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ZU SCHNELL FÜR GOTT?

Theologische Kontroversenzu Beschleunigung und Resonanz

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Begründet vonKARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER

Herausgegeben vonPETER HÜNERMANN UND THOMAS SÖDING

QD 286

ZU SCHNELL FÜR GOTT?

Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel

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ZU SCHNELL FÜR GOTT?

Theologische Kontroversenzu Beschleunigung und Resonanz

Herausgegeben vonTobias Kläden und Michael Schüßler

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Tobias Kläden/Michael Schüßler

I. Kontroversen zur Resonanzkrise beschleunigten Lebens

Gelingendes Leben in der Beschleunigungsgesellschaft.Resonante Weltbeziehungen als Schlüssel zur Überwindungder Eskalationsdynamik der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 18Hartmut Rosa

Dialektik der Beschleunigung.Theologie als Zeitdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Hans-Joachim Höhn

Beschleunigungserfahrungen.Subjekttheoretische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 72Ottmar John

Religion in der Resonanzkrise.Provokationen und Ermutigungen christlichen Glaubens,die an der Zeit sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94Martin Rohner/Stephan Winter

Beschleunigung aus der Perspektive eschatologischerZeitpastoral.Theologische Aspekte von Entfremdung und Resonanz . . . . 115Ottmar Fuchs

Beschleunigungsapokalyptik und Resonanzutopien.Eine theologische Kritik der Zeit- und SozialphilosophieHartmut Rosas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153Michael Schüßler

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II. Theologie und Kirche vor der Herausforderung der Beschleunigung

Die Zeitpraktiken der Spätmoderne und ihre paradoxenFolgen für die Pastoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186Stefan Gärtner

Seelsorgerinnen und Seelsorger in einer beschleunigtenGesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Martin Spaeth

Zwischen Chronos und Kairos.Versuch einer pastoralen Zeitdiagnose im Gespräch mitHartmut Rosas Resonanztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 222Kristin Merle

Zeit und Gender.Bausteine sozialer Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237Hildegard Wustmans

Kein Halten mehr?Konturen einer beschleunigungssensiblen Religionspädagogik 249Bernhard Grümme

Aus der Zeit gefallen?Katholische Verbände unter Veränderungs- undBeschleunigungsdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261Hubert Wissing

Horizonte zum Leben.Welche Chance hat persönliches ZeiterLeben im Korsettsozioökonomischer Zeitstrukturen? . . . . . . . . . . . . . . . 280Georg Horntrich

Die Zeit gehört uns? – Wir sind die Zeit! . . . . . . . . . . . . 294Friedhelm Hengsbach SJ

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III. Fundamentalpastorale Reprise

Was erlöst?Die Theologie angesichts soziologischer (Welt-)Frömmigkeitin spätkapitalistischen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310Rainer Bucher

Herausgeber / Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 334

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Einleitung

Tobias Kläden/Michael Schüßler

Viele Gegenwartsanalysen sehen in der Beschleunigung das zentraleKennzeichen modernen Lebens. Nach der vielleicht elaboriertestenAnalyse des Soziologen Hartmut Rosa können sich moderne Gesell-schaften nur dynamisch stabilisieren, d. h. ihre Strukturen lassensich nur durch beständiges Wachsen, Steigern und Intensivieren er-halten. Entschleunigungsversuche sind demgegenüber meist vergeb-lich; zudem gleicht Entschleunigung der Beschleunigung im Ziel dermöglichst effektiven Zeitnutzung. Schnelligkeit oder Langsamkeitsind aber nicht an sich problematisch bzw. erstrebenswert. Zeitprak-tiken sind dann problematisch, wenn sie zu Entfremdung und Bezie-hungslosigkeit führen. Anzustreben wären daher, so Rosa, resonanteWeltbeziehungen, die sich etwa im Erleben von Liebe, Freundschaft,Kunst, Natur, aber auch Religion finden lassen. Resonanz bedeutet,in Beziehung zu sein mit etwas, das mit eigener Stimme spricht,ohne mir verfügbar oder komplett anverwandelbar zu sein.

Auf den ersten Blick scheint dies von Seiten der Theologie undder Kirche her sehr anschlussfähig zu sein. Könnte das Strebennach Resonanz die temporalen Kränkungen heilen, die Kirche durchdie verflüssigten Zeitstrukturen der Moderne zu erleiden hat, dasssie nämlich das Zeitregime über die (meisten) Menschen verlorenhat? Zweifel melden sich an: Insbesondere die negative Theologie,die Gott als den deus absconditus, den verborgenen, nicht-antwor-tenden Gott sieht, betont die Unverfügbarkeit Gottes und der Got-tesbeziehungen. Aus dieser Perspektive gerät die Nichtherstellbarkeitvon Resonanz in den Blick. Resonanz ereignet sich ohne Planbarkeit.So kann die zentrale Zeitstruktur der Gegenwart treffend als Ereig-nis-Dispositiv beschrieben werden. Statt apokalyptischer Befristung,die die Zeit der Gegenwart – tendenziell kulturpessimistisch – alsGegner sieht, ist Zeit als Bewährungsort des Evangeliums zu ver-stehen.

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Im ersten Teil des Bandes werden die Analysen Rosas zu Beschleuni-gung und Resonanz aus theologischen Perspektiven kontrovers dis-kutiert. Die Spur entfaltet sich im Spannungsfeld von konstruktivenRezeptionsversuchen und theologischer Kritik.

Gleich zu Beginn macht Hartmut Rosa mit dem aktuellen Standseiner zeit- und sozialphilosophischen Theoriebildung bekannt. Erverdichtet den Ertrag seiner bisherigen, international beachteten Ar-beiten in acht Thesen. Sie zeigen, was aus den Versprechen der Mo-derne heute geworden ist: Das Hamsterrad eines rasenden Still-stands (Virilio). Anschließend stellt Rosa den neuesten Stand einer„Soziologie des guten Lebens vor“, das viel diskutierte Konzept derResonanz. Anschließend vertieft er seine Überlegung zur Religion alsvertikaler Resonanzachse, als Antwortverhältnis zu einer „umgrei-fenden Realität“. Die Tiefenresonanz des Betens, Bruno Latours Re-ligionserkundungen und der theologische Perichoresebegriff treffensich hier im resonanztheoretisch gewendeten Motto gesellschaftskri-tischer Basisbewegungen: Eine andere Welt(beziehung) ist möglich.

Anschließend skizziert Hans-Joachim Höhn seine über Jahre ge-reifte Version einer theologischen Zeitdiagnose. Der kinetische Im-perativ „Schneller! Weiter! Mehr!“, wie auch Rosa ihn analysiert, be-kommt bei Höhn die Qualität eines Zeichens der Zeit. Kirche undTheologie können den beschleunigten Zeitverhältnissen nicht aus-weichen, wollen sie nicht zugleich auch am Evangelium vorbei-gehen. Höhn entwickelt dann ein christliches Profil der drei Zeit-modi: Aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird einanamnetisches, ein kairologisches und ein eschatologisches Zeitver-hältnis herausgearbeitet. Als Konsequenz formuliert Höhn zumEnde hin das kritische Potenzial eines derart christlich konzipiertenZeitverhältnisses: Es trägt dazu bei, die Dialektik der Beschleunigungaufzudecken.

