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  • Zur Sache, Schätzchen

  • Lisa Wawrzyniak&

    Reinhold Keiner

    Zur Sache, SchätzchenInhaltsanalyse eines ‚Jungen Deutschen Films’

    MEDIA Net-EditionKassel

  • Produktion: 2011 MEDIA Net-Edition, KasselCopyright © 2011 by MEDIA Net-Kassel

    www.medianet-edition.dePrinted in Germany 2011

    Umschlagfoto: © Peter SchamoniUmschlagestaltung/Satz: Silke Rappelt, KasselDruck und Bindung: CPI buchbücher.de gmbh

    ISBN: 978-3-939988-02-1

    AdministratorTextfeldISBN: 978-3-939988-11-3

  • Inhalt

    Vorwort

    Das ‚Oberhausener Manifest’ und der ‚Junge Deutsche Film’

    Die ‚Neue Münchner Gruppe’

    Zur Entstehungsgeschichte von ‚Zur Sache, Schätzchen’

    Der InhaltProduktionsangabenSequenzplanAnmerkungen zur InszenierungAnalyse der Filmfi guren Martin Henry Barbara Anita Die Polizisten Victor Block Bruno, Muller und ein VoyeurBerufe der Filmfi gurenMilieus der FilmhandlungNormen, Regeln, Werte und MoralvorstellungenSozialbeziehungenDie Sprache der Hauptfi gur Martin – Schwabinger Szenesprache wird sprachliches AllgemeingutZur damaligen Wirkung des FilmsSchlussbetrachtungAnmerkungenAuswahlbibliografi e

    1. Bücher2. Aufsätze, Zeitschriften- und Zeitungsartikel3. Internet4. Sonstiges5. Medien

    Biografi sche Skizze: Werner Enke – die Jahre bis 1968

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  • Wieso ‚Gafl er’? Ein Gespräch mit Peter Schamoni,6. Oktober 2005, München

    ‚Für mich war diese Produktion eine höchst ungewöhnliche Art der Arbeit!’ Ein Gespräch mit Klaus König,24. November 2010, München

    Drehbuch ‚Zur Sache, Schätzchen’(protokollarische Fassung, redigiert von Klaus Eder)

    Bildnachweis

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  • Vorwort

    1967 – ein ereignisreiches Jahr, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Im Januar wurde in Berlin/West die so genannte Kommune 1 gegründet, die sich als eine in das Alltagsleben umgesetzte Form der ‚Außerparlamentarischen Opposition’ verstand. Im Februar erhielt der bisher erfolgreichste deutsche Schlagersänger, Freddy Quinn, seine zehnte Goldene Schall-platte, ebenfalls in Berlin/West, während sich in Bonn, der Hauptstadt der Bundesrepublik, Vertreter von Arbeitnehmer- und Unternehmerverbänden auf Initiative des Bundeswirt-schaftsministers Karl Schiller zu informellen Gesprächen über eine ‚Konzertierte Aktion’ trafen, mit der die wirtschaftliche Rezession bekämpft werden sollte. Im März erhob die Aachener Staatsanwaltschaft Anklage gegen Angestellte des Herstellers des Schlafmittels ‚Contergan’, welches bei Einnahme durch Schwangere häufi g zu Missbildungen bei Neu-geborenen geführt hatte – außerdem wurde der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt als Nachfolger des im Februar verstorbenen Fritz Erler zum neuen Vorsitzenden der SPD-Bun-destagsfraktion gewählt. Im April wurden im früheren Salzbergwerk Asse im Landkreis Wol-fenbüttel zum ersten Mal in der Bundesrepublik radioaktive Abfälle ‚entsorgt’, im Alter von 91 Jahren starb Altbundeskanzler Konrad Adenauer. Im Mai wurde auf dem Bundesparteitag der CDU Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zum Vorsitzenden und der ehemalige Wirt-schaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard zum Ehrenvorsitzenden gewählt, Ende des Monats kamen der persische Schah Mohammad Reza Pahlavi und seine Frau Farah Diba zu einem Besuch in die Bundesrepublik und nach Berlin/West. Im Juni starb in Berlin/West im Verlaufe einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien der Student Ben-no Ohnesorg, erschossen von einem Polizisten, außerdem begannen im Münchner Stadtteil Schwabing die Dreharbeiten für einen Film mit dem Arbeitstitel ‚Die Gafl er’.

    Aus ‚Die Gafl er’ wurde im Laufe der Dreharbeiten der spätere Filmtitel ‚Zur Sache, Schätz-chen’ – es war der erste Spielfi lm der Regisseurin May Spils und ein Film, der wie kein anderer in dieser Zeit das Kinopublikum begeisterte und nachhaltige Auswirkungen auf das damali-ge Lebensgefühl – vor allem der jungen Generation – hatte. ‚Zur Sache, Schätzchen’ wurde 1968, nach seiner Uraufführung Anfang Januar, nicht nur der Überraschungserfolg an den Kinokassen, er wird heute als ‚Der Kultfi lm der 68ziger – der 68ziger Kultfi lm’ etikettiert.

    Im kulturellen Bereich entstanden in diesem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Westdeutsch-land viele neue Bewegungen und gerade der Film wurde durch das so genannte Oberhause-ner Manifest vollkommen neu defi niert. Ausgangspunkt dieser fi lmischen Erneuerung war die Stadt München, wo viele der Vertreter des ‚Oberhausener Manifests’ wohnten und ar-beiteten, ebenso wie die Regisseure der ‚Neue(n) Münchner Gruppe’, die bereits wieder eine neue, jüngere Generation von Filmemachern repräsentierten. Zu dieser Generation – und zur ‚Neue(n) Münchner Gruppe’ – gehörte auch die Filmemacherin May Spils, die ihren Wohnort, den Münchner Stadtteil Schwabing, auch zum vorrangigen Drehort ihres ersten Spielfi lms machte.

