ZJK ZBLºKZSDF LºKDFB ZXCLBKCV CVNK ZKLCJVJKLÇZB CV B

27
Richard Schaeffler Erkennen als antwortendes Gestalten VERLAG KARL ALBER A

description

ZDFBJKLZDFJNZL BLºOZD LZDF KLMN KÇIJBN KZ

Transcript of ZJK ZBLºKZSDF LºKDFB ZXCLBKCV CVNK ZKLCJVJKLÇZB CV B

  • Alber 48630 / p. 1.1.184

    Richard Schaeffler

    Erkennen als antwortendes Gestalten

    VERLAG KARL ALBERA

  • Alber 48630 / p. 2.1.184

    Band 12

    Herausgegeben von

    Markus Enders und Bernhard Uhde

    Wissenschaftlicher Beirat

    Peter Antes, Reinhold Bernhardt,Hermann Deuser, Burkhard Gladigow, Klaus Otte,

    Hubert Seiwert und Reiner Wimmer

    SCIENT IA RELIGIO

  • Alber 48630 / p. 3.1.184

    Richard Schaeffler

    Erkennen alsantwortendesGestalten

    Oder:Wie baut sich vor unseren Augendie Welt der Gegenstnde auf?

    Verlag Karl Alber Freiburg/Mnchen

  • Alber 48630 / p. 4.1.184

    Originalausgabe

    VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / Mnchen 2014Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

    Satz: SatzWeise GmbH, TrierHerstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

    Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

    ISBN 978-3-495-48630-6

  • Alber 48630 / p. 5.1.184

    Inhalt

    Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    1. Eine Erluterung der gestellten Frage . . . . . . . . . . . . . 11

    2. Zur Eigenart der transzendentalphilosophischen Fragestellung . 12

    3. Drei vorbereitende Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    4. Der Begriff des antwortenden Gestaltens als Hinweis aufeine mgliche Lsung der transzendentalen Frage . . . . . . . 15a) Eine persnliche Vorbemerkung zur Formulierung des

    Themas: Eine Beobachtung, die mich beeindruckt hat . . 15b) Der philosophische Hintergrund meines Interesses am

    Gesprch mit den Knstlern . . . . . . . . . . . . . . . 17c) Weiterfhrende Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . 20d) Eine zweifache Selbstgefhrdung unseres Anschauens und

    Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22e) Ein neues Verstndnis von Dialektik . . . . . . . . . . 23f) Thesen und weiterfhrende Fragen . . . . . . . . . . . . 25

    Erster Teil:Kultur des Wahrnehmens eine Neufassung dertranszendentalen sthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

    1. Eine erste Annherung an das Problem: Ein neuzeitlichesVerstndnis der Anschauung von Raum und Zeit und erste Zweifel an seiner Angemessenheit . . . . . . . . . 29

    2. Was heit anschauen und wahrnehmen? . . . . . . . . . 32a) Die Gestaltungskraft der Sinne und ein Versuch,

    ihre Regeln neu zu formulieren . . . . . . . . . . . . . . 32b) Anschauen als antwortendes Gestalten . . . . . . . . . . 34

    ) Die Raum-Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . 34

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 5

  • Alber 48630 / p. 6.1.184

    ) Die Zeit-Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . 36) Die besondere Bedeutung des inneren Sinns . . . . 37

    c) Die je grere Wahrheit und die Wahrnehmung alsPhase im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

    3. Das dialektische Verhltnis der Wahrnehmung zum Gegenstand 43

    4. Die Kultur des Wahrnehmens, eine vielgestaltige Aufgabe . . 48a) Das ethische Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . 48b) Das sthetische Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . 52c) Der geschulte Blick des Forschers . . . . . . . . . . . . . 55d) Die religise Wahrnehmung und die ffnung des Auges 58

    5. Die Kultur der spezifisch religisen Wahrnehmung . . . . . . 62a) Eine methodisch wichtige Unterscheidung: Religise

    Wahrnehmung ist nicht Gotteswahrnehmung . . . . . 62b) Die religis wahrgenommene Welt: ein Ensemble von

    Bildern des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64c) Der Gottesdienst als Schule der religisen Wahrnehmung 65d) Was die religise Wahrnehmung als Grenzfall

    lehren kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

    Zweiter Teil:Wahrnehmungsgestalten, Ideen und Begriffe eine Neufassung der transzendentalen Logik . . . . . . . . . . . 71

    1. Eine kurze historische Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . 71a) Einige Beispiele aus der Geschichte des Begriffs Logik . 71b) Folgerungen fr eine Weiterentwicklung der

    transzendentalen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

    2. Das Wahrgenommene als Text und das Begreifen als seinekritische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

    3. Zu den transzendentalen Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . 80a) Anschauungsformen und Ideen bereinstimmung,

    Differenz und hermeneutische Beziehung . . . . . . . . 81b) Die bleibende Bedeutung der Wahrnehmung, die

    Vielgestaltigkeit der Vernunftideen und ihr dialektischesVerhltnis untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

    4. Die Kategorien des Verstandes am Beispiel von Substanzund Kausalitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87a) Substanz und Kausalitt zwei korrelative Begriffe . 87

    6 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Inhalt

  • Alber 48630 / p. 7.1.184

    b) Die Begriffe Substanz und Kausalitt und diewahrgenommenen Raum- und Zeitgestalten . . . . . . . 89

    c) Folgerungen fr das Verstndnis der brigen Kategorien . 92) Die Kategorien der Modalitt: Mglichkeit,

    Wirklichkeit, Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . 92) Zwei Weisen des Verstndnisses von Mglichkeit . 93) Der Begriff der Kontingenz . . . . . . . . . . . . 94

    ) Die Kategorien der Quantitt: Einheit, Vielheit, Allheit 95) Ein Ausblick auf die Kategorien der Qualitt:

    Bejahung, Verneinung, Abgrenzung . . . . . . . . . 97

    5. Zwei weiterfhrende Fragen: Die Mglichkeit innerweltlicherSubstanzen und kreatrlicher Freiheit und Kants Begriff desCharakters als mgliches Lsungsangebot . . . . . . . . . 98a) Der Begriff der innerweltlichen Substanz

    ein widersprchlicher Begriff? . . . . . . . . . . . . . . 98b) Der Begriff der kreatrlichen Freiheit

    ein Widerspruch in sich? . . . . . . . . . . . . . . . . . 99c) Kants Lsungsangebot: seine Lehre vom empirischen

    und vom intelligiblen Charakter . . . . . . . . . . . . 100) Kants Lehre vom empirischen Charakter und

    seine Bedeutung fr das Verstndnis endlicherSubstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

    ) Kants Lehre vom intelligiblen Charakter und seineBedeutung fr das Verstndnis der Freiheit endlicherWesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

    ) Unzulnglichkeiten des kantischen Lsungsversuchsund die Frage nach seiner mglichen Weiter-entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

    6. Versuch einer weiterfhrenden Deutung . . . . . . . . . . . 105a) Zum Begriff des empirischen Charakters und zu

    seinem Zusammenhang mit den Begriffen Substanzund Kausalitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

    b) Der Charakter und seine sinnenhafte Erscheinungs-gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

    c) Das wahrgenommene Antlitz des Anderen als Beispiel frdas Wahrnehmen als responsorisches Gestalten und frdie kritische Auslegung der Wahrnehmung durch Begriffe 108

