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Ulrike Haß-Zumkehr Zur Sprachkritik der Achtundsechziger Das Neue an der »Sprache« der Achtundsechziger war im Zusammenhang dieser Tagung das Thema K. J. Mattheiers und F. Hermanns. Daß dieses Neue von einem Kampf um »Sprache« begleitet war, hat J. Kopperschmidt beschrieben. In beiden Sätzen ist allerdings ein je besonderer Begriff von »Sprache« gemeint: im ersten Fall so etwas wie Stil, Repertoire, Diskurstyp, besonderer Wortschatz in Verbindung mit einer besonderen Syntax; im zwei- ten Fall so etwas wie öffentliches Gehör, Diskursforum, Vorherrschaft der Rede, Defmitionsmacht. Wie oft wird hier die Bezeichnung Sprache meta- phorisch und metonymisch vielfältig variiert; solche Variationen bergen ne- ben manchem Vorteil auch die Gefahr ungenauer Schlußfolgerungen. Es sei deshalb gestattet, an die linguistische Unterscheidung von Sprachsystem (Langue) und Sprachgebrauch (Parole)1 zu erinnern und zu präzisieren, wor- um es beim Thema »Sprache der Achtundsechziger« gehen kann: erstens um die für diese Bewegung typischen und vom Standard abweichenden Formen des Sprachgebrauchs, zweitens um eine eventuelle (gesellschafts-)theoreti- sche Begründung und Reflexion dieser neuen Formen auf Seiten ihrer Spre- cher und Autoren, drittens um die kritische Reflexion des »herrschenden« Sprachgebrauchs, von dem die achtundsechziger Bewegung sich zu distan- zieren wünschte, und viertens um eventuelle Änderungen der allgemeinen gesellschaftlichen Einstellung zu etablierten oder neuen Sprachformen. Kri- tische Sprachreflexion und ihre Rückwirkungen auf den allgemeinen Sprach- gebrauch2 sind das Thema der nachfolgenden Thesen. Wirkungen - Voraussetzungen Neu an der achtundsechziger Reflexion über Sprache war, daß sie die Einstel- lung zum öffentlichen Umgang mit Sprache nachhaltig beeinflußt hat. Dies veränderte aber nicht die Sprache (Langue) strukturell, d. h. ihre systema- i Die genetisch bedingte Sprachfähigkeit des Menschen (Langage) macht das auf Ferdi- nand de Saussure zurückgehende, eigentlich aber ältere, terminologische Trio kom- plett. An der menschlichen Sprachfähigkeit hat Achtundsechzig selbstverständlich nicht rütteln können. z Allgemein zum Thema: Martin Wengeier, »1968« als sprachgeschichtliche Zäsur, in: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Georg Stötzel und Martin Wengeier. Berlin 1995, S. 383-404. IIS Erschienen in: Ott, Ulrich/Luckscheiter, Roman (Hrsg.): Belles lettres/Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger. - Göttingen: Wallstein, 2001. S. 115-121.

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Ulrike Haß-Zumkehr

Zur Sprachkritik der Achtundsechziger

Das Neue an der »Sprache« der Achtundsechziger war im Zusammenhang dieser Tagung das Thema K. J. Mattheiers und F. Hermanns. Daß dieses Neue von einem Kampf um »Sprache« begleitet war, hat J. Kopperschmidt beschrieben. In beiden Sätzen ist allerdings ein je besonderer Begriff von »Sprache« gemeint: im ersten Fall so etwas wie Stil, Repertoire, Diskurstyp, besonderer Wortschatz in Verbindung mit einer besonderen Syntax; im zwei-ten Fall so etwas wie öffentliches Gehör, Diskursforum, Vorherrschaft der Rede, Defmitionsmacht. Wie oft wird hier die Bezeichnung Sprache meta-phorisch und metonymisch vielfältig variiert; solche Variationen bergen ne-ben manchem Vorteil auch die Gefahr ungenauer Schlußfolgerungen. Es sei deshalb gestattet, an die linguistische Unterscheidung von Sprachsystem (Langue) und Sprachgebrauch (Parole)1 zu erinnern und zu präzisieren, wor-um es beim Thema »Sprache der Achtundsechziger« gehen kann: erstens um die für diese Bewegung typischen und vom Standard abweichenden Formen des Sprachgebrauchs, zweitens um eine eventuelle (gesellschafts-)theoreti- sche Begründung und Reflexion dieser neuen Formen auf Seiten ihrer Spre-cher und Autoren, drittens um die kritische Reflexion des »herrschenden« Sprachgebrauchs, von dem die achtundsechziger Bewegung sich zu distan-zieren wünschte, und viertens um eventuelle Änderungen der allgemeinen gesellschaftlichen Einstellung zu etablierten oder neuen Sprachformen. Kri-tische Sprachreflexion und ihre Rückwirkungen auf den allgemeinen Sprach-gebrauch2 sind das Thema der nachfolgenden Thesen.

