erklärt diese und andere Fragen aus der Sicht der Wissenschaft. »Big Picture Debates the Brain«, iOS, englisch (gratis)

4 Pflanz dich!Die Grundlagen der Bota - nik, anschaulich und ohne zu viel Firlefanz dargestellt. Detaillierte Schaubilder zei gen Aufbau, Struktur und Evolution der Pflanzen.»Focus on Plant«, iOS, 4,49 €

5 Sehr poetischDie preisgekrönte große Wörterfabrik ist ein inter-aktives, verspieltes Kinder-buch über den Wert der Wörter und der Liebe. »Die große Wörterfabrik«, iOS (iPhone: 0,99 € /iPad: 2,69 € ) und Android (2,96 € ), diewoerterfabrik.de

6 Extrasolar und doch so nahMehr als 1700 Planeten, die sich außerhalb unseres Sonnensystems befinden – detailliert beschrieben und dar gestellt in einer 3-D-Simulation der Milchstraße. »Exoplanet«, iOS (gratis, In-App-Zusatzkäufe möglich). exoplanetapp.com

7 Fisch mit Herz Welche Fischart ist so überfischt, dass man beim Einkauf auf sie verzichten sollte? Wo sind die Be-stände weniger gefährdet? Den WWF-Fischratgeber gibt es jetzt in einer ak tua-lisierten Version. Inklusive Meeresfrüchten. »WWF-Fischratgeber«, iOS und Android (gratis), Online-version: fischratgeber.wwf.de

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»Sexualität im Wandel« war mit stereotypen Weiblein-Fotos geschmückt, wie man sie eher aus den Weiblichkeitsideale reprodu-zierenden Boulevardblättern kennt. Dies empfand ich als regelrecht abstoßend. Warum müssen überhaupt beim Thema Sexualität ausschließlich Frauenkörper ge-zeigt werden? Eine ernsthafte Zuwendung zum Thema ist das in meinen Augen nicht. Dominique Weiland, per E-Mail

Kann Tieren etwas peinlich sein?

Das Herrchen verbellt

Natürlich kennen höhere Lebewesen Pein-lichkeit oder andere Emotionen. Ich las mal von einem älteren Hund, dessen Sehkraft schon beeinträchtigt war. Er verbellte einen Fremden, bis er bemerkte, dass dies sein Herrchen war. Da drehte er sich um und bellte in die andere Richtung – offenbar war ihm das erste Nichterkennen des Herr-chens peinlich, und er versuchte »die Situa-tion zu retten«. uwe4321, Onlinekommentar

Verändert Musik einen Raum?

Die Erinnerung verändert

Die Erklärung im Artikel greift zu kurz. Wissenschaftliche Erkenntnis ist bei der Frage, ob Akustik einen Raum verändert, nur ein Nebeneffekt. Beams have no colours, heißt es bei der optischen Wahrnehmung, Farbe entsteht – genau wie Musik – im Ge-hirn. Wenn ich Musik in einem Raum höre, von dem ich weiß, dass Liszt, Brahms und Strauss dort gespielt wurden, dann wohnt seinen Wänden die Erinnerung daran inne und ändert die Musik, die ich dort empfin-de. Das ist das Mysterium der Musik.Mogelmann, Onlinekommentar

