Zur Geschichte der „modernen“ Medizin · 2020. 6. 2. · 2 Eine ausführliche Textfassung der...

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1 Zur Geschichte der „modernen“ Medizin Folien zur Vorlesung (ohne Abb.) Prof. Dr. Dr. U. Benzenhöfer

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    Zur Geschichte der „modernen“ Medizin

    Folien zur Vorlesung

    (ohne Abb.)

    Prof. Dr. Dr. U. Benzenhöfer

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    Eine ausführliche Textfassung der Vorlesung

    findet sich in U. Benzenhöfer: Geschichte der

    Medizin im Überblick. Ulm 2016, S. 38-69.

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    18. Jahrhundert

    Prof. Herman(n) Boerhaave (1668-1739)

    fordert „hippokratische“ Beobachtung;

    seit 1714 „bedside teaching“ in Leiden (2 xpro Woche; 12 Betten!).

    Nicht der erste Studentenunterricht amKrankenbett, durch Boerhaaves Studentenaber weite Verbreitung (z.B. Edinburgh,Wien).

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Humoralpathologie: Krankheit ist Störung desSäftegleichgewichts; feste Teile nur „Schauplatz desGeschehens“

    Solidarpathologische Ansätze schon

    *in der Antike

    *in der Iatromechanik (Beispiel: Fr. Hoffmann, um1700, Halle: Körper ist hydraulische Maschine;Fasern treiben durch Zusammenziehen undAusdehnen die Flüssigkeiten an).

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Giovanni Battista Morgagni (1682-1707)

    Anatom, Padua

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Morgagni Antrittsrede 1712: „Es ist unmöglich, das

    Wesen und die Ursachen einer Krankheit ohne

    Leichensektion zu bestimmen“.

    Hauptwerk 1761:

    „De sedibus et causis morborum“ (Über den Sitz und

    die Ursachen der Krankheiten)

    Krankheitszeichen beruhen auf Veränderung des

    Organs = Organpathologie.

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Xavier Bichat (1771-1802)

    Arzt, Paris

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Bichat 1801: „Anatomie générale“

    Konzentrierte sich auf „Gewebe“ (unterschied 21Gewebe, z.B. arterielle und venöse Gewebe…)

    Krankheiten der Gewebe zeigen ihm Verbindungenüber Organgrenzen hinweg („Sympathie“: GleicheGewebe „erkranken“ in verschiedenen Organengleichzeitig).

    Gilt als Vater der Histologie, hat aber keinMikroskop benutzt!!!

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Rückblick:

    Mikroskop um 1600 erfunden

    (Niederlande)

    Mit Mikroskop sieht Malpighi 1661

    Lungenkapillaren beim Frosch

    (Bestätigung für Harvey)

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Rückblick: Tuchhändler und Amateur-

    naturforscher Antoni van Leeuwenhoek

    sieht unter dem Mikroskop 1676

    wahrscheinlich, 1683 sicher Bakterien;

    Vergr.: max. 280 x

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Rudolf Virchow 1858: „Die

    Cellularpathologie“

    1855: „Omnis cellula ex cellula“ (Jede

    Zelle entsteht aus einer Zelle)

    Zelle ist Ort der Krankheitsentstehung

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Solida – die festen, soliden (Bestandteile)

    1761: Morgagni – Organpathologie

    1801: Bichat – Gewebepathologie

    1855/1858: Virchow – Zellularpathologie

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    Solidarpathologie oder die langsame Abkehr von der Säftepathologie

    Bilanz: Nicht entschiedene Abkehr vom alten System

    (im Sinne einer Revolution).

    Änderung des „ärztlichen Blickes“

    Leit-Frage des Arztes unter dem Einfluß der

    pathologischen Anatomie nicht mehr „Was haben

    Sie?“, sondern „Wo tut es ihnen weh?“ (Foucault,

    Die Geburt der Klinik, S. 16).

    Der Patient? Der Blick auf das Leiden? Der Umgang

    mit dem Leiden?

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    Noch 18. Jhr.: Diagnostik

    1761: Perkussion - Prüfung der Thoraxresonanz

    Leopold Auenbrugger, Wien: „Inventum novum“

    Vater Gastwirt! Fässerbeklopfung!

    Außenseiter, Schrift wenig rezipiert.