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 7

    Inhalt

  • Alber 48630 / p. 8.1.184

    d) Der Charakter Prinzip der Lebensgeschichte undzugleich ihr Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

    e) Die lebendige Substanz ist fhig, eine Geschichtezu haben. Zugleich eine Antwort auf die Frage, ob einendliches Wesen Substanz sein knne . . . . . . . . . 110

    f) Das Leben der Substanz als ihre Fhigkeit zuantwortender Selbst- und Umweltgestaltung . . . . . 111

    g) Eine vernderte Bestimmung des Verhltnisses vonCharakter, Freiheit und Geschichte zugleich eine Antwort auf die Frage:Wie sind freie Handlungen inmitten der Zeit mglich? . 114

    7. Die Dialektik des Verhltnisses von Begriff und Gegenstand . . 118a) Die Dialektik des Begreifens und die Emergenz des

    begriffenen Gegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . 118b) Die Emergenz des Gegenstandes und der

    Perspektivenwechsel des Begreifens . . . . . . . . . . 122

    8. Die Kultur des Begreifens als vielgestaltige Aufgabe . . . . . . 125a) Die Ideen der Vernunft und die vielfltigen Aufgaben,

    die sie dem Begreifen stellen . . . . . . . . . . . . . . . 125b) Die Vielfltigkeit der Verstandesbegriffe . . . . . . . . . 127

    ) Kausalitt und Substanz im unterschiedlichenKontext der wissenschaftlichen Empirie bzw. dersthetischen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 127

    ) Kausalitt und Substanz im Kontext der sittlichenbzw. der religisen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 129

    ) Beispiele, die erlutern knnen, was mitVergegenwrtigung gemeint ist . . . . . . . . . . . 132

    c) Die Vielgestaltigkeit der Verstandeskategorien,die Aufgabe einer Kultur des Begreifens und das religiseBegreifen als lehrreicher Grenzfall . . . . . . . . . . . 135

    Dritter Teil:Unvermeidlich auftretende Widersprche und ihre Auslegung eine Neufassung der transzendentalen Dialektik . . . . . . . . . 139

    1. Zur Geschichte des Begriffs Dialektik . . . . . . . . . . . . 139a) Platons Dialektikverstndnis . . . . . . . . . . . . . . . 139b) Dialektik bei den mittelalterlichen Aristotelikern . . . . . 141

    8 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Inhalt

  • Alber 48630 / p. 9.1.184

    c) Kants Dialektikverstndnis . . . . . . . . . . . . . . . . 142d) Hegels Dialektikverstndnis . . . . . . . . . . . . . . . 144

    2. Eine vergleichende Rckschau und ein Vorschlag eines neuenVerstndnisses von Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . 145a) Der leitende Gesichtspunkt des Vergleichs von Sein

    und Erscheinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145b) Sein und Erscheinen Deutungen ihrer Differenz und

    Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146c) Weiterfhrende Fragen und ein neuer Vorschlag . . . . . 150

    3. Ein neues Verstndnis der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . 152a) Die Dialektik der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . 152b) Die Dialektik des Begreifens . . . . . . . . . . . . . . . . 153c) Die Dialektik der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154d) Ein Beispiel und was es lehrt . . . . . . . . . . . . . . . 156

    4. Ideen als Zielvorstellungen von der Erfllung der Aufgaben derVernunft: drei Schritte zur Erkenntnis ihrer Dialektik . . . . . 158a) Erster Schritt: Eine Erfahrung: Alles Gegebene verwandelt

    sich in Aufgegebenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158b) Eine Frage: Welcher Aufgabe stellt sich die Vernunft? . . 159c) Zweiter Schritt: Alle Aufgaben der Vernunft zielen auf

    eine neues Gegebensein der Gegenstnde ab . . . . . . . 160d) Eine Folgerung: Alles Ordnen und Gestalten dient der

    ffnung eines Begegnungsraums, der eine zukunftsoffeneGeschichte mglich macht . . . . . . . . . . . . . . . . 161

    e) Dritter Schritt: Das Subjekt ist bei der Erfllung seinerAufgaben einer radikalen Selbstgefhrdung ausgesetzt,die nur im Lichte des Gottespostulats berwundenwerden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

    f) Das Gottespostulat und seine neue Gestalt . . . . . . . . 164

    5. Freiheit, die frei macht und Macht, die ermchtigt:Wesenseigenschaften Gottes im Kontext einer neuverstandenen Postulatenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 167a) Zur Problemlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167b) Freiheit, die frei macht ein transzendental-

    philosophischer Gottesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 169c) Freiheit, die frei macht ein religiser Gottesbegriff . . 170d) Was kann ein spezifisch philosophischer Begriff leisten,

    wenn er als Gottesbegriff verwendet wird? . . . . . . . . 173

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 9

    Inhalt

  • Alber 48630 / p. 10.1.184

    e) Et hoc est, quod omnes dicunt Deum oder:Der Begriff Freiheit, die frei macht als Thema desDialogs zwischen dem Glauben und der Philosophie . . . 174

    Verzeichnis der zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 177

    Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

    10 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Inhalt

  • Alber 48630 / p. 11.1.184

    Vorrede

    1. Eine Erluterung der gestellten Frage

    Der Titel Antwortendes Gestalten ist nicht psychologisch, sonderntranszendentalphilosophisch gemeint. Die Absicht ist nicht, zu be-schreiben, wie in der Vielfalt menschlicher Ttigkeiten unterschiedli-che Akte der Gestaltung ausgebt werden. Vielmehr soll gefragt wer-den, auf welche Weise wir unser Anschauen und Denken vollziehenmssen, wenn dadurch der Raum geffnet werden soll, innerhalb des-sen uns Objekte gegenbertreten knnen. Der Titel AntwortendesGestalten ist insofern die Kurzformel fr die in den folgenden Aus-fhrungen gesuchte Antwort auf die transzendentale Frage: Wie bautsich vor unseren Augen die Welt der Gegenstnde auf?

    Diese Frage wird durch folgende Beobachtungen veranlat: Um ineine Beziehung zu Gegenstnden einzutreten, mssen wir anschauenund denken. Aber das Ziel der Bemhung um einen sachgemen Hin-blick auf die Dinge besteht darin, nicht nur Angeschautes als solches zusehen: denn dieses knnte auch ein Produkt unserer Einbildungskraftsein. Was wir anschauend erfassen wollen, ist vielmehr ein Wirkliches,das sich nicht darin erschpft, von uns angeschaut zu sein, sondern un-serem Anschauen als Mastab gegenbertritt. An diesem Mastab be-urteilen wir, ob wir richtig gesehen haben oder einer Ungenauigkeitunseres Hinblicks zum Opfer gefallen sind. Wir sehen den Dingen an,da wir noch einmal hinschauen mssen, um die Weise, wie sie sichuns zeigen, klarer und deutlicher zu erfassen.

    Entsprechendes gilt vom Denken. Das Ziel der Bemhung um densachgerechten Gedanken besteht darin, nicht nur Gedachtes als solcheszu erfassen; denn das Gedachte knnte auch ein bloes Konstrukt un-seres Verstandes sein. Was wir begreifend erfassen wollen, ist vielmehrWirkliches, das unserem Begreifen als Mastab gegenbertritt. An die-sem Mastab beurteilen wir, ob wir richtig gedacht haben oder mit

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 11

  • Alber 48630 / p. 12.1.184

    unseren Begriffen die Sache verfehlen. Wir begreifen die Dinge, indemwir uns durch sie zur Korrektur unserer Begriffe ntigen lassen.

