Zur Bestimmung der Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfester Baustähle

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889 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 81 (2012), Heft 11 Fachthemen DOI: 10.1002/stab.201201628 Im Stahlbau gibt es einen Trend zu zunehmend schlankeren und leichten Konstruktionen aus Baustählen mit höherer Festigkeit (Streckgrenze R eH > 355 N/mm 2 ). In den letzten Jahren wurden hierzu moderne Stähle entwickelt, die neben einer hohen Festig- keit gute Schweißeigenschaften und eine hohe Zähigkeit besitzen. Trotz der guten Schweißeigenschaften ist die normative Tragfä- higkeit insbesondere von Kehlnahtverbindungen dieser Stähle gering. In diesem Beitrag werden experimentelle und numerische Untersuchungen zur Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen hö- herfester Baustähle vorgestellt. Als Ergebnis wird die Tragfähig- keit dieser Kehlnahtverbindungen bestimmt und ein erweitertes Bemessungsmodell zur Bestimmung der Tragfähigkeit von Kehl- nahtverbindungen höherfester Baustähle S460 und S690 unter Berücksichtigung des Schweißzusatzwerkstoffs vorgestellt. Load bearing capacity of fillet welded connections of high strength steel. In recent years a trend towards an increasing number of slim and lightweight steel constructions using high-strength steels can be observed (yield strength R eH > 355 N/mm 2 ). Therefore, modern high-strength steels have been developed, which com- prise aside a high strength, good welding characteristics and a high ductility. Despite the good welding characteristics there is a low normative load-bearing capacity of fillet welded joints of high- strength steels. In this article experimental and numerical investi- gations on the load-bearing capacity of fillet welds are presented. As a result the load bearing capacity of these fillet welded connec- tions is determined. An expanded design model for high-strength steels S460 and S690 is presented, which considers both, the strength of the base and the filler metal. 1 Einleitung In den meisten bisher geltenden Normen wird für die Trag- fähigkeit der Schweißnaht nur die Festigkeit des Grund- werkstoffs berücksichtigt, während für den Schweißzusatz- werkstoff mindestens die gleiche Festigkeit wie die des Grundwerkstoffs gefordert wird. Für normalfeste Baustähle S235 und S355 ist diese Vereinfachung sinnvoll, da die zugehörigen Schweißzusatzwerkstoffe immer eine höhere Festigkeit als die Grundwerkstoffe haben. Für höherfeste Stähle S460 und S690 kann für die Fertigung oder in Ab- hängigkeit von der Beanspruchung sowohl der Einsatz von Schweißzusatzwerkstoffen mit geringerer als auch mit höherer Festigkeit sinnvoll sein. Um diese Werkstoffkom- binationen verwenden zu können, müssen die Bemes- sungsregeln neben der Festigkeit des Grundwerkstoffs auch die Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffes berück- sichtigen. Voraussetzung dafür ist die genaue Kenntnis des Einflusses, den die Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs auf die Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfes- ter Baustähle hat. Untersuchungen dazu [1] werden im Folgenden vorgestellt. Als aktuelles Bemessungskonzept gibt es im Eurocode [2] zwei mögliche Bemessungsverfahren: das Richtungsbe- zogene Verfahren und das Vereinfachte Verfahren. Diese wurden in [3] und [4] detailliert vorgestellt. Beim Richtungsbezogenen Verfahren werden die in der Naht wirkenden Kräfte in Spannungskomponenten σ , τ und τ II aufgeteilt (vgl. Bild 1). Die daraus ermittelte Ver- gleichsspannung σ v,Ed gemäß Gl. (1) muss kleiner als die Beanspruchbarkeit der Naht sein, die im Folgenden als Bemessungsgrenzspannung σ w,Rd bezeichnet wird. Gleich- zeitig ist die Zusatzbedingung nach Gl. (2) einzuhalten: σ v,Ed ≤σ w,Rd σ 2 + 3 ⋅τ 2 + 3 ⋅τ II 2 f u,k β w ⋅γ M2 (1) σ 0,9 f u,k γ M2 (2) Der Nachweis gemäß Gl. (2) wird nur für nicht durchge- schweißte Stumpfnähte maßgebend, während für Kehl- nahtverbindungen stets die Grenzbeanspruchbarkeit ge- mäß Gl. (1) maßgebend wird. Aus diesem Grund wird der Nachweis nach Gl. (2) nicht weiterbetrachtet. Für die Zugfestigkeit f u,k wird die Zugfestigkeit des schwächeren Grundwerkstoffs der beiden Bauteile ver- wendet. Nach [2] wird die Zugfestigkeit des Schweißzusatz- Zur Bestimmung der Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfester Baustähle Christina Rasche Ulrike Kuhlmann Bild 1. Spannungskomponenten parallel und senkrecht zur Nahtachse Fig. 1. Stress components

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889© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 81 (2012), Heft 11

Fachthemen

DOI: 10.1002/stab.201201628

Im Stahlbau gibt es einen Trend zu zunehmend schlankeren und leichten Konstruktionen aus Baustählen mit höherer Festigkeit (Streckgrenze ReH > 355 N/mm2). In den letzten Jahren wurden hierzu moderne Stähle entwickelt, die neben einer hohen Festig-keit gute Schweißeigenschaften und eine hohe Zähigkeit besitzen. Trotz der guten Schweißeigenschaften ist die normative Tragfä-higkeit insbesondere von Kehlnahtverbindungen dieser Stähle gering. In diesem Beitrag werden experimentelle und numerische Untersuchungen zur Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen hö-herfester Baustähle vorgestellt. Als Ergebnis wird die Tragfähig-keit dieser Kehlnahtverbindungen bestimmt und ein erweitertes Bemessungsmodell zur Bestimmung der Tragfähigkeit von Kehl-nahtverbindungen höherfester Baustähle S460 und S690 unter Berücksichtigung des Schweißzusatzwerkstoffs vorgestellt.

Load bearing capacity of fillet welded connections of high strength steel. In recent years a trend towards an increasing number of slim and lightweight steel constructions using high-strength steels can be observed (yield strength ReH > 355 N/mm2). Therefore, modern high-strength steels have been developed, which com-prise aside a high strength, good welding characteristics and a high ductility. Despite the good welding characteristics there is a low normative load-bearing capacity of fillet welded joints of high-strength steels. In this article experimental and numerical investi-gations on the load-bearing capacity of fillet welds are presented. As a result the load bearing capacity of these fillet welded connec-tions is determined. An expanded design model for high-strength steels S460 and S690 is presented, which considers both, the strength of the base and the filler metal.