Ottmar John untersucht subjekttheoretische Voraussetzungen derDebatte; gleichzeitig kontrastiert er damit die Positionen von Rosaund Schüßler. Während Rosa in der Gefahr stehe, die Beschleuni-gungsphänomene zu dämonisieren, drohen diese bei Schüßler gleichals Ereignis Gottes heiliggesprochen zu werden. John argumentiertdabei routiniert aus dem breiten Strom katholischer SystematischerTheologie heraus, die sich vom Begriff eines in reflexiver Freiheitsich selbst bewusstwerdenden Subjekts her entwirft. Das steige-rungsfixiert entfesselte Subjekt der Moderne erscheint dann als hal-

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biertes Subjekt, dem die Einsicht in die eigene Begrenztheit abhan-dengekommen ist. Bei der Frage nach Dämonisierung oder Divini-sierung beschleunigter Zeiten kommt John zu dem Schluss, letztlichfänden Rosa wie Schüßler „genug Haltepunkte in alteuropäischenTraditionen, um dieser Gefahr nicht zu erliegen“ – das zumindestkönne man lernen.

Martin Rohner und Stephan Winter versuchen eine theologischkonstruktive Rezeption der Resonanzthese. Sie reformulieren die an-haltende Kirchenkrise als nicht einfach nur hausgemachte, sondernals Ausdruck einer umfassenderen Resonanzkrise: Die konstitutivenWeltverhältnisse von Theologie und Pastoral sind insgesamt einfachnicht intakt. Die Suche nach den „vibrierenden Drähten“ einer reso-nanten Antwortbeziehung erscheint ihnen dagegen als aussichtsrei-che Alternative zu manch entfremdender „Selbstbehauptungsfixie-rung“ in der Kirche. Dabei gibt es auch konkrete Vorschläge: DieResonanzkompetenz des pastoralen Personals wäre im Blick aufMystagogie, Spiritualität und Solidarität neu zu entdecken und zustärken.

Auch Ottmar Fuchs schließt zunächst in konstruktiver Weisenoch einmal vertieft an Rosas engagierte Beschleunigungs- und Ent-fremdungskritik an. Immer in Tuchfühlung mit der biblischen Spra-che bietet er zunächst eine kontingenzsensible Relecture hier ange-sprochener zeitdiagnostischer Diskurse. Mit der Zielsicherheit einesganzen pastoraltheologischen Forscherlebens entdeckt Fuchs vieleerhellende Kontaktstellen von Resonanztheorie und nachvatika-nischer Pastoraltheologie. Die grundsätzliche Zustimmung hindertihn aber nicht daran, gut dialektisch auch kritische Aspekte offen-zulegen. Als Erfahrung scheint Resonanz zu machbar formuliert,und das Versprechen auf gelingendes Leben wirke etwas hochgegrif-fen. Gerade die „Resonanzerfahrung der Nicht-Resonanz“ verdienemehr Aufmerksamkeit.

Michael Schüßler verfolgt ein ähnliches Anliegen, nur in umge-kehrter Richtung. Es geht ihm um eine grundsätzliche theologischeKritik an der Sozial- und Zeitphilosophie von Rosa, und zwar inkonstruktiver Absicht. Er skizziert Rosas intellektuelle Herkunft alsHeuristik für seine starken Wertungen, nämlich eine Beschleuni-gungsapokalyptik und die erlösenden Resonanzutopien. Beide so-ziologischen Diskurse erweisen sich als zutiefst getränkt von theo-logischen Denkfiguren, die selbst alles andere als harmlos sind.

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Eine alternative Lesart entdeckt Schüßler dann in der grundsätzli-chen „Unruhe der Welt“ (Ralf Konersmann). Auch hier werden bib-lische und theologische mit sozial- und zeitanalytischen Kategorienverwoben. Doch statt der Antwort „Resonanz“ erscheint das ereig-nisbasierte Offenhalten einer je neu ausstehenden „Antwort“ als rea-listischere Zeitgenossenschaft.

Der zweite Teil dieses Bandes bearbeitet die Herausforderungen derbeschleunigten Gegenwart für exemplarische Felder kirchlicher Pra-xis. Die Beiträge dieses Teils sind geordnet von einer personalen hinzu einer politischen Perspektive.

Zu Beginn befasst sich Stefan Gärtner mit den paradoxen Folgen,die die gegenwärtigen Zeitpraktiken für die Pastoral haben. Sie stehtselbst in der Spannung zwischen ihrer faktischen Beschleunigungund der Trägheit ihres Anliegens. Naiv wäre sowohl die Anpassungan die allgemeine soziale Beschleunigung als auch die Stilisierung alstemporale Gegenwelt, die einem Rückzug aus der Gesellschaftgleichkäme. Gärtner bespricht zwei Paradoxa, vor die sich die Pasto-ral gestellt sieht: Das Paradox der Zeitautonomie, die es zu förderngilt, die aber letztlich eine Illusion bleibt, und das Paradox der Ent-schleunigung, die als Ziel pastoraler Bemühungen angegeben, letzt-lich aber für die Aufrechterhaltung sozialer Beschleunigung funktio-nalisiert wird – oder aber eine Musealisierung des Christentumsimpliziert. Der Pastoral bleibt nichts anderes übrig, als in den zwarnicht großen, aber vorhandenen Freiräumen, die die Widersprüchedes beschleunigten Lebens bieten, alternative Zeitpraktiken zu ge-stalten: etwa durch die Schaffung von Korridoren des Innehaltens,durch den freiwilligen Verzicht auf Handlungsoptionen oder durchdie Pflege von „trägen Fragen“ der Biographie.

Die Person des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin und ihre Belas-tung nimmt Martin Spaeth in den Blick. Während der Arbeits- undZeitdruck oft personalisiert, also auf eigenes Unvermögen zurück-geführt wird, weist Spaeth auf die exogenen Faktoren hin, die ihnbedingen, v. a. den fortschreitenden Prozess der Säkularisierungund den damit einhergehenden Religionsverlust. Letzterer ist selbstein wesentlicher Motor für den neuzeitlichen Prozess der Beschleu-nigung, die ein funktionales Äquivalent für die Erwartung eines ewi-gen Lebens nach dem Tod darstellt. Der Mensch muss sein Heil undGlück nun innerweltlich finden. Davon ist auch das Seelsorgeper-

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sonal nicht ausgenommen – was im Gegensatz steht zum Evangeli-um von der bedingungslosen Gnade Gottes, die unabhängig von dereigenen Leistung ist. Spaeth entfaltet eine theologisch-psychologi-sche Zeit-Typologie entlang der Spannungspole Unendlichkeit –Endlichkeit sowie Möglichkeit – Notwendigkeit. Seelsorgerinnenund Seelsorger gehören oft dem Typus des „zeitlosen Weltverbes-serers“ an, mit Affinität zum „perfektionistischen Zeitoptimierer“.Techniken des Zeitmanagements sind keine wirkungsvolle Hilfe fürihren pastoralen Leidensdruck; das wäre nur eine innere Haltung,die die verkündete Botschaft von der Gnade Gottes auch selbst ernstnimmt.