    Erfolg erst nach „Wiederentdeckung“ durch Jean

    Nicolas Corvisart, Leibarzt Napoleons

    Corvisart übersetzte die Schrift Auenbruggers 1808

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    Übergang ins 19. Jahrhundert

    Théophile René Hyacinthe Laennec

    (gesprochen LA ENNEC)

    1819: De l‘auscultation médiate (mittelbareBehorchung)

    Untersuchung einer dicken Patientin: Papierheftzusammengerollt, um Herzschläge zu hören

    Erfindung: Stethoskop (Brust-Späher)

    Zunächst: Holzzylinder

    Auskultation und Autopsie: Bronchiektasen,Bronchopneumonie ...

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    19. Jahrhundert

    *Physiologie: Lösung von der spekulativen

    Naturphilosophie;

    experimentelle Physiol. (z.B. Sinnesphysiol.;

    Reflexphysiol.)

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    19. Jahrhundert

    Claude Bernard (1813-1878), Physiologe

    1865: „Introduction à la médecine experiméntale“

    Experiment, Fakten, Kausalität!

    Krankenhaus Vorhalle; physiol. Labor = sanctuaire

    (Heiligtum)

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    Hygiene

    Was war „die“ Krankheit der ersten Hälfte

    des 19. Jahrhunderts?

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    Hygiene

    1831 aus Rußland nach Deutschland

    32.000 Tote in Preußen

    Brechdurchfall

    Weiter nach Frankreich, England

    Verseuchtes Wasser! Armenkrankheit!

    Erregernachweis erst 1883

    = CHOLERA

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    Hygiene (wissenschaftliche)

    England, sanitary movement: Krankheit und soziale Lage.

    Getragen von Ärzten und Laien

    1842: Rechtsanwalt Edwin Chadwick –Report on the sanitary conditions of the labouring classes of GB

    1848: „Public Health Act“

    Signum der „Sanitär-Bewegung“: WC

    Deutschland: Max von Pettenkofer (München)

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    Hygiene (wissenschaftliche)

    Pettenkofer: 1865 Hyg.-Lehrstuhl; 1879 Hyg.-

    Institut in München

    „Bodentheorie“ der Epidemie:

    Ursachenbündel Keime, feuchter Boden, toxische

    Substanz aus Keimen nach Kontakt mit Boden

    Prävention: Reinhaltung, v.a. von Wasser

    (Trinkwasser); Kanalisation!

    Auseinandersetzung mit Robert Koch nach

    Entdeckung Cholerabazillus 1883

    Selbstversuch Pettenkofer 1892 (z.Z. der Cholera in

    Hamburg)

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    Hygiene (wissenschaftliche)

    Pettenkofer:

    Stadtassanierung (bessere Trinkwasser-

    versorgung, Kanalisation).

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    Mikrobiologie

    Louis Pasteur: Chemiker

    Gärungsversuche (um 1860): G. kein chem. Vorgang, sondern Resultat von Mikroorganismen (Mikroben)

    Pasteurisieren: Abtötung von Mikroorganismen durch Hitze (z.B. bei „Krankheiten“ des Weines)

    Greift auf Jenners Prinzip der Vakzination (Jenner 1796, Kuhpockenimpfung) zurück und entwickelt Impfstoffe aus „abgeschwächten“ Mikroben (1880 Hühnercholera, 1885 Tollwut)

    Beginn Tollwutimpfung ethisch nicht unproblematisch (Buch von Geison)

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    Folgen von Pasteurs Beobachtungen

    Pasteur: Fäulnis hat etwas mit Mikroorganismen zutun, die sich auch in der Luft finden:

    1. ANTISEPSIS, propagiert von Joseph LISTER,engl. Chirurg, 1867: Aufsatz über Wundeiterung

    Ziel zunächst: Fernhalten der mit Keimenangereicherten schlechten Luft durchKarbolsäureverband von Wunde;

    dann: Entfernung von Keimen aus der Luft im OP-Feld durch Karbolsäurespray.

    Damit Übergang zur Asepsis (möglichst keimfreieBehandlung).

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    Folgen von Pasteurs Beobachtungen

    ASEPSIS (möglichst keimfreie Behandlung), z.B. seit

    *1873: Wäschedesinfektion mit Heißluft

    *1882: Dampfsterilisation auch für Verbandszeug;

    *1884/85: neue „aseptische“ OP-Räume

    *1890 sterilisierte Gummihandschuhe für OP-Personal; wenigspäter auch für Chirurgen (William Stewart Halsted;Baltimore)

    *1897 Mundschutz

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    Exkurs: Narkose

    1842: Arzt Crawford Long (USA) entfernt Halszysteunter Äthernarkose (nicht publiziert)

    1844: Zahnarzt Horace Wells (USA) setzt Lachgasbei Extraktionen ein

    1846: Befreund. Zahnarzt William Morton (Boston)demonstriert öffentlich Äthernarkose bei Halstumor-OP (Glaskugel mit Ätherschwämmen; Mundstück )

    1847: Erste Chloroformnarkose (Simpson);

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    Zurück zur Bakteriologie

    Robert Koch, zunächst Landarzt Wollstein, dann

    Kaiserl. Gesundheitsamt Berlin:

    1876: Nachw. u. Zücht. von Bacill. anthracis (Kühe)

    1882: Welchen Erreger hat Koch noch entdeckt?

