Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie Emmanuel Mabe... · Zur Theorie und Praxis...

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Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie von Jacob Emmanuel Mabe Interkulturalität rückt immer mehr ins Zentrum der sozial, kulturund religionswissenschaftlichen Überlegungen. Auch das Interesse der Naturund Ingenieurwissenschaften an diesem Thema nimmt beträchtlich zu. Doch für die Philosophie bleibt die Interkulturalität Projekt, d.h. ein intellektueller Prozeß, der zum Ziel hat, ein globales Wissens für die gesamte Kulturmenschheit zu realisieren und zu fördern. Der folgende Essay macht sich zur Aufgabe, die verschiedenen Theorieansätze 1 der interkulturellen Philosophie auf ihre Beziehungen zur Lebenspraxis zu untersuchen. 1. Zur Theorie der interkulturellen Philosophie 1. 1. Grundlagen und Probleme Die globale Welt unserer Zeit drängt den aufmerksamen, nachdenklichen Beobachter zu der Frage, ob alle Kulturen, gleichgültig wie sie sind, demselben Planeten Erde angehören oder ob etwa ein Teil von ihnen zur Dominanz über die anderen prädestiniert ist. Warum bekämpfen sich die Menschen ihrer Kulturen wegen gegenseitig, statt nach einem verträglichem Miteinander zu suchen? Das mag für manche Philosophen eine unnütze Frage sein und sie mögen sagen, zum Zusammenleben der Menschen gehören nicht nur Mitleid, Liebe und Solidarität, sondern auch Dummheit, Aggression, Brutalität, Haß, Gegenseitiges Mißtrauen etc. Eine solche Ansicht beruht auf einem fundamentalen Irrtum. Denn die Handlungen der Menschen werden weniger durch Emotionalität und Spontaneität als durch Reflexion und Vernunft bestimmt. Gerade aufgrund 1 Einzelheiten bei Heinz Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg 2002, S. 79 ff; Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie, Wien 2004, S. 53 ff.

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Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie 

von Jacob Emmanuel Mabe 

Interkulturalität  rückt  immer mehr  ins Zentrum  der  sozial‐,  kultur‐  und religionswissenschaftlichen Überlegungen. Auch das  Interesse der Natur‐ und  Ingenieurwissenschaften  an  diesem  Thema  nimmt  beträchtlich  zu. Doch für die Philosophie bleibt die Interkulturalität Projekt, d.h. ein  intel‐lektueller Prozeß, der zum Ziel hat, ein globales Wissens  für die gesamte Kulturmenschheit zu realisieren und zu fördern. Der folgende Essay macht sich  zur Aufgabe, die verschiedenen Theorieansätze1 der  interkulturellen Philosophie auf ihre Beziehungen zur Lebenspraxis zu untersuchen. 

1. Zur Theorie der interkulturellen Philosophie 

1. 1. Grundlagen und Probleme Die globale Welt unserer Zeit drängt den aufmerksamen, nachdenklichen Beobachter zu der Frage, ob alle Kulturen, gleichgültig wie sie sind, dem‐selben Planeten Erde angehören oder ob etwa ein Teil von  ihnen zur Do‐minanz  über  die  anderen  prädestiniert  ist. Warum  bekämpfen  sich  die Menschen  ihrer Kulturen wegen  gegenseitig,  statt  nach  einem  verträgli‐chem Miteinander zu suchen? Das mag  für manche Philosophen eine un‐nütze  Frage  sein  und  sie mögen  sagen,  zum  Zusammenleben  der Men‐schen  gehören  nicht  nur  Mitleid,  Liebe  und  Solidarität,  sondern  auch Dummheit, Aggression, Brutalität, Haß, Gegenseitiges Mißtrauen etc.  Eine  solche Ansicht beruht  auf  einem  fundamentalen  Irrtum. Denn die 

Handlungen  der  Menschen  werden  weniger  durch  Emotionalität  und Spontaneität als durch Reflexion und Vernunft bestimmt. Gerade aufgrund 

1   Einzelheiten  bei Heinz Kimmerle:  Interkulturelle Philosophie  zur Einführung, 

Hamburg  2002,  S.  79  ff;  Franz Martin Wimmer:  Interkulturelle  Philosophie, Wien 2004, S. 53 ff. 