    Es ist jedesmal der widerstndige Eigenstand des Wirklichen,der uns zu dieser Selbstkorrektur unseres Anschauens und Begreifensntigt. Aber um diesen Widerstand zu erfassen, mssen wir anschauenund denken. Die Frage, wie inmitten unseres Anschauens und Denkensund aus der Subjektivitt unserer Vorstellungen und Begriffe der Ge-genstand zu solchem widerstndigen Eigenstand auftaucht, ist daseigentliche Rtsel des Erkennens. Und die Erkenntnistheorie hat dieAufgabe, dieses Rtsel zu lsen. Es die Aufgabe der Transzendentalphi-losophie, den Weg zur Lsung dieses Rtsels aufzuschlieen, indem siezeigt, auf welchen Bedingungen dieses Auftauchen des Gegenstan-des beruht. Erst wenn diese Bedingungen geklrt sind, wird es mglich,zu begreifen, wie sich vor unserem Auge die Welt der Gegenstndeaufbaut.

    2. Zur Eigenart der transzendentalphilosophischenFragestellung

    Die Eigenart der transzendentalphilosophischen Fragestellung lt sichverdeutlichen, wenn man sie mit der Fragestellung der klassischen On-tologie vergleicht. Die klassische Ontologie fragt: Was ist das Seien-de? Leibniz hat diese Frage durch die weitere erlutert: Worauf be-ruht es, da berhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts? DieTranszendentalphilosophie dagegen fragt: Was ist und worauf beruhtdas Fr-uns-Werden des Seienden und unter welchen Bedingungentritt uns berhaupt etwas als unser Objekt gegenber und nicht viel-mehr nichts? Dieses Nichts knnte zweierlei bedeuten: Nichts trittuns mit dem widerstndigen Eigenstand des Objekts gegenber, weilalles, was sich uns zeigt, sich darin erschpft, ein Spiegel zu sein, indem wir unsere eigene Ttigkeit des Anschauens und Denkens wieder-erkennen. Oder: Nichts tritt uns mit dem widerstndigen Eigenstanddes Objekts gegenber, weil alles, was diesen Eigenstand besitzt, einAn-sich-Seiendes ist, das sich jedem Fr-uns-Werden entziehtund uns deshalb vllig unzugnglich bleibt. Erst auf dem Hintergrunddieser doppelten Mglichkeit des Nichts wird die transzendentaleFrage verstndlich: Worauf beruht es, da berhaupt etwas fr unszum Objekt wird und nicht vielmehr nichts? Jenes Etwas, das

    12 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

  • Alber 48630 / p. 13.1.184

    nicht vielmehr nichts ist, ist weder ein bloer Spiegel, in demwir unsselber anschauen und denkend erfassen, noch ein An-sich-Seiendessolcher Art, da er sich dem Fr-uns-Werden entzieht. Das gesuchteEtwas, das wir anschauend und begreifend erfassen wollen, ist viel-mehr ein Wirkliches solcher Art, da es fhig ist, sich uns entgegen-zuwerfen (se nobis objicere). Als solches Ob-jectum wird es zumMastab, an dem wir unser Anschauen und Denken selbstkritischberprfen knnen.

    Die transzendentale Frage lautet dann: Wie kann etwas fr unswerden, also sich uns zeigen, ohne jenen Eigenstand zu verlieren,durch den das Objekt zum Mastab unserer kritischen Selbstberpr-fung wird? Darin ist die zweite Frage enthalten: Wie kann etwas insolcher Weise fr uns werden, da es uns anzeigt, da es sich in die-sem Fr-uns-Sein nicht erschpft, sondern uns gegenber seine Vor-behaltenheit wahrt? Wie zeigt uns das Seiende, das wir mit unserenSinnen anschauen und mit unserem Verstand begreifen, da es mehrist als die Weise, wie es sich uns zeigt, und da wir neue Weisen desAnschauens und Denkens suchen und finden mssen, um neue Aspek-te dieses Mehr zu erfassen?

    3. Drei vorbereitende Schritte

    Im folgenden wird sich zeigen, da drei vorbereitende Denkschrittentig sind, um zu einer Antwort auf diese Frage zu gelangen.(a) Nichts kann fr uns zum Objekt werden, wenn wir ihm nicht

    Kontexte bereitstellen, innerhalb derer es unsere Fragen beant-worten kann. Und es ist die Form unseres Anschauens und Den-kens, die die Struktur dieser Kontexte bestimmt und damit auchden einzelnen Gegenstnden jene Gestalt verleiht, durch die siesich den so strukturierten Kontexten einfgen. Nur was im Raumund in der Zeit und damit in unseren Anschauungsformen seineeindeutige Stelle findet, und nur was im Gefge der Bedingungenund Folgen, der in unterschiedlichen Erfahrungskontexten wie-derkehrenden Substanzen und ihrer wechselnden Zustnde undEigenschaften und damit in dem Gefge unserer Kategorien ver-ortet werden kann, unterscheidet sich von den Hervorbringun-gen subjektiver Phantasie und wird so fr uns zum Objekt.

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 13

    Drei vorbereitende Schritte

  • Alber 48630 / p. 14.1.184

    (b) Nichts kann uns gegenber seinen widerstndigen Eigenstandgeltend machen, wenn es sich nicht als tauglich erweist, sich derGestaltungskraft unserer Subjektivitt zu widersetzen und uns sozur Umgestaltung unserer Anschauungs- und Denkformen zuntigen. Und es ist der Anspruch der Dinge, von dem der zweifa-che Impuls ausgeht: der Impuls, genau hinzusehen, um zu erfas-sen, was sich uns zeigt, und der Impuls, kritisch zu urteilen, um zuerfassen, was die Erscheinungen bedeuten. Dieser Anspruch derDinge begegnet uns insofern als ermchtigende Macht, die unsbefhigt, dem oft bermchtigen Eindruck, mit dem die Dinge aufuns wirken, unser kritisches Urteil entgegenzusetzen. Nur durchdieses kritische Urteil knnen wir unsererseits die Sache dazufhig machen, aus dem oft irrefhrenden Schein, in dem sie sichverbirgt, zum widerstndigen Eigenstand des Objekts aufzu-tauchen. Nur so kann das Objekt unserem Anschauen und Den-ken mit dem Anspruch auf objektive Geltung gegenbertreten.Die Freiheit unseres Urteils wird insofern an den Dingen, die unsbegegnen, als befreiende Freiheit wirksam. ErmchtigendeMacht und befreiende Freiheit bestimmen auf solche Weisedas Wechselspiel zwischen dem Objekt und dem erkennendenSubjekt.

    (c) In diesem Wechselspiel von ermchtigender Macht des Gegen-stands und befreiender Freiheit des Subjekts ereignet sich einzweifaches Auftauchen: Aus dem Zug der Vorstellungsbilder,die die Erscheinungen erzeugen, taucht das urteilsfhige Subjektauf, das zwischen Wahrheit und Schein zu unterscheiden vermag.Und aus der subjektiven Weise, wie wir das, was sich zeigt, an-schauen und denken, taucht das Objekt auf, das sich aus der ber-macht unserer Anschauungs- und Denkformen befreit. Diesezweifache Emergenz erweist sich so als das zentrale Problemder Transzendentalphilosophie, sofern diese ber die kantischeVorstellung von einer einseitigen Gesetzgebung des Verstandesber die Gegenstandswelt hinausgeht und sich zu einer Theoriedes Dialogs mit der Wirklichkeit weiterentwickelt.