Auch Kristin Merle bezieht sich auf das Seelsorgepersonal (in ih-rer evangelischen Perspektive: den Pfarrer bzw. die Pfarrerin) unddessen temporale Herausforderungen, die sich als Heuristik eignenfür die Analyse des beschleunigten Lebens moderner Zeitgenossenüberhaupt. Merle bringt ihre pastoralen Zeitdiagnosen v. a. mitRosas Überlegungen zur Resonanz ins Gespräch. Auch wenn Reso-nanz kein Universalschlüssel zum Verständnis einer besseren Weltist, so inspiriert sie doch das theologische Nachdenken und kannals deskriptiver wie normativer Begriff pastoraler Alltagspraxis fun-gieren. Theologisch zeigt sich eine konzeptionelle Nähe zwischen re-ligiöser Erfahrung und Resonanzerfahrung als zumindest partiellemAussetzen der Steigerungslogik; diese konzeptionelle Nähe wirddurch das Moment der Unverfügbarkeit der Erfahrung noch einmalunterstrichen. Aus theologischer Sicht kann die Beziehung der Reso-nanz inhaltlich qualifiziert verstanden werden als die sich (immernur momenthaft) erschließende Erfahrung der Rechtfertigung.

Hildegard Wustmans bringt in ihrem Beitrag die Gender-Perspek-tive in die Debatte ein. Sie weist darauf hin, dass sowohl Zeit alsauch Gender sozial konstruierte Kategorien sind. Während die li-neare Zeitvorstellung mit Francis Bacon als „männliche Geburt“charakterisiert werden kann, hat das zyklische Zeitverständnis, daseng an Vorgänge in der Natur gekoppelt ist, eine stärkere Affinitätzum Alltag, der das Leben vieler Frauen prägt. Auch wenn sich inden entwickelten Industrienationen die starren Geschlechtermusterwandeln, haben Frauen nach wie vor den größten Anteil der Famili-enarbeit zu tragen und auch die größte Last der Synchronisation vonFamilie und Beruf. Es zeigen sich also auch heute noch die Schattenkapitalistischer und patriarchaler Kultur. Die Dominanz einer linea-

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ren Zeitrationalität ist zu relativieren, was Wustmans mit dem Hin-weis auf den Begriff der „Prozeß-Zeit“ (Karen Davies) tut: Diese istgeprägt von Kreisläufen und Zyklen, Gleichzeitigkeiten und einemhohen Anteil an Warten; statt um Schnelligkeit und Effizienz gehtes um eine Rationalität des Versorgens, der Verantwortlichkeit undder Orientierung am Anderen.

Bernhard Grümme nimmt die Diskussion um Beschleunigung alsReligionspädagoge auf. Bislang hat die Religionspädagogik zwar dasThema Zeit, jedoch kaum das Thema Beschleunigung bearbeitet. An-sätze einer Verlangsamungspädagogik und die Betonung von Religionals Unterbrechung versuchen die Schule und v. a. den Religionsunter-richt als Entschleunigungsinsel zu konzipieren, was aber Gefahr läuft,den normativen Erosionsdruck der Beschleunigungslogik naiv zu un-terschätzen. Grümme plädiert demgegenüber für eine beschleuni-gungssensible Religionspädagogik, die Religion als Resonanzressourceaufzunehmen versucht und die Fähigkeit generieren soll, Beschleuni-gung wie Entschleunigung kritisch-konstruktiv zu beurteilen undZeit inmitten der Beschleunigungsdynamik bewusst zu gestalten. Siemacht aufmerksam auf die gesellschaftlich-strukturellen Bedingungs-gefüge und speist biblisches Zeitdenken als weiterführende Perspekti-ve ein.

Nach den Konsequenzen der sozialen Beschleunigung für die ka-tholischen Verbände fragt Hubert Wissing. Er zeichnet den Wandeldieser kirchlichen Sozialform zunächst historisch nach, von der Ge-burtsstunde Mitte des 19. Jahrhunderts über die starke lebenswelt-liche Prägekraft innerhalb des katholischen Milieus bis zur Zäsurdes Zweiten Weltkriegs, nach dem durch den gesellschaftlichen Pro-zess der Individualisierung eine unaufhaltsame Milieuerosion ein-setzt und den Verbänden den sozialmoralischen Nährboden ent-zieht. Mit Rosa rekonstruiert Wissing den gleichen Prozesssoziologisch, von der vormodernen Identität a priori, die auch inden Verbänden an den sozialen Stand gebunden ist, über die stabileIdentität als Normalbiografie, die den Verbänden eine Öffnung ihrerZielgruppen erlaubt, hin zu einer spätmodernen situativen Identität,die die Verbände vor neue strukturelle Herausforderungen stellt. Siemüssen sich neu erfinden, wenn sie den Anschluss an die beschleu-nigte Spätmoderne nicht ganz verlieren wollen.

Georg Horntrich beschäftigt die Frage, wie angesichts des Korsettssozioökonomischer Zeitstrukturen gute und nachhaltige Lebensver-

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hältnisse individuell wie sozial möglich sind. Er schließt an RosasAnalysen zu Zeit und Beschleunigung an, identifiziert aber weitereTreiber der destruktiven Steigerungslogik aus dem wirtschaftlichenBereich, u. a. Konkurrenz und Wettbewerb, institutionellen Druckzu Selbstverwirklichung oder Disparität von individuellem und kol-lektivem Verhalten. Anzuzielen wäre hingegen eine Ökonomie derAufmerksamkeit als der wichtigsten Währung im sozialen Miteinan-der. Bemerkenswert ist, dass die für einen Zeitwohlstand notwendi-gen gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungsprozesse de-nen gleichen, die für eine nachhaltige Bewahrung der Schöpfungunabdingbar sind. Dabei helfen biblisch-theologische Aussagen zurZeit, die in ihrer Pluralität eine rein physikalisch-lineare Zeit relati-vieren und Horizonte zum Leben erschließen.

Friedhelm Hengsbach schließt diesen Teil des Bandes ab mit einerengagiert vorgetragenen wirtschaftsethischen These. Danach habendie informationsgestützten Finanzmärkte seit Beginn des Jahrtau-sends einen Megaschub an Beschleunigung ausgelöst, der sich aufbörsennotierte Unternehmen, staatliche Entscheidungsprozesse, Ar-beitsverhältnisse und die Privatsphäre übertragen hat. Hengsbachfordert einen dreifachen Widerstand gegen das Regime der Be-schleunigung: (a) durch die Rückkehr zum Primat der Demokratieund damit zu bewährten Verfahren und Institutionen des Sozial-staats, (b) durch eine zivilgesellschaftliche Rebellion, die sich dieZiele der Geschlechtergerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und einer„solidarischen Halbtagsgesellschaft“ setzt, und (c) durch die „per-sönliche Weigerung“ gegenüber dem Regime der Beschleunigung,und zwar in Form der Entflechtung von Erwerbsarbeit, Hausarbeitund Freizeit, von entschleunigtem Konsum und Mobilität sowievon Raum für Muße und Meditation.