1 Einleitung

In den meisten bisher geltenden Normen wird für die Trag-fähigkeit der Schweißnaht nur die Festigkeit des Grund-werkstoffs berücksichtigt, während für den Schweißzusatz-werkstoff mindestens die gleiche Festigkeit wie die des Grundwerkstoffs gefordert wird. Für normalfeste Baustähle S235 und S355 ist diese Vereinfachung sinnvoll, da die zugehörigen Schweißzusatzwerkstoffe immer eine höhere Festigkeit als die Grundwerkstoffe haben. Für höherfeste Stähle S460 und S690 kann für die Fertigung oder in Ab-hängigkeit von der Beanspruchung sowohl der Einsatz von Schweißzusatzwerkstoffen mit geringerer als auch mit höherer Festigkeit sinnvoll sein. Um diese Werkstoffkom-binationen verwenden zu können, müssen die Bemes-sungsregeln neben der Festigkeit des Grundwerkstoffs

auch die Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffes berück-sichtigen. Voraussetzung dafür ist die genaue Kenntnis des Einflusses, den die Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs auf die Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfes-ter Baustähle hat. Untersuchungen dazu [1] werden im Folgenden vorgestellt.

Als aktuelles Bemessungskonzept gibt es im Eurocode [2] zwei mögliche Bemessungsverfahren: das Richtungsbe-zogene Verfahren und das Vereinfachte Verfahren. Diese wurden in [3] und [4] detailliert vorgestellt.

Beim Richtungsbezogenen Verfahren werden die in der Naht wirkenden Kräfte in Spannungskomponenten σ⊥, τ⊥ und τII aufgeteilt (vgl. Bild 1). Die daraus ermittelte Ver-gleichsspannung σv,Ed gemäß Gl. (1) muss kleiner als die Beanspruchbarkeit der Naht sein, die im Folgenden als Bemessungsgrenzspannung σw,Rd bezeichnet wird. Gleich-zeitig ist die Zusatzbedingung nach Gl. (2) einzuhalten:

σv,Ed ≤ σw,Rd → σ⊥

2 + 3 ⋅ τ⊥2 + 3 ⋅ τII

2 ≤fu,k

βw ⋅ γM2

(1)

σ⊥ ≤

0,9 ⋅ fu,k

γM2

(2)

Der Nachweis gemäß Gl. (2) wird nur für nicht durchge-schweißte Stumpfnähte maßgebend, während für Kehl-nahtverbindungen stets die Grenzbeanspruchbarkeit ge-mäß Gl. (1) maßgebend wird. Aus diesem Grund wird der Nachweis nach Gl. (2) nicht weiterbetrachtet.

Für die Zugfestigkeit fu,k wird die Zugfestigkeit des schwächeren Grundwerkstoffs der beiden Bauteile ver-wendet. Nach [2] wird die Zugfestigkeit des Schweißzusatz-

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Christina RascheUlrike Kuhlmann

Bild 1. Spannungskomponenten parallel und senkrecht zur NahtachseFig. 1. Stress components

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und zugehörigen Schweißzusatzwerkstoffen bezeichnet. Au-ßerdem wurden Versuche mit gleichen Grund- und Schweiß-zusatzwerkstoffen mit höherer oder geringerer Festigkeit als die der Grundwerkstoffe getestet. Als Schweißparame-ter wurde der Einfluss der Abkühlzeit t8/5-Zeit untersucht. Als geometrische Parameter wurden Nahtlänge und Naht-dicke variiert.

Analog zu den Flankenkehlnahtverbindungen wur-den Kreuzstöße mit Verbindungen gleicher Grund- und Schweißzusatzwerkstoffe untersucht sowie die Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs bei den Kreuzstößen variiert.

2.2 Herstellung der Versuchskörper und Versuchsdurchführung

Die Schweißparameter wurden in Übereinstimmung mit [11] bis [14] gewählt. Die Versuche im Rahmen des FOSTA-Vorhabens P652 [8] wurden durch manuelle Schweißung hergestellt, so dass praxisnahe, aber keine gleichmäßigen Bedingungen vorherrschten.

Um mögliche Einflussparameter auf die Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen eindeutig bestimmen zu kön-nen, wurden in den neueren Untersuchungen [9] und [10] alle Versuchskörper unter den gleichen konstanten Bedin-gungen vollmechanisiert gefertigt (Bild  2). Nach dem Schweißen wurden die Versuchskörper mechanisch bear-beitet. Durch die mechanische Trennung wurden Schweiß-nähte erzeugt, die geometrisch keine großen Toleranzen und keinen Nahtanfangs- und Nahtendbereich hatten. Auch schweißtechnisch befand sich die tragende Schweiß-naht nicht im Anfangs- und Endbereich, sondern in einem Bereich, in dem sehr gleichmäßige Bedingungen vorlagen. Folglich konnten die Einflüsse der untersuchten Parameter eindeutig identifiziert werden.

werkstoffs nicht berücksichtigt, sondern für den Schweiß-zusatzwerkstoff werden mindestens die spezifizierten Werte des Grundwerkstoffs gefordert. Der Korrelationsbei-wert βw liegt zwischen 0,8 für normalfeste Stähle und 1,2 für höherfeste Stähle ([2], [5], [6], [7]). Als Teilsicherheits-beiwert wird γM2 = 1,25 verwendet.

In Abhängigkeit der Kraftrichtung werden die Kehl-nähte unterschieden. Bei längsbeanspruchten Kehlnähten, also Flankenkehlnähten, entstehen durch die Längsbean-spruchung Scherspannungen τII, die sich als Quotient aus Kraft und Nahtfläche Aw ergeben. Damit kann der Nach-weis (1) vereinfacht werden, vgl. Gl. (3):

FAw

≤fu,k

3 ⋅ βw ⋅ γM2 (3)

Bei senkrecht zur Naht beanspruchten Kehlnähten spricht man von Stirnkehlnähten. Bezogen auf die Nahtfläche er-geben sich Spannungskomponenten σ⊥ und τ⊥. Der Nach-weis (1) lässt sich, wie mit Gl. (4) folgt, vereinfachen:

FAw

≤fu,k

2 ⋅ βw ⋅ γM2 (4)

2 Experimentelle Untersuchung von Kehlnahtverbindungen höherfester Stähle

Zur Ermittlung der Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfester Baustähle wurden in mehreren Projekten expe-rimentelle und numerische Untersuchungen durchgeführt.

