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Studie Zeiten und Räume von Wissensarbeitern. Empirische Untersuchung zur Lebensführung einer neuen Dienstleistungselite von Silke Steets ([email protected]) Die Studie wurde erstellt im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau. Dipl.-Soz. Silke Steets Nikolaistraße 31 HH 04109 Leipzig

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Studie

Zeiten und Räume von Wissensarbeitern.Empirische Untersuchung zur Lebensführung einerneuen Dienstleistungselite

von Silke Steets ([email protected])

Die Studie wurde erstellt im Auftrag der Stiftung Bauhaus Dessau.

Dipl.-Soz. Silke SteetsNikolaistraße 31 HH04109 Leipzig

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Access, Vernetzung und der Tod der Kategorie Raum? 1

2 Wissensarbeiter in der Dienstleistungsgesellschaft 5

3 Theorien des Raumes 8

3.1 Henri Lefèbvre: Die Produktion des Raumes 8

3.2 Martina Löw: Raumsoziologie 10

4 (Tele)Forschungsdesign 12

4.1 Konzept der alltäglichen Lebensführung 12

4.2 Operationalisierung 13

4.2.1 Tätigkeitspläne 13

4.2.2 Online-Interviews 15

4.3 Beschreibung des Samples 17

5 Ergebnisse 21

5.1 Zeitnutzungsmuster und daraus resultierende Räume 21

5.1.1 Entwicklung von Routinen 21

5.1.2 Die Praxis des Multitaskings 23

5.2 Raumproduktion in Online-Interviews 23

6 Netzwerke: Perspektiven für die Dienstleistungsstadt? 26

7 Literaturverzeichnis 30

8 Abbildungsverzeichnis 32

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1 Einleitung: Access, Vernetzung und der Tod der Kategorie Raum?

Der Konsument des 21. Jahrhunderts kauft keine Produkte mehr, sondern Ideen und

Erfahrungen oder den Zugang zu Möglichkeiten. "Access" lautet ein vielzitiertes

Zauberwort und der Bestseller des amerikanischen Autors Jeremy Rifkin, der 2001

den Anfang vom Ende der Herrschaft des Materiellen ankündigte. Produkte sind in

der postindustriellen Gesellschaft nicht mehr in erster Linie über ihren Gebrauchs-

oder auch Tauschwert definierte materielle Waren, sondern technische

Zugangsmöglichkeit oder Plattformen, um Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen

oder sie stehen für eine bestimmte Idee und haben damit einen symbolischen Wert.

Mobiltelefone sind ein gutes Beispiel für dieses Phänomen: Um die Dienstleistung

der Mobiltelefonie möglichst breit zu verkaufen, bekommt der Kunde vom Anbieter

das Handy für einen symbolisch niedrigen Preis "geschenkt". Was er eigentlich kauft,

ist die Dienstleistung; das Produkt ist nichts weiter als die Möglichkeit, die

Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Beim Computer ist es ähnlich. Wer für die

Hardware "Computer" zahlt, erwirbt zunächst nichts anderes als den Zugang zur oft

grenzenlos erscheinenden digitalen Welt. Er/Sie eröffnet sich die Möglichkeit Texte

zu schreiben, Tabellen zu kalkulieren, im Internet zu surfen, Emails zu verschicken,

Photos zu bearbeiten, Filme zu schneiden, Spiele zu spielen und vieles mehr. Die

Hardware ist dabei nur die Tüte, auf den leckeren Inhalt, die Software kommt es an,

eine Dienstleistung also, bei der die Reproduktionskosten kaum eine Rolle spielen

und deren Essenz reines Wissen ist in Form der Leistung von Programmieren und

Entwicklern.

Der symbolische Wert materieller Produkte zeigt sich am deutlichsten in der bunten

Welt der Marken. Unternehmen wie Nike, Starbucks, Disney, Gap usw. verstehen

sich nicht mehr als Produkthersteller, sondern als Sinnvermittler; Marken stehen für

Lebensstil- und Identitätsangebote. Das Logo "Nike" repräsentiert längst nicht mehr

den Joggingschuh, sondern die Idee von Gesundheit, Fitness und Sport; "Starbucks"

steht für eine bestimmte Kaffeeerfahrung, "das Gefühl von Wärme und

Gemeinschaft, das man in Starbucks-Geschäften bekommt" (H. Shultz zit. nach N.

Klein 2002, 40) und Ikea ist einfach nur cool. Marken, die keine Produkte mehr sind,

können alles sein, was die oftzitierte Werbung von Absolut Vodka auf den Punkt

bringt. Das Produkt wird zur leeren Flasche, die zielgruppengerecht mit beliebigem

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Playboy" (N. Klein 2002, 38). Mit dem Beginn der Konzeptwerbung verabschiedeten

sich die Unternehmen zunehmend aus der materiellen Welt der Waren. Die

Güterproduktion wurde immer stärker an Subunternehmer weitergegeben

(outsourcing), idealerweise an die Sweatshops der sog. Dritten Welt, wo die

Arbeitskräfte billig, die Gesetze lax und die Steuervergünstigungen enorm sind.

Hierzulande sehen sich diese Unternehmen als Initiatoren von

Lebensstilbewegungen, als Sinnproduzenten und als Serviceplattformen, die

Erfahrungen bereitstellen. Sie schaffen transzendentale Logos und handeln nur noch

mit "Brainware", mit Wissensstücken, Konzepten und Ideen.

Der Wandel von der erdschweren Industrie- zur "immateriellen" Dienstleistungs- und

Wissensgesellschaft veränderte auch die kulturellen, die symbolischen und die

raumgeographischen Konfigurationen unserer Städte. An die Stelle klar

abgrenzbarer städtischer Raumeinheiten für Arbeiten, Wohnen, Vergnügen und den

dazugehörigen sozialen Milieus treten Manifestationen global operierender

Unternehmen in Form von Konzernzentralen und daran angegliederte

Subdienstleister. Veränderte Arbeitsformen induzieren die zeitliche wie räumliche

Mischung unterschiedlicher Lebensbereiche, und globale Kulturtrends interagieren

mit lokalen Praktiken historisch gewachsener Milieus. Die Dienstleistungsstadt

entstand vor allem durch den enormen Anstieg des Bedarfs an

unternehmensbezogenen Dienstleistungen1 in allen Industriezweigen vom Bergbau

über die Fertigung bis hin zu den Finanzdienstleistern, aber analog zum

Bedeutungsverlust des Materiellen in der Warenwelt wird auch die Stadt zunehmend

zur Tüte oder besser vielleicht zur Screen, zum Interface, das flexibel bespielbar ist

und unterschiedlichste Kontexte verknüpft. Die Hülle trennt sich vom Innern, was

man an Bankentürmen beobachten kann, deren Höhe und architektonische Form

keinerlei Ausdrucksfunktion mehr gegenüber der Tatsache haben, dass Banken zu

DATENbanken und zu Steuerungsrelais im globalen Transaktionsraum geworden

sind.

1 Unternehmensbezogene Dienstleistungen sind Zwischenerzeugnisse, d. h. Dienste, die von anderenUnternehmen erworben werden beispielsweise aus den Bereichen Recht, Finanzwesen,Management, Forschung, Entwicklung, Design, Verwaltung, Instandhaltung, Transport,Kommunikation, Großhandel, Werbung, Büroreinigung, Sicherheit, Lagerhaltung...

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Die Netzwerke der Technik, des Verkehrs, der Telekommunikation und der Wirtschaft

bilden eine neue Geographie der Zentralität (wenn auch ohne geographisches

Zentrum), die sich auf wenige "Global Cities", genauer, auf einige darin liegende

Areale stützt, die die Steuerzentren des weltumspannenden "space of flows" (Manuel

Castells) darstellen. Alles, was außerhalb dieses Raumes liegt, ist Peripherie.

Diejenigen, die keinen Zugang (Access!) dazu haben, bilden die große Gruppe der

Marginalisierten.

Mit der Diskussion um die Auswirkungen der Globalisierung und die damit

zusammenhängende "Virtualisierung" und "Informatisierung" der Gesellschaft wurde

viel geschrieben vom Tod der Kategorie "Raum", von der Delokalisierung

menschlicher Aktivitäten, von räumlicher und sozialer "Entankerung" und davon dass

die städtische und regionale Raumordnung endgültig durch eine weltumspannende

Zeitordnung abgelöst werde (Virilio, 1994 in Noller, 22). In der Folge dieser

Diskussionen rückte die Frage nach der Bedeutung des Raumes für die Konstitution

sozialer Beziehungen in modernen Gesellschaften ins Zentrum

sozialwissenschaftlicher Analysen. Die Beantwortung dieser Frage hängt

entscheidend davon ab, wie man "Raum" theoretisch konzeptionalisiert: Fasst man

Raum absolutistisch, als abgegrenztes Territorium, als Container, in dem sich

Handeln und Kommunikation abspielen, dann wird man dem Argument der durch

Internet und globaler Ökonomie induzierten Enträumlichung menschlicher Aktivitäten

wenig entgegen setzten können. Definiert man Raum allerdings relational und

prozessual als über menschliches Handeln konstruierte Anordnung von Dingen und

Lebewesen, dann wird man den Raum auch in Zeiten der Globalisierung nicht

aufgeben müssen, sondern schlicht eine andere Art der Konstitution diagnostizieren.