„Was erlöst“ dann eigentlich?, fragt Rainer Bucher zum Schluss.In Reaktion und im Anschluss an die vorliegenden Beiträge weistBucher einer weiteren theologischen Diskussion den Weg. Wie un-terscheidet sich die soziologisch-säkulare Soteriologie Rosas vonder christlichen Erlösungslehre? Im Abgleich mit dem IsenheimerAlter von Grünewald deckt Bucher die Leerstellen bei Rosa auf. Inder Analyse haben der Tod und das Böse keinen realistischen Ort.Und dem immanenten Resonanzversprechen fehlt die Transzendenzdes Gottesbegriffs: „Wer entscheidet darüber, wer wie welche Reso-nanzfähigkeit entwickeln muss, darf, nicht muss, nicht darf?“ Statt

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der romantischen Verzauberung des Gewöhnlichen sieht Bucher denRealismus des Christentums in der Loyalität zu den konstitutivenSpannungen der Existenz: Es löst diese nicht, sondern trägt dazubei, mit ihnen zu leben. Die Theologie solle Rosa lesen, weil sie beiihm die anstehenden Themen der Gegenwart entdecken könne. IhreAntworten, so Bucher, muss sie allerdings selbst entwickeln.

Dieser Band geht zurück auf ein Fachgespräch, das von der Katho-lischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) der Deut-schen Bischofskonferenz im Oktober 2015 in Erfurt veranstaltetwurde. Im Rahmen dieser Tagung diskutierte Hartmut Rosa seineThesen zu Beschleunigung und Resonanz mit Vertreterinnen undVertretern unterschiedlicher theologischer Disziplinen und kirchli-cher Handlungsfelder. Im Hintergrund stand dabei die Annahme,dass die Zeitstrukturen der dynamisierten Moderne eine Bedeutunghaben, die aus kirchlicher und theologischer Sicht noch längst nichtaufgearbeitet und daher auch für eine gegenwartssensible missiona-rische Pastoral von hoher Relevanz ist. Für die vorliegende Publika-tion, die in Kooperation zwischen der Katholischen Arbeitsstelle fürmissionarische Pastoral und dem Lehrstuhl für Praktische Theologiean der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingenentstand, wurden Diskussionsbeiträge des Fachgesprächs weiter aus-gearbeitet und einige zusätzliche Artikel aufgenommen.

Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren der Bei-träge herzlich für ihre Mitarbeit an diesem Projekt, Prof. em. Dr.Dr. h.c. Peter Hünermann für die Aufnahme in die Reihe Quaestio-nes Disputatae und Herrn Clemens Carl vom Verlag Herder für dieunkomplizierte Zusammenarbeit. Für die sorgfältige Textbearbei-tung geht ein besonderer Dank an die beiden studentischen Mit-arbeiter*innen am Lehrstuhl für Praktische Theologie in Tübingen,Simon Linder und Natalie Wittek.

Erfurt und Tübingen, im Februar 2017

Tobias Kläden Michael Schüßler

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I.Kontroversen zur Resonanzkrise

beschleunigten Lebens

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Gelingendes Leben in der BeschleunigungsgesellschaftResonante Weltbeziehungen als Schlüssel zur Überwindungder Eskalationsdynamik der Moderne

Hartmut Rosa

Was ist das gute Leben? Und was hält uns davon ab, dieses zu er-reichen? Das war die Frage, die mich zu meinen Analysen der mo-dernen Beschleunigungsprozesse angetrieben hat. Beschäftigen wiruns mit dem Problem der Zeitknappheit und dem Wunsch nachZeitwohlstand, dann stellen sich diese Fragen unweigerlich, dennwie wir leben wollen, ist letztlich nur ein anderer Ausdruck für dieFrage, wie wir unsere Zeit verbringen sollen. Mein ‚Beschleunigungs-buch‘1 ist inzwischen mehr als zehn Jahre (und elf Auflagen) alt.Seither hat sich mein Denken in zwei Richtungen weiterentwickelt.Zum Ersten begreife ich die dargelegten Beschleunigungsprozesse alsSymptome und Konsequenzen des Umstandes, dass sich moderneGesellschaften nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, dass siealso systematisch und strukturell auf Steigerung hin angelegt unddeshalb darauf angewiesen sind, immerfort zu wachsen, sich zu ver-ändern und schneller zu werden, um ihre Struktur und Stabilität zuerhalten. Zum Zweiten habe ich das bisher nur angedeutete Konzeptder Resonanz als Gegenbegriff zur Entfremdung systematisch aus-formuliert und so einen neuen Maßstab des gelingenden Lebensvorzuschlagen versucht.2 Im Folgenden möchte ich zunächst achtThesen formulieren, welche den Modus der dynamischen Stabilisie-rung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Subjekteals Kernmerkmale der Moderne erläutern. Im zweiten Schritt willich dann die Umrisse meiner Resonanztheorie darlegen und zuletztauf die Rolle, welche die Religion darin spielt, eingehen.

1 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in derModerne, Frankfurt/M. 2005.2 Vgl. ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

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I. Acht Thesen zur dynamischen Stabilisierung

1. Modernethese

Anders als in der Philosophie oder den Kulturwissenschaften, in de-nen die ‚Moderne‘ häufig als epistemisches und normatives Projektsamt den damit verbundenen Veränderungen der Legitimations-muster und der sozialen und kulturellen Praktiken verstanden wird,hat sich in den Sozialwissenschaften weitgehend die Vorstellungdurchgesetzt, dass die Moderne in erster Linie als eine transformati-ve, prozesshafte Veränderung zu begreifen sei, wie sie etwa in ‚klas-sischen‘, an Parsons angelehnten Modernisierungstheorien beschrie-ben wird3. Aber auch viele andere, ja die meisten der heutediskutierten Gesellschaftstheorien konzeptualisieren die Moderne imSinne eines (mehr oder minder gerichteten) Prozesses als Trans-formation, als deren Kern dann in der Regel fortlaufende sozialeDifferenzierung, Rationalisierung, Individualisierung oder Domesti-zierung (Naturbeherrschung) ausgemacht wird4. In meinem Be-schleunigungsbuch habe ich zu zeigen versucht, dass die darüberidentifizierten und bezeichneten Veränderungstendenzen sich syste-matisch und widerspruchsfrei zusammenbringen lassen unter eineneinzigen Begriff der sozialen Beschleunigung, so dass als ‚Kern derModerne‘ bzw. der Modernisierung ein bis heute andauernder Pro-zess der Dynamisierung (oder des In-Immer-Schnellere-Bewegung-Setzens) der materiellen, sozialen und geistigen Verhältnisse be-stimmt werden kann. Von entscheidender Bedeutung ist dabeijedoch, dass die Eigenlogik der Dynamisierung – anders als es dieMetapher vom Projekt der Moderne nahelegt – inzwischen selbst zueinem strukturellen Zwang geworden ist. Moderne Gesellschaftensind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Teilbereiche und ihre So-zialstruktur nur noch dynamisch zu stabilisieren und zu reproduzie-ren vermögen; sie gewinnen Stabilität gleichsam in und durch Bewe-

3 Vgl. Wolfgang Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorie, in: ders.(Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1990, 23 –39.4 Vgl. Hartmut Rosa, Modernisierung als soziale Beschleunigung – kontinuierli-che Steigerungsdynamik und kulturelle Diskontinuität, in: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven derGegenwart, Frankfurt/M. 2007, 140 –172.