Wirkungen - Voraussetzungen

Neu an der achtundsechziger Reflexion über Sprache war, daß sie die Einstel- lungzum öffentlichen Umgang mit Sprache nachhaltig beeinflußt hat. Dies veränderte aber nicht die Sprache (Langue) strukturell, d. h. ihre systema-

i Die genetisch bedingte Sprachfähigkeit des Menschen (Langage) macht das auf Ferdi-nand de Saussure zurückgehende, eigentlich aber ältere, terminologische Trio kom-plett. An der menschlichen Sprachfähigkeit hat Achtundsechzig selbstverständlich nicht rütteln können.

z Allgemein zum Thema: Martin Wengeier, »1968« als sprachgeschichtliche Zäsur, in: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Georg Stötzel und Martin Wengeier. Berlin 1995, S. 383-404.

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Erschienen in: Ott, Ulrich/Luckscheiter, Roman (Hrsg.): Belles lettres/Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger. -

Göttingen: Wallstein, 2001. S. 115-121.

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tischen Möglichkeiten. Systematisch revolutioniert wird das Deutsche erst durch die feministischen Eingriffe seit Mitte der siebziger Jahre, deren Vor-geschichte mit den achtundsechziger Frauen beginnt.

Mit den Einstellungen gegenüber der Sprache veränderten sich seit Acht-undsechzig auch einige öffentliche Formen des Sprachgebrauchs und damit die Konstruktion dergeselbchafilichen Wirklichkeit.’

Die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität war für die Kritische Theorie wesentlich sprachlich-begrifflich vermittelt; nur durch die enge Ver-bindung der Ebenen Sprache - Wirklichkeit läßt sich die Rolle erklären, die die Sprachkritik in der achtundsechziger Bewegung besaß. Reklamesprache und politische Rede einschließlich ihrer manipulativen Wirkung galten als Inkarnationen von Konsumgesellschaft und herrschendem System und wur-den in der Theorie wie in der Pädagogik, speziell in der Deutschdidaktik, entsprechend fokussiert. »Sprache und Handeln«, »Denken und Verhalten« sind bei Marcuse als ein »Universum« gefaßt.3 4 Bei Adorno hängt beides über die Konzepte der »Kulturindustrie«, der »Massenmedien« und des »Jargons der Eigentlichkeit« zusammen. Die Sprachauffassung der Kritischen Theorie enthält sowohl idealistische als auch realistische Züge; idealistisch insofern der Sprache (dem System und dem Gebrauch) eine bewußtseinsprägende und das Individuum im falschen Bewußtsein fesselnde Kraft zugeschrieben wird;5 realistisch insofern im richtigen Bewußtsein eine Sprache (System und Gebrauch) herrscht, deren Wortzeichen die Realität, die Erfahrungen des Subjekts etc. »richtig« widerspiegeln. Ein Deutschdidaktiker zitierte 1972 Ronald D. Laing: »Die Wahl von Syntax und Vokabular ist ein politischer Akt.«6 Also: nicht Trennung, sondern wechselseitige und damit wider-sprüchliche Projektion von Sprache und Wirklichkeit lag der Sprachkritik von Achtundsechzig zugrunde.

3 Titel eines 1966 in New York, 1969 auf deutsch in Frankfurt am Main erschienenen Buchs von Peter L. Berger und Thomas Luckmann.

4 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschritte-nen Industriegesellschaft (orig. One-dimensional M an , Boston 1964), übers, von Alfred Schmidt, Neuwied 1967.