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ihrer  Intelligenz  sind  die Menschen  in  der  Lage,  die  Bedingungen  ihrer Existenz positiv zu verändern und sich individuell sowie kollektiv am Le‐ben  zu  erhalten. Daher  können  sie  sich  dem  Transformationsprozeß  der Natur  nicht  einfach  passiv  unterwerfen.  Im Gegenteil, das  ganze  Sinnen und Trachten der Menschen strebt nach dem Ideal der Selbsterhaltung. Die als  interkulturell  bezeichnete Philosophie  hat  sich  zur Aufgabe  gemacht, allen Völkern und Kulturen methodisch zu helfen, zur Einsicht dieses  ih‐nen gemeinsamen Lebensideals zu gelangen und im Dialog zu teilen.2  Was motiviert nun  zum Dialog und woher kommt das Wissen, daß  er 

den Menschen nützt? Diese Fragen stehen  im Mittelpunkt der  interkultu‐rellen Philosophie, die glaubt, daß nur durch Dialog die moralischen Ge‐meinsamkeiten  einsichtig gemacht  sowie die dunklen Seiten der Vergan‐genheit  durchleuchtet  werden  können,  die  durch  Dauerrivalitäten  und unnötigen  Feindschaften  zwischen den Kulturen  bestimmt waren. Heute weiß man, daß dialogsbereite Menschen  zur Konvergenz und  friedlicher Koexistenz der Kulturen beitragen  können. Diese Erkenntnis kommt  aus den  positiven  Erfahrungen  insbesondere  seit  1945  (Menschenrechts‐  und Minderheitenschutz,  Diskriminierungsverbot,  Diplomatie,  wirtschaftliche Zusammenarbeit, Weltmeisterschaften etc.).  Bei aller Kritik sind die Kulturen und Völker noch nie in der Geschichte 

der Menschheit so zusammengekommen, wie dies in den letzten 60 Jahren der Fall ist. In Hinblick darauf läßt sich fragen, ob manche Kriege und Kon‐flikte der vergangenen Jahrhunderte oder Jahrtausende doch nicht möglich waren, weil die Menschen kulturell  entweder gar nichts oder nur wenig voneinander wußten? Die  interkulturelle Philosophie will dieses Bewußt‐sein der Gemeinsamkeiten stärken. Dadurch unterscheidet sie sich von den Einzelwissenschaften, die sich überwiegend mit ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen der Kulturen anhand von Beobachtungen befassen und daraus ableiten, sie seien vom Rang her und durch ihren Inhalt ebenso verschieden wie inkompatibel.  Manche Wissenschaftler gehen so weit, daß sie die Inkompatibilität von 

Kulturen  aufgrund  der  vermeintlichen  Lebens‐  und Denkstile  der Men‐schen  als  eine drohende Gefahr  für die Sicherheit, die Stabilität und den 

2   Vgl. Heinrich Beck und Gisela Schmirber  (Hg.): Kreativer Friede durch Begeg‐

nung der Weltkulturen, Frankfurt/M. 1995. 

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Frieden  in der Welt bezeichnen.3 Die  interkulturelle Philosophie dagegen ermittelt weniger die Differenzen als die analogen4 Momente der Kulturen unabhängig von  ihren Überlieferungs‐ oder Artikulationsformen.5 Zu die‐sem Zweck arbeiten die Philosophen aus Afrika, Amerika, Asien, Europa und Ozeanien seit einigen Jahren intensiv zusammen.6 Daraus sind interna‐tionale Netzwerke  hervorgegangen,  die mittlerweile  eine  veritable  Platt‐form für weltweite Debatten und Kontroversen über globale Fragen bilden. Dabei  lernen die Philosophen voneinander, wie  sie von  ethnozentrischen Überlieferungen  und  kolonialistischen  Denkmustern,  die  den  obsoleten Differenzkult sowie die archaische Fiktion der Identitäten verstärken,7 Ab‐stand nehmen und sämtliche Klischees überwinden können.8  

3   Siehe z.B. Samuel Huntington: The Clash of Civilisations and  the Remaking of 

Word Order, New York 1996 Dt.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 3. Aufl., München und Wien 1997). 

4   Einzelheiten bei Franz Martin Wimmer:  Interkulturelle Philosophie Bd. 1: Ge‐schichte und Theorie, Wien  1990; Ram Adhar Mall: Philosophie  im Vergleich der Kulturen.  Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt 1995; Raul Fornet‐Betancourt (Hg.): Unterwegs zur interkulturellen Philosophie, Frankfurt/M. 1998; Heinz Kimmerle: Der Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2009.  

5   Vg. Jacob Emmanuel Mabe: Mündliche und schriftliche Formen philosophischen Denkens  in Afrika. Grundzüge  einer  Konvergenzphilosophie,  Frankfurt  et  al 2005; Heinz Kimmerle: Afrikanische Philosophie  im Kontext der Weltphiloso‐phie, Nordhausen 2005. 