19Gelingendes Leben in der Beschleunigungsgesellschaft

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gung. Daher möchte ich an dieser Stelle nun die folgende Definitionvorschlagen: Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur (noch)dynamisch zu stabilisieren vermag, wenn sie also systematisch aufWachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung angewiesenist, um ihre Struktur zu erhalten und zu reproduzieren. Die TriasWachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung lässt sichdabei als zeitliche (Beschleunigung), sachliche (Wachstum) und so-ziale (Innovationsverdichtung) Dimension eines einzigen Dynami-sierungsprozesses verstehen, der sich seinerseits als Mengensteigerungpro Zeiteinheit definieren lässt. Diese letztere Definition ist exakt dieBestimmung von ‚Beschleunigung‘, die ich meiner Theorie der Be-schleunigung zugrunde gelegt habe. Weil dieser umfassende Be-schleunigungsbegriff jedoch die Zeitdimension über die beiden an-deren Aspekte privilegiert bzw. die sachlichen und sozialenKonsequenzen sprachlich nahezu invisibilisiert, möchte ich hierstattdessen lieber jene begriffliche Trias verwenden. Denn insbeson-dere der (materielle) Wachstumszwang moderner (kapitalistischer)Gesellschaften erweist sich angesichts der sich abzeichnenden öko-logischen Krisen des 21. Jahrhunderts als problematische Kon-sequenz dynamischer Stabilisierung.

Der unbestreitbare Vorteil einer solchen ‚prozessualen‘ und zu-gleich strukturlogischen Bestimmung moderner Gesellschaften be-steht darin, dass sie ohne jene normativen Vorentscheidungen aus-kommt, welche nicht nur die Idee eines ‚Projekts der Moderne‘belasten, sondern auch die (quasi-teleologischen) ‚klassischen‘Modernisierungstheorien und selbst noch die Identifikation vonModernisierung als Rationalisierung, Differenzierung, Individuali-sierung oder progressive Naturbeherrschung im Sinne der instru-mentellen Vernunft. Daher erlaubt der in der hier vorgeschlagenenModerne-Definition verwendete Begriff einerseits die bruchlose In-klusion von ‚Multiple Modernities‘ auch und gerade dort, wo ent-scheidende normative Momente oder kulturelle Elemente des ‚Pro-jekts der Moderne‘ nicht ausgebildet oder dezidiert negiert werden,oder wo sich jene postulierten Tendenzen der Individualisierung,der Rationalisierung oder der (funktionalen) Differenzierung nichtentwickelten oder als reversibel erwiesen. Dynamische Stabilisierungist konzeptuell beispielsweise umstandslos mit ‚totalitären‘ Gesell-schaftsverfassungen kompatibel. Andererseits vermeidet die Moder-ne-Definition der dynamischen Stabilisierung die ‚Beliebigkeitsfalle‘

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mancher Ansätze etwa des Postkolonialismus, welche zwar mit über-zeugenden Argumenten die ‚Multiplizität‘ und Pluralität der Moder-ne herausarbeiten, aber hinter dieser Vielfalt die Einheit nicht mehrkenntlich zu machen vermögen, ‚Moderne‘ daher nur noch als leereChiffre oder chronologisch bestimmtes, aber vollkommen substanz-loses Epochenkonzept verwenden können5. Über den Begriff derdynamischen Stabilisierung lassen sich moderne und nicht-moderneGesellschaften ganz unabhängig von ihrer historischen Einordnungtrennscharf unterscheiden – freilich um den Preis der Möglichkeit,dass auf diese Weise auch eine historisch eindeutige ‚vormoderne‘Gesellschaft als ‚modern‘ zu klassifizieren sein könnte.

Hier freilich zeigt sich zunächst noch eine begriffliche Unschärfe:Was genau besagt Status-quo-Erhaltung durch Steigerung, ist dasnicht eine contradictio in adjecto? Impliziert Steigerung nicht not-wendig eine Status-quo-Veränderung? Was also wird stabilisiertund was wird gesteigert? Ich habe den (auf Paul Virilio zurück-gehenden) Begriff des „rasenden Stillstandes“ (hyper-acceleratedstandstill) verwendet, um diese Komplementarität von Verände-rungszwang und Erstarrungstendenz zum Ausdruck zu bringen.Kurzgefasst lautet meine Antwort, dass mit struktureller Reproduk-tion und Stabilisierung des Status quo drei zentrale Ebenen der mo-dernen Sozialformation gemeint sind. Zum Ersten ist dies ihregrundlegende institutionelle Ordnung; das, was auch als „Basisinsti-tutionen“ der Gesellschaft bezeichnet werden kann – die konkur-renzkapitalistische Marktwirtschaft, die politische Demokratie, dasSozialstaatsregime, aber auch das Wissenschafts- und Bildungssys-tem. Wie sehr alle diese Institutionen unter Druck kommen, wennetwa das Wachstum dauerhaft ausbleibt, lässt sich derzeit instruktivan den Systemkrisen im Süden Europas, insbesondere Griechen-lands, studieren. Dabei geht es nicht um die Erhaltung einzelner in-stitutioneller Elemente oder Regeln, sondern um die Stabilisierungder institutionellen Ordnung als solcher.

Zum Zweiten reproduziert sich jedoch auch die sozialstrukturelleOrdnung, das heißt das Muster der sozioökonomischen Stratifizie-rung von Klassen und Schichten, in der und durch die Logik derSteigerung. Damit verknüpft ist, zum Dritten, die Operationslogik

5 Vgl. ebd.

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der sozialen Akkumulation und Allokation. Was sich dynamisch sta-bilisiert, ist nicht zuletzt die Logik der Steigerung selbst: Hinter undjenseits aller materiellen, substantiellen und sogar institutionellenVeränderungen bleiben der Zwang zur Steigerung und die Logikdes Wettbewerbs unverändert und kontinuierlich erhalten. Das„stahlharte Gehäuse“, das Max Weber hinter der Geschäftigkeit undDynamik der Moderne identifizieren zu können glaubte, wird ganzwesentlich von den Imperativen der Trias Wachstum, Beschleuni-gung und Innovierung, das heißt durch den Zwang zu wachsen,schneller zu werden und veränderungsfähig zu sein, gebildet.