Diese neue Form der Herstellung von Raum, in der "global flows" und "local cultures"

aufeinandertreffen, gilt es im folgenden zu untersuchen.

Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft ist verbunden mit dem steilen Aufstieg

eines hochqualifizierten Wirtschafts- und Finanzmanagements. Diese neuen Eliten,

sogenannte Wissensarbeiter, operierten und lebten, so Hartmut Böhme, "kaum

ortsbezogen, [sie] erzeugen jedoch einen außerordentlichen Bedarf an

Dienstleistungen, die vorwiegend von den neuen Zuwandererpopulationen erbracht

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werden. Die kulturgeographisch entwurzelte, global agierende, äußerst

arbeitsintensive, hochbezahlte, konsumtiv und kulturell anspruchsvolle Management-

Elite benötigt vor Ort eine beispiellose Konzentration an lebensstilfördernden

kulturellen, privaten und semiöffentlichen, hochspezialisierten Dienstleistungen..."

(Hartmut Böhme, 4). Ähnliche Aussagen zur Lebensführung dieser

hochqualifizierten Elite findet man häufig, empirische Studien dazu sind jedoch rar.

Die vorliegende Arbeit fasst Böhmes Behauptungen als Ausgangspunkt und versucht

diese empirische Lücke zu schließen, indem sie Erkenntnisse darüber sammelt wie

Wissensarbeiter ihren Alltag organisieren und auf welche Zeit- und

Raumverwendungen sie dabei zurückgreifen.

Da Wissensarbeiter in ihrer Arbeit sehr stark auf die Verwendung neuer

Kommunikations- und Informationstechnologien (ICT) zurückgreifen bzw.

angewiesen sind, gilt der "virtual reality"2 und ihrer Verknüpfung mit dem physischen

Raum besondere Aufmerksamkeit. In welchen globalen Netzwerken bewegen sich

die Wissensarbeiter? Und wie stellen sie für sich die Verbindung zur physischen

Umwelt her? Wie wechseln sie zwischen den verschiedenen Raum- und Zeitwelten?

Ist es möglich eine Art Tätigkeitstopographie zu erstellen?

Auf der Grundlage der Definition von "Wissensarbeit" (Kapitel 2) und der Einführung

der raumtheoretischen Konzepte von Henri Lefèbvre und Martina Löw (Kapitel 3)

erfolgt die Darstellung des empirischen Teils in Kapitel 4. Dieser versucht mit Hilfe

des Konzepts der alltäglichen Lebensführung die theoretischen Begriffe der

vorangegangenen Abschnitte auf den konkreten Alltag der Subjekte

herunterzubrechen, um daraus diagnostisch erste Schlüsse zu ziehen. Kapitel 5 faßt

die wesentlichen Ergebnisse zusammen, die im Schlußabschnitt (Kapitel 6) in der

sozialen Morphologie des Netzwerks verdichtet werden.

2 Unter "virtual reality" oder "virtuellem Raum" sollen in dieser Studie die internationalenComputernetzwerke, insbesondere das Internet bezeichnet werden. Um simulierte Umgebungen, inder die Akteure eine Wahrnehmung realer Präsenz entwickeln (wie in bestimmten Computerspielen)oder um fiktionale Zukunftsentwürfe einer vollkommen computergesteuerten Welt, geht es hier wenn,dann nur am Rande.

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2 Wissensarbeiter in der Dienstleistungsgesellschaft

In der Dienstleistungsökonomie ist menschliche Arbeit immer weniger die Erzeugung

von Produkten als viel mehr die Verarbeitung und Bereitstellung (Service!) von

Wissen. "Brainware" gilt mittlerweile neben den klassischen Produktionsfaktoren

Arbeit, Boden und Kapital als vierte Produktivkraft, die die drei erstgenannten

zukünftig immer stärker an Bedeutung übertreffen wird. Sogenannte

"Wissensarbeiter" bilden eine aufstrebende Elite, sie seien "Katalysatoren der Dritten

Industriellen Revolution", die die High-Tech-Ökonomie am Laufen hielten, schreibt

Rifkin. Doch was genau versteht man unter Wissensarbeit, was sind Wissensarbeiter

und was ist das entscheidend Neue an ihrer Arbeitsweise?

Als Wissensarbeit gilt die Bewältigung komplexer und neuartiger Aufgaben, die

innovative Lösungen erfordern und direkt den Bedingungen des Marktes unterworfen

sind (und sich damit von der klassischen Wissenschaft unterscheiden). Das heißt,

das Ergebnis von Wissensarbeit ist immer eine Ware, die in Form einer

Dienstleistung oder als "Brainware" (reines Wissen, das beispielsweise in eine

bestimmte Software oder eine Werbekampagne einfließt) veräußert wird.

"Er [der Begriff 'Wissensarbeit'] kennzeichnet Tätigkeiten (Kommunikationen, Transaktionen,

Interaktionen), die dadurch gekennzeichnet sind, daß das erforderliche Wissen nicht einmal

im Leben durch Erfahrung, Initiation, Lehre, Fachausbildung oder Professionalisierung

erworben und dann angewendet wird. Vielmehr erfordert Wissensarbeit [...], daß das

relevante Wissen (1) kontinuierlich revidiert, (2) permanent als verbesserungsfähig

angesehen, (3) prinzipiell nicht als Wahrheit, sondern als Ressource betrachtet wird und (4)

untrennbar mit Nichtwissen gekoppelt ist, so daß mit Wissensarbeit spezifische Risiken

verbunden sind" (Willke 1998, 161).

Mit anderen Worten: Wissensarbeit hat mehr mit Nichtwissen und dem Umgang mit

Unsicherheit zu tun, als mit Wissen. Wissensarbeiter unterscheiden sich von

Fachexperten, die es seit jeher gegeben hat, dadurch, dass letztere auf der Basis

von Wissen arbeiten, d.h. auf einen definierten Fundus an Spezialwissen

zurückgreifen, das sie beispielsweise während ihrer Ausbildung erworben haben

(z.B. Ärzte, Lehrer, Juristen, Wissenschaftler). Wissensarbeiter hingegen arbeiten mit

Wissen, sei es mit ihrem eigenen oder mit Fremdwissen. Als "Problemlöseexperten"

oder "Wissensintegratoren" entwickeln sie Strategien und Konzepte, um

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Wissensstücke einem vorher definierten Ziel (meist einem Geschäftsauftrag) gemäß

zu strukturieren. Sie nutzen Wissen als Ressource, entwickeln es weiter, hinterfragen

es kritisch und stellen Verknüpfungen her, was sie zu Grenzgängern zwischen

unterschiedlichen Fachdisziplinen und Organisationsstrukturen macht. Als klassische

Beispiele für Wissensarbeit gelten Unternehmensberatung, spezielle Formen der

Finanzdienstleistung, aber auch die "creative service workers" in Werbeagenturen.

Unternehmensberater setzen da an, wo Unternehmer und Manager nicht mehr

weiterwissen, weil beispielsweise schwer beobachtbare Tiefenstrukturen der

Kommunikation die Oberflächenphänomene eines Firmensystems mitbestimmen. Für

die Berater geht es nun darum die Operationsweise dieses Systems zu analysieren

und auf ein bestimmtes Ziel hin zu beeinflussen. Dabei generieren sie

kontextabhängige Tools und Methoden, die idealerweise die Eigendynamik des

Systems mitberücksichtigen.

Das Feld der Finanzdienstleistungen "explodierte" mit der Globalisierung der Märkte,

durch die Anlegen und Leihen ab einer bestimmte Größenordnung zu

hochprofessionalisierten Operationen geworden sind. Die Interdependenz der

Märkte, ihre Volatilität, Undurchsichtigkeit und Eigendynamik erfordert hochgradig

erfahrene Beobachter, die dem Chaos vielschichtiger Fluktuationen relevante

Informationen entlocken können. Das Sammeln und Auswerten komplexer

Informationen und deren Deutung für individuelle Kundenwünsche ist Tätigkeit der

Finanzdienstleister.

Da sich der Kaufpreis von Konsumprodukten heute immer weniger über den

materiellen Wert als vielmehr über Designqualität, Lifestyletauglichkeit oder

allgemeiner über den symbolischen Wert bestimmt, kommt den sogenannten

"creative service workers" in Werbeagenturen und Designstudios eine Schlüsselrolle

in der Dienstleistungsökonomie zu. Kreative Wissensarbeiter zeichnen sich durch die

Fähigkeit aus, neuste Trends – die oft in städtischen Subkulturen entstehen –

aufzuspüren, sie auf ihre Massentauglichkeit zu untersuchen (dazu gehört ein

großes, ständig zu aktualisierendes Wissen über Konsummuster unterschiedlichster

Zielgruppen) und schließlich die dadurch gewonnenen Erkenntnisse in

aussagekräftige Formen, Icons und Messages zu übersetzen.