Fetalchirurgie

Zweifelhafte OperationsmethodeIhr Artikel lenkt die verständlichen Hoff-nungen verzweifelter Eltern in eine falsche Richtung. Er trägt dazu bei, dass die Dis-kussion über eine zweifelhafte Operations-methode den Umgang mit einer lebensbe-stimmenden geistigen Entwicklungsstörung aufgrund einer angelegten Hirnfehlbildung in den Hintergrund drängt. Die Einführung einer Hochrisikotechnologie, die mit einem Eingriff zwei Menschen (Mutter und Kind) schwer schädigen kann, bedarf ganz beson-derer Umsicht, denn betroffene Familien sind aus Sorge um das Wohlergehen ihres ungeborenen Kindes sehr einfach zur In-kaufnahme hoher Risiken zu verführen. Unsere Kollegen in den USA haben diese ethische Herausforderung vorbildlich gelöst. Die Operation am offenen Uterus wird an zwei erfahrene Zentren delegiert und streng überwacht. Die Ergebnisse bestärken die Hoffnung, dass die frühere Unterbindung des Kontaktes zwischen Fruchtwasser und Rückenmark vorteilhaft für das Kind sein könnte. Diese chirurgischen Ergebnisse für eine völlig andere, der Operation an der of-fenen Gebärmutter technisch weit unterlege-ne (endoskopische) Methode zu instrumen-talisieren ist unredlich. Den hochriskanten endoskopischen Eingriff ohne prospektive kontrollierte Studie und ohne ein externes Monitoring anzubieten ist fahrlässig. Es mag nicht zuletzt dem Umstand geschul-det sein, dass Herr Kollege Kohl, anders als in Ihrem Artikel behauptet, nicht Chirurg, sondern Kinderarzt ist. Er ist deshalb gar nicht dazu in der Lage, den in den USA und neuerdings auch in Zürich erreichten Stand der Technik anzubieten. Die von ihm be-haupteten guten Behandlungsergebnisse treffen mit hoher Sicherheit nicht zu. Alle acht im Sozialpädiatrischen Zentrum unse-res Hauses persönlich bekannten und von mir oder anderen Kollegen in mehrstündi-gen Eingriffen nachoperierten Kinder wur-den überhaupt nicht zur Nachuntersuchung eingeladen. Eine objektive Ergebnisanalyse ist unter diesen intransparenten Umständen nicht möglich. Unverständlicherweise schei-

nen diese offensichtlichen Missstände die zuständige Ethikkommission vor Ort wenig zu beeindrucken. PD Dr. med. Hannes Haberl, Leiter des Arbeitsbereiches Pädiatrische Neurochirurgie der Charité-Universitätsmedizin Berlin; Dr. Theodor Michael, Ärztlicher Leiter des SPZ für chronisch kranke Kinder der Charité-Hochschulmedizin Berlin

ZEIT WISSEN-Gespräch mit Sexualforscher Volkmar Sigusch

Sexistische Fotos

Das Interview bringt nichts Neues! Neu ist leider auch nicht, dass Medien, wenn Sexualität das Thema ist, auch im 21. Jahr-hundert immer noch Fotos von nackten weiblichen Körpern nötig haben, um dieses Thema interessant erscheinen zu lassen oder auch um die Verkaufsquote zu erhöhen. Sollten nicht endlich einmal schöne Fotos von nackten männ lichen Körpern gezeigt werden, bevor sich die »Geschlechterrollen ganz und gar aufgelöst« haben? Die Fotos von Neil Craver sind sehr schön. Sie hätten aber auch ohne das Interview in Ihrem Heft veröffentlicht werden können.Caren Wiesener, per E-Mail

Ich habe ZEIT Wissen zum ersten Mal gelesen, aber das Magazin hat mich bitter enttäuscht. Das Interview zum Thema

REAKTIONEN AUF DIE AUSGABE 03/2014

Sie erreichen uns über: Redaktion ZEIT Wissen, 20079 Hamburg, [email protected] oder über die Facebook-Seite von ZEIT Wissen www.facebook.com/ZeitWissen www.zeit.de/wissen/zeit-wissen

LESERFORUM

Das nächste ZEIT Wissen erscheint am 19. August 2014

Page 103: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

PODCAST RECHERCHEQUELLEN

Der Preis: Der große ZEIT-Atlas Die Welt im 21. Jahrhundert erfasst auf 700 Seiten den Wandel tder Erde und beleuchtet die Hintergründe sich neu verschiebender Grenzen – geografischer, politi-scher und ökonomischer Art. Er beantwortet Fragen zur neuen Weltordnung, zum Klimawandelund zur Knappheit der Ressourcen.