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  • Fast 40 Jahre nach den Dreharbeiten beschäftigte sich die Studentin Lisa Wawrzyniak in einer wissenschaftliche Arbeit am ‚Institut für Germanistik’ der ‚Justus-Liebig-Universität Gießen’ mit den Zeitgeist-Spiegelungen und Zeitgeist-Anregungen dieses Films – im Rah-men einer qualitativen Inhaltsanalyse dieses ‚Jungen Deutschen Films’. Nach einer ‚Analyse der Filmfi guren’, der Behandlung der ‚Berufe der Filmfi guren’ und einer Beschreibung der ‚Milieus der Filmhandlung’ refl ektierte die Arbeit u. a. auch über ‚Normen, Regeln und Moralvorstellungen’ und die dargestellten ‚Sozialbeziehungen’. Ein essenzieller Bestandteil der Arbeit war der Sequenzplan, anhand dessen sich viele Äußerungen und getroffene Fest-stellungen detailliert nachprüfen ließen. Zugleich gab der Sequenzplan den Inhalt des Films wieder. Die verwendete Sprache in ‚Zur Sache, Schätzchen’, konkret die seiner Hauptfi gur, wurde in einem eigenen Kapitel thematisiert, da viele der benutzten Wörter und Sätze in den allgemeinen Sprachschatz vorwiegend der jungen Generation eingingen.

    Die wissenschaftliche Arbeit wurde die Grundlage dieses Buches, gemeinsam überarbeitet und ergänzt durch Lisa Wawrzyniak und Reinhold Keiner. Die Arbeit am ‚Schätzchen’-Buch wurde so ein Zwei-Generationen-Projekt, trafen sich doch hier nicht nur Tochter und Vater, sondern auch ein ‚hartnäckiger’ Vertreter der ewig verspäteten ‚Generation Z’ 1 und eine Vertreterin der – allerdings hier westdeutschen – ‚Generation 89’, die ihre entscheidenden Sozialisations- und Bildungserfahrungen nach dem Zusammenschluss der bis 1989 getrennt existierenden deutschen Staaten machte.

    Schlichen die älteren Angehörigen der ‚Generation Z’, auch ‚Zaungäste’ genannt, in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vorrangig in die Kinos, um sich in den ‚Schulmädchenre-ports’ und den so genannten Aufklärungsfi lmen neueste Informationen über den soziokultu-rellen Stand der Dinge einzuholen, entsprach ein Film wie ‚Zur Sache, Schätzchen’ eher dem gegen die Elterngeneration revoltierenden Grundgefühl der älteren Geschwister, kamen die Angehörigen der ‚Generation 89’ schon nicht mehr in den Genuss dieses Films, da er in den Kinos nicht mehr lief, schlichtweg mittlerweile fast völlig unbekannt war – und weitgehend immer noch ist, trotz gelegentlicher Ausstrahlung in den ‚Dritten Programmen’ der Öffent-lich-Rechtlichen Fernsehanstalten. Ein häufi g wiederkehrendes Déjà-vu-Erlebnis: Spricht man Angehörige der ‚Generation 89’ und auch jüngere Generationen auf diesen Film an, erhält man häufi g die Antwort, dass es sich doch wohl um einen ‚Softporno’ handele, wird cineastisch leichtsinnig von einem unter Marketing-Gesichtspunkten überaus erfolgreichen Titel auf den Inhalt des Films zurückgeschlossen.

    Rebellion und Autoritätskonfl ikt, die in ‚Zur Sache, Schätzchen’ eine wesentliche Rolle spie-len, sind für die auf die ‚Generation Z’ folgenden Generationen bereits Fremdwörter aus einem anderen Jahrhundert geworden – gehören Lebenserfahrungen mit gesellschaftlichen Brüchen, sozialen Konfl ikten und harten persönlichen Auseinandersetzungen für diese Generation nicht mehr zum wesentlichen ‚Schmierstoff’ der eigenen biografi schen Ent-wicklung. Die Vertreter der ‚Generation Z’ schauen dagegen eher mit verklärten Blicken auf

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  • einen Film, der eine Sehnsucht nach einer persönlichen Freiheit postulierte, die so wohl nur Mitte der 1960er Jahre darstellbar und forderbar war, während sie selbst bereits einige Jahre später schon auf dem Rückzug in die ‚Neue Innerlichkeit’ endloser beziehungstheoretischer Selbstanalysen waren.

    Zur besseren Schilderung des damaligen Zeitgefühls – hier konkret: in München-Schwa-bing – und der ergänzenden Darstellung der Hintergründe der Entstehung des Films befi ndet sich im Anhang des Buches ein Interview mit dem Produzenten von ‚Zur Sache, Schätzchen’, Peter Schamoni. Sein Hauptdarsteller und Mit-Drehbuchautor, Werner Enke, erhielt ein eigenes Kapitel, eine so genannte Biografi sche Skizze, die im Wesentlichen auf einem Interview beruht, das, wie auch das Peter Schamoni-Interview, digital aufgezeichnet, anschließend transkribiert und bearbeitet wurde.

    Im Anhang abgedruckt ist auch eine protokollarische Drehbuchfassung des Films, die zum ersten Mal 1968 in einer Ausgabe der Zeitschrift ‚Film’ abgedruckt wurde, redigiert von dem in München lebenden Filmjournalisten Klaus Eder.

    Die Zitate und die protokollarische Drehbuchfassung wurden in moderater Weise der aktuel-len deutschen Rechtschreibung angepasst. Die Jahreszahl bei der Erwähnung von Filmtiteln bezieht sich immer auf das Datum der Uraufführung des jeweiligen Films.