Innerhalb des Forschungsprojekts [8] wurden Versuche mit höherfesten Baustählen S460M und S690Q an 94 Flan-kenkehlnahtverbindungen durchgeführt und 83 Kreuzstöße geprüft. Projektpartner waren die Universität Stuttgart, Bau-haus-Universität Weimar, Technische Universität Darm-stadt und das Günter-Köhler-Institut IFW Jena. Zusätzlich wurden die in [9] vorgestellten neun Versuche an Flanken-kehlnahtverbindungen mit dem Grundwerkstoff S690 durchgeführt. Aufbauend auf den Ergebnisse [8] und [9] wurde im Rahmen des Forschungsvorhabens [10] detail-liert und umfassend das Tragverhalten von Schweißverbin-dungen höherfester Baustähle S690Q und S700M analy-siert. Es wurden weitere 55 Flankenkehlnahtverbindungen und 22 Kreuzstöße mit Stirnkehlnähten geprüft. Hinweise zu weiteren Versuchsserien aus der Literatur [16] bis [20] können [1] entnommen werden.

2.1 Versuchsparameter

Als Versuchsparameter wurde die Festigkeit von Grund- und Schweißzusatzwerkstoffen variiert, um deren Einfluss auf die Tragfähigkeit der Schweißverbindung zu ermitteln. Untersucht wurden Schweißverbindungen mit den Grund-werkstoffen S355, S460 und S690, während als Schweiß-zusatzwerkstoffe Festigkeitsklassen zwischen 42 und 89 verwendet wurden. Es wurden Verbindungen mit zwei gleichen Grundwerkstoffen und einem Schweißzusatz-werkstoff mit einer Festigkeit, die nominell gleich war wie die der Grundwerkstoffe, untersucht. Im Weiteren werden diese Verbindungen als Verbindungen mit gleichen Grund-

Bild 2. Versuchskörper nach der mechanischen BearbeitungFig. 2. Test specimen

Die Versuche wurden als weggeregelte Zugversuche bis zum Bruchversagen der Schweißnaht durchgeführt. Während des Versuches wurden Kraft-, Weg- und Deh-nungsmessungen durchgeführt. Nach dem Bruch der Schweißnaht wurden die Bruchflächen vermessen. Bei den Flankenkehlnähten trat der Bruch stets in der Naht unter einem Winkel nahe 45° ein, während die Kreuzstöße unter einem steileren Winkel von ca. 20° bis 30° bezogen auf die Senkrechte versagten.

2.3 Ergebnisse von Schweißverbindungen gleicher Grund- und zugehöriger Schweißzusatzwerkstoffe

Als Versuchsergebnisse von Flankenkehlnahtverbindun-gen gleicher Grund- und zugehöriger Schweißzusatzwerk-

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ein Unterschied in der Härte, der in etwa dem Unterschied in der Tragfähigkeit entspricht. Die Tendenz der Werte in der Wärmeeinflusszone ist uneinheitlich.

2.4 Einfluss der Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs

Zur Bestimmung des Einflusses der Zugfestigkeit des Schweiß zusatzwerkstoffs auf die Tragfähigkeit von Flan-kenkehlnahtverbindungen wurden Versuchskörper mit den Grundwerkstoffen S690 geprüft, die mit einem nomi-nell niederfesten Schweißzusatzwerkstoff G46 oder mit einem nominell höherfesten Schweißzusatzwerkstoff G89 verschweißt waren. In Abhängigkeit der Zugfestigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs sind die Maximalspannungen τII in Bild 5 dargestellt. Der Unterschied in der Tragfähigkeit zwischen Verbindungen mit den Schweißzusatzwerkstoffen G46 und G69 ist gering, obwohl die Festigkeit des Schweiß-zusatzwerkstoffs um 30 % geringer ist. Für den Schweißzu-satzwerkstoff G89 zeigt sich eine deutliche Steigerung der Tragfähigkeit von 11 % im Vergleich mit den Versuchser-gebnissen mit dem Schweißzusatzwerkstoff G69, während die Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs um 21 % zu-nimmt. Die Tragfähigkeit der Kehlnahtverbindung steigt mit zunehmender Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs

stoffe S460-G46 und S690-G69 sind die maximalen Span-nungen τII in Abhängigkeit der Zugfestigkeit des verwen-deten Schweißzusatzwerkstoffs in Bild 3 dargestellt. Die Spannungen τll ergeben sich aus der im Versuch gemesse-nen Kraft, dividiert durch die nach dem Versuch ausgemes-sene Bruchfläche. Es zeigt sich eine Steigerung der Mittel-werte der Versuche S690-G69 gegenüber S460-G46 von 22 % bei sonst gleichen Bedingungen. Die zugehörige Stei-gerung der Zugfestigkeit des Grundwerkstoffs liegt im Mit-tel bei 58 % und die des Schweißzusatzwerkstoffs bei 30 %. Die Steigerung ist somit nicht proportional zur Zugfestig-keit des Schweißzusatzwerkstoffs bzw. des Grundwerk-stoffs.

Um einen Zusammenhang zwischen den unterschied-lichen Festigkeiten und den Härtewerten zu untersuchen, wurden die Härtewerte der Werkstoffverbindung S460-G46 und S690-G69 verglichen (Bild 4). Dargestellt sind die ermittelten Härtewerte (HV1) in Abhängigkeit der unter-schiedlichen Werkstoffbereiche Grundwerkstoff (GW), Wärmeeinflusszone (WEZ) und Schweißgut (SG). Es zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen den Werkstoffkombi-nationen im unbeeinflussten Grundwerkstoff deutlich grö-ßer sind als im Schweißgut und dem Festigkeitsunterschied der Grundwerkstoffe entsprechen. Im Schweißgut zeigt sich

Bild 3. Maximale Spannung gleicher Grund- und zugehöriger SchweißzusatzwerkstoffeFig. 3. Test results of equal materials of base and filler metal

Bild 4. Vergleich der Härtewerte von Versuchen S460-G46 und S690-G69Fig. 4. Comparison of hardness measurements of tests S460-G46 and S690-G69

Bild 5. Vergleich der maximalen Spannung S690-G46/G69/G89Fig. 5. Comparison of test results S690-G46/G69/G89

Bild 6. Vergleich der Härtewerte von Versuchen S690-G46/G69/G89Fig. 6. Comparison of hardness measurements of test results S690-G46/G69/G89