HerausgeberAndreas Sentker

Chefredakteur Andreas Lebert

Mitglied der Chefredaktion Jan Schweitzer

Art-DirektionWiebke Hansen

Redaktion Hella Kemper, Dr. Max Rauner, Claudia Wüstenhagen

Bildredaktion Trixi Rossi

Layout Mirko Merkel

AutorenNiels Boeing, Susanne Schäfer, Sven Stillich

Mitarbeiter dieser Ausgabe Mareile Jenß, Lydia Klöckner, Haluka Maier-Borst, Carola Mensch, Ulrike Meyer-Timpe, Anna von Münchhausen, Elisabeth Niejahr, Marcus Rohwetter, hhDr. Ragnhild Schweitzer, Astrid Viciano

Onlineredaktion Jochen Wegener (verantw.)

Korrektorat Mechthild Warmbier (verantw.), Maren Preiß,Karen Schmidt, Oliver Voß, Thomas Worthmann

IMPRESSUM

Beilagenhinweis:Diese Ausgabe enthält in Teilauflagen Publikationen folgender Unter-nehmen: Alnatura Produktions- und Handels GmbH, 64404 Bicken-bach; mymuesli GmbH, 10999 Berlin; RSD Reise Service Deutsch-land GmbH, 85551 Kirchheim; The Economist Subscription, 60325 Frankfurt/Main

Auflösung der vergangenen Ausgabe: Eisenmangelanämie

Unser Rätsel: Statt Erholung machen sich Erschöpfung und Appetitlosigkeit breit. Der Bauch drückt, die Haut juckt, und die Farbe des Urins erinnert an die von Bier. All das hat keine Langzeitfolgen, aber ein kleiner Piks hättees verhindern können. Welches Leiden suchen wir?

Schicken Sie uns die Antwort per Mail an [email protected] oder per Postkarte an ZEIT Wissen, Stichwort: Rätsel, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg. Einsendeschluss ist der 18. August 2014

Teilnahll meberechtigt sind alle Leserinnen und Leser ab 18 Jahren, ausgenoms men Mitarbeiter des Zeitverlags und der beteiligten Unternehmen sowie deren Angehörige. Alle richtigen Einsendungen nehmen an der Verlosung teil. Der Gewinner wird schriftlich benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, ebenso die Barauszahlung des Gewinns.rr

Kleine Zusatzhilfe:Lecker, aber manchmal

Quelle des Übels

Hören Sie rein: Zu jeder neuenAusgabe von ZEIT Wissen gibt es einen Podcast mit Hintergrund-informationen, exklusiven Interviews und ausgewähltem Bonusmaterial. Sie erfahren, was unsere Autoren bei ihren Recherchen erlebt haben und wie es unseren Reportern unterwegs ergangen ist. Der ZEIT Wissen-Podcast: unterhaltsam, überraschend,

gratis. ZEIT Wissen für die Ohren gibt’sunter www.zeit.de/serie/zeit-wissen-pod-cast oder bei t iTunes.

Lesen Sie weiter: Wir legen unsere Recherchequellen offen. Im Internet ffffschlüsseln wir für viele Geschichtendieser Ausgabe auf, mit welchen Forschern und Experten wir gespro-chen, welche Internetseiten wirbesucht und welche wissenschaft-lichen Studien wir genutzt haben. Wir machen unsere Arbeit damit für Sie transparenter. Sie finden Verweise auf unsere Recherchequellen unter www.zeit-wissen.de/0414quellen.Zu welchen Texten wir die Quellenonline bereitstellen, erfahren Sieim Inhaltsverzeichnis auf Seite 4/5.