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Da Kommunikation und Austausch von Ideen zentrale Bestandteile von

Wissensarbeit darstellen, sind "intelligente Infrastrukturen" (möglichst weltweite

Datennetze) und moderne Kommunikationsmittel für Wissensarbeit das, was

Eisenbahn und LKW für die Güterindustrie sind. Nicht weniger wichtig aber ist die

innere Strukturierung von Organisationen, die möglichst wenig hierarchisch, dafür

umsomehr vernetzt und möglichst "lernfähig" sein sollte. So ist neben der

personenbezogenen Intelligenz von Wissensarbeitern der systemspezifische Aufbau

von organisationaler Intelligenz in Form von Datenbanken, Experten- und

Regelsystemen und Wissensaufbereitungsmethoden entscheidend für die Produktion

und Bereitstellung wissensintensiver Dienstleistungen. Soll die organisationale Logik

selbst Wissen generieren, müssen lernfähige Systeme entwickelt werden, die

prozessual auf sich ändernde Einflüsse reagieren und mit dem personenbezogenen

Wissen von Wissensarbeitern interagieren.

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3 Theorien des Raumes

3.1 Henri Lefèbvre: Die Produktion des Raumes

Henri Lefèbvres raumtheoretischer Entwurf geht von der Kritik aus, dass Raum in der

Philosophie immer nur mentales Konstrukt geblieben sei und erkenntnistheoretisch

nie den Übergang vom abstrakten zum konkreten, sozialen Raum vollzogen habe.

Was fehle sei die systematische Verknüpfung des Denkens mit der räumlichen

Sphäre. Seine zentrale These: Angesichts der vollständigen Verstädterung der

Gesellschaft bilde nicht mehr das Industrielle (wie bei Marx), sondern das Urbane,

das konkrete alltägliche Leben in der verstädterten Gesellschaft das

erkenntnistheoretisch bedeutsame Feld, in dem die gesellschaftliche Produktion von

Raum stattfinde und in dem Wissen über die globale, verstädterte Gesellschaft

hergestellt werde. Er erweitert damit die "Kritik der Politischen Ökonomie" (Marx) zur

"Kritik des Alltagslebens" und macht den praktischen Einsatz von Wissen zur

Produktion des Raumes zum Gegenstand sozialkritischer Analysen. Das Konzept,

das er hierzu entwickelt, ist der wohl umfassendste Ansatz zum Raum, der bisher

vorgelegt wurde. Lefèbvre fasst Raum als Einheit, die Natur, soziales Handeln und

Mentalräume umschließt. Diese Einheit zergliedert er analytisch in drei Teile: (1) den

Raum der sozialen Praxis (gelebter Raum), (2) die Repräsentationen des Raumes

(vorgestellter Raum) und (3) den Raum der Repräsentationen (erlebter und erlittener

Raum).

Im Raum der sozialen Praxis (1) verknüpft das Handeln der Menschen die

Alltagsrealität (wie zum Beispiel die Verwendung von Zeit) mit der Realität der Stadt

(Infrastruktur, Arbeits- und Freizeitorte, Räume des Konsums, Dienstleistungsräume).

Die Realität der Stadt wird durch soziale Praxis angeeignet und mitgeformt.

Der vorgestellte Raum (2) stellt sich über Repräsentationen des Raumes, das heißt

durch Zeichen, Theoriemodelle und Wissen über den Raum her. Er kennzeichnet die

von Wissenschaftlern, Architekten, Künstlern und Stadtplanern entwickelten

Vorstellungen über die räumliche Organisation der verstädterten Gesellschaft, die

sich – vermittelt über politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse –

schließlich in der städtischen Realität manifestieren. Hier findet die Verknüpfung von

Raumkonzeptionen (oder aus kritischer Perspektive: Ideologien des Raumes) mit

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den Produktionsverhältnissen und jenen Institutionen statt, die diese Verhältnisse

durch Wissen, Codes und Zeichen herstellen und aufrechterhalten.

Der Raum der Repräsentationen (3) ist der direkt erlebte und durch Bilder und

Symbole konstruierte Raum, der sich über Bezeichnungen und Benennungen

herstellt: "Dies ist mein Haus!", "Dort gehen nur Touristen hin!". Der Raum der

Repräsentationen ist damit auch der Raum der Lebensstile: "Obi-Town!", "Reiche-

Leute-Gegend", "typisches Bobo-Café". Hier werden komplexe Symboliken als

Ausdruckformen der sozialen Realität lesbar. Er umfasst aber auch die Imagination

neuer Räume und Bilder, und damit über die Realität hinausweisende Visionen und

Utopien des Raumes.3

Das von Lefèbvre entwickelte differenzierte Theoriemodell bietet den Rahmen für die

verschiedensten Forschungsperspektiven und Zugangsweisen zum Raum.

Räumliche und soziale Praktiken unterschiedlichster städtischer Nutzer können in

Beziehung gesetzt werden zum politischen Gebrauch von Wissen über den Raum,

zu Ideologien des Raumes wie auch zu Utopien, die darüber hinausweisen; der

Zusammenhang zwischen sozialen Praktiken und Lebensstilen findet eine räumliche

Dimension und kann schließlich Erkenntnisse liefern für neue Repräsentationen des

Raumes. Die Dreiheit von gelebtem, vorgestelltem und erlittenem Raum aber bleibt

abstrakt, wenn sie nicht mit den Subjekten und den individuellen Mitgliedern einer

sozialen Gruppe verknüpft wird. "Raum verliert seine Kraft, wenn er lediglich (wie im

Strukturalismus) als abstraktes Modell ideologischer Vermittlung gefasst wird" (Noller

2000, 38f). Er bleibt dann ohne konkreten Kontext und wird – wie in Lefèbvres

Ausgangspunkt einer Kritik philosophischer Raumkonzepte – auf eine rein geistige

Form des Handelns reduziert.

Für Lefèbvre ist eine Verknüpfung mit den Subjekten nur dann gewährleistet, wenn

der praktische Gebrauch des Körpers und seine Platzierung im sozialen Raum ins

Zentrum einer Theorie des Raumes rückt. Der Begriff des Raumes ist für Lefèbvre an

die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit im Umgang mit anderen physischen Dingen

geknüpft. Für uns stellt sich hier die Frage nach der Fassbarkeit des virtuellen

3 Eine graphische Darstellung des dreigliedrigen Raummodells Lefèbvres sowie die Verortung derwichtigsten theoretischen Begriffe der vorliegenden Studie in diesem Modell zeigt Abbildung 1, Seite15.

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Raumes in den Kategorien Lefèbvres. Der virtuelle Raum wird zweifelsohne über

Praktiken wie "im Internet surfen", "Daten austauschen", "Chatrooms besuchen"

konstruiert und aufrecht erhalten. Wissenschaftler, Programmierer und Techniker

erzeugen über ihre Analysen und über ihre Arbeit Repräsentationen und

Vorstellungen des Virtual Space (man denke nur an die vielen Raummetaphern, die

eine weite Verbreitung fanden wie z. B. "Datenautobahn", "Chatroom" usw.); und an

Bildern und Utopien über virtuelle Städte und unbegrenzte, weil digitale

Möglichkeiten mangelt es nicht. Was jedoch fehlt, ist die direkte Erfahrbarkeit der

eigenen Körperlichkeit im Virtuellen, die in Lefèbvres Raumkonzeption zentral ist. Ist

der virtuelle Raum dennoch ein Raum, wenn auch einer ohne Körper? Und wie ließe

sich Lefèbvres Modell abwandeln, um es auch auf ICT-produzierte Raumphänomene

anzuwenden? Wie dies – wenn auch weitaus indirekter als eben angedeutet –

möglich ist, zeigen die Überlegungen zur ubiquitären Präsenz des Raumtypus

"Netzwerk" gegen Ende der vorliegenden Studie.

3.2 Martina Löw: Raumsoziologie

Ähnlich wie Lefèbvre konzeptionalisiert auch Martina Löw die Entstehung von Raum

in der Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen:

"Betrachtet man Raum als relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen, so muß

das Angeordnete und das Anordnende systematisch unterschieden werden. Nicht nur als

Bausteine sind Menschen in die Konstitution einbezogen, sondern im alltäglichen Handeln,

in der Planung, der Kunst oder Wissenschaft werden in der Regel Ensembles sozialer Güter

als ein Element wahrgenommen oder definiert und mit anderen Elementen verknüpft.

Räume entstehen also nur erstens dadurch, daß sie aktiv durch Menschen verknüpft werden

[Hervorhebung im Text]" (Löw 2001, 158).

Zweitens gingen, so Löw, mit der Entstehung von Räumen Platzierungen einher, die

sich unter vorstrukturieren Bedingungen abspielten. Diese Platzierung von sozialen

Gütern und Menschen und die daraus resultierende relationale (An)Ordnung

bezeichnet Löw als Spacing (1).

"Spacing bezeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren. Als Beispiele können hier

das Aufstellen von Waren im Supermarkt, das Sich-Positionieren von Menschen gegenüber

anderen Menschen, das Bauen von Häusern, das Vermessen von Landesgrenzen, das

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Vernetzen von Computern zu Räumen genannt werden. Es ist ein Positionieren in Relation

zu anderen Plazierungen [sic]" (a.a.O.).

Neben dem Spacing, so Löw, bedürfe es zur Konstitution von Raum zusätzlich einer

(2) Syntheseleistung, "das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder

Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst"

(a.a.O. 159).