    Das Buch wäre ohne die engagierte Mitarbeit von Werner Enke und des Produzenten Peter Schamoni in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen. Ihnen gilt unser besonderer Dank sowie Frau Uschi Rühle vom ‚Deutschen Filminstitut – DIF’ in Frankfurt am Main für Hilfestellung bei der Zusammenstellung der Auswahlbibliografi e. Cornelius Lemke kümmer-te sich um die korrekte technische Abwicklung für die digitale Aufzeichnung der Interviews. Bernd Brehmer vom Münchner ‚Werkstattkino’ begab sich – erfolgreich – auf ‚Ausgrabungs-arbeiten’ nach einem Handzettel für die Filmreihe ‚Frühling in München’ aus dem Jahr 1998. Gert Bühringer vom SWR erinnerte sich in einem Telefonat mit einem Schmunzeln an die Dreharbeiten eines von ihm 1989 realisierten Fernseh-Porträts über Werner Enke; eine Ko-pie der Sendung stellte er freundlicherweise auf einer DVD zur Verfügung. Klaus Eder gab dankenswerterweise sein Einverständnis zum erneuten Abdruck seiner protokollarischen Drehbuchfassung aus dem Jahr 1968. Dr. Udo Engbring-Romang las die verschiedenen Ent-würfe der Arbeit und brachte sich mit vielen Anregungen in das Projekt ein. Silke Rappelt übernahm Umschlaggestaltung und Satzarbeit, wie immer kreativ, akribisch und engagiert!

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  • Faksimile des ,Oberhausener Manifests‘

  • Das ‚Oberhausener Manifest’ und der ‚Junge Deutsche Film’

    ‚Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.’ So endet das so genannte Oberhausener Manifest, das am 28. Februar 1962 26 Literaten, Künstler und Kurzfi lmregisseure während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfi lmtage Oberhausen’ unterzeichneten – unter ihnen Rob Houwer, Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Haro Senft, Franz-Josef Spieker, Hans Rolf Strobel, Heinz Tichawsky und Herbert Vesely 1:

    Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfi lm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten, Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinfl ussung durch kommer-zielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen.2

    Das ‚Oberhausener Manifest’ proklamierte revolutionär-ideologische Vorstellungen vom neuen Kino. Ein ‚neuer’ deutscher Film wurde ausgerufen.

    Im deutschen Film nach 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, gab es keinen forma-len und inhaltlichen Neuanfang. Das Ensemble, das schon den nationalsozialistischen Film gestaltet hatte, von den Darstellern über die Regie bis zum technischen und künstlerischen Personal, fand sich weitgehend – fast eins zu eins – im westdeutschen Nachkriegsfi lm wieder. Auf der Leinwand dominierte, von einigen so genannten Trümmerfi lmen vor 1950 abgese-hen, die leichte Unterhaltung. Von den durchaus vorhandenen gesellschaftlichen Auseinan-dersetzungen in den Aufbaujahren nach dem Krieg war im westdeutschen Nachkriegsfi lm – bis auf wenige Ausnahmen – kaum etwas zu sehen. Die Kinofi lme der Adenauer-Ära und (Post-)Adenauer-Ära waren abgewandt von den Konfl ikten einer sich entwickelnden moder-nen Gesellschaft.

    ‚Einheitsware’ beherrschte den deutschen Filmmarkt: Heimatfi lme, Schlagerfi lme, Lust-spiele, Kriminal- und Abenteuerfi lme dominierten auf der Kinoleinwand. Am kommerziell erfolgreichsten wurden, in den 1960er Jahren, Filmserien nach literarischen Vorlagen der Autoren Edgar Wallace und Karl May. Die Filmserien setzten dem doch eher grauen Alltag der 1950er- und 1960er Jahre reichlich Exotik und Fremdheit gegenüber und wurden so zum fi lmischen Spiegel einer verunsicherten Gesellschaft. ‚Deutsche Helden’ sah man nun häufi g als so genannte Westmänner im amerikanischen ‚Wilden Westen’ oder als Mitarbeiter der legendären Londoner Polizei Scotland Yard agieren. Das Kinopublikum dieser Zeit fl üchtete in die Sicherheit einer festgefügten fi lmischen Welt, in die reine Unterhaltung.3

    Neben den Aspekten Exotik und Fremdheit tauchte in den Filmen der Zeit ein weiteres Phä-nomen auf: Fernweh. Zahlreiche Filme boten dem Zuschauer die Möglichkeit, einer Heimat zu entfl iehen, die ihm klein und provinziell erschien und die mit einer längst noch nicht

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  • verarbeiteten Vergangenheit zu kämpfen hatte. Schiffe, Flughäfen und Bahnhöfe wurden zu beliebten fi lmischen Locations und die große weite Welt den daheimgebliebenen Filmzu-schauern in schönen Postkartenbildern gezeigt. Dabei wurde jedoch vor keinem nationalen Stereotyp zurückgeschreckt und in der ‚fi lmischen’ Ferne meldete sich immer wieder die Sehnsucht nach der verlassenen Heimat.4

    Nur wenige Filmproduktionen dieser Zeit thematisierten kritisch die jüngste deutsche Ver-gangenheit, den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen. Filme wie ‚Es geschah am 20. Juli’ (1955) von G. W. Pabst, der das fehlgeschlagene Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 behandelte, ebenso wie der zeitlich parallel gedrehte Falk Harnack-Film ‚Der 20. Juli’ (1955), oder ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959) von Wolfgang Staudte, ein Film über die per-sonelle Kontinuität vom Nationalsozialismus in das vermeintlich ‚entnazifi zierte’ Deutsch-land‚ fanden zwar Zuschauer, blieben thematisch aber eher die Ausnahme. Das Genre des deutschen Kriegsfi lms erlebte Ende der 1950er Jahre seinen Höhepunkt mit der Produktion ‚Hunde, wollt ihr ewig leben’ (1959).