5 So ist Marcuses Bezug auf Wilhelm von Humboldt motiviert, a.a.O. (Anm. 4), S. 115 und 224.

6 Rolf Eigenwald, Überredungstechniken - Zum Sprachgebrauch in politischen, jour-nalistischen und ökonomischen Texten, in: Sozialisation und manipulation durch sprä-che, hrsg. von Heinz Ide (= projekt deutschunterricht 2), Stuttgart 1974 (1. Aufl. 1972), S. 101-126, hier: S. 101. Vgl. auch: Sabine Rauch, Herrschaftstendenzen in der politi-schen Rede - Aggressivität als Sprachmerkmal, in: Ebd., S. 81-100.

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Wahre, widerständige und falsche Sprache

Bei Adorno, Horkheimer,7 Marcuse, Negt/Kluge8 und bei Habermas ohne-hin, ist der Glauben an die Möglichkeit eines widerständigen, das »falsche Bewußtsein« entlarvenden und auflösenden Gebrauchs der systematisch zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel durchaus gegeben, auch wenn dies speziell bei Adorno in dialektischer Spannung zu der von ihm theoretisch behaupteten Unentrinnbarkeit des herrschenden Systems und folglich auch der herrschenden Sprache steht. Die kritische Beschreibung der herrschen-den, affirmativen, formel- und klischeehaften Sprache dominiert völlig.9 Ihre Wörter, so der Tenor, manipulieren das Denken und die Erfahrung, so wie Reklame und politische Propaganda das Verhalten manipulieren.

Bei Marcuse heißt es etwa: »Das Substantiv regiert den Satz in einer auto-ritären und totalitären Art, und der Satz wird eine zu akzeptierende Erklä-rung — er sträubt sich gegen einen Beweis, gegen die Einschränkung und Negation seines kodifizierten und erklärten Sinnes.«10 * Hier wird die Unent-rinnbarkeit der Sprache an einem vermeintlichen Aspekt des Sprachsystems demonstriert und dennoch eingeräumt: Er sträubt sich nur, d. h. er könnte auch anders. Tatsächlich ist ein nominaler Stil nicht zwingend, tatsächlich »regiert«" nicht das Substantiv, sondern das Prädikatsverb den Satz. Die Kri-tik richtet sich bei näherem Hinsehen auf Aspekte des Sprachgebrauchs und diese sind grundsätzlich nicht unentrinnbar; zu ihnen gibt es immer Alterna-tiven. Die implizite Sprachtheorieder achtundsechziger Sprachkritik war, wie dieses Beispiel zeigt, offensichtlich eher suggestiv als konsistent.

W7fd ie wahre und richtige Redeweise aussehen könnte, wird in der Kriti-schen Theorie kaum explizit beschrieben, aber es dient implizit als wichtige Hintergrundfolie, ohne welche die Pervertierungen der herrschenden Spra-che nicht kenntlich gemacht werden könnten. Welche Redeweise dem rich-tigen Bewußtsein eigen wäre, ist aus den sprachkritischen Texten fast nur ex negativo zu entnehmen. Bei mehreren der genannten Autoren wird die »Volkssprache« als oppositionell heroisiert: Hier brechen »Ablehnung und Revolte« machtvoll »in einem Vokabular hervor, das die Dinge bei ihrem

7 Die sprachkritische Position Adornos und Horkheimers wird ausführlich referiert in: Albrecht Greule, Elisabeth Ahlvers-Liebel, Germanistische Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung, Darmstadt 1986, S. 95-131.

8 Oskar Negt, Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Z u r Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1976 (1. Aufl. 197z).

9 Aber nicht erst nach 1968: Vgl. etwa Heinrich Vormweg, Die Wörter und die Welt, in: Akzente 1966, S. 72-84; Walter Hollerer, Der Autor, die Sprache des Alltags und die Sprache des Kalküls, in: Akzente 1967, S. 211-216.

10 Marcuse, Der eindimensionale Mensch (Anm. 4), S. 106.H Regieren/Rektion als Termini der (ursprünglich) lateinischen Grammatik sind im

Deutschen spätestens seit 1779 belegt; s. Deutsches Wörterbuch, Bd. VII (=14), Sp. 531.

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Namen nennt«.12 »Volksnahe Diktion« fordern auch Negt/Kluge und ma-chen Vorschläge für eine »proletarische Sprachpolitik«, welche die durch »Abstraktion deformierte« öffentliche »Schriftsprache« durch Aufnahme von Bildern aus der proletarischen Arbeits- und Erfahrungswelt umformt und technokratische Einheitsformeln eliminiert.'3 EntlarvungnnA Subversion wa-ren in der Redeweise von Achtundsechzig die zu Manipulation und Repressi-on komplementären Leitvokabeln.