    Sind diese drei vorbereitenden Schritte durchlaufen, dann wird deut-lich, worin die hier vorgeschlagene weiterentwickelte Transzendental-philosophie sich sowohl von der klassischen Ontologie als auch von derkantisch verstandenen Transzendentalphilosophie unterscheidet. Dieklassische Ontologie beantwortet die Frage, wie etwas fr uns zum Ge-

    14 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

  • Alber 48630 / p. 15.1.184

    genstand wird, an dem wir unsere subjektiven Meinungen kritischberprfen knnen, durch die These: Die Hinordnung zum Verstand(ordo ad intellectum) gehrt zu den allgemeinen Eigenschaften jedesSeienden (passiones generales entis). Diese Hinordnung ist es, diedie Wahrheit der Dinge genannt wird. Kant dagegen beantwortetdie gleiche Frage durch die These: Es sind die Formen unseres Anschau-ens und Denkens, die aus den subjektiven Eindrcken, die wir empfan-gen, Gegenstnde aufbauen, die uns sodann mit dem Anspruch gegen-bertreten, fr unser theoretisches und praktisches Urteil mageblichzu sein. Diese Formen prgen nicht nur unser Anschauen und Denken,sondern geben zugleich den Gegenstnden, die wir mit unseren Sinnenund mit unserem Denken erfassen, ihre Gestalt. Die hier vorgeschlage-ne Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie fhrt das Fr-uns-Werden der Objekte weder allein auf die Eigenart des Seiendenzurck noch einseitig auf die Gestaltungskraft des Subjekts, sondernauf ein dialogisches Wechselverhltnis zwischen beiden. Dabei bleibtder kantische Gedanke erhalten, da die Formen unseres Anschauensund Denkens allem, was uns als Gegenstand begegnet, die Gestalt ver-leihen. Aber dieses Gestalten hat selber den Charakter einer Antwort,die wir auf den Anspruch des Wirklichen geben. Antwortendes Ge-stalten wird so zu einem Zentralbegriff der weiterentwickelten Tran-szendentalphilosophie.

    4. Der Begriff des antwortenden Gestaltens als Hinweis aufeine mgliche Lsung der transzendentalen Frage

    a) Eine persnliche Vorbemerkung zur Formulierung des Themas:Eine Beobachtung, die mich beeindruckt hat

    Den Titel antwortendes oder responsorisches Gestalten habe ichzuerst in Gesprchen mit Knstlern verwendet, mit denen ich im Jahre1991 einige Tage auf der Insel Reichenau im Bodensee verbracht habe.Das Gesprch mit den Knstlern hatte ich auch schon in den vorange-henden Jahren gesucht, nicht aus philosophischen Grnden, sondernaus Interesse an sthetischer Bildung. Aber in diesem Jahre verbandsich damit die Hoffnung, die spezifische Kompetenz der Knstler kn-ne mir auch zur Klrung meiner eigenen philosophischen Fragen hilf-reich sein. Zur selben Zeit nmlich war ich damit beschftigt, den Plan

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 15

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens

  • Alber 48630 / p. 16.1.184

    einer Verffentlichung zu entwerfen, die damals noch Logik der Er-fahrung heien sollte und die vier Jahre spter unter dem Titel Er-fahrung als Dialog mit der Wirklichkeit1 erschienen ist. Und meineVermutung war: Dieser Dialog beginnt nicht erst dort, wo wir Begriffedes Verstandes auf die Inhalte der sinnenhaften Wahrnehmung an-wenden, sondern schon im Akt der Wahrnehmung selbst. Wahrneh-mung als Dialog mit der Wirklichkeit lautete deswegen der Titel einesReferates, mit dem ich das Gesprch mit den Knstlern einzuleitenhoffte. Denn was die Kultur des Wahrnehmens betrifft, so erwarteteich von den Knstlern, da sie sich gerade hier als die geeigneten Lehr-meister erweisen wrden.

    Whrend der erwhnten Tagung im Jahre 1991 hatte ich nun Ge-legenheit, einigen Malern zuzusehen, die ihre Staffeleien am Ufer desSees aufgeschlagen hatten. Was mir dort auffiel, war die gesammelteAufmerksamkeit, mit der diese Maler immer wieder die Landschaft be-trachteten, und zugleich die schpferische Freiheit, mit der sie gestalte-ten, was auf ihrer Leinwand entstand. Offensichtlich hatten sie nichtdie Absicht, in den entstehenden Gemlden die Landschaft zu kopie-ren, die sich ihren Augen darbot. Die Gemlde, die ich im Entstehenbeobachten konnte, waren Ausdruck der Gestaltungskraft der Knstler,die sie hervorbrachten. Aber ebenso offensichtlich hatten sie die Ab-sicht, Quelle und Ma dieses ihres eigenen Gestaltens in dem zu fin-den, was sich ihrem Auge darbot und was sie, im wiederholten Hin-blick, angemessen zu erfassen versuchten.

    Das Verhltnis zwischen der Genauigkeit des Hinblicks und derFreiheit des knstlerischen Schaffens habe ich durch den Ausdruck re-sponsorisches Gestalten zu beschreiben versucht und diesen Ausdruckden Knstlern auf dieser und auf einigen anderen Tagungen angebo-ten, ummit ihnen ber ihre Ttigkeit zu sprechen. Und ich habe gefun-den, da dieses Angebot sich als Einleitung zu einem fruchtbaren Ge-sprch bewhrte.

    Der Begriff responsorisches Gestalten, mit dem ich meine Be-obachtungen von Malern am Bodensee zu charakterisieren versuchthatte, schien mir nun geeignet, die Eigenart jenes Dialogs mit derWirklichkeit zu beschreiben, den nicht nur Knstler fhren, sondernder zu jeder Wahrnehmung gehrt. Und philosophisch ergab sich dar-

    16 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

    1 R. Schaeffler, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit (im folgenden EaD), Freiburg1995.

  • Alber 48630 / p. 17.1.184

    aus die weiterfhrende Frage: Lt sich auch die Funktion von Verstan-desbegriffen und Vernunftideen, durch die wir die Gegenstnde unse-rer Erfahrung aufbauen, als ein solches antwortendes Gestalten ver-stehen?

    b) Der philosophische Hintergrund meines Interesses amGesprch mit den Knstlern

    Das Projekt einer Logik der Erfahrung, von dem einleitend die Redewar, orientierte sich an Immanuel Kants transzendentaler Logik.Diese wollte jene Ttigkeit des Verstandes nachzeichnen, die es mglichmacht, da uns Gegenstnde der Erfahrung gegenbertreten. Dennjede Erfahrung geht zunchst aus der Weise hervor, wie wir subjektivvon den Dingen affiziert werden. Und es ist ntig, diese subjektivenEindrcke so umzugestalten, da daraus Erfahrung entsteht, die unsobjektiv Gltiges erkennen lt. Dazu aber sind Begriffe des Verstan-des notwendig. Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, das un-ser Verstand hervorbringt (erster Satz der Kritik der reinen Ver-nunft2 ). Weil der Verstand es ist, der diese Umgestaltung leistet, undweil er dabei seinen eigenen Regeln folgt, hat die Erfahrung eineLogik. Diese Logik heit transzendental, weil sie nicht nur die for-malen Regeln des Denkens beschreibt, sondern damit zugleich die Be-dingungen dafr, da das Denken aus den subjektiven Eindrcken, diewir empfangen, die Welt der Gegenstnde aufbaut, die uns mit demAnspruch auf Mageblichkeit gegenbertreten.