    Die Mehrheit der bundesrepublikanischen Zuschauer erfreute sich an Heimatfi lmen wie ‚Schwarzwaldmädel’ (1950), der ersten deutschen Farbproduktion nach dem Zweiten Welt-krieg und der ‚Klassiker’ der Heimatfi lmwelle der 1950er Jahre, oder an ‚Grün ist die Heide’ der ‚Klassiker’ der Heimatfi lmwelle der 1950er Jahre, oder an ‚Grün ist die Heide’ der(1951), dem größten Filmerfolg der Kinosaison 1951/52. Beide Filme drehte der Regisseur Hans Deppe; die Hauptdarsteller Sonja Ziemann und Rudolf Prack wurden ein weiteres Traumpaar des Kinos der Adenauer-Ära, neben z. B. Maria Schell und O. W. Fischer sowie Ruth Leuwerik und Dieter Borsche. Manfred Barthel, der über drei Jahrzehnte den deutschen Nachkriegsfi lm als Filmkritiker, Dramaturg und Produktionschef beim Gloria- und Con-stantin-Filmverleih begleitete, über diese Zeit:

    Für die nächsten Jahre hieß das Rezept für Kassenerfolge: ‚Das Vaterland ist tot, es lebe die Heimat. Vergesst das Volkstum - seid volkstümlich.’ Um es im Branchen-Jargon der damaligen Zeit zu sagen: Es wurden Hei-matfi lme gedreht, dass die Heide wackelte. […] Die dramaturgische Ausbeute der Volkslieder-Sentimentalität war nicht nur ein Treffer ins deutsche Kinogänger-Gemüt, sondern mit ihr war auch ein Themenkreis gefunden worden, in dem die deutsche Filmproduktion konkurrenzlos war. Heimatfi lme waren das einzige, was der deutsche Film der ungebremsten Flut ausländischer Filme entgegensetzen konnte, ohne einen Qualitäts-Ver-gleich riskieren zu müssen, denn dergleichen hatte das Ausland nicht zu bieten.5

    Der größte Skandal des deutschen Nachkriegsfi lms wurde der von Willi Forst inszenierte Film ‚Die Sünderin’ (1950) – aufgrund einer kurzen Nacktszene der Schauspielerin Hildegard Knef und der fi lmischen Thematisierung von Prostitution und Selbstmord. Rolf Thieles Film ‚Das Mädchen Rosemarie’ (1958), in dessen Mittelpunkt eine Prostituierte stand und ein wei-terer Skandalfi lm der Wirtschaftswunderzeit, war dagegen eher ein plakativer Bilderbogen über den Aufstieg und Fall einer Lebedame, ein satirischer Politthriller ohne kritische Aus-sage, und, so eine zeitgenössische Kritik, „statt Einsichten zu vermitteln, kapriziert sich der

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  • Film darauf, sein Publikum das Gruseln zu lehren. […] Alles in allem: ein Film, der die herr-schenden Tabus nicht bricht, sondern sie befestigt, indem er um sie herumredet als gäbe es sie nicht.“ 6 Internationales Renommee erreichte nur der 1959 uraufgeführte Antikriegsfi lm ‚Die Brücke’, realisiert von dem Schauspieler und Regisseur Bernhard Wicki. ‚Die Brücke’ wurde mehrfach ausgezeichnet und auch 1960 für den ‚Oscar’ nominiert, in der Kategorie ‚Bester ausländischer Film’.

    Mitte der 1950er Jahre erreichten die Film-Produktions- und Kino-Besucherzahlen ihren Höhepunkt. 1955 wurden 128 Spielfi lme produziert, elf Jahre später, 1966, nur noch 60. Während man 1956 noch 817,5 Millionen Kinobesucher pro Jahr zählte, waren es 1967 nur noch 243 Millionen. Ein Grund für die stark absinkenden Zuschauerzahlen war, dass die Kinobesucher immer jünger wurden. Die Altersgruppe, die 1961 regelmäßig ins Kino ging, waren die 16- bis 29-Jährigen, von diesen wiederum am häufi gsten die 16- bis 24-Jährigen. Die ältere Generation, die in den 1950er Jahren noch das Gros der Kinobesucher gestellt hatte, entdeckte das so viel bequemere neue Massenmedium Fernsehen für sich. Immer mehr Kinos mussten ihren Geschäftsbetrieb aufgeben: 1960 gab es noch 6.950 ortsfeste Filmthea-ter, 1969 nur noch 3.739.7

    Der wirtschaftliche Niedergang im westdeutschen Film beschleunigte sich auch durch die Schließung von bis dahin erfolgreichen Filmproduktionsfi rmen: So stellte 1961 die Göttinger ‚Filmaufbau’, die von 1949 bis 1961 rund 100 Filme hergestellt hatte, darunter auch etliche künstlerisch anspruchsvolle Filme wie zum Beispiel ‚Liebe 47’ (1949), ‚Königliche Hoheit’ (1953), ‚Wir Wunderkinder’ (1958), ‚Buddenbrooks’ (1959), ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959), ihren Produktionsbetrieb ein; die beiden größten westdeutschen Produktionsfi rmen, die ‚Ufa’ und die ‚Deutsche Film Hansa’, vereinigten sich zwar zur ‚Ufa-Film-Hansa’, auf-grund großer fi nanzieller Verluste brach diese neue Produktionsgemeinschaft aber schon im Januar 1962 wieder zusammen. Der deutsche Marktanteil im Kinogeschäft sank auf 28,5 %.

    Auch international konnte der deutsche Film kaum reüssieren; so wurden zum Beispiel alle fünf von der Bundesrepublik Deutschland für die ‚Biennale’ 1961, die ‚22. Internationalen Filmfestspiele Venedig’, angebotenen Filme von der venezianischen Auswahlkommission ab-gelehnt – ein ‚Schicksal’, das die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr allerdings mit Schweden, Spanien und Argentinien teilte.

    Das Verblassen des in den 1950er Jahren durchaus vorhandenen Starkultes, das immer mehr absinkende künstlerische Niveau der Filme, das Ausbleiben großer ‚künstlerisch wertvoller’ Filme und das Vorherrschen anspruchsloser Konfektionsware von Serienfi lmen ließen die deutsche Filmwirtschaft in eine tiefe wirtschaftliche und künstlerische Krise schlittern. Für die neue, junge Generation der Kinogänger fehlten – in der Bundesrepublik Deutsch-land – am Anfang der 1960er Jahre die Identifi kationsangebote, sowohl an Stars als auch an zeitgemäßen Inhalten.