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Es wurden Versuchskörper aus Stumpfnähten (Serie SN) und mehrlagigen Kehlnähten (Serie KN) als Schliffe für Härtemessungen sowie Rundzugproben (Prüfdurchmesser d = 4 mm, Außendurchmesser D = 10 mm) für Zugversuche hergestellt. Die Schweißparameter entsprachen denen der Versuchskörper. Die Ergebnisse der Zugversuche sind Bild 7 dargestellt. Ein Vergleich der Zugfestigkeiten der Schweiß-zusatzwerkstoffe G46 (SN) und G69 (SN) zeigt eine Steige-rung der Festigkeit von 33 %. Vergleicht man die Kehlnaht-festigkeiten mit den Schweißzusatzwerkstofffestigkeiten gleicher Grund- und Schweißzusatzwerkstoffe zeigt sich gerade für G46 eine deutliche Steigerung, während bei Ver-wendung von G69 eine ähnliche Festigkeit in der Kehlnaht im Vergleich mit der in der Stumpfnaht festzustellen ist.

Betrachtet man nun die Verbindungen mit gleichem Grundwerkstoff (S690) und unterschiedlichen Festigkeiten des Schweißzusatzwerkstoffs (G46, G69, G89), zeigen sich große Einflüsse des Grundwerkstoffs auf die Festigkeiten. Es kann durch den Grundwerkstoff zur Aufwertung kom-men (S690-G46), aber auch zur Abwertung (S690-G89).

3 Numerische Untersuchungen

Mit Hilfe von experimentellen Untersuchungen wurde die Tragfähigkeit von Schweißverbindungen bestimmt. Die nu-merischen Untersuchungen wurden durchgeführt, um die Versuche nachzubilden und das Tragverhalten der Schweiß-verbindungen zu analysieren.

Die numerischen Berechnungen wurden mit Hilfe der Methode der Finiten Elemente (FEM) unter Verwendung eines multilinearen elastisch-plastischen Materialgesetzes durchgeführt. Es wurde das Finite-Elemente-Programm Ansys 13.0 [15] verwendet. Die Geometrie der Schweiß-naht wurde anhand des Makroschliffes modelliert (Bild 8).

Zusätzlich wurden den verschiedenen Bereichen Grundwerkstoff, Wärmeeinflusszone und Schweißgut un-terschiedliche Werkstoffkennwerte zugeordnet.

Für die numerischen Berechnungen wurden die Werk-stoffkennwerte aus der Stumpfnaht (SN) und aus der Kehl-naht (KN) verwendet. Einen Vergleich zwischen Versuch und numerischen Berechnungen mit den beiden unter-schiedlichen Werkstoffkennwerten zeigt Bild 9.

Dargestellt ist die Relativverschiebung am Nahtende in Abhängigkeit von der einwirkenden Kraft. Der Vergleich mit dem Versuchsergebnis zeigt deutlich, dass die Berech-nung mit den Werkstoffkennwerten der mehrlagigen Kehl-naht (KN) eine bessere Übereinstimmung liefert als die mit denen der Stumpfnähte (SN). Es ergibt sich ein Unterschied

an, der Anstieg ist aber nicht proportional zur Zugfestig-keit des Schweißzusatzwerkstoffs. Es zeigt sich damit deut-lich ein Einfluss des Schweißzusatzwerkstoffs auf die Trag-fähigkeit der Schweißverbindungen.

In Bild 6 ist der Vergleich der Härtewerte der Schweiß-verbindungen mit gleichem Grundwerkstoff S690 und ver-schiedenen Schweißzusatzwerkstoffen G46, G69 und G89 dargestellt. Im Schweißgut selbst zeigt sich, dass die Härte für die Verbindung mit G89 deutlich größere Werte als für die Verbindung S690-G69 ist. Gleichzeitig ergeben sich wie bei der Tragfähigkeit auch ähnliche Werte für die Härte für G46 und G69. Auch für die Verbindungen mit Schweißzu-satzwerkstoffen verschiedener Festigkeiten zeigt sich, dass die Härtewerte mit den Tragfähigkeiten korrelieren.

2.5 Werkstoffuntersuchungen

Um die Tragfähigkeit von Schweißverbindungen zu bestim-men, ist die Kenntnis der Festigkeit der betrachteten Naht besonders wichtig. Üblicherweise wird die Zugfestigkeit an Zugproben bestimmt, die aus einer Stumpfnaht entnom-men werden. Im Vergleich mit Stumpfnähten gibt es bei Kehlnähten eine andere Geometrie, andere Abkühlbedin-gungen, andere Schweißparameter sowie eine Beeinflus-sung durch den Grundwerkstoff. Um den Einfluss dieser Faktoren auf die Festigkeit in der Schweißnaht festzustel-len, wurden zusätzlich Zugproben aus der Kehlnaht ent-nommen.

Bild 7. Vergleich der Zugfestigkeiten aus Stumpf- und Kehl-nähtenFig. 7. Comparison of test results of ultimate stresses for butt and fillet weld material

Bild 8. Modellierung der Mak-roschliffe in Ansys 13.0 [15]Fig. 8. Modelling of geometry in Ansys 13.0 [15]

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in der Naht aufgetreten. In Bild 10 wird deutlich, dass sich lokal in der Naht die Dehnungen konzentrieren und dort entsprechend auch die höchsten Spannungen auftreten.

Die Berechnungen zeigen, dass die Versuchsergeb-nisse nachgebildet werden können, wenn die Geometrie sehr genau abgebildet wird und die Kehlnahtfestigkeit be-kannt ist. Es wurde festgestellt, dass die Schweißnaht die Zugfestigkeit in der gesamten Naht erreicht und kein vor-zeitiges Versagen auftritt. Damit lässt sich die Tragfähigkeit ermitteln und es wurden keine weiteren Einflussfaktoren auf die Tragfähigkeit der Naht festgestellt.

4 Bemessungsmodell4.1 Grundlage für das erweiterte Bemessungsmodell

Aufbauend auf den numerischen Untersuchungen und vor allem aus den Versuchsergebnissen wurde auf Basis von sta-tistischen Auswertungen ein neues Bemessungsmodell ent-wickelt. Die statistische Auswertung erfolgte gemäß DIN EN 1990 Anhang D. Als Grundlage wurden insgesamt die Versuchsergebnisse von 103 eigenen Versuchen an Flanken-kehlnähten verwendet [8] bis [10] sowie zusätzlich 160 Ver-suche aus der Literatur [16] bis [20] ausgewertet (s. [1]).