VERSTECKTES SOUVENIRManche Menschen bekommen nach

dem Urlaub noch mal Farbe – ganz ungewollt

DAS HYPOCHONDRIE-RÄTSEL

VerlagsleitungSandra Kreft

Objektleitung Christiane Dähn

Geschäftsführung Dr. Rainer Esser

VertriebJürgen Jacobs

Marketing René Beck

Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen Silvie Rundel

Herstellung und Schlussgrafik Torsten Bastian (verantw.),Nicole Hausmann, Oliver Nagel

Gesamtanzeigenleitung Matthias Weidling

Anzeigenleitung Magazine Maren Henke (verantw.)

Empfehlungsanzeigeniq media marketing GmbH Gesamtanzeigenleitung: Michael ZehentmeierAnzeigenleitung: Karsten VölkerAnzeigenpreise: ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 10, 1. Januar 2014

Abonnement Jahresabonnement (6 Hefte)31,80 Euro, Lieferung frei Haus, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage; Abonnentenservice Telefon: 040/42 23 70 70, Fax: 040/42 23 70 90, E-Mail: [email protected]

Druck Firmengruppe APPL, appl Druck, Wemding

Repro4mat media, Hamburg

AnschriftZEIT Wissen, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH& Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon: 040/32 80-0, Fax: 040/32 80-553

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Page 104: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Es herrscht ein breiter Konsens darüber, dass man Psychopathen nicht heilen kann. Das erscheint mir ignorant. Wir wissen heute, dass bei Psychopathen be-stimmte Hirnregionen defekt sind, die mit der Furchtsteuerung zu tun haben.

Sie erinnern sich daher weniger gut an unangenehme Ereignisse und haben keine Angst vor den Folgen ihres Handelns. Deshalb verletzen sie ständig soziale Re-geln. Allerdings wissen wir auch, dass all diese Hirn-regionen enorm plastisch sind. Diese Areale enthalten Zellen, die direkt am Lernen beteiligt sind. Und wenn die Hirnregionen so plastisch sind, dann muss man sie auch ändern können.

Wir haben ein Training für Psychopathen entwi-ckelt, bei dem sie lernen, die Hirnregionen wieder zu aktivieren. Sie liegen in einem Magnetresonanztomo-grafen, der ihre Hirnaktivität misst, und sollen dann versuchen, die Aktivität willentlich zu beeinflussen – durch Erinnerungen, emotionale Gedanken oder Ähn-liches. Manche denken zum Beispiel an den Tod ihrer Oma, das wirkt sogar bei Psychopathen. Auf einem Bildschirm können sie verfolgen, ob sich im Gehirn schon etwas tut. Sie sehen eine Art Thermometer, das

sie zum Steigen bringen sollen. Wenn es sich bewegt, wissen sie, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Neuro-feedback heißt das. Wenn die Psychopathen lernen, ihre Hirnareale zu aktivieren, dann haben sie auch mehr Furcht. Das konnten wir belegen. Das funktionierte bei allen, die wir untersucht haben, sogar bei den schweren Kalibern. In den letzten Studien hatten wir es mit 16 Psychopathen aus dem Gefängnis in Straubing zu tun, davon waren die meisten Mörder oder Mehrfachmör-der, die hatten fast alle »lebenslänglich«.

Natürlich ist die kritische Frage: Hält der Effekt auch langfristig an, und ändert sich das Verhalten dieser Leute, wenn sie wieder in Freiheit sind? Das kann ich noch nicht sagen. Denn man kann sie ja nicht einfach rauslassen. Also bleibt nur abzuwarten, bis sie freikom-men. Meine Hypothese ist: Die Psychopathen, die dieses Training machen, haben deutlich weniger oder gar keine Rückfälle. Man muss sie aber motivieren, ihre Fähigkeiten auch einzusetzen. Auf Einsicht braucht man nicht zu hoffen. Die Psychopathen müssen einen Vorteil davon haben. Wir zahlen ihnen daher Geld dafür, dass sie an den Experimenten teilnehmen. Später in Freiheit müssen Therapeuten sie begleiten und mit ihnen unter realen Bedingungen trainieren.