Da Handeln immer prozesshaft ist, finden Spacing und Syntheseleistung simultan

statt. Löws Raumbegriff ist deshalb ein prozessualer, ein dynamischer: Raum

entsteht und verändert sich im Handlungsverlauf und unterscheidet sich elementar

von der Vorstellung von Raum als abgegrenztem Ort oder Territorium. Fasst man

Raum als definiertes Territorium – wie es jahrhundertelang ausschließlich geschah

und auch heute noch in der Alltagsvorstellung meist der Fall ist – dann richtet man

den Blick nicht auf den Prozess der Entstehung von Raum, im Gegenteil: das

Ergebnis dieses Prozesses wird vorausgesetzt und das WIE der Konstitution bleibt

im Dunkeln. Die Stärken von Löws Raumbegriff liegen darin, dass er die Idee von

"Raum als Container" (absolutistischer Raumbegriff) überwindet und

Raumentstehung direkt mit sozialem Handeln koppelt. Dadurch wird Raum relational

konzipiert, das heißt als durch das Wechselspiel von Handlung und Strukturen

erzeugte und damit dynamische Nebeneinander von Menschen und Dingen, das in

der Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung von Menschen als Raum

zusammengefasst wird.

Raum – und das ist insbesondere für unsere Untersuchung zentral – beschränkt sich

somit nicht allein auf physische, erdschwere Aspekte. Entsteht Raum als durch

handelndes Anordnen erzeugtes Beziehungsgeflecht, dann können Handlungen in

der sogenannten "Virtuellen Welt" ein Teil dieses Geflechts sein. Die entscheidende

und interessante Frage ist vielmehr: WIE entsteht dieses virtuell-physische

Beziehungsgeflecht in der Vorstellung und Wahrnehmung der Individuen? WIE

verläuft die aktive Verknüpfung physischer und virtueller "Orte" zu Räumen?

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4 (Tele)Forschungsdesign

4.1 Konzept der alltäglichen Lebensführung

Das Konzept der alltäglichen Lebensführung wurde Anfang der 90er Jahre

maßgeblich von Günter Voß im Sonderforschungsbereich "Entwicklungsperspektiven

von Arbeit" an der Universität München entwickelt und geht auf Max Webers Begriff

der "Lebensführung" zurück. Weber hat mit dem Begriff "Lebensführung" die Person

als aktiven Konstrukteur ihres Lebenszusammenhangs gekennzeichnet. Er sah die

sinnhafte Verknüpfung unterschiedlicher Lebensbereiche (wie Familie, Beruf,

Freundeskreis, politisches Engagement...) als zentrale und rationale Leistung des

Subjekts an, durch die "Leben geführt wird".

Voss' Konzept der alltäglichen Lebensführung greift den integrativen und

subjektzentrierten Ansatz Webers auf und richtet den Blick auf die Praktiken der

Individuen in ihrem Alltag. Die alltäglichen Leistungen einer Person zur Gestaltung

des Verhältnisses verschiedener Lebensbereiche können mit diesem Begriff

differenziert beobachtet werden.

"Die Lebensführung wird als der systematische Ort definiert, an dem Personen in ihrem

praktischen Alltagshandeln die unterschiedlichen gesellschaftlich ausdifferenzierten Arbeits-

und Lebensbereiche, aber auch ihre sozialen Beziehungen gestalten und integrieren"

(Jurczyk, Rerrich 1993, 33).

Obwohl der Begriff "Lebensführung" im Weberschen Sinne zunächst sehr stark dazu

einlädt, Lebensentwürfe und deren Gestaltung allein dem aktiven Subjekt

zuzuschreiben und als losgelöst von gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexten

zu betrachten, lässt er sich wie folgt erweitern4:

Menschen sind in modernen Gesellschaften in systematisch verschiedenartigen

sozialen Zusammenhängen tätig: Beruf, Familie/Verwandtschaft, Freundeskreis,

Bildungsinstitutionen, Freizeiteinrichtungen usw. Die Tätigkeiten in diesen Bereichen

müssen von ihnen reguliert und insgesamt miteinander koordiniert werden, was im

System der alltäglichen Lebensführung geschieht. Dieses ist durch gesellschaftliche

und soziale Bedingungen aus den einzelnen Tätigkeitsbereichen geprägt (wie

4 Die zeigt unter anderm Simone Mazari in ihrer Diplomarbeit (Mazari 2001).

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Rollenverteilung, Status...), aber nicht vollständig determiniert. Es muss vielmehr in

Auseinandersetzung (negotiations) mit solchen Bedingungen erhalten, verändert,

kreiert werden. Das führt dazu, dass das System der alltäglichen Lebensführung

zwar ein Produkt der Person ist, aber gegenüber der Person eine strukturelle

Selbständigkeit besitzt. Anders formuliert: Lebensführung beruht auf sozialen

Arrangements mit den Tätigkeitsbereichen, was dazu führt, dass sie nicht beliebig

veränderbar ist. Lebensführung ist also ein System der Person, aber nicht mit ihr

identisch – genauso wie sie zwar sozial (und auch über die Verwendung von

Technologien) geprägt, aber kein System der Gesellschaft (oder Technikentwicklung)

ist. Sie ist vielmehr ein Zusammenhang eigener Logik, der zwischen den Polen

Gesellschaft und Individuum vermittelt und keinen gegen den anderen ausspielt.

Das Besondere am Konzept der alltäglichen Lebensführung ist, dass die Herstellung

des Alltages selbst als Handlung im Feld der Vermittlung zwischen unterschiedlichen

Lebensbereichen beschrieben wird und damit in den Mittelpunkt des Interesses rückt.

Damit trägt es der Entwicklung wachsender Anforderungen hinsichtlich der

eigenständigen Strukturierung der Arbeitsausführung und insgesamt der Einbettung

der Erwerbsarbeit in das Alltagsleben Rechnung. Der Blick richtet sich nicht nur

darauf, WAS Menschen alltäglich tun, sondern auch WIE sie die verschiedensten

Dinge miteinander koordinieren und zu einem Alltag verweben.

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4.2 Operationalisierung

Aus den vorherigen Ausführungen wurde deutlich, dass die gesamte Bandbreite

alltäglicher Tätigkeiten von Wissensarbeitern und deren Koordination in Raum und

Zeit von Interesse sind. Das WAS der Aktivitäten soll mit Hilfe von Tätigkeitsplänen

erhoben werden, das WIE der Koordination mit Hilfe von leitfadengestützten Online-

Interviews.

4.2.1 Tätigkeitspläne

In Tätigkeitspläne werden – ähnlich einem tabellarisch geführten Tagebuch – für

vorgegebene Zeiteinheiten alle ausgeführten Tätigkeiten eines gesamten Tages

eingetragen. Diese Erhebungsmethode gilt als das zuverlässigste Instrument zur

Dokumentation der gesamten Bandbreite menschlicher Alltagspraktiken in ihrem

zeitlichen Ablauf. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit der Verknüpfung der implizit

vorhandenen Kategorie Zeit mit beispielsweise dem Ort der Tätigkeitsausführung

oder den dabei benutzen Medien. Klassische Tätigkeitspläne, die seit den 1960er

Jahren durchgeführt werden, um die Zeitverwendungsmuster ausgesuchter

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Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, bestehen aus unterschiedlichen Spalten, in

die verschiedene Dimensionen der ausgeführten Tätigkeiten eingetragen werden.

Im vorliegenden Fall wurde ein Exceldatenblatt entwickelt, das aus den Spalten

"Uhrzeit", "Haupttätigkeit" und "gegebenenfalls Nebentätigkeit" bestand. Für Haupt-

und Nebentätigkeit sollten jeweils zudem "Ort" (gegliedert in "Benennung des Ortes"

und "Adresse"), "benutzte Medien" und "in Anspruch genommene Dienstleistung"

eingetragen werden. In der letzten Spalte wurden die Befragten gebeten, die drei aus

ihrer subjektiv-persönlichen Sicht wichtigsten Tätigkeiten des Tages zu markieren.

Die Entscheidung, keine vorgedruckten Tätigkeitstabellen zu verschicken, sondern

mit einem Formular des Tabellenkalkulationsprogramm Excel zu arbeiten, hatte

mehrere Gründe. Erstens konnte man begründet davon ausgehen, dass die

Befragten (Wissensarbeiter, vgl. Beschreibung des Samples) aufgrund ihrer

Ausbildung und beruflich bedingten tagtäglichen Computernutzung ohne größere

Probleme in der Lage waren, mit einer Exceldatei entsprechend den Vorgaben

umzugehen. Zum anderen bietet die digitalisierte Tabellenform eine gewünschte

Flexibilität: Spalten konnten ohne weiteres verbreitert oder ausgeblendet werden,

was bei der Komplexität der Tabelle unverzichtbar war. Zudem sprach der schnelle

Datenaustausch via Email für die Digitalversion.

Um einen möglichst umfassenden Eindruck über das Tätigkeitsspektrum der

Befragten zu erhalten, wurden sie gebeten ihr "Exceltagebuch" an zwei "normalen"

Wochentagen (Montag und Donnerstag) und an einem Sonntag innerhalb einer

Woche zu führen.