    Die Frage aber, wie eine Logik der Erfahrung 200 Jahre nachKant aussehen msse, war vor allem durch den Zweifel veranlat, oban Kants Theorie von der Unvernderlichkeit der Verstandesformenfestgehalten werden knne. Denn diese Auffassung hatte dazu gefhrt,da Kant den Verstand und die Vernunft ganz ungeschichtlich dachteund deshalb sein eigenes Programm nicht einlsen konnte, eine Ge-schichte der reinen Vernunft zu schreiben. Fr eine solche Geschichteder Vernunft wollte er wenigstens eine Stelle im System offen-halten, die knftiger Ausfllung bedarf3 .

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 17

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens

    2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781.3 Vgl. die berschrift zum letzten Kapitel der Kritik der reinen Vernunft und die dazuvon Kant selbst gegebene Erluterung, KdrVA 852 f.

  • Alber 48630 / p. 18.1.184

    Die Frage, wie eine Logik der Erfahrung heute aussehen msse,ist insofern die Frage: Wie mu die Ttigkeit der Vernunft und des Ver-standes verstanden werden, wenn davon ausgegangen werden mu,da die Begriffe des Verstandes und vielleicht sogar die Ideen der Ver-nunft sich im Lauf der Geschichte verndern, und da deshalb Ver-nunft und Verstand eine Geschichte haben? Und welche Folgerungenergeben sich daraus fr eine Logik der Erfahrung? Kants eigenerText zeigt, da er dieses Problem gesehen hat. Und die sich hufendenSchwierigkeiten, in die eine ungeschichtliche Transzendentalphiloso-phie seit Kants Tode geraten ist, sind Anzeichen fr die Dringlichkeitdieses Problems.

    Um dieses Problem zu lsen, scheint freilich eine Korrektur deskantischen Erfahrungsbegriffs ntig zu sein. Und diese Korrektur be-trifft vor allem Kants Auffassung von der sinnenhaften Anschauungund von ihrer Bedeutung fr die Ttigkeit des Verstandes und der Ver-nunft. Eine Weiterentwicklung der transzendentalen Logik setzt vor-aus, da zunchst die transzendentale sthetik eine neue Gestalt ge-winnt, d.h. die Lehre von der Wahrnehmung (Aisthesis), sofern schonder wahrgenommene, nicht erst der begriffene Gegenstand dem Sub-jekt als Mastab des Wahren oder Falschen gegenbertritt.

    Der soeben zitierte erste Satz aus der Kritik der reinen Vernunftlautet in seiner ungekrzten Gestalt: Erfahrung ist ohne Zweifel daserste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, wenn er den ro-hen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet4 . Was wir durch dieSinne aufnehmen, sind also Empfindungen; diese aber bilden frdie Verstandesttigkeit nichts anderes als den rohen Stoff. Alle Ge-staltung dieses Rohstoffs geht dann vom Verstande aus, der seiner-seits von der Vernunft auf gewisse Ziele hin ausgerichtet wird. DieseEinseitigkeit in der Bestimmung des Verhltnisses zwischen dem Ver-stand und den Sinnen ist ein wesentlicher Grund dafr, da der Ver-stand, wie Kant ihn beschreibt, niemals durch das, was die Sinne ihmbieten, zu einer Vernderung seiner Denkweise veranlat werdenkann. Er vollzieht seine Ttigkeit in immer gleichen Formen und hatdeshalb keine Geschichte. Das aber bedeutete im Umkehrschlu: Wennman es fr notwendig hlt, den Verstand und die Vernunft geschicht-lich zu verstehen und also die Stelle im System auszufllen, die Kantoffengehalten hatte, wird man gut daran tun, Beispiele aufzusuchen, an

    18 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

    4 KdrVA 1.

  • Alber 48630 / p. 19.1.184

    denen deutlich wird: Das Denken gestaltet nicht nur den rohen Stoffsinnenhaft empfangener Eindrcke, sondern bildet seine eigene Gestalterst in dem Bemhen aus, der sinnenhaften Anschauung gerecht zuwerden. Kants Rede vom rohen Stoff wird seiner eigenen Einsichtnicht gerecht, da wir nicht nur durch unsere Begriffe, sondern auchund vor allem durch die Formen unserer Anschauung allem, was sichuns zeigt, die Gestalt seines Erscheinens vorzeichnen. Darum hat nichtnur die Logik, die Lehre von den Ideen und Begriffen, sondern auchdie sthetik, die Lehre vomWahrnehmen, transzendentalen Cha-rakter. Im folgenden wird versucht werden, an dieser Einsicht Kantskonsequenter festzuhalten, als Kant selbst dies getan hat.

    Das Gesprch mit den Knstlern, das ich zunchst nicht aus phi-losophischen Grnden gesucht hatte, schien mir in diesem Zusam-menhang auch philosophisch belangvoll: Wenn eine begrndete Ver-mutung dafr sprach, da gewisse Schwchen der kantischen Philo-sophie auf einer Unterbewertung der sinnlichen Empfindungenberuhen, schien es geboten, gerade mit Knstlern ins Gesprch zukommen. Denn bei ihnen darf man voraussetzen, da sie besondersintensiv in das sinnenhafte Anschauen eingebt sind und, wenn mansie danach befragt, auch ber die Bedeutung der Sinne fr das Denkenein klrendes Wort zu sagen haben. Ich habe im lebendigen Gesprchmit solchen Knstlern auch die theoretischen uerungen besser ver-stehen gelernt, die wir beispielsweise Wassily Kandinski oder Paul Kleeverdanken (vgl. W. Kandinski, ber das Geistige in der Kunst; P. Klee,ber die moderne Kunst). Dabei ist mir deutlich geworden: Was derPhilosoph hier zu lernen hat, betrifft nicht nur das Spezialgebiet dersthetik, sondern die Vielfalt der Weisen von Erfahrung berhaupt.Jeder dieser Erfahrungsarten, z.B. der sittlichen oder der religisen Er-fahrung, aber auch der wissenschaftlichen Empirie, liegt eine spezi-fische Weise des Wahrnehmens zugrunde. Aber allen Erfahrungs-weisen ist gemeinsam, da die Begriffe, die ntig sind, um aus subjek-tiven Erlebnissen objektiv gltige Erkenntnisse zu gewinnen, sich inder Auslegung dieser Wahrnehmungsweisen bewhren mssen unddeshalb auf jedem Gebiet der Erfahrung eine besondere Gestalt an-nehmen. Ich habe mich deswegen in Erfahrung als Dialog mit derWirklichkeit bemht, der Lehre von der Wahrnehmung und von derVerschiedenheit der Wahrnehmungsarten ein greres Gewicht zu-zumessen, als dies gewhnlich geschieht.