Für Adorno und Marcuse ist wahre und widerständige Sprache aber eigentlich nur im Kunstwerk, in der poetischen Sprache möglich. Entspre-chend sarkastisch verworfen wird die Ordinary Language Philosophy (Ryle, Wittgenstein, Austin), die »in masochistischer Reduktion« die alltägliche Sprachform zum Exempel erhebt.'4 Habermas’ konstruktive, diskursethische Sprachkritik wäre ohne diese in Deutschland sprachanalytisch genannte Phi-losophie allerdings undenkbar gewesen.

Rückgriff auf bürgerliche Traditionen

Vor allem dort, wo der sprachliche Widerstand der Achtundsechziger kon-kret werden mußte, griff er auf viel ältere, »bürgerliche« Traditionen der Sprachkritik zurück: Immer wieder positiv genannt werden Karl Kraus, Al- dous Huxley, George Orwell, das Wörterbuch des Unmenschen von Storz/ Sternberger/Süskind, Karl Korns Sprache in der verwalteten Welt (1958),13 14 15 16 17 18 Vance Packards Geheime Verführer (deutsch 1958), Walter Fritz Haugs H ilf-loser Antifaschismus, Roland Barthes’ Mythen des Alltags und darüberhinaus Wilhelm v. Humboldt, G. W. F. Hegel, Friedrich Nietzsche und Jean Paul Sartre.'6 Schon Korn hatte von Entseelung, Vermassung, Mechanisierung, Rationalisierung, kurz von der Reduktion des Einzelnen auf funktionale Aspekte geschrieben und als »Prüfstein« richtiger Wörter ihre »Verwendbar-keit im Gedicht« genannt.'7

Eine konkrete Umsetzung seiner sprachkritischen Theorie versuchte Adorno 1966 mit der unvollendet gebliebenen Kritik des Godesberger Pro-gramms,'8 eine andere in seinen Vorschlägen zu einer kritischen Pädagogik, die von der Bewegung des »emanzipatorischen Spachunterrichts« und in

12 Marcuse, D er eindimensionale Mensch (Anm. 4), S. 105.13 Negt,Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung (Anm. 8), S. 441-446.14 Marcuse, D er eindimensionale Mensch (Anm. 4), S. 187-192.15 Adorno schreibt 1969 an Marcuse über die »total verwaltete Welt«, in: Protest!Literatur

um 1968, Marbach 1998 (Marbacher Kataloge; 51), S. 127.16 All diese v. a. bei Marcuse, Korn aber auch bei Adorno.17 Vgl. Jürgen Schiewe, D ie M acht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der

Antike bis zur Gegenwart. München 1998, S. 243 ff.18 In: Protest!(Anm. 15), S. 136 f.

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zahlreichen Lehrplänen aufgegriffen wurden.'9 In der Pädagogik konnte der Verdacht auf manipulative und verschleiernde Sprache nicht ohne Hoffnung auf Befreiung gelehrt werden. Ein Ziel der hessischen Rahmenrichtlinien hieß: »Wirkungsmöglichkeiten von Sprache durchschauen und nutzen leh-ren«.“ Die pädagogisch zu nutzenden Instrumente der Entlarvung lieferten die oben genannten »Klassiker«,19 20 21 ferner Heinrich Lausbergs Rhetorik und sogar NSDAP-Mitglied Mackensen.22 In den Lehrplänen der Siebziger spielen Marcuse und Habermas neben diesen nur mehr eine kleine Rolle.

Die Sprachkritik der Achtundsechziger fußte auf einer bürgerlich-libera-len Tradition, die sich noch weiter zurück bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verfolgen läßt. Insbesondere die rettende Funktion der poetischen Sprache bei Adorno hat möglicherweise einiges mit der Entdeckung Carl Gustav Jochmanns (1789-1830)23 durch Walter Benjamin in den dreißiger Jahren und erneut durch Jochmann-Ausgaben von Werner Kraft24 und Christian J. Wagenknecht251967 und 1968 zu tun. Benjamin hatte Horkheimer 1937 auf Jochmann aufmerksam gemacht, der den theoretischen Wert dieses Autors hervorhob und dessen wohl wichtigsten Text, Die Rückschritte der Poesie (1828), mit einem Kommentar von Benjamin in der Zeitschrift fü r Sozialfor-schung abdruckte. Zudem wurden in Göttingen, Hamburg, Frankfurt und Regensburg um 1968 Seminare über Jochmann abgehalten.26