Zu den Stärken der Tätigkeitspläne gehört zweifellos, dass es möglich wird, die

gesamte Bandbreite an Tätigkeiten, die ein Individuum während eines Tages

ausführt (Querschnittsperspektive) und den damit verknüpften räumlichen

Aktionsradius (in Löws Terminologie: wichtige Aspekte des Spacings) zu erfassen,

offen aber bleibt die Frage WIE Menschen diese einzelnen Tätigkeiten tatsächlich zu

ihrem Alltag (und ihrem alltäglichen Raum) synthetisieren. Aussagen über stressige

Situationen, Koordination des eigenen Zeitplans mit dem anderer Menschen, über

Zwänge und Anforderungen sind nicht ableitbar. Zudem tritt durch dieses

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vergleichsweise formalisierte Erhebungsverfahren das WIE einzelner Praktiken in

den Hintergrund (so etwas kann man am besten durch ethnographische

Beobachtung ermitteln, was im vorliegenden Teleforschungsdesign nicht möglich

war).

Um die Nachteile oder besser die Beschränktheit der Methode der Tätigkeitspläne

zumindest teilweise aufzuheben, wurde nach dem Ausfüllen der Exceldateien mit

jedem einzelnen Probanden ein etwa einstündiges Online-Interview durchgeführt.

4.2.2 Online-Interviews

Die Online-Interviews wurden mit Hilfe des Instant Message Programms MSN

Messanger geführt. Das Programm hat folgende Stärken: es kann kostenlos im

Internet runtergeladen werden, es ist einfach zu installieren und zu bedienen, es

ermöglicht die Kommunikation in Echtzeit, ohne dass man den gleichen physischen

Raum teilt und der Gesprächsverlauf kann im Diskussionsfenster abgespeichert

werden (das geht nicht bei ICQ). Die Befragten wurden vor dem Interview über Email

gebeten das Programm auf einem für sie zugänglichen Rechner einzurichten, um es

zum verabredeten Interviewtermin verfügbar zu haben, was trotz einiger Fragen

letztlich ohne Probleme funktionierte.5

Von Seiten des Forschungsteams wurde ein privater Chatroom eingerichtet, zu dem

nur Zugang hatte, wer dazu eingeladen wurde. Dies waren – jeweils einzeln, das

heißt zu unterschiedlichen Zeiten – die Interviewpartner. Ihnen wurde vor dem

Interview die standardisierte "research_participant" Identität zugewiesen, die es dem

Forscherteam ermöglichte, der Person hinter dieser Adresse den Zugang zum

"Interviewraum" zu ermöglichen. Die Einrichtung der "research_participant"-Identität

für die Interviewpartner erschien deshalb ratsam, da jeder Nutzer von MSN

Messanger über einen Hotmail-Account verfügen muss, der wiederum nur

5 MSN Messanger ist neben ICQ das wohl populärste Instant Message Programm. Seine Dateigröße(1,8 MByte) läßt sich problemlos auch über eine vergleichsweise langsame Modemverbindungrunterladen. Mindestsystemanforderungen: PC: 486DX/66 oder höher; OS: Windows 95, 98, Me,2000, NT 4.0 oder höher; Speicherplatz: min. 10 MB; Arbeitsspeicher: 8 MB RAM. Macintosh: MSNMessenger 3.0 für Mac OS X und MSN Messenger 2.1 für OS 8.6 bis 9. Auf dem Computer mussMicrosoft Internet Explorer Version 4.01 oder höher installiert sein.

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eingerichtet werden kann, wenn man bestimmte persönliche Angaben macht. Da wir

dies nicht von den TeilnehmerInnen der Forschung verlangen konnten und wollten,

wurde standardisiert für alle eine Identität bei Hotmail eingerichtet, die dann zeitlich

versetzt zugeteilt wurde. Im Chatroom befanden sich also pro Interview die beiden

Forscherinnen Kayt Brumder und Silke Steets und der jeweilige Interviewpartner.

Zur Interviewsituation: Das Programm MSN Messanger zeigt in einem großen

zentralen Fenster den Verlauf der gesamten Unterhaltung. Ein kleineres Fenster am

unteren Rand des Bildschirms stellt das eigene Messagefenster dar. In dieses

Fenster trägt man seine Redebeiträge ein, bevor man sie per Returntaste in das

große, für alle sichtbare Kommunikationsfenster schickt. Zudem ist in diesem kleinen

Fenster sichtbar, wer gerade einen Redebeitrag verfasst. Man kann also sehen, ob

jemand im Moment aktiv an der Diskussion teilnimmt (etwas schreibt) oder nicht.

Über das "Nicht" allerdings kann man nur spekulieren, was manchmal verunsichert.

"Sieht" man lange nichts vom jeweiligen Gesprächspartner, weiß man nicht, ob er

nachdenkend vorm Bildschirm sitzt, gerade in einem anderen Programm arbeitet

oder gar den Computer verlassen hat.

Die Fragen, die das Forscherteam den Befragten stellten, wurden vorher in einem

Leitfaden erarbeitet, der sich an den Dimensionen Zeit, Raum, Medien- und

Servicenutzung orientierte. Hinsichtlich der Kategorie Zeit interessierten sowohl

Fragen zur Organisation des Tagesablaufs (jeweils mit Bezug auf den vorher

erhobenen Tätigkeitsplan) als auch die Längsschnittsperspektive der Lebens- und

Karriereplanung. Beim Thema Raum lag der Schwerpunkt auf der Beschreibung

des/der Arbeitsortes/e und deren Bezug zu Nichtarbeitsorten; Fragen zur Nutzung

von Services bezogen sich auf Dienstleistungen, die in Anspruch genommen werden,

um das alltägliche Leben zu führen und im Hinblick auf Medien interessierten vor

allem die Bandbreite der benutzten Medien und deren Einfluss auf die Arbeitsweise

(notwendiges Arbeitsmittel oder Ablenkung). Die Variationsbreite der genannten

Themen lässt bereits erahnen, dass in den jeweiligen Interviews niemals der

gesamte Leitfaden abgefragt wurde, sondern Schwerpunkte in interessant

erscheinenden Gebieten gebildet wurden.

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4.3 Beschreibung des Samples

Bei der Auswahl des Samples wurde auf eine größtmögliche Unterschiedlichkeit der

zu untersuchenden Wissensarbeiter Wert gelegt. Es sollten Leute aus

unterschiedlichen Professionen, unterschiedlichen Ländern und in verschieden

Berufspositionen befragt werden. Allen gemeinsam allerdings sollte sein, dass sie

Wissensarbeiter sind, d. h. dass sie sich im Feld der unternehmensbezogenen

Dienstleistungen bewegen, dass sie an der Produktion von "Brainware" (Ideen,

Problemlösungen, Konzepten...) beteiligt sind und dass sie zu den Grenzgängern

zwischen unterschiedlichen Fachdisziplinen gehören.

Fünf der sechs Interviewpartner erfüllten diese Kriterien, der sechste ein Doktorand

in Philosophie an der University of Sydney wurde als Vertreter einer Disziplin, die

sich als die Mutter allen Wissens definiert, ergänzend und kontrastierend in das

Sample mitaufgenommen. Die sechs Probanden waren zwei Frauen und vier

Männer, die in drei unterschiedlichen Städten arbeiten: New York City, U.S.A.,

Colombo, Sri Lanka und Sydney, Australien.

Tevo ist männlich, 23 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Bratislava, Slovakei. Ein

High School Jahr in Wisconsin, U.S.A. (1994/95) markierte den Beginn seines

Weltenbummlerdaseins. Er hat einen Bachelor in Volkswirtschaftslehre und

entschied sich nach seinem Studium zu einem Praktikum in der Marketingabteilung

einer Softwarefirma in Colombo, Sri Lanka. Dort arbeitet er für unterschiedliche

Personen, die wiederum in unterschiedliche Projekte involviert sind, was er als

verwirrend bezeichnet und ihn jeden Morgen dazu veranlasst, eine persönliche "To-

Do-Liste" für den Tag aufzustellen, um den Überblick nicht zu verlieren. Seine

Lieblingstätigkeit im Job ist die Entwicklung und das Testen von Produkten (in

diesem Falle: Software). Kreativität, die er gleichsetzt mit der offensiven Suche nach

neuen Wegen und Lösungen, sei essentiell für die von ihm ausgeführten Tätigkeiten.

Außerdem hat er während des Praktikums entdeckt, wie sehr er die direkte

Zusammenarbeit mit anderen Menschen in einem Team mag, weshalb er sein

ursprüngliches Berufziel – Karriere in einer internationalen Organisation wie EU oder

UN – noch einmal überdenkt. Sein Monatseinkommen liegt unter 1000 US Dollar.

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JayPe ist ebenfalls männlich, 67 Jahre alt, verheiratet und hat einen Sohn. Er wohnt

mit seiner Frau im eigenen, strandnahen Haus im wohlhabenden Stadtteil Willoughby

in Sydney. Er studierte Volkswirtschaft, Traffic Engineering und Stadtplanung und

führt seit 1981 das Amt des Direktor eines großen Versicherungs- und

Telekommunikationsunternehmens aus. Seine Frau arbeitet ebenfalls in leitender

Position bei einer großen Organisation. Zu JayPes Verantwortlichkeiten gehören

Managment, Koordination und die Vermittlung von Informationen über neueste

technische Entwicklungen. Das monatliche Haushaltseinkommen der beiden liegt

über 10 000 US Dollar.

Tab, 25 Jahre alt und weiblich, versucht in der New Yorker Filmindustrie Fuß zu

fassen. Derzeit absolviert sie ein Praktikum bei der Filmproduktionsfirma Hart Sharp.