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    Bakteriologie

    Koch:

    1882: Mycobacterium tuberculosis

    1883: Vibrio cholerae

    „Kochsche“ Postulate (Loeffler): Erreger muß

    *nachweisbar sein (Mikrosk.);

    *anzüchtbar sein (Kultur);

    *überimpfbar sein (auf Tier; erneuter Nachweis!)

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    Bakteriologie

    Koch 1890 Tuberkulin-Impfung; Euphorie und

    Kater

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    20. Jahrhundert

    „Signatur“ Diagnostik

    z.B. Röntgen (1895; Physiker Röntgen)

    z.B. EKG (1895/1903; Willem Einthoven)

    z.B. EEG (publiz. 1929; Hans Berger)

    z.B. Ultraschall (Sonographie ab 40er/50er

    Jahre)

    z.B. CT (1973)

    Z.B. MRT (1982)

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    20. Jahrhundert

    „Signatur“

    Intensivmedizin/Notfallmedizin:

    1930er Jahre: Stationen für

    Frischoperierte

    1947ff.: Beatmungsstat. (Eiserne Lunge;

    1929 erfunden) bei Polioepidemien

    1952ff.: Langzeitbeatmung

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    20. Jahrhundert

    Entscheidender Schritt hin zur Langzeitbeatmung:

    1952 Polioepidemie Kopenhagen, Eiserne Lungen etc. reichen nicht

    Anästhesist entwickelt neues Konzept, er will Kind nach Tracheotomie intubieren und mit Beutel beatmen

    Beatmung (aufgrund von Bronchospasmen) nicht möglich

    Anästhesist gibt Barbiturat, Kind „entspannt“

    Man stellt fest: Beutelbeatmung über Tracheostoma auch über längere Zeit möglich

    Problem: Aufwand (Schicht-Beatmung 24 h)

    Lösung: Maschinelle Respiratoren statt Helfer

    1957: Papst-Antwort zur Ethik der Langzeitbeatmung und zum Behandlungsabbruch

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    20. Jahrhundert

    REANIMATION/Wiederbelebung:

    1957: Elektrische Defibrillation (Herzstillstand)

    1957-59: Mund-zu-Mund-Beatmung (statt manuell)

    1960: Extrathorakale Herzmassage (USA)

    Notfallmedizin/Intensivmedizin ff.

    1960er Jahre: Herzschrittmacher, Akzeptanz der

    Blutersatzinfusion (Schock); Blutwäsche ...

    Sondenernährung (schon seit dem 19. Jhr.)

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    20. Jahrhundert

    Therapeutische „Signatur“ (Beispiele):

    *Chemotherapie (Paul Ehrlich: spezif. Affinität chem.

    Substanzen zu lebenden Organismen ---1909: Salvarsan =

    Arsenpräparat gegen Syphilis)

    *Antibiotika (Fleming entdeckt 1928 Penicillin; publiziert 1929)

    *Antipsychotika (Neuroleptika: 1952 Chlorpromazin)

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    20. Jahrhundert

    Gefahr:

    „Wir [die Ärzte] erlernten die Zusammensetzung des

    menschlichen Körpers aus Geweben, die der Gewebe aus

    chemischen Substanzen. Wir lernten, daß all dieses bei

    Krankheiten sich ändert [...]. Wir können jetzt urteilen: dieses

    ist krank. – Aber der Kranke kann sagen: ich bin krank. Kann

    eine Zelle ‚ich‘ sagen? [...] Wir lernten nur von Dingen, die

    ‚etwas‘ sind, wir lernten nichts von Dingen, die ‚jemand‘ sind.

    Aber die Sprechstunde beginnt damit, daß jemand sagt: ich bin

    krank, und wir wundern uns, daß wir nicht sogleich ratlos

    werden, da wir davon nichts gelernt haben; [...]“

    Viktor von Weizsäcker, „Der Arzt und der Kranke“ (1926)