Jochmanns Kerngedanke war, daß »eine Gesellschaftsveränderung durch eine Veränderung des Sprechens und diese wiederum durch die Schaffung einer politischen Öffentlichkeit«27 erreicht werden könne. Die Idee von der

19 Belegt bei Greule, Ahlvers-Liebel, Germanistische Sprachpflege (Anm. 7), S. 103 f.20 Sprachunterricht gleich linguistik?, hrsg. von einem hamburger autorenkollektiv (- zur

praxis des deutschunterrichts 4), Stuttgart 1975, S. 39.21 Die Tradierung des Manipulationsverdachts auch und gerade in der Sprache der Wer-

bung wurde offenbar maßgeblich durch Samuel 1. Hayakawas frühes und erklärter-maßen unter dem Einfluß der Nazi-Propaganda entstandenes Buch Semantik. Sprache im Denken und Handeln gestützt (orig. New York 1941, aus d. Amerikan. von Günther Schwarz. Darmstadt 1967); hier wird Huxley (Brave New World, 1932) und Orwell (1984, 1949) ein besonders großes Gewicht beigemessen (a.a.O., S. VII, 256, 310,344).

22 Dokumentation zum Stand der Oberstufenreform Deutsch in den einzelnen Bundes-ländern, in: M itteilungen des Deutschen Germanistenverbands 1972, H. 4, S. 8-79. Lite-raturangaben in den Lehrplänen Niedersachsens ebd., S. 66.

23 Alle nachfolgenden Hinweise auf die Jochmann-Rezeption verdanke ich kritisch-kon-struktiven Kommentaren von Jürgen Schiewe, Freiburg.

24 C. G . Jochmann, D ie Rückschritte der Poesie und andere Schriften. Hrsg, von Werner Kraft. Frankfurt am Main 1967 (sammlung insei 26).

25 C. G . Jochmann, Über die Sprache. Faksimiliedruck, hrsg. von Christian Johannes Wagenknecht. Göttingen 1968.

26 Nach Mitteilung von Jürgen Schiewe.27 Jürgen Schiewe, Sprache und Öffentlichkeit. C arl Gustav Jochmann und die politische

Sprachkritik der Spätaufklärung. Berlin 1989, S. 152.

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rettenden Funktion der Öffentlichkeit in Verbindung mit der Forderung nach »Gemeinverständlichkeit« und der »entschlossenen Absage an eben jene Fachgelehrsamkeit, die den Laien als Dilettanten denunziert, um sich ihrer Autorität desto ungestörter zu erfreuen«,28 zeigen aber auch die Gren-zen einer zustimmenden Jochmann-Rezeption durch die Achtundsechziger. Hatten doch Negt/Kluge »Popularisierung um jeden Preis«29 scharf abge-lehnt und auf Pestalozzis Vorbild verwiesen, der deutschsprachig erzogenen Kindern Texte der französischen Enzyklopädie \orlesen ließ:

Gerade dadurch, daß er Texte vorliest, die das bewußte Verstehen unter-laufen, die an einzelne Sinne wie den Gehörsinn appellieren, entwickelt er in den Kindern eine Vorstellung vom Anderen, von der Fremdartigkeit der Welt. Sie verstehen, daß sie nicht schon alles wissen, daß im unmittel-baren Verstehen nicht das aufgeht, was die Welt tatsächlich ist. Gerade hier entwickelt er eine Vorstellung des in der Wirklichkeit verborgenen Reichtums, an dem sich die Kinder abarbeiten müssen.30 31

Den Hintergrund solcher Bemerkungen über die Faszination dunkler Texte bilden offensichtlich leidvolle Erfahrungen mit Studierenden, die, weil sie nicht durch Pestalozzis Schule gegangen sind, unruhig und desinteressiert werden, wenn Professor Negt fremdsprachige Texte zitiert, ohne sie sofort zu übersetzen. »Auf diese Weise entsteht eine fast absolute Schranke zu Texten der großen Philosophie, welche Hegeltexte, zahlreiche Marxtexte in ihrem Zusammenhang für die kommunikative Praxis unzugänglich macht.«3'