6   Der UNESCO, der Gesellschaft für  interkulturelle Philosophie e.V., der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie, der Zeitschrift Polylog und sonstigen mit der  Interkulturalität befaßten philosophischen  Institutionen gebührt daher große Anerkennung.  

7   Näheres bei Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau (Hg.). Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997. 

8   Es sei  in diesem Zusammenhang auf zwei Essays verwiesen, die der Verfasser dieses Artikels zur Präzisierung seiner These verfaßt hat. Jacob Emmanuel Ma‐be: Was wissen Europäer kulturell von Afrika, München 2006; Entwicklungspo‐litik als Katalysator der europäisch‐afrikanischen Beziehungen, in: Afrika Euro‐pas verkannter Nachbar, hrsg. von Herta Däubler‐Gmelin, Ekkerhard Münzig und Christian Walther, Frankfurt/M. et al., Bd.1 2007, S. 21‐38. 

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Daß manche  Philosophen  aus  Europa  und Nordamerika  heute  andere Geistes‐ und Lebenswelten nicht nur ernst nehmen, sondern auch Afrika‐ner, Asiaten, Südamerikaner etc. als gleichwertige Diskussionspartner ak‐zeptieren,  ist zweifellos ein gewaltiger Durchbruch. Nun arbeiten alle ge‐meinsam an neuen Denkmodulen, die die Vorteile ebenso der kulturellen Vielfalt  wie  des  Austauschs  von  Erfahrungen  und Wissen  über Werte, Identitäten und Differenzen evident werden lassen.  Seit Beginn ihrer akademischen Verbreitung Anfang der 1990er Jahre lei‐

stet  die  interkulturelle  Philosophie mit mannigfachen  Stilisierungen  und methodischen Variationen einen außerordentlichen Beitrag zur Lösung der essentiellen Erkenntnisprobleme und dies  in verschiedenen Sprachen. Da‐bei hilft sie den Menschen, ihre möglichen kulturellen Differenzen nicht zu verdrängen, zu verschleiern oder auszuklammern, sondern durch profun‐dere  Erkenntnisse  überflüssig  zu machen.  Trotz  ihrer  zunehmenden  Be‐deutung in den internationalen Beziehungen findet die interkulturelle Phi‐losophie  im  universitären  Bereich  leider  dennoch  keine  Legitimation  als Lehr‐  und  Forschungsgebiet,  da man  ihr wahrscheinlich wenig  zutraut, zum Fortschritt des Weltwissens beizutragen. Es verwundert deshalb nicht, daß  interkulturellen Themen  in den meisten Lehrangeboten kaum Beach‐tung geschenkt wird. Doch  interkulturelle Philosophie  ist  für  ihre  akademische Marginalisie‐

rung  teilweise  selbst  verantwortlich,  da  sie  »nicht  eine  neue Disziplin«9 oder eigenständiges Fach10, sondern vielmehr eine multivalente Dimension des Denkens sein will, indem sie in alle Bereiche der Philosophie eindringt. Damit  tritt  sie  in  Konkurrenz  insbesondere  mit  der  Kulturphilosophie, Anthropologie  und  Geschichte  der  Philosophie  und  stellt  zugleich  eine extreme  Bedrohung  für  ihre  Existenz  dar. Um  sich  aber  die  notwendige akademische Akzeptanz zu verschaffen, sollte sich die  interkulturelle Phi‐losophie fortan internationalen sowie allgemeinen Fragen der Ethik, Onto‐logie, Erkenntnistheorie etc. aus einer globalen Perspektive widmen.  

9   Heinz Kimmerle, Inter kulturelle Philosophie, S. 10. 10   Die interkulturelle Philosophie könnte sich in dieser Hinsicht die interkulturelle 

Germanistik, Pädagogik und Kommunikation zum Vorbild nehmen, die sich in‐stitutionell und nicht jedoch inhaltlich als eigenständige Fachgebiete bereits eta‐bliert haben.  