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 19

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens

  • Alber 48630 / p. 20.1.184

    c) Weiterfhrende Reflexionen

    Auch in den 19 Jahren, die seit dem Erscheinen von Erfahrung alsDialog verstrichen sind, hat mich die Erinnerung anmeine Begegnun-gen mit Knstlern weiter begleitet. Dabei hat mich vor allem die Fragebeschftigt, ob der Begriff responsorisches Gestalten, der sich in die-sen Gesprchen als hilfreich erwiesen hatte, nicht zu einer weiterfh-renden Interpretation dessen Anla geben knne, was in den verschie-denen Weisen des Dialogs mit der Wirklichkeit geschieht. Solltediese Vermutung sich besttigen, wird sich daraus nicht nur eine neueAufgabenstellung der transzendentalen sthetik ergeben, sondern einevernderte Gestalt der gesamten Transzendentalphilosophie.

    Der Grundgedanke von Erfahrung als Dialog mit der Wirklich-keit lt sich in folgender Weise wiedergeben: Weder unsere Sinnenoch unsere Begriffe ben einseitig eine Herrschaft ber die Gegen-standswelt aus, sondern stehen zu dieser in einem dialogischenWech-selverhltnis. Sowohl unser Anschauen als auch unser Denken antwor-tet auf einen Anspruch des Wirklichen. Dieser Anspruch ist das ersteWort im Dialog mit der Wirklichkeit. Unser Anschauen und Denkengibt der Weise, wie die Dinge sich uns zeigen, ihre Gestalt. Aber diesesGestalten ist immer schon Antwort und setzt den vernommenen An-spruch voraus. Und die Wirklichkeit, der wir begegnen, behlt in die-sem Dialog auch stets das letzte Wort. Denn ihr Anspruch erweistsich unserer Antwort gegenber immer wieder als grer und machtuns so die Kritikbedrftigkeit und berbietungsbedrftigkeit unsererAntwort bewut. Und indem wir uns immer neu bemhen, auf den sovernommenen je greren Anspruch durch eine neue Weise des An-schauens und Begreifens zu antworten, wird jede Weise, wie das Wirk-liche uns zum Bewutsein gelangt, zur Phase in einem zukunftsoffe-nen Dialog.

    Die Erinnerung an die Knstler mit ihrem schpferisch gestalten-den und doch zugleich demtig an die wahrgenommene Landschafthingegebenen Blick hat mich jedoch in den folgenden Jahren dazu ver-anlat, auch den Begriff des Dialogs mit der Wirklichkeit noch ein-mal kritisch weiterzuentwickeln.

    Dabei schien es mir ntig, an dem Gedanken festzuhalten: ImWechselverhltnis zwischen dem anschauenden und denkenden Sub-jekt und seinen Gegenstnden entfaltet jeder der beiden Partner eineEigenaktivitt, die der andere ihm nicht abnehmen kann. Antworten-

    20 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

  • Alber 48630 / p. 21.1.184

    des Gestalten ist kein Monolog, sondern bedarf des Anspruchs, den esnicht erfinden kann, sondern vernehmen mu. Aber dieses antwor-tende Gestalten ist eine Eigenleistung des Subjekts, ohne die das Objektsich nicht vor unserem leiblichen oder geistigen Auge prsentierenknnte.

    Die berzeugung, da es notwendig sei, an diesem Grundgedan-ken festzuhalten, schliet jedoch die Einsicht nicht aus, da er der Wei-terentwicklung bedarf. Das Verhltnis zwischen Wort und Antwortmu so gedacht werden, da beide sich auf paradoxe Weise gegenseitigeinschlieen und doch zugleich ihre Unabhngigkeit voneinander wah-ren. Auch das erste Wort im Dialog, der Anspruch des Wirklichen,wird nur dann zum Wort, das uns erreicht, wenn wir schon anschau-en und denken. Und auch das letzte Wort, der je grere An-spruch, der uns dazu aufruft, uns in der Begegnung mit dem Wirk-lichen umgestalten zu lassen, wird nur zum Wort, wenn wir diesenAnspruch schon anschauend und denkend erfassen.

    Impulse, die von Wirklichen ausgehen (z.B. physische Einflsse,die unser Auge und Ohr erreichen und dann zu Sinnesreizen wer-den), knnen uns nur zum Wechsel der physischen oder geistigen Per-spektive veranlassen, wenn wir sie schon anschauend erfassen und be-greifend verstehen. Es gibt keinWort, das wir hren knnten, ohne dawir schon auf es antworten. Und selbst alles vermeintlich rein rezeptiveHinsehen ist schon eine Weise aktiven Gestaltens. Aber auch das Um-gekehrte gilt: Unser Anschauen und Denken erreicht seine Objektennur in dem Mae, in welchem es sich, inmitten seines aktiven Gestal-tens, dafr offen hlt, seinerseits unter dem je greren Anspruch desWirklichen umgestaltet zu werden. Das Objekt zeigt uns seinen ma-geblichen Eigenstand immer nur dadurch an, da es sich derWeise, wiewir es anschauen und denken, korrigierend entgegenwirft (se nobisobjicit). Wir begreifen seine Objektivitt, indem wir seinen An-spruch als die reale Objection gegen unsere Auffassungsart begrei-fen. Und schon jetzt darf, eine knftige berlegung vorwegnehmend,hinzugefgt werden: Es ist dieser Eigenstand, aus dem heraus die Din-ge uns zum Objekt werden, der es uns gestattet, diese Objekte alsSubstanzen zu bezeichnen und damit zu rechnen, da sie auch imVerhltnis untereinander, vor allem in ihrem kausalen Verhltnis desWirkens und Leidens, ihren Eigenstand und in diesem Sinne ihreSubstantialitt bewahren werden.

    Der kreative und zugleich selbstkritische Blick des Knstlers ist

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 21

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens

  • Alber 48630 / p. 22.1.184

    das besonders deutliche Beispiel dafr, da wir die Dinge in diesemihrem Eigenstand erfahren. Es gehrt ein geschulter und aktiv gestal-tender Blick dazu, um dem Wirklichen anzusehen, da es der Weise,wie wir es anschauen, widersteht und uns zur Vernderung des Hin-blicks ntigt. Daraus wird der Philosoph lernen: Der je grere An-spruch des Wirklichen wird nicht unabhngig von der Antwort ver-nommen, die wir geben, obgleich er diese Antwort immer wieder alsunzulnglich erweist. Der je grere Anspruch des Wirklichen ist inder stets unzulnglichen und korrekturbedrftigen Weise unseres An-schauens und Denkens antizipatorisch prsent. Nur so wird dieser An-spruch zum vorantreibenden Moment des Dialogs mit der Wirklich-keit.

    d) Eine zweifache Selbstgefhrdung unseres Anschauens undDenkens

    Aus der zweifachen Einsicht, da wir den Anspruch desWirklichen nurvernehmen, indem wir ihn schon anschauend und denkend beantwor-ten, und da andererseits die objektive Geltung dieses Anspruchs sichdarin zeigt, da die Dinge sich der Weise, wie wir sie anschauend unddenkend erfassen, entgegenwerfen, ergeben sich freilich auch spezi-fische Gefahren fr unser Anschauen und Denken. Es gibt ein Gestal-ten, das in solchem Mae vermeintlich erfolgreich ist, da in einerallzu wohlgeordnet angeschauten und begriffenen Welt der Gegen-stand keine Mglichkeit mehr hat, seinen je greren Anspruch gel-tend zu machen. Dann wird die von uns gestaltete Welt zu einem Netz,in das wir uns selber verstricken. Wir stoen berall nur noch aufselbst errichtete Spiegel, in denen wir uns selber anschauen, kommennie mehr zu den Sachen in ihrer beunruhigenden Fremdheit, sondernimmer nur zu uns selbst, und bemerken nicht einmal mehr, da wiruns auf diese Weise aller Realitt entfremdet haben. Das Bewutseinvon der Unentbehrlichkeit aktiven Gestaltens kann uns blind machenfr den weitertreibenden Anspruch, der uns der Unzulnglichkeit jedererreichten Gestalt berfhren knnte.