Es ist damit die Gleichzeitigkeit von invariablem, statischem Stei-gerungszwang und eskalatorischer Veränderung, welche das Spezifi-kum der modernen Gesellschaft bildet und die es zu verstehen gilt,um die institutionalisierte Weltbeziehung der Moderne zu ent-schlüsseln. Denn jene Trias der Steigerungsimperative führt nichtzu langsam und stetig anwachsenden Geschwindigkeiten, Produkti-onsvolumen und Veränderungsraten, sondern unmittelbar in einenZirkel der Eskalation: Wenn die Steigerungsraten prozentual unge-fähr gleichbleiben, nehmen die substantiellen Wachstums- und Ver-änderungsvolumen exponentiell im Sinne von Eskalationskurven zu.Die Mengen an produzierten, distribuierten und konsumierten Gü-tern, an verbrauchten Rohstoffen und an Veränderungen steigenebenso rasant an wie die Verarbeitungsgeschwindigkeiten von Com-putern oder die Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Neuerungenusw. Die stählerne Härte dieser Eskalationsdynamik macht sichdann in folgendem Umstand bemerkbar: Ganz gleich, wie erfolg-reich wir in diesem Jahr individuell und kollektiv gelebt, gearbeitetund gewirtschaftet haben, nächstes Jahr müssen wir noch ein wenigschneller, effizienter, innovativer und besser werden, um unserenPlatz in der Welt zu halten – und im darauffolgenden Jahr hängtdie Latte dann noch ein Stückchen höher. Tatsächlich verhaltensich Erfolg, Stärke und Effizienz der Gegenwart sogar proportionalzur Stärke des Steigerungszwangs in der Zukunft: Je stärker dieWirtschaft in diesem Jahr wächst, je innovativer wir sind und jeschneller wir werden, umso schwerer wird es im nächsten Jahr, diediesjährigen Leistungen noch einmal zu übertreffen und dabei mög-lichst die Steigerungsraten zu halten. Hierin manifestiert sich auf be-sonders eindrucksvolle Weise die Irrationalität der ‚blindlaufenden‘modernen Eskalationslogik: Die Anstrengungen von heute bedeuten

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keine nachhaltige Erleichterung für morgen, sondern ein Erschwer-nis und eine Problemverschärfung.

Um zu begreifen, was es bedeutet, dass der Zwang zur Steigerungselbst zu einem Kernelement des kulturellen und strukturellen Statusquo geworden ist, ist es hilfreich, sich noch einmal in knapper Formvor Augen zu führen, wie umfassend und radikal sich der Übergangvon einem gleichsam adaptiven, mimetischen oder bedarfsdeckendenModus der strukturellen Reproduktion zum modernen Modus derdynamischen Stabilisierung in den einzelnen Gesellschaftsbereichenseit dem 18. Jahrhundert vollzogen hat. Wenn ich den älteren Modusder Stabilisierung dabei als adaptiv bezeichne, dann will ich damitdeutlich machen, dass außer-moderne Gesellschaften nicht einfachstatisch waren oder sind – keine Sozialformation hat ohne Anpassun-gen, Veränderungen und Entwicklungen über einen längeren Zeit-raum Bestand. Es gibt in ihnen aber keinen endogenen, strukturellenZwang zur fortgesetzten Steigerung und Innovierung. Veränderungenvollzogen oder vollziehen sich in ihnen als Reaktion auf Veränderun-gen oder Herausforderungen in der Umwelt, etwa durch klimatischeVeränderungen, durch Naturkatastrophen, durch Kriege oder Krank-heiten, oder auch infolge zufälliger, kontingenter Entdeckungen undEntwicklungen. Dass diese Umstellung jeweils auch mit einer Entkop-pelung oder ‚Freisetzung‘ der je funktionsspezifischen Eigenlogik vontraditionellen und religiösen Steuerungs-, Stabilisierungs- und Recht-fertigungsmustern einherging, scheint mir dabei kaum bestreitbar zusein. Autonomisierung und Dynamisierung der Funktionssphärenvollzogen sich gleichsam ‚Hand in Hand‘, ja sie erscheinen als die bei-den Seiten ein und derselben Medaille. Umgekehrt war es die entfes-selte ökonomische, soziale und kulturelle Dynamisierung der Gesell-schaft, welche die überlieferte, ständisch und religiös fundierteOrdnung erschütterte und transformierte.

Dieser Prozess lässt sich instruktiv an den bereits thematisiertenWert- und Funktionssphären der Wirtschaft, der Wissenschaft undder Politik untersuchen. In allen drei Dimensionen bildet sich vom17. bis zum 19. Jahrhundert eine neue institutionelle Ordnung he-raus, welche den adaptiven durch einen dynamischen Modus derStabilisierung ersetzt. Vielleicht am offensichtlichsten gilt das für diemoderne, kapitalistische Wirtschaftsordnung: Anders als die überlie-ferten Formen bedarfsorientierten und bedarfsdeckenden Wirtschaf-tens sind kapitalistische Ökonomien strukturell darauf angewiesen,

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dass der Kapitalzirkulationsprozess nicht nur ununterbrochen imGang bleibt, sondern sich sogar beschleunigt und dabei die materielleWachstumsspirale vorantreibt. Diese Einsicht bestimmt etwa Marx’Postulat, dass der Steigerungsprozess G-W-G’ (Geld-Ware-mehr Geld)zum (dynamischen) Subjekt der Geschichte werde, welche selbst dieBourgeoisie vor sich her treibe6, aber auch Max Webers Diktum, derKapitalismus sei die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Le-bens“7, weil er die Muster der Lebensführung, den Ethos und Habitusdes modernen Menschen im Sinne der ‚protestantischen Ethik‘ sotransformiert und dynamisiert habe, dass sie auf ständige Optimie-rung, Rationalisierung und Effizienzsteigerung hin ausgerichtet seien.Daraus resultiert einerseits der ökonomische Wachstumszwang allerbekannten kapitalistischen Formationen, andererseits jedoch auch diefortwährende technische Beschleunigung im Sinne der von DavidHarvey8 identifizierten progressiven ‚Raum-Zeit-Kompression‘ undschließlich ebenso der Zwang zur stetigen sozialen Innovation.9

Die Umstellung auf den Modus dynamischer Reproduktion er-gibt sich jedoch nicht nur durch den ökonomisch erzeugten Innova-tionsdruck – sie resultiert auch aus der eigenlogischen (in Europadurchaus auch ‚Projekt-getriebenen‘) Transformation der politi-

6 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei [1848],in: Marx-Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1986, 34 – 43; vgl. Klaus Dörre/Stephan Les-senich/Hartmut Rosa, Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frank-furt/M. 2009.7 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. EineAufsatzsammlung [1905], hg. von Johannes Winkelmann, Gütersloh 1991, 12.8 Vgl. Harvey, David, The condition of postmodernity. An enquiry into the ori-gins of cultural change, Oxford 1990, 240 –307.9 Liest man das ‚Kommunistische Manifest‘ einmal nicht durch die Brille des‚Klassenkampfes‘, erweist es sich als ungeheuer eindrucksvolles Dokument diesermultidimensionalen Dynamisierung: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren,ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtli-che gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. UnveränderteBeibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedin-gung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Pro-duktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände,die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisie-Epoche vor allenanderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehr-würdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildetenveralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft,alles Heilige wird entweiht […]“ (Marx/Engels, Manifest [s. Anm. 6], 37f.).