4.2 Verbindungen gleicher Grundwerkstoffe und zugehöriger Schweißzusatzwerkstoffe S460-G/T/E46 und S690 G/T69

Die bisherige Bestimmung der normativen Tragfähigkeit für Verbindungen gleicher Grundwerkstoffe und zugehöri-ger Schweißzusatzwerkstoffe nach Eurocode [2] und [6] be-sonders für S690 beruht auf wenigen Versuchen. Da festge-stellt wurde, dass längsbeanspruchte Kehlnähte eine gerin-gere Tragfähigkeit als Stirnkehlnähte haben, wurden für die statistische Auswertung nur Flankenkehlnähte berücksich-tigt. Auf der Grundlage einer statistischen Auswertung aller Versuche mit gleichen Grund- und zugehörigen Schweiß-zusatzwerkstoffen wurden die Beiwerte βw bestimmt. Für die Verbindungen mit dem Grundwerkstoff S460 und zuge-hörigem Schweißzusatzwerkstoff wurde ein Beiwert βw = 0,85 ermittelt. Die Schweißverbindungen mit dem Grund-werkstoff S690 sollten mit einem Beiwert βw = 1,10 dimen-sioniert werden. Mit diesen Beiwerten ergeben sich die Be-messungsgrenzspannungen τRd = 293 N/mm2 für S460 und τRd = 323 N/mm2 für S690 (vgl. Tab. 1). In Tabelle 1 sind

der Kräfte aus den beiden Berechnungen in Höhe von 10,5 %, während sich die Zugfestigkeiten als wahre Span-nungen im Schweißgut um 12 % unterscheiden (835 N/mm2 → 936 N/mm2). Der Unterschied der eingesetzten Zugfes-tigkeit spiegelt sich also direkt im Unterschied der Tragfä-higkeiten wider.

Bei den Berechnungen wurde immer festgestellt, dass ab Erreichen einer bestimmten Laststufe die resultierende Auflagerkraft, die an den Festhalterungen auftritt, bei zu-nehmenden Verschiebungen nicht mehr zunimmt. Werden weitere Verformungen aufgebracht, nehmen die Dehnun-gen zu, die Last wird jedoch nicht mehr gesteigert. Das Tragverhalten lässt sich so beschreiben, dass im Volumen der Schweißnaht die Vergleichsspannungen ihren gemäß der eingegebenen Spannungs-Dehnungs-Linie möglichen Maximalwert erreichen und damit die rechnerische Traglast erreicht ist. Bild 10 gibt schematisch die Vergleichsspannun-gen und die Vergleichsdehnungen bei Erreichen dieser rech-nerischen Traglast wieder. Auch numerisch zeigt sich deut-lich, dass die Naht am höchsten beansprucht ist, da es sich dabei um den kleinsten Querschnitt handelt. Das rechneri-sche Versagen ist, wie in den Versuchen beobachtet, immer

Bild 9. Einfluss der angenommenen Festigkeit der Schweiß-naht auf die rechnerische Tragfähigkeit der Verbindung (KN Kehlnahtfestigkeit, SN Festigkeit des Schweißzusatzwerk-stoffs)Fig. 9. Influence of the weld strength to the load bearing ca-pacity of the connection (KN taken from a fillet weld, SN taken from a butt weld)

Bild 10. a) Modell, b) Vergleichsdehnung, c) Vergleichsspannung bei Erreichen der TraglastFig. 10. a) FE-Model, b) First principal total mechanical strain, c) Equivalent von-Mises stresses

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die Vermischung von Grund- und Schweißzusatzwerkstoff eine Rolle. Die Kehlnaht entsteht durch den eingebrachten Schweißzusatzwerkstoff und den aufgeschmolzenen Grundwerkstoff. Bei Kehlnähten ist der Anteil des Grund-werkstoffs besonders groß (vgl. Bild 11). Der aufgeschmol-zene Grundwerkstoff wird damit Teil der Schweißverbin-dung und beeinflusst die chemische Zusammensetzung und damit auch die Festigkeit in der Naht (vgl. [21]).

Die höherfesten Schweißzusatzwerkstoffe G69 erzielen die hohen Festigkeiten durch die chemischen Zusammen-setzungen, während die zugehörigen Grundwerkstoffe ihre Festigkeit auch über die Wärmeführung bei der Herstel-lung generieren. Durch die Aufmischung in der Kehlnaht ändert sich die chemische Zusammensetzung, der Legie-rungsgehalt wird geringer. Im gleichen Zug verringert sich damit auch die Tragfähigkeit der Naht. Der Tragfähigkeits-erhöhung infolge der extremen Abkühlbedingungen bei Kehlnähten steht diesem Verlust an Tragfähigkeit durch die chemische Zusammensetzung entgegen.

Die Unterschiede zwischen der Festigkeit der einge-setzten Werkstoffe und der Tragfähigkeit der Kehlnahtver-bindung sind für gleiche Grund- und zugehörige Schweiß-zusatzwerkstoffe in dem Beiwert βw berücksichtigt.

Die Überfestigkeit durch die Abkühlverhältnisse bei Kehlnähten werden durch den Beiwert βw für Verbindun-gen gleicher Grund- und zugehöriger Schweißzusatzwerk-stoffe berücksichtigt. Für die Bemessung von Verbindun-gen mit Grund- und Schweißzusatzwerkstoffen unter-schiedlicher Festigkeiten ist es für die Berücksichtigung der Vermischung unterschiedlicher Werkstoffe notwendig, beide Festigkeiten in der Bemessungsgleichung zu berück-sichtigen. In [1] wurde eine solche Bemessungsgleichung hergeleitet. Dabei wird vorgeschlagen, die Festigkeit des Grundwerkstoffs mit 25 % und die des Schweißzusatz-werkstoffs mit 75 % zu berücksichtigen.