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  • Während selbst einige bundesdeutsche Politiker den deutschen Filmproduktionen inhaltli-che und formale Einfallslosigkeit bescheinigten, gab es – teilweise bereits seit den 1950er Jahren – im europäischen und außereuropäischen Ausland künstlerisch einen Aufschwung oder eine Neuorientierung. Es entstanden neue Filmbewegungen wie die ‚Nouvelle Vague’ in Frankreich und das ‚Free Cinema’ in Großbritannien. Auch in Polen und der Tschechoslowa-kei realisierten junge Regisseure ihre ersten abendfüllenden Spielfi lme. In Brasilien formierte sich in den späten 1950er Jahren das ‚Cinema Novo’ und in den USA entstand das ‚New American Cinema’. Dies war aber keine einheitliche Bewegung.

    So fühlte sich das ‚Free Cinema’ in Großbritannien britischen Traditionen verpfl ichtet, z. B. dem Dokumentaristen Humphrey Jennings, und der italienische Film knüpfte an den Neo-realismus und sein Hauptthema an, die Verbundenheit des Menschen mit seinem sozialen Milieu und mit der Natur. Die französische ‚Nouvelle Vague’ betonte die Autonomie des Autors bei der Herstellung (s)eines Films, während die Bewegung an der amerikanischen Ostküste deutlicher als alle anderen mit bestehenden Traditionen brach und folgerichtig auch immer eine ‚oppositionelle Schule’ blieb, außerhalb des Systems der amerikanischen Film-wirtschaft.8

    Die meisten in Deutschland lebenden Filmschaffenden nahmen die neuen europäischen und außereuropäischen Filmbewegungen zunächst kaum wahr, schotteten sich gegenüber inhaltlichen und formalen Impulsen ab, entzogen sich den kreativen Tendenzen der ‚fi lmischen Gegenwart’, möglicherweise, weil sie sich nicht mehr zutrauten, diese zeitgemäß verarbeiten zu können.9 Zudem war die etablierte, aber wirtschaftlich kränkelnde deutsche Filmindustrie an einer inhaltlichen und formalen Erneuerung des deutschen Films nicht interessiert. Vielleicht fürchtete sie die Konkurrenz durch neue Produktionsformen und eine weitere Schwächung der eigenen Marktmacht.

    Die Gruppe, die während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfi lmtage Oberhausen’ 1962 das ‚Oberhausener Manifest’ deklarierte, bildete sich im Wesentlichen in München. Alle Regis-seure waren in München wohnhaft oder eng mit der Stadt verbunden. Sie gehörten derselben Generation an, waren alle um die 30 Jahre alt, kannten sich untereinander sehr gut und arbei-teten bei ihren fi lmischen Projekten oft in wechselnden Teams zusammen – sie bevorzugten sogar häufi g die gleichen Drehorte. Dieser enge Kontakt schuf ein Gruppendenken, das im ‚Oberhausener Manifest’ seinen ersten kulturpolitischen Ausdruck fand.10

    Die ‚Münchner Gruppe’, auch ‚Münchner Schule’ genannt, lebte und traf sich hauptsäch-lich im Stadtteil Schwabing. Dieser Gruppe war ein kleinerer personeller Zusammen-schluss vorausgegangen, die von Haro Senft und Ferdinand Khittl 1959 initiierte Gruppe ‚Doc 59 – Gruppe für Filmgestaltung’. Ziel der Gruppe, deren Mitglieder vorwiegend im Bereich Kurz- und Dokumentarfi lm erfolgreich tätig waren, war die Bemühung, fi lmkünstle-rische Bestrebungen aktiv zu fördern, das allgemeine Interesse am kulturell wertvollen Film

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  • zu beleben und dies in der Öffentlichkeit zu propagieren und zu vertreten. Ein erster Schritt zu einer akademi-schen Filmausbildung wurde durch einen Lehrvertrag der Gruppenmitglieder Ferdinand Khittl, Raimond Rühl, Fritz Schwennicke, Franz Josef Spieker und Haro Senft mit der ‚Hochschule für Gestaltung’ in Ulm im Oktober 1961 eingeleitet.11 Viele spätere ‚Oberhausener’, wie auch die beiden Gründungsmitglieder Senft und Khittl, gehörten der ‚Gruppe für Filmgestaltung’ an.

    Erste fi lmische Erfahrungen sammelten die jungen Filmemacher im Kurzfi lm, der anfangs – besonders formal – durch starke Improvisation gekennzeichnet war. Auf Restmaterial, gedreht mit eigentlich bereits ausrangierten Kameras, wurden fi lmische Eindrücke festgehalten. Eine ’klassische’ Arbeitsteilung im Sinne eines Filmteams gab es nicht. Kurzfi lme waren die einzi-ge Möglichkeit, sich praktische Kenntnisse im Medium

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    Originalunterschriften ‚Oberhausener Manifest‘

    Film anzueignen. Der Filmjournalist Wilfried Berghahn 1963 über die ‚Münchner Gruppe’:

    Sie benutzen nicht nur die gleichen optischen Motive, sie bearbeiten sie nicht nur mit den gleichen fi lmischen Methoden, die im wesentlichen Montagetechniken sind (der Film entsteht am Schneidetisch!), sondern berufen sich auch auf dieselbe historische Situation. Es sind alles Filme über die Bundesrepublik. Sie sind es bewusst und in jedem Falle. Selbst wenn der Schauplatz der Aufnahmen einmal außerhalb der deutschen Grenze liegt, bleiben die bundesdeutschen Verhaltensnormen im Mittelpunkt des Interesses. […] Weder die deutsche Nachkriegsliteratur, noch das Theater, vom Spielfi lm ganz zu schweigen, bekennen sich so konsequent dazu, ein Kind der Bundesrepublik zu sein, wie der Münchener Kurz fi lm. Ohne die durch das Wirtschaftswunder geschaffenen sozialen und optischen Normen wäre er undenkbar.12

    Ihre ersten Kurzfi lme zeigte die ‚Münchner Gruppe’, die erst nach der Verkündigung des ‚Oberhausener Manifestes’ ‚Oberhausener Gruppe’ genannt wurde, auf den ‚Westdeutsche(n) Kurzfi lmtage(n) Oberhausen’ sowie auf der in Mannheim stattfi ndenden ,Kultur- und Do-kumentarfi lmwoche’, beim ,Internationalen Experimentalfi lm-Wettbewerb’ im belgischen Knokke und auf den Kurzfi lmtagen im französischen Tours.