    Es gibt aber auch eine zerstrerischeWeise, sich an der berlegen-heit der Wahrheit ber all unseren Versuchen, sie zu erfassen, selbstloszu erfreuen. Dann wird die je grere Wahrheit nicht mehr als Im-puls zur Umgestaltung erfahren, sondern als Aufforderung zur Selbst-

    22 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

  • Alber 48630 / p. 23.1.184

    zerstrung der Vernunft und sogar der Wahrnehmungsfhigkeit. Dieberechtigte Sorge, das konstruktive Moment, das unvermeidlich zu je-dem Akt des Begreifens und sogar schon zu jedem Akt des Anschauensgehrt, knnte uns den Blick auf die Wirklichkeit verstellen, kann dasZerbrechen aller Gestalten als die einzig angemessene Selbst-Mani-festation des Wirklichen erscheinen lassen. Dann entsteht eine zuwei-len geradezu rauschhafte Begeisterung an der Destruktion, als ob dasZerbrechen aller Form fr sich schon die je grereWahrheit aufleuch-ten lassen knnte. Formen dieser Begeisterung an der Dekonstruktionfinden nicht nur in gewissen Weisen knstlerischer Gestaltfeindlich-keit ihren Ausdruck, sondern auch in gewissen Weisen einer philoso-phischen Leidenschaft des Irrationalen. Dann wird vergessen, da derje grere Anspruch des Wirklichen immer unsere Antwort verlangt,und da diese Antwort immer den Charakter antwortenden Gestaltensbehalten mu. Die Selbstzerstrung des Subjekts wrde die je grereWahrheit der Dinge nicht zum Aufleuchten bringen, sondern endgl-tig in Finsternis versinken lassen.

    e) Ein neues Verstndnis von Dialektik

    Ein Rckblick auf die soeben beschriebenen Selbstgefhrdungen unse-res Anschauens und Denkens macht deutlich: Die Gefahr entspringtaus derselben Quelle, aus der sich auch die Mglichkeit der Begegnungmit dem Wirklichen ergibt.

    Es sind die Dinge, die uns durch die Weise, wie sie sich uns zeigen,zu denken geben; und schon unsere Akte des Anschauens werdendurch sie hervorgerufen. Die Dinge ziehen unsern Blick auf sich undverlangen, da wir unseren Blick an ihnen schulen. Lassen wir uns vonihnen nicht beeindrucken, dann sagen sie uns nichts, was wir nichtschon vorher gewut htten. Aber dieWeise, wie sie uns beeindrucken,ist zugleich die Quelle der Gefahr fr unser Erkennen. Es ist ntig, dawir uns aus der bergroen Suggestionskraft ihres Erscheinens befrei-en, wenn wir diese Erscheinungen kritisch auslegen und zur Wahrheitder Dinge5 vordringen wollen. Nur durch seinen Widerstand gegendie bermacht der Erscheinungen taucht das anschauende und denken-de Subjekt aus dem Flu der empfangenen Eindrcke auf. Und doch

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 23

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens

    5 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, pars 1 quaestio 16 art 1.

  • Alber 48630 / p. 24.1.184

    sind es diese Eindrcke, die uns treffen und nicht mehr loslassen,an denen unser Blick wie unser Begriff sich bildet und so erst zur an-gemessenen Gestalt seiner Ttigkeit findet.

    Unsere kritische Auslegung ist es, die die Erscheinungen trans-parent macht fr das, was objektiv gilt und so zum Mastab unsererkritischen Selbstbeurteilung werden kann. Unausgelegte und darumnicht kritisch verstandene Erscheinungen werden zu Quellen der Be-fangenheit. Erst die kritische Auslegung bringt gegenber unseren sub-jektiven Meinungen den Anspruch der Dinge zur Sprache. Aber geradesie lt die Gefahr entstehen, da wir es nur noch mit unseren eigenenKonstrukten zu tun haben. Es ist ntig, da die Dinge sich aus der stetssubjekt-zentrierten Perspektive unseres Anschauens und aus dem Zu-griff unserer Begriffe wieder befreien, wenn sie sich diesen Ttigkeits-formen des Subjekts mit jenem widerstndigen Eigenstand entgegen-werfen sollen, der das Kennzeichen des Ob-jectum ist. Nur durchdiesenWiderstand taucht das Objekt aus dem Flu unserer Vorstellun-gen auf, zeigt uns seinen Eigenstand an und verhindert, da der Dialogmit ihm zumMonolog des anschauenden und denkenden Subjekts ver-schrumpft (um einen Ausdruck von Hermann Cohen zu gebrauchen).

    Das Subjekt und seine Objekte mssen sich je auf ihre Weise ausder bestimmenden Macht gerade jener wechselseitigen Einflsse be-freien, denen sie die Mglichkeit ihrer Begegnung verdanken. Gelingtihnen diese Befreiung nicht, dann werden diese wechselseitigen Ein-flsse zu Hindernissen der Begegnung, statt sie mglich zu machen.Auf dieser zweifachen Gegensatz-Einheit von Ermglichungsgrundund Gefhrdung der Begegnung, von bestimmendem Einflu und frei-setzender Ermchtigung ergibt sich eine eigentmliche Dialektik. Die-se betrifft nicht nur, wie bei Kant, das Verhltnis der Ideen und derihnen entsprechenden Begriffe. Bei Kant ist es vor allem das Verhltnisder zweifachen Idee von Welt als Natur und als Welt der Zwek-ke, aus der die Dialektik entspringt, weil diese Welten sich unerachtetihrer Strukturverschiedenheit gegenseitig durchdringen: es ist die Na-tur, in der wir die sittlich gebotenen Zwecke realisieren sollen. Die hierangedeutete Dialektik dagegen betrifft, wie noch gezeigt werden soll,schon jede einzelneWahrnehmung, sofern das wahrnehmende Subjektund das wahrgenommene Objekt aufeinander gerade in der Weise wir-ken, da sie sich gegenseitig zum widerstndigen Eigenstand fhig ma-chen und so aufeinander auf eine Weise einwirken, die man als er-mchtigende Macht und freisetzende Freiheit bezeichnen kann.