Danach ergibt sich die Bemessungsgleichung in Ab-hängigkeit von der Festigkeit von Grund- und Schweißzu-satzwerkstoff wie folgt (vgl. [1]):

(5)

für Flankenkehlnähte τII =0,25 ⋅ fu,GW + 0,75 ⋅ fu,SZW

3 ⋅βw ⋅ γM2

Für Kreuzstöße ergibt sich ein analoges Vorgehen, und da-mit:

(6)

für Kreuzstöße σu =0,25 ⋅ fu,GW + 0,75 ⋅ fu,SZW

2 ⋅βw ⋅ γM2

die Versuchsergebnisse im Vergleich zu den Bemessungs-grenzspannungen dargestellt. Mit diesen Werten kann ein konstantes Sicherheitsniveau zwischen Versuchen und Be-messung erreicht werden. Im Vergleich mit den bisherigen Werten nach [2] mit βw = 1,0 ergibt sich für die Schweiß-verbindungen S460 eine Verbesserung der normativen Tragfähigkeit. Für die Schweißverbindungen S690 wurden geringere Tragfähigkeiten als nach [6] mit βw = 1,0 festge-stellt. Diese Ergebnisse entsprechen im Wesentlichen auch den Ergebnissen des FOSTA-Vorhabens P652 [8] und wur-den auch schon in die Deutschen Nationalen Anhängen zu [2] und [6] aufgenommen (vgl. [5] und [7]).

4.3 Herleitung des Bemessungsvorschlags für Flankenkehlnahtverbindungen

Die numerischen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Tragfähigkeit von Flankenkehlnähten vorwiegend von der Festigkeit in der Schweißnaht bestimmt wird. Die Festig-keit der Kehlnähte wird zum einen durch die Abkühlbe-dingungen und zum anderen durch die chemische Zusam-mensetzung bestimmt.

Kehlnähte der Werkstoffkombination S460-G46 zei-gen in Versuchen eine höhere Tragfähigkeit als sich aus der Festigkeit der eingesetzten Werkstoffe ergibt. Bei Kehlnäh-ten stellen sich extreme Abkühlbedingungen ein, da die Nahtfläche gegenüber der Fläche des Grundwerkstoffs sehr klein ist. Die Geschwindigkeit der Abkühlung beein-flusst die Bildung von Martensit, Ferrit und Perlit. Durch die schnelle Abkühlung kommt es zu einer Aufhärtung, die zu größeren Festigkeiten führt.

Die chemischen Zusammensetzungen von Grund- und Schweißzusatzwerkstoffen S460-G46 sind ähnlich, Einflüsse der Aufmischung machen sich somit eher nicht bemerkbar.

Bei Kehlnähten der Werkstoffkombination S690-G69 zeigen sich bei den Kehlnahttragfähigkeiten ähnliche oder sogar geringere Tragfähigkeiten als aus den Festigkeiten der eingesetzten Werkstoffe zu erwarten wäre. Neben dem Aspekt der schnellen Abkühlung spielt als zweiter Aspekt

Tabelle 1. Vorschlag βw-Werte für Flankenkehlnahtverbin-dungen S460 und S690Table 1. Proposal factor βw for fillet welds S460 and S690

Bild 11. Exempla-rische Darstellung einer KehlnahtFig. 11. Cut of fillet weld

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4.4 Ermittlung der Beiwerte βw für verschiedene Schweißzusatzwerkstofffestigkeiten

Mit diesem erweiterten Modell (Gl. (5)) wurden in [1] alle 260 bekannten Versuche in Abhängigkeit der Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs statistisch ausgewertet, da sich für jeden Schweißzusatzwerkstoff ein anderer Beiwert βw einstellt (vgl. Tabelle 2). Mit einer Mittelwertabweichung von b = 1,17 und einem Teilsicherheitsbeiwert γM* = 1,23 < 1,25 zeigt sich, dass die Bemessungsgleichung sehr gute Übereinstimmungen liefert.

In Bild 12 sind die Versuchsergebnisse im Vergleich mit den Bemessungsgrenzspannungen dargestellt. Auf der Abszisse aufgetragen ist die Bemessungsgrenzspannung, er-mittelt aus den nominellen Festigkeiten der Grund- und Schweißzusatzwerkstoffe im Verhältnis 25 % des Grund-werkstoffs und 75 % des Schweißzusatzwerkstoffs unter Berücksichtigung des jeweiligen Beiwertes βw. Aufgrund

Bild 12. Versuchsergebnisse und Bemessungsvorschlag für FlankenkehlnahtverbindungenFig. 12. Test results and design proposal for longitudinal fil-let welds

Bild 13. Versuchsergebnisse und Bemessungsvorschlag für KreuzstößeFig. 13. Test results and design proposal for cruciform joints

Tabelle 2. Statistische Auswertung aller Flankenkehlnaht-verbindungenTable 2. Statistical evaluation of all longitudinal fillet welded connections

Grundwerkstoff: S355/S460/S690

Schweißzusatzwerkstoff: G42, G/T46, E55, G/T69, G89

Versuchsanzahl: 256 (229)

kn 1,640 kn,d 3,040

in Abhängigkeit von Grund- und Schweißzusatzwerkstoff 0,25 ∙ fu,GW + 0,75 ∙ fu,SZW

b 1,165 rk 0,757 γM 1,254

sΔ 0,080 rd 0,604 γM* 1,233

βw

G42 0,89

G/T46 0,85

E55 0,96

G/T69 1,09

G89 1,19

der unterschiedlichen Anzahl von Versuchen variiert der Abstand zwischen den Versuchsergebnissen und den jewei-ligen Bemessungswerten. Es zeigt sich aber eine gute Über-einstimmung zwischen Versuchsergebnissen und Bemes-sungsgleichung und damit ein konstantes Sicherheitsniveau.

Für die Kreuzstöße wird kein weiterer Bemessungs-vorschlag gemacht, da nur wenige Ergebnisse vorliegen und diese sehr stark streuen. Die für Flankenkehlnahtver-bindungen hergeleiteten Beiwerte βw können für die Be-messung von Kreuzstößen angewendet werden. Die vor-handenen Versuchsergebnisse werden in Bild 13 in Abhän-gigkeit der Bemessungsgrenzspannungen dargestellt. Es zeigt sich ein ausreichender Abstand zwischen den Ver-suchsergebnissen und den Bemessungswerten. Es zeigt sich aber auch, dass der Abstand zwischen den Versuchsergeb-nissen und den Bemessungswerten sehr ungleichmäßig ist. Dies deutet darauf hin, dass der Bemessungsansatz für Kreuzstöße noch Reserven enthält. Auf der sicheren Seite liegend kann also dieser Bemessungsvorschlag auch für Stirnkehlnähte verwendet werden.

Mit diesem Bemessungsansatz konnte für alle betrach-teten Werkstoffkombinationen eine gute Übereinstimmung zwischen Versuchs- und Bemessungsgrenzspannung er-reicht werden.