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schen Sphäre und der Wissensproduktion. Tatsächlich lässt sich diefundamentale Umstellung schon auf der begrifflichen Ebene beob-achten. Die höchste Autorität in epistemologischen Fragen und Wis-sensfragen gewinnen im 18. Jahrhundert die Wissenschaften, dienicht mehr traditionell oder autoritär gesetztes oder überliefertesoder geoffenbartes Wissen verwalten, sichern und tradieren, sondernWissen in immer neuen Forschungsprojekten und -programmenstetig erweitern und neuschaffen. Die Wissensordnung der Moderneberuht daher nicht auf statischen, sondern auf dynamischen Fun-damenten: Alle Lehrsätze sind prinzipiell revidierbar, das Falsifikati-onsstreben wird zum Motor wissenschaftlicher Entwicklung. Dermoderne Wissenschaftler verwaltet und sichert oder ‚besitzt‘ im Ge-gensatz zum vormodernen Weisen oder Priester kein sicheres Wissenund keine unantastbare Quelle, er bezieht seine Autorität aus derForschung, also aus der permanenten Erschließung von Neuland.Die frühmoderne Hoffnung, dass auf diese Weise doch wieder einfestes Universum des Wissens zu gewinnen sein könnte, dass eineletztgültige Wissensordnung als Ergebnis des dynamischen For-schungsprozesses entstehen könnte, ist mit dem weiteren Fortschrei-ten der Moderne der habitualisierten (‚konstruktivistischen‘) Auf-fassung gewichen, dass Wissenschaftler zu sein bedeutet, immerwieder neue Fragen zu stellen, immer wieder neue Antworten zu er-halten. Der Forschungsprozess erscheint so als unabschließbar.

Was auf diese Weise für die Transformation der Wissensordnunggilt, lässt sich nun aber analog auch für die Reproduktion der politi-schen Ordnung beobachten, und zwar sowohl im Blick auf die Re-gierungsform wie auch hinsichtlich der Gesetzgebung. Anders als inmonarchischen Herrschaftsordnungen ist die demokratische Herr-schaft – als der paradigmatisch modernen Form politischer Verfas-sung – auf eine stetige Neubestellung hin angelegt: Alle vier oderfünf Jahre wird die Regierung neu bestimmt, ihre Amtsdauer istvon Anfang an zeitlich beschränkt, Lebens- und Herrschaftszeitsind systematisch getrennt. An die Stelle der statischen Herrschafttritt so der stetige, dynamische Austausch von Regierungen. Es istdas Wissen um die Begrenztheit jeder Regierungsmacht, welche denpolitischen Prozess und damit die politische Stabilität, Reprodukti-on und Steuerungsfähigkeit moderner (demokratischer) Gesell-schaften im Gange hält. Vor allem aber wird politische Herrschaftauf diese Weise gezwungen und zugleich fähig, sensibel auf soziale

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Bedürfnisse und Veränderungen zu reagieren und damit rasche An-passungsbewegungen zu vollziehen. Diese widerspiegeln sich ins-besondere auch in der Logik moderner Gesetzgebung: Anders als tra-ditionales Gewohnheitsrecht, religiös überlieferte Rechtsordnungenoder statisches Naturrecht ist das moderne Recht auf seine stetigeEntwicklung, Veränderung und Anpassung hin angelegt. Die Rechts-ordnung der Moderne basiert ebenso wenig wie die Wissensordnungund die politische Ordnung auf der Idee fester substanzieller Fun-damente, sondern vielmehr auf der Institution legitimierter dyna-mischer Gesetzgebung: Es geht in ihr nicht darum, ‚ewiges‘ oder tra-diertes Recht festzustellen, durchzusetzen oder zu bewahren; diehöchste Souveränität liegt vielmehr in der Legislative als dem Organpermanenter (Neu-)Schaffung von Recht 10. Auch die Rechtsordnungstabilisiert sich auf diese Weise dynamisch.11

Wie sehr die Moderne nicht nur durch die Transformation derinstitutionellen Sozialordnung, sondern auch durch die korrespon-dierende Umstellung der kulturellen Orientierungen gekennzeichnetist, offenbart sich schließlich im Blick auf die Normen und Musterder ästhetischen Praktiken ebenso wie der individuellen Lebensfüh-rung. Wie etwa Boris Groys gezeigt hat, liegt das spezifische Charak-teristikum der modernen Kunst und Literatur darin, dass es ihrnicht (mehr) um die Imitation einer gegebenen natürlichen oder so-zialen Wirklichkeit, um die Tradierung künstlerischer Formgesetzeoder die Erfüllung der Vorgaben ‚alter Meister‘ geht, sondern um In-novativität, Originalität und Überbietung. „Von einem Denker,Künstler oder Literaten wird gefordert, dass er das Neue schafft,wie früher von ihm gefordert worden war, dass er sich an die Tradi-tion hält und sich ihren Kriterien unterwirft“12. Auf diese Weise aber

10 Vgl. William E. Scheuerman, Liberal democracy and the social acceleration oftime, Baltimore 2004.11 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass der Prozess dynamischer Rechtsschöp-fung seinerseits in der Regel durch eine Verfassung ‚festgeschrieben‘ wird, welcheihrerseits weitgehend statische Züge aufweist, und auch unbeschadet des Um-standes, dass demokratische Gesetzgebung in der Spätmoderne ihrerseits zu zeit-intensiv oder zu langsam für die dynamische Anpassung an das hohe ökonomi-sche, wissenschaftlich-technische und soziokulturelle Veränderungstempo zuwerden droht. Vgl. ebd. sowie Rosa, Beschleunigung (s. Anm. 1).12 Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992,10; vgl. auch Daniel Fulda/Hartmut Rosa, Die Aufklärung – ein unvollendetes

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wird der Kunst- und Literaturbetrieb zu einem unabschließbaren,dynamischen Geschehen, das sich nur durch Innovation und Ver-änderung zu stabilisieren vermag.