    Mitglieder der Gruppe erhielten in Oberhausen Preise, so z. B. Alexander Kluge und Peter Schamoni 1961 den Hauptpreis für ihren 12 Minuten langen Kurz-Dokumentarfi lm ‚Brutali-tät in Stein’. Sie wurden vom Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen fi nanziell gefördert, andere Filme von Gruppenmitgliedern fanden die Anerkennung der internationa-len Kritik und bekamen zahlreiche Preise auf internationalen Festivals.

  • Aus fi nanziellen Gründen blieb es aber vorerst bei der Realisierung von Kurzfi lmen, da die staatliche Förderung noch nicht für die Produktion eines abendfüllenden Spiel-fi lms ausreichte. Die Chance, einen privaten Geldgeber zu fi nden, war gering. Das Risiko, einen Erstlingsfi lm eines weitgehend unbekannten Regisseurs zu fördern, schien vielen potenziellen Geldgebern zu groß.

    Die zentrale Motivation der ‚Münchner Gruppe’ für ihr Manifest war deshalb auch, durch ihren Zusammen-schluss als Gruppe bessere Chancen für die Förderung ihrer eigenen Filmprojekte, insbesondere ihrer geplanten Spielfi lmprojekte, zu bekommen.

    Der Zusammenschluss als Gruppe war aber auch eine Re-aktion auf die Tatsache, dass die jungen Filmemacher in der deutschen Filmindustrie dieser Jahre kaum berufl iche Chancen bekamen. Zwanzig Jahre nach dem Manifest äu-ßerte sich der Mitunterzeichner Edgar Reitz:

    Der Spielfi lm war ein unerreichbares Milieu, vollkommen verschlos-sen für Leute, die von außen kamen oder aus innerem Interesse versuchten, dort einzusteigen; eine hermetische, schicke Gesellschaft, noch aus Ufa-Zeiten stammend, an die man nicht herankam. Kurz-fi lm war improvisierbar, … , indem man sich da oder dort ein paar Meter Film besorgte, eine ausrangierte Kamera. Im Amerika-Haus (in München, d.V.) gab es einen Schneidetisch, den man nachts kos-tenlos benutzen konnte. Das waren unsere Produktionsmittel.13

    Zudem lehnten die ‚Münchner’ die Inhalte von ‚Papas Kino’ ab. Kritik an der Gesellschaft, Protest gegen das bestehende Gesellschaftssystem konnte man in ‚Papas Kino’ – bis auf wenige Ausnahmen – fi lmisch nicht for-mulieren.

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    Alexander Kluge

    Peter Schamoni

    Die Unterzeichner des Manifests importierten den von der französischen ‚Nouvelle Vague’ geprägten Slogan ‚Papas Kino ist tot’, der in Anlehnung an einen Ausspruch des franzö-sischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, ‚Papas Algerien ist tot’, die Überschrift einer Rezension von Jean-Louis Bory zu Alain Resnais Film ‚Letztes Jahr in Marienbad’ war: ‚Le cinema de papa est mort’.14 Auch die Übernahme dieses Slogans zeigt deutlich die Neigung der späteren ‚Oberhausener’ zur französischen ‚Nouvelle Vague’, die in Theorie und Praxis

  • den Autorenfi lm propagierte, wo der Filmemacher zugleich Autor, Regisseur und möglichst noch Produzent sein sollte.

    Der damalige Leiter der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfi lmtage Oberhausen’, Hilmar Hoff-mann, gab der ‚Münchner Gruppe’ die Möglichkeit, während der Kurzfi lmtage Ende Februar bis Anfang März 1962, am 28. Februar, eine Pressekonferenz abzuhalten, „[…] bei der das zuvor in München formulierte und auf blauem Karton gedruckte Manifest von Ferdinand Khittl verlesen wurde. Diese öffentliche Verkündung des Manifests, an die sich eine Diskus-sion anschloss, die Alexander Kluge leitete, gilt heute – etwas pathetisch vielleicht – als die ‚Geburtsstunde’ des ‚Neuen Deutschen Films’.“ 15

    Das ‚Oberhausener Manifest’ forderte Veränderungen auf zwei Ebenen. Einen in Inhalt und Stil neuen Film und Produktionsmöglichkeiten außerhalb des konventionellen deutschen Films, dessen künstlerischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch einer von den Unterzeichnern abgelehnten Geisteshaltung sozusagen den Boden entzogen hatte.16 Auf der Agenda der nunmehrigen ‚Oberhausener’, die auf der anschließenden Diskussion verkündet wurde, standen auch die Gründung einer zentralen Kinemathek und einer Filmhochschule in der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem boten die 26 Unterzeichner des Manifests an, mit Hilfe einer Stiftung ‚Junger deutscher Film’ und einer Starthilfe des Bundes in Höhe von fünf Millionen DM zehn Spielfi lme zu drehen.

    Zentraler Programmpunkt des Manifests war das Konzept des Autorenfi lms, bei dem der Filmemacher zugleich Autor, Regisseur und auch noch Produzent ist. Der Film wird aus der Erfahrung eines Autors oder auch eines Autorenkollektivs heraus hergestellt. Den Begriff des Autorenfi lms, den es eigentlich schon fast seit Bestehen des Films gibt, übernahmen die ‚Oberhausener’ vom ‚cinema des auteurs’ der französischen ‚Nouvelle Vague’. Der französi-sche Autorenfi lm bestand allerdings nicht so stark auf der Rolle des Autors als Produzent, was sicherlich auch mit den größeren cineastischen Vorlieben der ‚Nouvelle Vague’ für das Hollywood-Kino und den in Frankreich für Filmemacher besseren Produktionsbedingungen zusammenhing.