Um ihre finanzielle Situation aufzubessern hat sie bis etwa eine Woche vor dem

Interview in einem Architekturbüro gejobt, was ihr allerdings überhaupt nicht gefiel,

("It just felt cold and I felt entirely UN-creative there.") woraufhin sie kündigte. Bei

Hart Sharp ist sie – neben kleineren administrativen Tätigkeiten – hauptsächlich mit

dem Lesen und Bewerten von Drehbüchern und der Rücksprache mit den Autoren

beschäftigt. Während ihres Studiums – ihr Hauptfach war englische Literatur –

entdeckte sie ihre Faszination für Geschichten, welche sie nun im Medium "Film"

weiterverfolgen möchte. Ihr Praktikum sieht sie als ersten Schritt auf der

Karriereleiter und rein persönlich als Erfüllung ihrer Vorstellungen von einem idealen

Job: "My job at Hart Sharp has totally restored my faith in work. If I worked there full-

time (or in a similar environment), I could be fulfilled personally, creatively and

professionally. It's pretty ideal. There's not the normal work life / other life division. It's

great" (Interview mit Tab, Nov. 2001). Tabs, monatliches Einkommen liegt unter 1000

US Dollar. Allerdings wohnt sie seit Herbst 1999 mietfrei in einem New Yorker

Apartment, das ihrer Oma gehört.

Rusty, männlich, ist 25 Jahre alt und kommt aus Sydney. Er arbeitet derzeit an einer

Dissertation in Philosophie über den Phänomenologen Merleau-Ponty, bekommt

dafür ein Stipendium, ist aber zusätzlich als Tutor an der University of Sydney

beschäftigt. Über seine berufliche Zukunft hat er keine konkreten Pläne. IT könne er

sich vorstellen, aber "who knows, I might end up as a counsellor or a masseur or

work in a pain clinic. All interesting options" (Interview mit Rusty, Nov. 2001). Als

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Promotionsstudent kann er mit der klassischen Trennung von Arbeit und Freizeit

wenig anfangen. Er bezeichnet sich selbst als "driven by social opportunities", kann

es sich leisten einen Nachmittag im Kaffee zu verbringen und arbeitet dafür auch mal

am Sonntag. Einzige Restriktion: "No philosophy after dinner, it fucks with your

dreams!" (Interview mit Rusty, Nov. 2001) Seine Konstanten sind daher eher auf die

Woche bezogen: so gibt er Mittwoch nachmittags ein Tutorium und am Sonntag tanzt

er Tango. Die Art und Weise, wie er selbst die neuen Informations- und

Kommunikationstechnologien nutzt, sieht er durchaus kritisch. Oft lenken ihn

Messenger Programme, Anrufe und ständiges Abrufen der Emails mehr vom

Arbeiten ab, als sie nützliche Informationen liefern. Monatseinkommen: unter 1000

US Dollar.

Pablo ist männlich, 39 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Sao Paolo Brasilien.

Seit 1999 wohnt er mit seiner Frau, einer Photographin in New York City. Dort

arbeitet der studierte Architekt und Gestalter freiberuflich als Interaction Designer und

verdient damit mehr als 5000 US Dollar im Monat. Die Firma, für die er hauptsächlich

arbeitet, entwickelt Konzepte, mit deren Hilfe andere Firmen ihre Inhalte

kommunizieren können (z.B. Websites). Dabei steht die Interaktion zwischen

Anwender und Computer im Vordergrund. Pablo ist mitverantwortlich für den Entwurf

der benötigten Schnittstellen (Interfaces) zwischen Mensch und Maschine. Planbar

sei das Berufsprofil "Interaction Designer" nicht gewesen, da es stark mit der noch

jungen Entwicklung des kommerziellen Internet einhergehe. Während seines

Studiums, das sich aus vielen fragmentierten Interessensfeldern (Video, Design,

Architektur, Multimedia) zusammensetzte, sei er hauptsächlich mit dem Knüpfen von

sinnvollen Verbindungen zwischen den verschiedenen Disziplinen beschäftigt

gewesen, eine Fähigkeit, die in seiner heutigen Tätigkeit als Schlüsselqualifikation

gilt.

May ist weiblich, 27 Jahre alt, verheiratet und auf Sri Lanka geboren. Sie hat einen

Bachelor in Mathematik und Computerwissenschaften und arbeitet als Web

Entwicklerin und Graphikerin bei einer großen Softwarefirma in Colombo, Sri Lanka.

Ihre Hauptaufgabe als kreative Dienstleisterin sieht sie in der klaren und

ansehnlichen Darstellung der Produkte, die sie entwickelt. Beruflich strebt sie einen

Master of Science in Informationstechnologie an, ein Ziel, das sie mit großem

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Engagement verfolgt. Obwohl sie flexible Arbeitszeiten hat, gibt sie sich selbst ein

relativ starres Zeitschema vor: aufstehen um 6.00 Uhr, Arbeitsbeginn um 8.00 Uhr,

Mittagessen um 12.30 Uhr, Arbeitsende um 18.00 Uhr. Zudem arbeitet sie äußerst

selten am Wochenende und schätzt die Trennung von Arbeit und Freizeit. Während

ihrer Arbeitszeit ist sie meist parallel mit mehreren Dingen beschäftigt, so auch

während des Interviews ("I have time. I'm doing my office work during this interview"

(Interview mit May, Nov. 2001). Ihr Einkommen liegt derzeit unter 1000 US Dollar im

Monat, was sie als dringend steigerungsbedürftig ansieht.

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5 Ergebnisse

5.1 Zeitnutzungsmuster und daraus entstehende Räume

5.1.1 Entwicklung von Routinen

Während der Ära der fordistischen Produktion, war das Leben der Arbeiter sehr stark

durch Routinen bestimmt. Die Zeiten für Arbeitbeginn, Pausen, Arbeitsende und

Freizeit waren festgelegt und unflexibel, und die Arbeiter mussten sich diesen

standardisierten Zeitschemata anpassen. Heutzutage ist das anders: Begriffe wie

"Flexibilisierung" vermitteln den Eindruck, dass Menschen ihren eigenen Tagesablauf

zunehmend selbst gestalten können. Termine werden verschoben und abgesagt,

Zeit kann überbrückt, gestreckt oder geschrumpft werden, abhängig von der

ausgeführten Tätigkeit. Die Vorteile sind gleichzeitig Nachteile. Dadurch, dass sich

Menschen heute oft simultan in sehr unterschiedlichen sozialen Feldern bewegen,

müssen tägliche Aktivitäten zwischen Job, Familie, Freunden, politischem

Engagement, Freizeit usw. bewusst zeitlich koordiniert werden.

Eine Möglichkeit mit der Flexibilisierung der Zeit umzugehen – das zeigt die

Untersuchung – ist das (Wieder)Erfinden von persönlichen Routinen. Routinen

reduzieren Komplexität. Sie sind heute nicht mehr gleichbedeutend mit vordefinierten

Tagesabläufen. Sie sind vielmehr Tätigkeitsinseln, über die man nicht immer wieder

neu nachdenken muss, sie vermitteln Orientierung und Struktur und helfen dabei,

nicht ständig von der Geschwindigkeit der Ereignisse und den Anforderungen des

Arbeitsalltages überrollt zu werden. Seinen Tagesablauf beschreibend, antwortet

Pablo (Interaction Designer, New York): “I have some frequent rituals: eat my

breakfast at home, read news and answer my e-mails in the beginning of the day,

have a walk in the evening, eat my lunch out of desk” (Interview mit Pablo, Nov.

2001). Damit bewahrt er sich zumindest für bestimmte Eckpunkte des Tages die

Souveränität über seine Zeit. Der Rest ist – wie er sagt – "negotiations",

Vereinbarungen und Kompromisse mit den Zeitarrangements von Institutionen oder

anderen Menschen.

Der Aspekt der Vertrautheit in einer sich immer schneller drehenden Welt, den

Routinen erzeugen, spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle: Tab (Praktikantin in

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einer Filmproduktionsfirma in New York City) kauft sich jeden Morgen beim selben

Mann eines Cafés ihren Kaffee: “It is comforting to have familiarity. Chaos here is

unavoidable, so these constants help me maintain some balance” (Interview mit Tab,

Nov. 2001).

Nach Anthony Giddens, reproduziert die gewohnheitsmäßige Wiederholung von

Alltagspraktiken die gesellschaftlichen Strukturen rekursiv. Damit sind Routinen eine

Schlüsselkategorie zum Verständnis sozialer Prozesse. Handlungen, über die ein

Individuum nicht länger nachdenkt, werden habitualisiert. Räume, die durch Routinen

geprägt sind, funktionieren analog: beides, Spacing und Syntheseleistung (Löw)

werden zum Ritual und erhalten dadurch einen hohen Wiedererkennungswert.6 In

"Routineräumen" bleiben räumlich Arrangements deshalb auch in Abwesenheit

menschlicher Aktivitäten bestehen.7 Spacing und Syntheseleistung werden

standardisiert und sind – bis zu einem bestimmten Punkt – unabhängig von der/den

Personen, die den Raum geschaffen hat/haben.

Mit Lefèbvre kann man die Orte, an denen sich das Alltagsleben in der

beschriebenen Form routinisiert abspielt, auch als Orte des Verweilens beschreiben.