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Mithilfe von Versuchsergebnissen konnte eindeutig der Einfluss sowohl von Grund- als auch von Schweißzu-satzwerkstoff auf die Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindun-gen der höherfesten Baustähle festgestellt werden. Für die Tragfähigkeitsunterschiede zwischen Flanken- und Stirn-kehlnähten wurde festgestellt, dass die Tragfähigkeit von Stirnkehlnähten immer höher als die Tragfähigkeit von Flankenkehlnähten liegt.

Zusätzliche numerische Untersuchungen haben ge-zeigt, dass durch eine genaue Modellierung der Geometrie der Schweißnaht und genaue Kenntnis der Festigkeit der Naht die numerische Berechnung der Traglast möglich ist.

Für das bestehende Bemessungsmodell [2] wurde ein Vorschlag für die Beiwerte βw für die höherfesten Baustähle S460 und S690 entwickelt, wie in Tabelle 3 zusammenge-fasst.

Darauf aufbauend wurde ein eigener Bemessungsvor-schlag entwickelt, der die Tragfähigkeit in Abhängigkeit von

4.5 Bemessungsvorschlag und Beurteilung

In Bild 14 sind die ermittelten Bemessungsgrenzspannun-gen für die einzelnen Schweißzusatzwerkstoffe für Flan-kenkehlnähte in Abhängigkeit der nominellen Festigkeit des Grundwerkstoffs grafisch dargestellt. In Abhängigkeit der Festigkeit des Grundwerkstoffs auf der Abszisse zeigt sich jeweils für jeden Schweißzusatzwerkstoff eine anstei-gende Tragfähigkeit. Mit diesem erweiterten Modell wird die Festigkeit von Grund- und Schweißzusatzwerkstoff be-rücksichtigt, es ist also möglich, verschiedene Festigkeiten zu verwenden.

Im Vergleich mit dem bisherigen Ansatz nach [2] be-steht der Vorteil des neuen Bemessungsansatzes darin, dass unterschiedliche Festigkeiten für Grund- und Schweißzu-satzwerkstoff berücksichtigt werden können, während der bisherige Ansatz nur Schweißzusatzwerkstoffe erlaubt, de-ren Festigkeit mindestens der Festigkeit des Grundwerk-stoffs entspricht. Damit sind zum einen Verbindungen mit Schweißzusatzwerkstoffen niedrigerer Festigkeit nun mög-lich. Zum anderen können höhere Bemessungsgrenzspan-nungen infolge höherer Festigkeiten des Schweißzusatz-werkstoffs in Anspruch genommen werden.

Für die Grundwerkstoffe S355, S460 und S690 ergaben sich bei den Verbindungen gleicher Grund- und Schweiß-zusatzwerkstoffe ähnliche Bemessungsgrenzspannungen bei beiden Verfahren. Bei Verwendung von höherfesten Schweißzusatzwerkstoffen können bei dem neuen Ansatz also höhere Bemessungsgrenzspannungen als nach dem Verfahren nach [2] in Anspruch genommen werden.

5 Zusammenfassung

In diesem Beitrag wurden experimentelle und numerische Untersuchungen zur Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindun-gen höherfester Baustähle vorgestellt. Als Ergebnis wurde ein realitätsnahes, zeitgemäßes Bemessungsmodell zur Be-stimmung der Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfester Baustähle S460 und S690 entwickelt.

Bild 14. Darstellung des Bemessungsvorschlags für Flanken-kehlnahtverbindungen in Abhängigkeit der Festigkeit des GrundwerkstoffsFig. 14. Design proposal for longitudinal fillet welds depend-ing on the base metal strength

Stahlgüte Beiwert βw [–]Bemessungsgleichung für

Flankenkehlnähte Stirnkehlnähte

S460 N/NL/M/ML 0,85

fu3 · γM2 · βw

Nmm2

fu2 · γM2 · βw

Nmm2

S690Q/QL/QL1 1,10

Tabelle 3. Bemessungsvorschlag für Kehlnahtverbindungen nach Eurocode [2] und [6]Table 3. Design proposal for fillet welds according to Eurocode [2] and [6]

Schweißzusatzwerkstoff Beiwert βw [–]Bemessungsgleichung für

Flankenkehlnähte Stirnkehlnähte

G42/E42 0,89

0,25 · fu,GW + 0,75 · fu,SZW

3 · γM2 · βw

Nmm2

0,25 · fu,GW + 0,75 · fu,SZW

2 · γM2 · βw

Nmm2

G46/E46/T46 0,85

G69/T69 1,09

G89 1,19

Tabelle 4. Modifizierter Bemessungsvorschlag für KehlnahtverbindungenTable 4. Modified design proposal for fillet welds

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beitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen e. V. (AiF), FOSTA P652, Düsseldorf, August 2008.

[9] Kuhlmann, U., Günther, H.-P., Rasche C.: Versuche zur Be-stimmung der Tragfähigkeit von Flankenkehlnahtverbindun-gen höherfester Baustähle S690Q. Versuchsbericht, Universi-tät Stuttgart, Institut für Konstruktion und Entwurf, Mittei-lung Nr. 2008–21X, 2008, unveröffentlicht.

[10] Abschlussbericht: AiF-Vorhaben-Nr. 16097 Tragfähigkeit von Kehlnahtverbindungen höherfester Baustähle S690 im Stahl-bau. Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigun-gen e. V. (AiF), FOSTA P812, Düsseldorf, Februar 2012.

[11] DIN EN 1011–2: Schweißen – Empfehlungen zum Schwei-ßen metallischer Werkstoffe – Teil 2: Lichtbogenschweißen von ferritischen Stählen, DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe 2001–05.

[12] SEW 088: Schweißgeeignete Feinkornbaustähle. Richtlinien für die Verarbeitung, besonders für das Schmelzschweißen. Stahlinstitut VDEh, Düsseldorf, 4. Ausgabe 1993–10.

[13] SEW 088, Beiblatt 1: Schweißgeeignete Feinkornbaustähle. Richtlinien für die Verarbeitung, besonders für das Schmelz-schweißen – Kaltrisssicherheit beim Schweißen. Ermittlung angemessener Mindestvorwärmtemperaturen, 4. Ausgabe 1993–10.