Daß der Umgang mit der sprachkritischen bürgerlichen Tradition, vor allem in der didaktischen Praxis, selektiv war, verwundert nicht. Es überwie-gen »wortlastige« Vorbilder und wortbezogene Methoden, entsprechend der metaphorisch erzeugten Synonymie von Wort und Sprache. Eine alle sprach-lichen Mittel betrachtende, theoretisch ausgebaute, philosophische Sprach- kritik haben die Achtundsechziger nicht entwickelt, sondern eine dezidierte Ablehnung jedes gesellschaftskonformen Sprachgebrauchs. Demgegenüber wurde den Formen des eigenen bzw. als revolutionär reklamierten Sprach-gebrauchs poetische, um nicht zu sagen magische Kraft unterstellt, die offen-sichtlich auch auf den eigenen wissenschaftlichen Jargon auszustrahlen ver-mochte.

28 Wagenknecht in: Jochmann, Über die Sprache (Anm. 25), S. 439.29 Negt, Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung (Anm. 8), S. 443.30 Ebd., S. 443 f.31 Ebd., S. 444 f.

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Die konservativen Erben der achtundsechziger Sprachkritik

Der allgemein verbreitete, sprachkritische Habitus der Öffentlichkeit der siebziger bis neunziger Jahre hat die von Achtundsechzig empfangenen Im-pulse nahezu vollkommen verdrängt. An der Durchsetzung dieses Habitus hat die konservative Gegenkritik der siebziger Jahre, namentlich die Politiker Kurt Biedenkopf und Hans Maier, entscheidend mitgewirkt, indem sie die »linguistische Therapie« Marcuses und verwandte Strategien der Achtund-sechziger stillschweigend kopierten und sie damit erstmals in einer breiten Öffentlichkeit populär und akzeptiert werden ließen.32 Eine der frühesten Analysen der Atomenergiewerbung von 1977 kannte zwar noch das »falsche Bewußtsein [...] naiver [oder] manipulativer Art«,33 folgte jedoch im Unter-titel - »Aus dem Wörterbuch des Zwiedenkens« - Sternberger und Orwell. Manche der heutigen sprachkritischen Konzepte verraten ihre achtund-sechziger Eltern erst, wenn man letztere wieder liest.

Geerbt haben wir von den Achtundsechzigern vor allem den zentralen Topos des begrifflichen Scheins und der lügnerischen Wörter. Aber dieser allgemeine Verdacht ist eindeutig älter als Achtundsechzig. Das Wörterbuch des Unmenschen und Orwells Propaganda-Szenario, wenn nicht bereits Nietzsche, Mauthner, Hofmannsthal und Kraus haben ihn begründet. Das Neue berief sich spätestens da, wo es praktisch werden mußte (in der Päd-agogik), aufTraditionelles.

Wirklich neu war die Integration von Sprachtheorie in Gesellschaftstheo-rie. Jochmann hatte dies zwar schon 140 Jahre früher geleistet, eignete sich aus o. g. Gründen aber nicht als diesbezüglicher »Vorläufer«. Achtundsechzig hat den allgemeinen Manipulationsverdacht popularisiert; es hat das politi-sche Handeln in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren verändert und die generelle Gebundenheit politischer Begriffe an rechte wie linke Interes-sen und Perspektiven ins öffentliche Bewußtsein getragen. Diese Leistung von Achtundsechzig ist in der öffentlichen Meinung und auch in der Rezep-tion der unter dem Einfluß des Strukturalismus verwissenschaftlichten Sprachkritik verdrängt und am Ende gar den konservativen Nachahmern zugeschrieben worden.

32 Josef Kopperschmidt, Soll man um Worte streiten? Historische und systematische Anmerkungen zur politischen Sprache, in: Begriffe besetzen. Strategien des Sprach-gebrauchs in der Politik, hrsg. von Frank Liedtke, Martin Wengeier und Karin Böke, Opladen 1991, S. 70-89.

33 Hartmut Gründler, Kernenergiewerbung. Die sprachliche Verpackung der Atom-energie - Aus dem Wörterbuch des Zwiedenkens, in: Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufiätze zur politischen Sprachkritik. hrsg. von Hans J. Heringen Tübingen 1982 (zu-erst 1977), S. 203-215, hier S. 215.

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