OPTIMIST

Niels Birbaumer leitet das Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneuro-biologie der Univer-sität Tübingen. Gerade erschien sein Buch »Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst« (Ullstein) über seine Arbeit mit Koma- und Schlag-anfallpatienten sowie Psychopathen

Diese Frage spaltet die Forschung. Eines Tages werden wir die Gehirne von Psychopathen umprogrammieren können, glauben Optimisten

Einmal Mörder, immer Mörder?

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Page 105: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Die Studien zeigen, dass bisher ange-wandte Therapien bei erwachsenen Psychopathen gar nicht oder nur sehr unzureichend wirken. Psychopathi-sche Sexualverbrecher, die als besonde-rer Therapieerfolg gewertet wurden,

hatten in einer Studie sogar besonders häufig Rückfälle, und in Gruppentherapien ist beobachtet worden, dass Psychopathen manchmal eher lernen, wie sie andere Leute manipulieren können, statt Fortschritte zu ma-chen. Eine Psychotherapie basiert auf Vertrauen zum Therapeuten, Kritikfähigkeit, der Fähigkeit, Emotio-nen zu erleben, und Veränderungswillen. All diese Din-ge sind bei Psychopathen gar nicht oder nur sehr schwach ausgeprägt. Gerade schwere Psychopathen haben keinen Veränderungswillen, sie erleben sich selbst als völlig in Ordnung und haben häufig kein Ver-ständnis dafür, dass ihnen von der Umwelt und vom Recht Grenzen gesetzt werden.

Der Methode des Biofeedbacks bin ich durchaus positiv gegenüber eingestellt – wir nutzen dieses Ver-fahren am Mannheimer Zentralinstitut auch. Aber so spannend es wissenschaftlich auch ist, befindet es sich noch in einem frühen experimentellen Stadium. Selbst wenn Psychopathen lernen können, ihre Hirnareale zu

beeinflussen – die entscheidende Frage ist dann ja: Hat das auch einen Effekt auf ihr Verhalten, der außerhalb des Labors zum Tragen kommt? Nach meiner Erfahrung lernt man mit so einem Training im optimalen Fall einen Skill, also die Fähigkeit, das Gehirn in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber diesen Vorgang muss man selbst bewusst anstoßen. Psychopathen müssen das also auch wollen und tun; bei beiden Aspekten sehe ich große Fragezeichen. Wie gesagt: Die Erfahrungen aus der klassischen Psychotherapie stimmen mich pessi-mistisch. Wenn ich keine Veränderungsmotivation habe und alles prima finde, was ich mache, dann werde ich diesen Skill, selbst wenn er außerhalb des Kernspins an-wendbar wäre, vermutlich nicht nutzen.

Ich bin ein bisschen optimistischer, was die Inter-vention bei Jugendlichen und bei Kindern betrifft. Da gibt es einige hoffnungsvolle Studien, die zeigen, dass eine Therapie in dieser Lebensphase durchaus einen relevanten Effekt haben kann, der andauert. Eine solche Frühintervention erscheint mir sehr sinnvoll. Grund-sätzlich wäre wichtig, weiter zu erforschen, welche Lern-vorgänge und plastischen Veränderungen bei Psycho-pathen möglich sind – dazu brauchen wir mehr Möglichkeiten, solche Untersuchungen auch bei inhaf-tierten Psychopathen durchführen zu können. —

PESSIMIST

Andreas Meyer- Lindenberg ist Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesund-heit in Mannheim. Er erforscht Risikofaktoren für schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie und Depression sowie die biologi-schen Grundlagen des menschlichen Sozialverhaltens

Gehirne von Psychopathen funktionieren anders. Durch Defekte mancher Areale neigen sie zu rücksichtslosem Verhalten, viele werden zu Verbrechern. Kann man sie ändern?