[14] SEW 088, Beiblatt 2: Schweißgeeignete Feinkornbaustähle. Richtlinien für die Verarbeitung, besonders für das Schmelz-schweißen – Ermittlung von Abkühlzeiten t8/5 zur Kennzeich-nung von Schweißtemperaturzyklen. 4. Ausgabe 1993–10.

[15] ANSYS Release 13.0, Ansys Inc., Canonsburg, USA[16] Saal, H., Hölbling, W.: Zusammenfassung der Ergebnisse

von Versuchen an Kehlnahtprüfkörpern aus HISTAR460/460L hergestellt im Blockgussverfahren. Bericht Nr. 042119–2, 2005.

[17] Kob, P., Harre, W., Schmidt, H.: Einfluß geometrischer Ver-hältnisse auf die Tragfähigkeit statisch beanspruchter Kehl-nahtverbindungen. Otto-Graf-Institut; Forschungs- und Mate-rialprüfanstalt Baden-Württemberg, Schriftenreihe Heft 78, Stuttgart 1987.

[18] Collin, P., Johansson, B.: Design of welds in high strength steel. In: Proceedings of the 4th European Conference on Steel and Composite Structures, Maastricht, Volume C., pp. 4.10–89–4.10–98, 2005.

[19] Background Documentation Document D.03  Annex D, Evaluations of test results on welded connections made from FeE 460 in order to obtain strength functions and suitable model factors, April 1990.

[20] Niemi, E.: Tests on fillet weld joints with high strength steel specimens. Lappeenranta, 1988, ISBN 951–763–550–8.

[21] Hildebrand, J.: Numerische Schweißsimulation: Bestimmung von Temperatur, Gefüge und Eigenspannung an Schweißverbin-dungen aus Stahl- und Glaswerkstoffen. Dissertation, Schrif-tenreihe des Instituts für Konstruktiven Ingenieurbau, Univer-sitätsverlag Bauhaus-Universität Weimar, Heft 018, 2008.

Autoren dieses Beitrages:Dr.-Ing. SFI Christina Rasche, rasche@ing-nellingen. de,Bürogemeinschaft Kuhlmann-Gerold-Günther-Eisele,Ingenieurbüro Prof. Dr.-Ing. U. Kuhlmann,Felix-Wankel-Straße 6, 73760 Ostfildern (Nellingen)

Prof. Dr.-Ing. Ulrike Kuhlmann,Universität Stuttgart, Institut für Konstruktion und EntwurfPfaffenwaldring 7, 70569 Stuttgart,sekretariat@ke. uni-stuttgart. de

Grund- und Schweißzusatzwerkstoff beurteilt. Es wurde aufgezeigt, wie sich die Festigkeit der Naht in Abhängigkeit der Festigkeit von Grund- und Schweißzusatzwerkstoffen bestimmen lässt. Dazu wurde die Bemessungsgleichung nach [2] modifiziert, so dass die Festigkeit von Grund- und Schweißzusatzwerkstoff in der Bemessungsgleichung be-rücksichtigt wird. Mit dieser modifizierten Gleichung wur-den dann die Beiwerte βw in Abhängigkeit der Festigkeit des Schweißzusatzwerkstoffs bestimmt, wie in Tabelle 4 darge-stellt. Mit diesem Bemessungsmodell ist eine sichere und wirtschaftliche Auslegung von Kehlnahtverbindungen ins-besondere höherfester Baustähle mit unterschiedlichen Schweiß zusatzwerkstoffen möglich.

Danksagung

Dank gilt der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungs-vereinigungen (AiF) Otto von Guericke e. V. für die finan-zielle Unterstützung der experimentellen und theoretischen Untersuchungen. Den Firmen voestalpine Grobblech, Dil-linger Hütte AG, Böhler Thyssen Schweißtechnik, ESAB GmbH und Drahtzug Stein sei für die kostenlosen Materi-alspenden gedankt. Allen Mitgliedern des projektbegleiten-den Arbeitsausschusses sei für die aktive Teilnahme an diesem Projekt, für Anregungen und Unterstützungen herzlich gedankt. Allen an den Projekten beteiligten Part-nern danken wir für die gute Zusammenarbeit. Auch allen Mitarbeitern der beteiligten Prüfeinrichtungen sei hiermit für die konstruktive und freundliche Unterstützung bei der Herstellung und Durchführung der Versuche gedankt.

Literatur

[1] Rasche, C.: Zur Bestimmung der Tragfähigkeit von Kehl-nahtverbindungen höherfester Baustähle. Mitteilungen des Instituts für Konstruktion und Entwurf, Nr. 2012–1, Institut für Konstruktion und Entwurf, Universität Stuttgart, 2012.

[2] DIN EN 1993–1–8: Eurocode 3: Bemessung und Konstruk-tion von Stahlbauten – Teil 1–8: Bemessung von Anschlüssen, Deutsche Fassung EN 1993–1–8:2005 + AC:2009, DIN Deut-sches Institut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe 2010–12.

[3] Volz, M., Saal, H.: Geschweißte Verbindungen nach DIN EN 1993–1–8. Stahlbau 81 (2012), Heft 4, S. 282–289.

[4] Stroetmann, R., Deepe, P., Rasche, C., Kuhlmann, U.: Be-messung von Tragwerken aus höherfesten Stählen bis S700 nach EN 1993–1–12. Stahlbau 81 (2012), Heft 4, S. 332–342.

[5] DIN EN 1993–1–8/NA: Nationaler Anhang – National fest-gelegte Parameter – Eurocode 3: Bemessung und Konstruktion von Stahlbauten – Teil 1–8: Bemessung von Anschlüssen, DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe 2010–12.

[6] DIN EN 1993–1–12: Eurocode 3: Bemessung und Konstruk-tion von Stahlbauten – Teil 1–12: Zusätzliche Regeln zur Er-weiterung von EN 1993 auf Stahlgüten bis S700, Deutsche Fassung EN 1993–1–12:2007 + AC:2009, DIN Deutsches In-stitut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe 2010–12.

[7] DIN EN 1993–1–12/NA: Nationaler Anhang – National fest-gelegte Parameter – Eurocode 3: Bemessung und Konstruk-tion von Stahlbauten – Teil 1–12: Zusätzliche Regeln zur Er-weiterung von EN 1993 auf Stahlgüten bis S700, DIN Deut-sches Institut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe 2011–08.

[8] Abschlussbericht: AiF-Vorhaben-Nr. 14195 BG (2007) Wirt-schaftliche Schweißverbindungen höherfester Baustähle. Ar-