Das Neue ist unausweichlich, unvermeidlich, unverzichtbar. Esgibt keinen Weg, der aus dem Neuen führt, denn ein solcherWeg wäre auch neu. Es gibt keine Möglichkeit, die Regeln desNeuen zu brechen, denn ein solcher Bruch ist genau das, was dieRegeln erfordern. Und in diesem Sinne ist die Forderung nachInnovation, wenn man will, die einzige Realität, die in der Kulturzum Ausdruck gebracht wird.13

Im Blick auf die Lebensführung und die Identitätsmuster der Sub-jekte von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass sich die Um-stellung der sozialen und kulturellen Ordnung auf die Logikdynamischer Stabilisierung und Reproduktion unmittelbar im Allo-kationsmodus der Gesellschaft widerspiegelt. Ist jede soziale Forma-tion dazu gezwungen, Regeln für die Verteilung bzw. Zuteilung ihrerRessourcen, ihrer Produkte, aber auch von gesellschaftlichen Privile-gien und Positionen sowie von Status und Anerkennung zu definie-ren, so zeichnet sich die moderne Allokationsordnung dadurch aus,dass sie (abgesehen von der Staatsbürgerschaft) in keiner dieser Hin-sichten auf statische oder ständische Verteilungsmuster zurückgreift,sondern die Vergabe nach der Logik des Wettbewerbs und dem Prin-zip der individuellen Leistung dynamisiert: Während etwa in einermittelalterlichen Ständeordnung die soziale Position und damit Sta-tus und Anerkennung, Privilegien und Chancen, Optionen und Res-sourcen, die einer Person (als Bauer oder Handwerker, Bettler oderKrieger, Gräfin oder Königin) zukamen, im Wesentlichen mit derGeburt festgelegt waren, werden diese in der modernen Gesellschaftnach der Konkurrenzlogik immer wieder neu vergeben. Dabei lässtsich zeigen, dass sich der Konkurrenzkampf im Verlauf der Modernenoch einmal in sich selbst dynamisiert, indem in der Spätmodernenicht mehr um ‚Lebenszeitpositionen‘, sondern um ‚dynamischePerformanzen‘ konkurriert wird: Die Allokationsordnung verändert

Projekt? Für einen dynamischen Begriff der Moderne, in: Zeitschrift für Ideen-geschichte 5 (2011) 111–118.13 Ebd.

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ihre Gestalt nicht mehr im generationalen Wandel, sondern in ei-nem intra-generationalen Tempo.14

2. Fortschrittsthese

In der Folge ändert sich mit dem Fortschreiten der Moderne bezie-hungsweise mit ihrem Dynamisierungsgrad auch die Art und Weise,wie Bewegung erfahren wird. Von der Aufklärung bis in die Mitte,teilweise auch noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde dieDynamisierungserfahrung im Horizont von Fortschrittshoffnungeninterpretiert: Ökonomisches Wachstum, technologische Innovatio-nen und soziale Beschleunigung wurden selbst dort, wo sie zunächstals Zwang auftraten, tendenziell als Elemente, Mittel oder Vorausset-zungen für eine Steigerung von Autonomie- und Authentizität-schancen wahrgenommen. Denn sie vergrößerten die individuellewie die kollektive Weltreichweite der Menschen:15 Die Wissenschaftermöglicht es, mittels Teleskopen und Raketen weiter ins Weltall hi-naus und mit Mikroskopen tiefer in die Materie hinein zu blicken;die Transportrevolution erlaubt es, sowohl im Alltag als auch im Ur-laub immer entferntere Orte in den Horizont des leicht Erreichbarenzu bringen, die Kommunikationstechnologie bringt die Welt in digi-tale Reichweite, und der ökonomische Wohlstand macht uns mehr

14 Vgl. Hartmut Rosa, Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und Sozial-strukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft, in: Leviathan. Zeitschriftfür Sozialwissenschaft 34 (2006) 82–104; vgl. auch ders., Von der stabilen Positi-on zur dynamischen Performanz. Beschleunigung und Anerkennung in der Spät-moderne, in: Rainer Forst/Martin Hartmann/Rahel Jaeggi/Martin Saar (Hg.),Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt/M. 2009, 655 – 671.Gegenläufig und komplementär dazu lassen sich durchaus signifikante sozialeSchließungstendenzen beobachten, welche es nahelegen, von einer Rückkehrvon Klassenstrukturen zu sprechen: Sogenannte ‚prekäre‘ Unterschichten, dieüber geringes soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, habenimmer weniger Chancen, sozial aufzusteigen, während umgekehrt die privile-gierten Schichten de facto nur selten abstiegsbedroht sind. Diese Schließung istjedoch nur das materiale Ergebnis eines ungleichen Konkurrenzkampfes, dessenAustrag dennoch den Dynamisierungsimperativen folgt. Vgl. Heinz Bude, DieAusgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München2010; vgl. Robert Castel/Klaus Dörre, Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die sozia-le Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2009.15 Zum zentralen Begriff der Weltreichweite vgl. Rosa, Resonanz (s. Anm. 2).

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und mehr Dinge unmittelbar verfügbar: Den Menschen bietet sicheine nie da gewesene Anzahl sowohl an Gütern als auch an Lebens-optionen. Sie haben die Freiheit, sich zwischen ihnen zu entschei-den. Was für ein Leben man leben will, liegt nun in der eigenenHand, so lautet die Verheißung der Moderne.

Just diese Fortschrittserwartung bricht nun in den entwickeltenwestlichen Staaten aber zusammen: Zum ersten Mal seit 250 Jahrenhat die Elterngeneration flächendeckend nicht mehr die Erwartung,dass es den Kindern einmal besser gehen wird als ihr selbst. Ganz imGegenteil: Sie hofft, dass es ihnen nicht viel schlechter gehen wird,dass die Krisen nicht ganz so schlimm werden, dass die erreichtenStandards einigermaßen zu halten sein werden. Dabei ist ihr aberklar, dass das nur möglich ist, wenn individuell und kollektiv nochmehr Energien mobilisiert werden, um Wachstum, Beschleunigungund Innovationen anzutreiben. Kurz: Wir Heutigen laufen nichtmehr auf ein verheißungsvolles Ziel vor uns zu, sondern vor demkatastrophischen Abgrund hinter uns davon. Das ist ein kulturellerUnterschied ums Ganze.

3. Erste Autonomiethese

Die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben in einer ‚in Reichweitegebrachten‘ Welt bildet seit dem 18. Jahrhundert ein Grundverspre-chen der Moderne. Als normatives und politisches Projekt ist dieModerne darauf gerichtet, sich von autoritären und traditionellenVorgaben einerseits und von Knappheiten und natürlichen Limita-tionen andererseits zu befreien, um eine selbstbestimmte Lebensfüh-rung zu verwirklichen: Nicht Kirche oder König, aber auch nicht dieVorgaben der Natur sollen uns ‚vorschreiben‘, wie wir zu leben ha-ben (wir entscheiden unabhängig von der Natur, ob es im Zimmerwarm oder kalt, hell oder dunkel ist, wann wir Erdbeeren essen oderSkifahren, und vielleicht sogar, ob wir Mann oder Frau sein wollen).Wachstum und Optionensteigerung waren motiviert und legitimiertdurch dieses Ziel. Damit verbunden ist die moderne Vorstellung vonAuthentizität, nach der wir die gewonnenen Autonomiespielräumeso nutzen wollen und sollen, dass wir das und so sein können, wiees unseren Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen, unserer Persön-lichkeit und unseren Träumen ‚wirklich‘ entspricht. Wir wollen uns‚nicht verbiegen‘ müssen, sondern ‚uns treu sein können‘. Kurz: Das

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