Für Lefèbvre war die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unauslöschlich geprägt von

der kapitalistischen Kolonialisierung des Alltagslebens, wodurch auch die Zeit zur

Ware wurde.8 Die Auflösung der strikten Trennung von Arbeit und Freizeit hat das

Eindringen der kapitalistischen Logik in den Alltag der Individuen noch verstärkt.9

Das Verweilen, das bewusste Verbringen von Zeit (das englische "to spend time" –

"Zeit verausgaben" macht es noch deutlicher) in erkämpften, aber sich

wiederholenden Zeit- und Tätigkeitsinseln, kann als widerständige Praxis von

Wissensarbeitern gegen die vollständige Vereinnahmung durch den Job gelesen

werden.

6 vgl. dazu den Abschnitt "Der repetitive Alltag" in Löw 2001, S. 161ff.7 Ein gutes Bild dafür könnte ein ausgetrocknetes Flußbett sein, das bleibt, auch wenn der Fluß (dieHandlung) weg ist. Ist jedoch wieder Wasser vorhanden, wird es wie einst durch das schonvorhandene Flußbett fließen.8 Es gilt, "daß 'Ware, Markt und Geld mit ihrer unverrückbaren Logik das Alltagsleben ergreifen' und'der Kapitalismus noch die geringsten Aspekte des Alltagslebens erfaßt'" (Lefèbvre zit. in Highmore2000, 38).9 Begriffe wie "Arbeitskraftunternehmer" oder "Ich-AG" illustrieren diesen Sachverhalt sehr schön.

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5.1.2 Die Praxis des Multitaskings

Die Praxis des Multitaskings kann als zweite zeitliche Strategie angesehen werden,

um mit Flexibilisierung, Geschwindigkeit und Komplexität des Alltags umzugehen.

Das Wort "multitasking" kommt offensichtlich aus dem Gebiet der Informations- und

Kommunikationstechnologien, durch die Multitasking befördert wird.10 Da

Wissensarbeiter heute nicht mehr in erster Linie eine bestimmte Arbeitszeit

abarbeiten, sondern bestimmte Aufgaben zu erfüllen haben, müssen sie ihr eigenes

Zeitmanagement entwickeln. Oft versuchen sie die Qualität von Zeit zu erhöhen,

indem sie verschiedene Dinge gleichzeitig tun. Tevo (Praktikant in einer

Softwarefirma in Colombo, Sri Lanka) beispielsweise beantwortet Emails, telefoniert,

organisiert Termine, hilft Kollegen mit Computerprogrammen und unterhält sich mit

vorbeikommenden Kunden, während er an einer Produktspezifikation arbeitet. Im

Unterschied zur Schaffung von Routinen, scheint Multitasking eine offensive

Strategie zu sein, mit der Komplexität des Alltags umzugehen, ohne sie zu

reduzieren. Durch die simultane Ausführung unterschiedlicher Aktivitäten verliert Zeit

ihren streng linearen Charakter (eins-nach-dem-anderen) und nimmt eher die Form

eines horizontal organisierten Netzes an mit vielen Anfängen und vielen Endpunkten.

Der Raum, der durch die Praxis des Multitaskings entsteht, ist einer, in dem sich

mehrere Aktionsebenen überlagern und der sich in ständiger Bewegung befindet.

Wegen seiner Instabilität und Vielschichtigkeit, kann man ihn nicht durch ein

allumfassendes Bild repräsentieren, sondern eher durch die Heterogenität der

Aktionen zu verschiedenen Zeitpunkten.

5.2 Raumproduktion in Online-Interviews

In jedem der sechs Online-Interviews richtete sich für die Dauer von etwa einer

Stunde die Hauptaufmerksamkeit von drei Personen, die sich in unterschiedlichen

physischen Kontexten bewegten, auf eine Kommunikation (also eine Handlung) in

einem virtuellen Chatroom. Forscherin 1 (Kayt Brumder) befand sich vor ihrem

10 Als professionelle "Multitasker" gelten gerade auch Hausfrauen, die Kinderbetreuung, Hausarbeitund Teilzeitjob in Einklang bringen müssen, wodurch oft unterschiedliche Tätigkeiten simultanverrichtet werden.

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Computer im Kollegraum des Bauhausgebäudes in Dessau, Forscherin 2 (Silke

Steets) saß ebenfalls vor ihrem Computer im Bauhaus, allerdings in einem anderen

Raum (Büro) und die dritte Person befand sich zum Zeitpunkt des Interviews

entweder in New York City, Sydney oder Colombo, Sri Lanka. Die Beschreibung

dieses transkontinentalen Settings soll als Beispiel dienen für Tätigkeiten an der

Schnittstelle zwischen virtuellem und physischem Raum, die typisch sind für den

Alltag von Wissensarbeitern.

Das Handeln im Virtuellen unterscheidet sich in einigen Aspekten wesentlich vom

Handeln in erdschwerer Umgebung, da ersteres grundsätzlich körperlos ist. Während

Orientierung für den/die Handelnde in der physischen Welt unter Einbeziehung aller

Sinne (Hören, Riechen, Gleichgewicht...) möglich ist, dominiert im Virtuellen das

Visuelle. Sowohl Bewegung (Navigation durch Mausklicks) wie eigentlich implizite

Ebenen der Kommunikation (vor allem Tonfall und Mimik, welche Freude,

Verwunderung, Abneigung etc. ausdrücken) müssen – steht nur die visuelle Ebene

der Kommunikation zur Verfügung – expliziert werden, beispielsweise durch Icons,

die für bestimmte Gefühle stehen oder explizit ausgesprochene Kommentare.

Auch für die Interviewsituation ergeben sich dadurch Besonderheiten. Dadurch, dass

so viele Orientierung gebende Parameter der Kommunikation fehlten und sich die

drei Personen zum ersten und wohl auch einzigen Mal in dieser Konstellation

begegneten (und man deshalb die Parameter wie Vorlieben, Abneigung oder

Besonderheiten nur schwer assoziieren konnte), waren Redefluss und

Gesprächsführung manchmal verwirrend.

Einer der großen Vorteile dieser Interviewsituation war natürlich die Kommunikation

in Echtzeit über große physische Distanzen. Im Chatroom entstand eine Situation, in

der zu unterschiedlichen individuellen Tageszeiten verschiedene Gesprächskulturen

und –gepflogenheiten aufeinander trafen, deren Essenz sich letztlich in Form eines

abgespeicherten Scripts manifestierte. Was zudem bleibt, ist die faszinierende

Vorstellung, dass es möglich ist, in einem Netz von Millionen Usern eine direkte

Verbindung zu jedem beliebigen Einzelnen an (zumindest theoretisch) jedem

physischen Ort der Welt herzustellen (ein eigentlich ungeheures

Kommunikationspotenzial). Die Konstellation in dem von uns kreierten Chatroom ist

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nur eine von nahezu unendlich vielen; der Raum, der durch die Kommunikation

entstand, ein ebenso neuartiger wie flüchtiger Kreuzungspunkt verschiedener

individueller Spacings (vgl. Abb. 2: Interviewraum).11

11 Abbildung 2 zeigt, wie über die Kommunikation (eine Handlung) dreier Individuen, die sich inunterschiedlichen physischen Kontexten befinden, diese physischen Kontexte in einem virtuellenRaum verknüpft werden. Die Art und Weise wie die Individuen den virtuellen (Kommunikations)Raumgestalten, ist bis zu einem gewissen Grad abhängig von dem physischen Kontext, der sie umgibt:lokale Tageszeit, ortspezifische Sprach- und Interaktionskulturen, Zugangsmöglichkeiten zum Internet,Geschwindigkeit der Datenleitung, usw. fließen in die Kommunikation ein.

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6 Netzwerke: Perspektiven für die Dienstleistungsstadt

Die gekonnte Navigation im virtuellen Raum ist fester Bestandteil der alltäglichen

Realität von Wissensarbeitern und damit auch Teil ihres synthetisierten

Alltagsraumes. Eine analytische Trennung von physischem und virtuellem Raum in

real und simuliert macht deshalb wenig Sinn. Die Praxis von Wissensarbeitern

verknüpft "Orte" (ob erdschwer oder lediglich über eine WWW-Adresse bezeichnet),

deren geographische Distanz nur noch einer unter vielen Einflussfaktoren des

Spacings (d.h. der relationalen Anordnung dieser "Orte") und damit auch der

Syntheseleistung sind.

Neben der oftgestellten Frage nach der Räumlichkeit der virtuellen Welt ist

umgekehrt der Einfluss des Virtuellen auf die Repräsentationen des physischen

Raumes (im Lefèbvreschen Sinne) äußerst interessant. Als Raumtypus, der die

Gesellschaftsstruktur des Informationszeitalters am besten zu repräsentieren scheint

– das suggerriert auch die vorliegende Untersuchung –, gilt das Netzwerk. Manuel

Castells bespielsweise beschreibt in einem epochal anmutenden, dreibändigen Werk

zum Informationszeitalter die gegenwärtigen Arrangements menschlicher

Beziehungen als "Netzwerkgesellschaft" (Castells 2001, 423 ff.). Auch im Alltag ist

die Netzwerkmetapher allgegenwärtig: soziale Beziehungen werden oft als Netzwerk

beschrieben (und nicht mehr als Gemeinschaft), die globale Ökonomie wird bestimmt

durch "Netzwerk-Unternehmen", deren Struktur sich dezentral in unterschiedlichen

Kontinenten manifestiert, vom "Zugang zum Netzwerk" ist die Rede, auf Parties

betreibt man "social networking" statt "small talk" und auch terroristische

Vereinigungen, deren Organisationsweise meist nur schwer zu durchschauen sind,

heißen schlicht "Netzwerke".