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Page 106: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

Ums Image muss sich ein Haar keine Sorgen machen. Es ist fantastisch. Haarfein muss das Nahtmaterial der Chirurgen sein, haarklein zu erzählen gilt als Gipfel der

Genauigkeit, und wenn etwas um Haares-breite schiefgegangen wäre, hat jemand ge-rade noch mal Glück gehabt. Haare sind etwas sehr Zartes, sehr gut Gebautes, und in Gestalt von 100 000 bis 150 000 Stück pro Menschenkopf geben sie ein reizendes, wärmendes, erotisches Si gnal ab.

Sehr gut gebaut? Zu sehen ist meist nur der weitaus simpelste Teil, der H-Schaft, zu 90 Prozent bestehend aus Proteinen, die als Keratin bezeichnet werden. Viel raffinierter ist die Wurzel, im unteren Bereich der Leder-haut an der Haarpapille gelegen. Dort webt diese Wurzel die Keratinfäden, und zwar mit ordentlich viel Dynamik. Immer weiter schieben sie sich durch die Oberhaut hinauf ans Tageslicht – millimeterweise, einen Zen-timeter pro Monat. Manchem kann es nicht schnell genug gehen, vor allem wer im Salon von »Edward mit den Scherenhänden« kur-zerhand verschnitten wurde.

Allerdings hat ein Haar sich ziemlich viel gefallen zu lassen. Durch Ammoniak entfärbt, mit Brennscheren gezwirbelt, mit Föhn und Heißlufthauben überhitzt, in ab-surde Trachten gezwungen. Sogenannte Disulfidbrücken im Keratin können durch chemische Substanzen aufgebrochen wer-den, um Volumen und Locken zu formen, wo vorher Schnittlauch hing. Melanine,

synthetisch draufgepackt, verändern radikal die Haarfarbe. Es soll eben schmücken, das Haar. An den Haarwurzeln produzieren Talgdrüsen (hoffentlich) kleine Mengen an Fett. Wird der Schopf gebürstet, verteilt sich das über die ineinandergreifenden Zellen der äußersten Schicht, der Cuticula, ähnlich wie beim Schuppenkleid eines Fischs. Je per-fekter sich die Zellen ineinanderschmiegen, desto mehr Glanz.

Alles wunderschön, oh ja. Aber da gibt es auch die dunkle Seite. Ein Haar vergisst nicht. Es verfügt über das perfekte Gedächt-nis. Alles, was an Lebensmitteln, Flüssig-keiten oder Drogen durch den Körper ge-schleust wird, hinterlässt im Haar Spuren. Winzige Proben, aus der Wurzel entnom-men, genügen, um einen Delinquenten zu überführen. Haar beschäftigt eben längst nicht nur Friseure. Selbstlos stellt es sich Dermatologen, Endokrinologen und Trans-plantationschirurgen zur Verfügung und verhilft ihnen zu Ruhm und Wohlstand.

Ja, selbst Emotionen kann das Haar aus-drücken, dank eines winzigen Muskels (Mus-culus arrector pili), angeklemmt an der Haarwurzel. Gehört das Haar einem Chole-riker, kann es Wutanfälle ankündigen, indem es sich am Nacken senkrecht aufstellt. Und das alles bei einem Durchmesser von einem Zehntelmillimeter. In puncto Reißfestigkeit ist ein Haar sogar Kupferdraht gleicher Stär-ke überlegen. Lässt es denn alles mit sich machen? Nein! Manchmal reicht es ihm. Dann splisst es, dann bricht es, und was mal Fülle war, fällt aus. Sei gut zu deinem Haar. —

Immer dreht sich alles um den Menschen. Höchste Zeit, die Perspektive zu wechseln

DIE WELT AUS DER SICHT EINES     HAARES

Text Anna von Münchhausen Illustration Anoushka Matus

Page 107: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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Page 108: Zeit Wissen - Juni-Juli 2014

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