    Nur drei der Unterzeichner des Manifests hatten vorher bereits einen abendfüllendenSpielfi lm gedreht: Hansjürgen Pohland, Ferdinand Khittl und Herbert Vesely. Hans-jürgen Pohlands 1961 uraufgeführter Film ‚Tobby’, die Geschichte eines Jazzmusikers,der ein lukratives Angebot einer Konzertagentur als Schlagersänger ablehnt undlieber Jazzmusiker bleibt, war formal eine Mischung zwischen Spiel- und Dokumentarfi lm. Es gab weder professionelle Schauspieler, Kulissen, ein Studio oder ein Drehbuch. DerFilm fand keinen Verleih für die Kinoauswertung und blieb so der damaligen Öffentlich-keit weitgehend unbekannt. Bei der Produktion von Ferdinand Khittls Experimental-Spielfi lm ‚Parallelstraße’ (1962) waren gleich mehrere ‚Oberhausener’ beteiligt. Das Buch schrieb zum Beispiel Bodo Blüthner, Kameramann war Ronald Martini. Wie auch Pohlands

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  • ‚Tobby’ fand dieser Essayfi lm über das Leben, das Sterben, die Welt und die Zeit keinen Verleih.

    Lediglich die Heinrich Böll-Adaption ‚Das Brot der frühen Jahre’ (1962) von Herbert Vesely, an der auch vier ‚Oberhausener’ beteiligt waren, fand den Weg in die Kinos der Bundesrepu-blik Deutschland; zudem wurde die Herstellung des Films durch den Filmfond des Landes Nordrhein-Westfalen mit einer Prämie von 100.000 DM gefördert.17 Der Grund lag sicherlich darin, dass es sich um die Verfi lmung einer Erzählung des damals, neben Günter Grass, be-kanntesten deutschen Schriftstellers handelte. ‚Das Brot der frühen Jahre’ erhielt insgesamt fünf Bundesfi lmpreise, ‚Filmbänder in Gold’ für: ‚Zweiter Preis für einen abendfüllenden Spielfi lm’, ‚Beste Hauptdarstellerin’ (Vera Tschechowa), ‚Beste Kameraführung’ (Wolf Wirth), ‚Beste Filmmusik’ (Attila Zoller, Joachim E. Behrendt), ‚Bester Nachwuchsregisseur’ (Herbert Vesely).

    Trotz dieser Preise und seiner Nominierung für die Filmfestspiele in Cannes als deutscher Festivalbeitrag konnte ‚Das Brot der frühen Jahre’ die damalige deutsche Kritik nicht über-zeugen, zumal der Film weniger eine Adaption von Bölls Erzählung war, sondern mehr eine Meditation über sie, keine geradlinige Erzählung. Herbert Vesely schilderte vielmehr die Anatomie der Wandlung der Hauptfi gur – mit einem polyperspektivischen Erzählverfahren, bei dem Motive fallengelassen, wieder aufgenommen und variiert wurden. Persönliche Refl e-xionen wurden von abrupten Einbrüchen der Außenwelt unterbrochen.18

    Die Begrenzung auf neue stilistische Positionen war typisch für die ersten drei Spielfi lme der ‚Oberhausener’ und auch für die Kurzfi lme; die Neigung zum Dekorativen auffälligstes Mo-ment der jungen Filmemacher. Noch einmal der Filmjournalist Wilfried Berghahn 1963:

    Die spiegelnde Fassade eines Hochhauses oder einer Wohnmaschine blendet auf: viel Glas, matt schimmernde Metallrahmen der Fenster, helle Betonfl ächen. In den nächsten Bildern: Betonpfeiler schmal in den Himmel aufragend, auch langgestreckte, bildfüllende Raster aus Glas und Stein; Kuben, Flächen, ineinander geschach-telte Balkonwaben und wieder Glas. Unten ein einsamer Platz, leer, Betonplattenraster. Alles kühl, streng, kantig, aber auch schön, schön vor allem! 19

    Mit dem ‚Oberhausener Manifest’ brach im deutschen Film ein Generationenkonfl ikt offen aus; es bildeten sich klare Fronten zwischen Alt- und Jungfi lmern. Die jungen Filmemacher wollten keine ‚Vertreter’ von ‚Papas Kino’ mehr sein. Sie wollten ihre Sicht der gesellschaft-lichen Situation jener Zeit schildern und besonders den verharmlosenden und züchtigen Jugenddarstellungen aus dem Kino der 1950er Jahre etwas entgegenstellen.

    Die etablierten Filmemacher und die deutsche Filmwirtschaft reagierten auf das Manifest mit Ablehnung oder Spott, von ‚Bubis Kino’ war – im Gegenzug – die Rede! Die Forde-rungen wurden nicht ernst genommen, zumal auch noch keine konkreten Spielfi lmprojekte

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  • der ‚Oberhausener’ vorlagen und nur wenige der Unterzeichner detaillierte inhaltliche und formale Vorstellungen von ihrem ersten Spielfi lm hatten.

    Die Kritiker ignorierten, dass die ‚Oberhausener’ mit ihrem Manifest zuerst eine theoretische Einsicht in die Notwendigkeit einer Erneuerung des deutschen Films schaffen wollten. Die Produktionsbedingungen sollten dahingehend geändert werden, dass in der Bundesrepublik Deutschland zukünftig auch andere Filme neben den üblichen Heimat- oder Schlagerfi lmen, der Konfektionsware, den Serienfi lmen produziert werden konnten. In der Filmzeitschrift ‚Film-Telegramm’, die journalistisch eher ‚Papas Kino’ verbunden war, konnte man damals über die ‚Oberhausener’ folgende Einschätzung lesen:

    Sie nennen sich Produzenten, sind aber keine. Sie brauchen Männer, die sie als väterliche Partner unter die Fittiche nehmen. […] Wer behauptet, er könne eine ganze Serie von Filmen, denen er auch zutraut, dass sie in den Kinotheatern gewisse Chancen haben, für je fünfhunderttausend Mark herstellen, der ist entweder ein Mensch ohne jede kaufmännische oder praktische Erfahrung oder ein Schwindler.“ 20

    Das Manifest erweckte allerdings auch bei vielen am deutschen Film künstlerisch Interessier-ten große Hoffnungen. Besonders die Redakteure der Filmzeitschrift ‚Filmkritik’, die eben-falls größtenteils in München lebten und vom Alter her den jungen deutschen Filmemachern annähernd gleich waren, unterstützten von Anfang an die ‚Oberhausener’ in zahlreichen Artikeln vehement. Ihren kommenden Spielfi lmprojekten sahen sie mit großem Interesse entgegen.