Während das Netzwerk eigentlich eine viel ältere Form der sozialen Organisation ist

als beispielsweise hierarchische Strukturen, sieht Castells das entscheidend Neue

heutiger Netzwerksmorphologien darin, dass sie sich auf der Basis von Informations-

und Kommunikationstechnologien herausbilden und damit die ursprünglichen

Nachteile der Netzwerksform aufgehoben werden:

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"Netzwerke [hatten] im Vergleich zu anderen Konfigurationen sozialer Morphologie – wie

etwa zentralisierte Hierarchien – immer schon einen großen Vorteil und ein großes Problem.

Einerseits sind sie die flexibelsten und anpassungsfähigsten Formen der Organisation und

fähig, sich mit ihrer Umwelt und mit den Knoten, aus denen sich das Netzwerk

zusammensetzt, zu entwickeln. Andererseits haben sie beträchtliche Schwierigkeiten,

Funktionen zu koordinieren, Ressourcen für bestimmte Ziele zu bündeln und, ab einer

bestimmten Größe, die Komplexität einer gegebenen Aufgabe zu bewältigen. Obwohl sie die

herkömmlichen Formen sozialen Ausdrucks waren, erwiesen sie sich in instrumenteller

Hinsicht generell als unterlegen" (Castells 2001a, 431).

Dieses Problem, effektiv zentral definierte Ziele zu verfolgen, werde gelöst durch die

Einführung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, wodurch es

Netzwerken möglich werde, ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu bewahren,

gleichzeitig aber die Koordination und die Bewältigung von Komplexität in einem

internen System zu gewährleisten, wodurch eine "überlegene soziale Morphologie für

alles menschliche Handeln" zur Verfügung gestellt werde (Castells 2001, 432).

Warum aber wird die Organisationsweise "Netzwerk", die gleichzeitig eine räumliche

Konfiguration darstellt, auf nahezu alle sozialen Bereiche des Alltags in den

hochentwickelten Gesellschaften übertragen? Leben wir tatsächlich in einer

Netzwerkgesellschaft oder ist das Paradigma des Netzwerks eine neue Ideologie des

Raumes?

Netzwerke haben per definitionem kein Zentrum. Sie arbeiten mit der binären Logik

von Inklusion und Exklusion. Was im Netzwerk existiert, ist nützlich und notwendig

für die Existenz des Netzwerkes; was nicht im Netzwerk vorhanden ist, existiert aus

der Perspektive des Netzwerkes nicht. Wenn ein Knoten des Netzwerks aufhört eine

nützliche Rolle zu spielen, wird er entfernt und das Netzwerk reorganisiert sich. Die

Wichtigkeit eines Netzwerkelements ist niemals systemisch bedingt (wie etwa in

Hierarchien), sondern darüber, wie viele Verbindungen, und damit wie viel Austausch

zu anderen Elementen besteht und aufrecht erhalten werden kann. In diesem Sinne

sind Hauptknoten keine Zentren, sondern Schaltstellen.

Die Übertragung des Netzwerksgedanken auf die Situation der Städte führt zur

Beschreibung von Phänomen, die in den letzten zehn Jahren von zahlreichen

Theoretikern (Sassen, u.a.) ausführlich diskutiert wurden: basierend auf global

operierenden Unternehmenszentralen in bestimmten Städten bilden sich

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transnationale Städtenetzwerke, was dazu führt, dass sich beispielsweise Frankfurt

eher im Kontext von Zürich, London und Tokyo sieht, denn von Darmstadt, Mainz

und Hanau. Die Übertragung zeigt aber auch den Definitionsdruck, dem jeder Knoten

(oder jede Stadt) des Netzwerks ständig ausgesetzt ist. Jede Stadt muss permanent

ihre Wichtigkeit für das Funktionieren des Netzwerkes unter Beweis stellen, um nicht

vom System eliminiert zu werden, ein Phänomen, das man in der sog. "kleinsten

global city" der Welt, in Frankfurt, wunderbar beobachten kann.12 Zugleich werden

Städte im Netzwerkszusammenhang immer weniger wegen ihrer Geschichte, ihrer

besonderen geographischen Lage, dem Land, in dem sie liegen oder ihrer

"ureigensten Identität" als wichtig erachtet, sondern aufgrund ihrer An- und

Einbindung an das Netzwerk (Access!), die sie ständig erneuern müssen.

Ähnlich scheint es sich auf der Ebene der Individuen zu verhalten, die sich weniger

stark als noch vor 25 Jahren auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (oder

Klasse) berufen können, sondern "individualisiert" ihren Weg finden müssen (oder

dürfen). Dabei kommt es immer stärker darauf an, nicht nur bestimmte Qualitäten zu

besitzen, sondern diese nach außen hin kommunizieren zu können, das heißt,

Verbindungen zu anderen Individuen, Institutionen, Netzwerken herstellen zu

können, um selbst in einem (oder besser: mehreren) Netzwerken präsent zu sein.

Die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" hat gerade auch den "Arbeitskraftunternehmer"

eingeholt, der oft zwischen Teilzeitarbeit, Selbständigkeit, freier Mitarbeit, informellen

oder halbformellen Arbeitsarrangements wechselt und ständig auf der Suche nach

dem nächsten "Projekt" (der nächsten Netzwerkseinbindung) ist.

Das Bild oder die Organisationsweise des Netzwerks lässt sich auf viele

gegenwärtige gesellschaftliche Phänomene anwenden. Zugleich – und das ist der

kritische Aspekt – geht mit dieser Anwendung/Übertragung eine extrem

funktionalistische (man könnte auch sagen: neoliberale) Perspektive einher.

Netzwerke sind als Form zunächst neutral und wertfrei. Sind sie etabliert, entwickeln

sie in ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit eine Eigendynamik, deren Logik den

12 Ausführliche Untersuchungen zu aktuellen Verortungsstrategien der Stadt Frankfurt finden sich inden Ergebnissen des Bauhaus Kollegs "Event City" und der dazugehörigen Veröffentlichung wieder:Bittner, R. (Hg). Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisräume. Edition Bauhaus, Band10. Frankfurt am Main, New York: Campus, 2002.

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Elementen des Netzes aufgezwungen wird. Kritik an den übergeordneten Zielen

einer Netzwerkorganisation ist aus dem Innern des Netzes nicht möglich. Castells:

"Sie [Netzwerke] gehen gemäß den Zielen vor, auf deren Ausführung hin sie programmiert

sind. Alle Ziele, die mit den programmierten Zielen in Widerspruch stehen, werden von den

Komponenten des Netzwerks abgewehrt. In diesem Sinne ist das Netzwerk ein Automat.

Aber wer programmiert das Netzwerk? Wer entscheidet über die Regeln, die der Automat

befolgen wird? Natürlich soziale Akteure" (Castells 2001, 432).

So finden normative Konflikte, in denen es um die Festlegung der übergeordneten

Ziele eines Netzwerks geht, außerhalb desselben statt. Fest scheint nur zu stehen,

DASS heute jede Stadt, jede Institution, jedes Individuum Netzwerkskooperationen

eingehen muss, um wahrgenommen zu werden; welche Logik hinter einem Netzwerk

steht, bleibt dabei meist im Dunkeln. Die Tatsache, dass es zur sozialen Morphologie

des Netzwerks heute kaum ernstzunehmende und denkbare Alternativen zu geben

scheint, legt zumindest die Vermutung nahe, dass sich hinter dem Raumtypus

"Netzwerk" eine neue Ideologie des Raumes verbirgt.

Was aber könnte die Netzwerksidee für Planung bedeuten? Denkt man die Stadt

selbst als Netzwerk, das sich nicht mehr im Sinne eines abgrenzbaren Territoriums

definieren lässt, sondern als sich selbst reorganisierender Organismus, der aus

vielen, fragmentierten, aber interagierenden Einzelteilen und Beziehungen nach

"außen" besteht, stellt sich die Frage nach der Art und Weise und vor allem der

Möglichkeit der Programmierung des Netzwerks "Stadt". Konsequenterweise müsste

Planung sich stärker als heute darum bemühen, Verknüpfungen zu definieren,

prozessuale Formen der Planung unter Einbeziehung unterschiedlichster Akteure zu

formulieren oder gar Planung gänzlich als Open-Source-Projekt (im Sinne des Linux-

Betriebssystems, das den Code des Programms zur Weiterentwicklung in einem

interaktiven Netzwerk von Nutzern bereitstellt) initiieren. Das aber würde enormes

Wissen und Reflexionsvermögen auf Seiten der Nutzer voraussetzen und vermutlich

mit einem Machtverlust für klassische Planungsinstitutionen einhergehen.

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8 Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Verortung der Konzepte. Einordnung der wichtigsten Begriffe der Studie indas dreigliedrige Modell von Henri Lefèbvre. Seite 15.

Abb. 2: Interviewraum. Verknüpfung der Signifikanzorte dreier Individuen im virtuellenInterviewraum. Seite 27.