    24 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

  • Alber 48630 / p. 25.1.184

    Und dieses Verhltnis von ermchtigender Macht und befreienderFreiheit wiederholt sich noch einmal dort, wo die Gesetzgebung desVerstandes, der den Gegenstnden Kontexte ihres Erscheinens ein-rumt, diese Gegenstnde erst zu jenem widerstndigen Eigenstandfreisetzt, durch den sie sich allen bloen intellektuellen Konstruktio-nen des Erkennenden entgegenwerfen und so erst zu Ob-jektenwerden. Responsorisches Gestalten gibt nicht nur eine Antwort aufden vernommenen Anspruch der Dinge, sondern gibt diesem Ansprucherst seine fr uns vernehmbare Gestalt. Aber zugleich macht der sovernehmbar gewordene Anspruch seinen Widerstand gegen die gestal-tenden Krfte des Subjekts geltend. Es ist das wahrgenommene undsodann das in Begriffen erkannte Objekt, das dem Subjekt als leibhaf-te Objektion gegen die bestimmende Kraft seines Gestaltens gegen-bertritt. Gerade dadurch macht das Objekt das Subjekt zu einerSelbstkritik fhig, durch die es seine Befangenheit im Netz der eigenenKonstrukte zerbricht.

    Und doch ist das Verhltnis von Subjekt und Objekt der Gefahrausgesetzt, da die ermchtigendeMacht der Objekte in die bermachteiner Faszination umschlgt, die neue Befangenheiten erzeugt, und dadie befreiende Freiheit des Urteils in ein Herrschaftswissen bergeht,das die Dinge einseitig der Gesetzgebung des Subjekts unterwirftund damit zugleich eine Praxis technischer Weltbeherrschung vor-bereitet.

    Es wird zu prfen sein, ob diese Dialektik ebenso wie die kanti-sche nach einer Auflsung durch Vernunftpostulate verlangt. In je-dem Falle aber wird die hier vorgeschlagene Neubestimmung des Ver-hltnisses zwischen demwahrnehmenden und urteilenden Subjekt undseinen Objekten eine Weiterentwicklung der gesamten Transzenden-talphilosophie notwendig machen, die sowohl die transzendentale s-thetik (Wahrnehmungslehre) als auch die transzendentale Logik undDialektik betrifft.

    f) Thesen und weiterfhrende Fragen

    Selbstkritische Reflexionen der soeben beschriebenen Art haben michin den folgenden Jahren zunchst zu berzeugungen gefhrt, die inThesen ausgesprochen werden konnten. An diese knpften sich Fra-gen, die ein Feld kommender Untersuchungen absteckten.

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 25

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens

  • Alber 48630 / p. 26.1.184

    1. Man mu etwas dazutun, wenn die Sache sich zeigen soll. Wahr-nehmen ist kein rein passives Geschehenlassen. Aber was manhier dazutun mu, will erlernt und eingebt sein, wenn es derSache dazu verhelfen soll, sich zu zeigen. Sonst besteht die Gefahr,da unsere Wahrnehmungsart sich wie ein Schleier zwischen unsund die Dinge schiebt. Daher die weiterfhrende Frage: Wie ge-schieht solches Lernen und Einben?

    2. Was wir dazutun, mu die Dinge zum Sprechen bringen, nichtzum Schweigen. Darum sind es immer die Sachen, von denen wirlernen mssen, sie richtig wahrzunehmen. Aber wie kommen dieDinge auf solche Weise zur Sprache, da sie uns zu Lehrernwerden knnen?

    3. Die Dinge belehren uns, indem sie uns nicht berwltigen, son-dern zur Eigenttigkeit des Sehens herausfordern. Zugleich abersetzen sie sich immer wieder gegen die Weise durch, wie wir sieanschauen und wahrnehmen. Wie knnen sie beides zugleich zu-stande bringen?

    4. Die Dinge knnen uns nur zur Eigenttigkeit herausfordern, so-fern das Subjekt aus der Flle und Suggestionskraft empfangenerEindrcke zur Eigenstndigkeit des Urteils auftaucht. Die Dingeknnen sich nur gegen unsere Sichtweisen durchsetzen, indem sieihrerseits aus den Bildern, die wir uns von ihnen machen, zurEigenstndigkeit des sich uns Entgegenwerfenden, des Ob-jec-tum, auftauchen. Diese doppelte Emergenz ist das Resultateiner spezifischen Dialektik der Wahrnehmung.

    5. Darum enthlt jede Wahrnehmung ein kritisches und zugleich einselbstkritisches Moment. Sie verhlt sich kritisch gegenber denEindrcken, die uns zu berwltigen drohen, zugleich aber selbst-kritisch gegenber der Versuchung, das antwortende Gestalten zueiner Herrschaft ber die Erscheinungen werden zu lassen. Aberwie gewinnt die Wahrnehmung diese kritische und zugleichselbstkritische Gestalt?

    6. Die Wahrnehmung gewinnt ihre kritisch-selbstkritische Gestalt,indem sie sich nicht darin erschpft, Material fr die Begriffs-bildung zu liefern, sondern von Begriffen kritisch ausgelegt wirdund, durch diese Auslegung angeleitet, ein neues Sehen lernt.Das klassische Beispiel dafr ist die neue Raum-Wahrnehmung,die beim bergang von der ptolemischen zur kopernika-nischen Auslegung der Gestirnsbeobachtungen zustande kam.

    26 SCIENTIA RELIGIO Richard Schaeffler

    Vorrede

  • Alber 48630 / p. 27.1.184

    Eine auf solche Weise belehrte Wahrnehmung bringt in einemzweiten Schritt die auf neueWeise gesehene Objektwelt gegen allebloen Begriffskonstruktionen zur Geltung. Der Begriff, der derSuggestionskraft der Erscheinungen widersteht, ist zugleich dieBedingung fr ein neues Sehen, durch welches die Sache sich ge-gen die Konstruktionen des Verstandes zur Wehr setzen kann.

    7. Die Freiheit des Blicks auf die Sache erweist sich so als eine durchdie Sache selbst befreite Freiheit. Und der Widerstand, den dieangeschaute Sache unseren Begriffskonstruktionen entgegen-setzt, erweist sich als Ausdruck einer durch das Subjekt selbst er-mchtigtenMacht der Objekte. Wir lernen dasWahrnehmen wiedas Begreifen in diesem Wechselspiel von befreiender Freiheitdes Subjekts und ermchtigender Macht des Objekts. Aber wieist zu verhindern, da Befreiung und Ermchtigung in neue Ab-hngigkeiten umschlagen?

    8. Das Wechselspiel von befreiter und dann ihrerseits befreienderFreiheit des Subjekts und ermchtigender Macht der Objekte isteiner spezifischenWeise der Selbstgefhrdung ausgesetzt. Es kann(in beiden Richtungen) gerade dort Unterwerfung bewirken, wo esBefreiung verheit. Es ist zu prfen, ob diese Selbstgefhrdungberwunden werden kann, wenn befreiende Freiheit und ermch-tigende Macht als Abbild- und Gegenwartsgestalten einer urbild-lichen befreienden Freiheit und ermchtigenden Macht ver-standen werden. Darauf, da sie bloe Abbilder sind, beruht ihreVerfhrungsmacht und damit ihre Selbstgefhrdung. Darauf dasie wirkliche Abbilder sind, beruht ihre Wirksamkeit.

    Falls diese Auslegung sich besttigt, ergibt sich die weiterfhrende Fra-ge, ob der Begriff der urbildlichen ermchtigenden Macht und be-freienden Freiheit als ein philosophischer Gottesbegriff gelten kann.

    Erkennen als antwortendes Gestalten A 27

    Der Begriff des antwortenden Gestaltens