    Noch im gleichen Jahr, im Oktober 1962, übernahmen drei Unterzeichner des Manifests, Alexander Kluge, Edgar Reitz und Detten Schleiermacher, die Leitung der neu gegründeten Filmabteilung der ‚Hochschule für Gestaltung’ in Ulm – eine erste Ausbildungsstätte für deutsche Filmemacher nach 1945.

    Im Februar 1963 wurde die ‚Stiftung Deutsche Kinemathek’ in Berlin21 eröffnet, deren Hauptaufgabe die Archivierung des deutschen Films wurde. Im September 1966 folgte die Einrichtung der ‚Deutschen Film- und Fernsehakademie’ in Berlin, der ersten Filmakademie der Bundesrepublik Deutschland, und ab dem Wintersemester 1967/68 bot auch die bereits im Juli 1966 gegründete ‚Hochschule für Fernsehen und Film’ in München ihr Studienpro-gramm an. Beides sind bis heute renommierte Ausbildungsstätten für den deutschen Film-nachwuchs.

    Das Manifest und die Forderungen der ‚Oberhausener’ zeigten Wirkung und auch die Reali-sierung ihrer Spielfi lmprojekte rückte – drei Jahre nach Oberhausen – durch die Gründung des ‚Kuratoriums junger deutscher Film’ im Februar 1965 in greifbare Nähe – eine wichtige fi lmpolitische Entscheidung, der am 30. November 1964 eine entsprechende Verordnung des Bundesinnenministers vorausgegangen war. Über das ‚Kuratorium’ standen nun staat-

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  • liche Gelder für die Finanzierung von Spielfi lmprojekten zur Verfügung, z. B. dreieinhalb Millionen DM als Projektförderung für Erstlingsfi lme.22 Diese staatliche Filmförderung durch das ‚Kuratorium’, das in den ersten zwei Jahren seines Bestehens 25 Filme förderte 23, wurde ergänzt mit der Einführung der Drehbuch- und Spielfi lmprämien des Bundes, wobei allerdings hier zunächst nur konventionelle Projekte wie Edgar Wallace-Filme und Karl May-Filme fi nanziell unterstützt wurden. Der Filmjournalist Joe Hembus, engagierter, aber auch kritischer Begleiter des ‚Jungen Deutschen Films’, im Januar 1966 – voller Vorfreude auf die kommenden Filme der ‚Oberhausener’:

    Fünf von ihnen drehen nun ihre erste Spielfi lme. Der Berliner Hansjürgen Pohland wird Katz und Maus von Grass verfi lmen, Alexander Kluge aus seinen Lebensläufen die Geschichte einer Herumstreunerin Abschied von gestern. Das Team Strobel/Tichawsky beschäftigt sich mit Ehescheidung (späterer Filmtitel: ‚Eine Ehe’, d.V.). Haro Senft analysiert eine Karriere (späterer Filmtitel: ‚Der sanfte Lauf’, d.V.). Edgar Reitz forscht unter dem Titel Mahlzeiten ein Frauenleben aus. […] Der alte deutsche Film erkennt diese Bedrohung. Er fährt in dieser Saison des Aufbruchs sein schärfstes Geschütz auf: Papa Artur Brauner wird die meiste Zeit des Jahres damit zubringen, einen zweiteiligen Nibelungen-Film zu produzieren – mit Winnetou-Filmer Ha-– mit Winnetou-Filmer Ha-–rald Reinl als Regiekommandanten.24

    Aufsehen in der öffentlichen Wahrnehmung – sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch im europäischen Ausland – erregte aber bereits der 1965 uraufgeführte Film ‚Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht’, zeitlich noch ein ‚Vorläufer’ des ‚Jun-gen Deutschen Films’, der in einem Jahr in die Kinos kam, in dem der deutsche Film einen Negativrekord mit nur noch 56 hergestellten Filmen erreichte. Die Krise des deutschen Films war unübersehbar geworden!

    ‚Nicht versöhnt ...’ drehte der in München lebende französische Regisseur Jean-Marie Straub – nach der Heinrich Böll-Erzählung ‚Billard um halb zehn’. Der Film zeichnete sich zwar durch einen – für die damaligen Zuschauer – gewöhnungsbedürftigen formalen Rigo-rismus aus und hatte, auch aufgrund seiner Fragmentstruktur, seiner elliptischen Form, nur wenig gemein mit den üblichen Literaturverfi lmungen, für die französische Filmzeitschrift ‚Cahiers du Cinema’ war ‚Nicht versöhnt ...’ aber der größte deutsche Film seit den deutschen Filmen der Regisseure Fritz Lang und F.W. Murnau.25

    Die eigentliche Wende im deutschen Film wurde aber erst das Jahr 1966. „Man sprach vom ‚Jahr eins’ und verglich das Jahr 1966 mit einem Dammbruch für den jungen deutschen Film [...] In einem Jahr kamen mehr junge Regieaspiranten zum Zuge als in der ganzen vorausgegangen Zeit.“ 26 Eine weitere Besonderheit: Die Filmemacher behielten die absolute künstlerische und fi nanzielle Kontrolle über ihre Arbeiten.

    Der erste Spielfi lm des ‚Jungen Deutschen Films’, der eine breitere Öffentlichkeit erreichte und die ‚Deutsche Welle’ im Kino in Bewegung setzte, war Ulrich Schamonis am 17. März

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