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Zudem soll die interkulturelle Philosophie nicht als eine Xenophilosophie wirken, die  sich ausschließlich  fremden Denkformen und Gelehrten wid‐met, oder als eine Ethnophilosophie erscheinen, die den Mythen und sämt‐lichen  kulturellen Überlieferungen  anderer  Völker  zugrunde  liegt,  sonst würde man ihre Existenzberechtigung weiter anzweifeln. Zusammengefaßt soll sich die Kompetenz der  interkulturellen Philosophie darauf beschrän‐ken, 

– die methodischen Grundlagen für die Untersuchung des ethischen, ontologi-schen, politischen, moralischen, ästhetischen, historischen und religiösen Den-kens Afrikas, Asiens, Amerikas, Europas und Ozeaniens zu untersuchen, um ih-re Werteanalogien aufzuzeigen,

– den Geist der kulturellen Vielfalt der Welt beleben, – kulturtranszendente und –invariante Begriffe herauszuarbeiten, die für Kommu-

nikation und den Dialog zwischen den Völkern förderlich wären, – die weltweite Kontoversen und Debatten über philosophische Fragen zu stimu-

lieren, um den Rückfall des Dialogs in die obsolete Dialektik der Kulturen dau-erhaft zu verhindern,

– die Grundlagen für eine globale Geschichtsschreibung der Philosophie stellt, – eigene Lösungen für globale Erkenntnisfragen zu bieten, auf die andere Diszi-

plinen bei ihren Fragenformulierungen zurückgreifen können.

1. 2. Zur Methodologie der interkulturellen Philosophie Die  interkulturelle Philosophie  hat  bislang  keine  spezielle Methodologie, sondern operiert mit verschiedenen methodischen Ansätzen, denen es ge‐mein  ist,  daß  sie  eine  radikale Veränderung  insbesondere  der  negativen Einstellungen  zum  kulturell  Anderen  erreichen  wollen.11  Im  Folgenden werden  allerdings  nur  die Methoden  dargestellt,  die  in  der  philosophi‐schen Allgemeinheit zusammenzufassen sind: 

1. 2. 1. Die Grundlagenmethoden 

(a) Die historischen Methoden Im Mittelpunkt  der  historischen Methoden  steht  die  Interpretation  und Rekonstruktion  der  Philosophiegeschichte  über  alle  kulturellen  Grenzen hinweg. Dabei wird die  eurozentrische Tendenz durch  eine  globale Per‐spektive der Periodisierung der Philosophiegeschichte von der Antike bis  11   Siehe Hamid Reza Yousefi und Ram Adhar Mall: Grundpositionen der interkul‐

turellen Philosophie, Nordhausen 2005. 

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zur Gegenwart ersetzt. So werden der Antike nicht mehr nur Griechenland und  Rom,  sondern  auch  die  alten  Geisteswelten  Altägyptens,  Arabiens, Chinas, Indiens Japans, Numidiens, Persiens etc. zugeordnet. Die interkul‐turelle Historisierung zielt  in diesem Zusammenhang darauf, eine globale Philosophiegeschichte  unter  Berücksichtigung  sämtlicher  Lebenswelten darzustellen. 

(b) Die systematischen Ansätze Die  Systematisierung  dient  vor  allem  der  Abhandlung  von  philosophi‐schen Fragen (Gott, Seele, Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Glaube, Den‐ken, Menschenrechte, Frieden, Toleranz etc.) jenseits aller Ethnozentrismen und nur in einem globalen Horizont.12 

(c) Die Hermeneutik Die  hermeneutische  Dimension  nimmt  Rekurs  insbesondere  auf  Anton Wilhelm Amo13, Hans‐Georg Gadamer14 und Paul Ricoeur15, um sämtliche überlieferten Materialien der Welt mit philosophischem Anspruch auf ihre interkulturelle Valenz hin zu untersuchen. Die interkulturelle Hermeneutik beruht  auf  einer  Verstehens‐  und  Interpretationsphilosophie.  In  beiden Fällen sucht sie nach Wegen der Begegnung mit dem Fremden sowie der Öffnung für das kulturell Andere.16 

12   Siehe beispielsweise Heiner Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte. Grund‐

lagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998; Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer  (Hg.): Die  Idee der Toleranz  in der  interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2007.  

13   Einzelheiten  bei  Jacob  Emmanuel Mabe:  Anton Wilhelm  Amo  interkulturell gelesen, Nordhausen 2007. 

14   Hans‐Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1972. 15   Paul Ricoeur: Soi‐même comme autre, Paris 1990. 16   Anett C. Hammerschmidt:  Fremdverstehen.  Interkulturelle Hermeneutik  zwi‐

schen  Eigenem  und  Fremden,  München  1997;  Notker  Schneider/Rham  A. Mall/Dieter  Lohmar  (Hg.):  Einheit  und  Vielfalt. Das  Verstehen  der Kulturen. Amsterdam – Atlanta 1998; Kimmerle: Das Eigene anders gesehen. Ergebnisse interkultureller Erfahrungen, Nordhausen 2007. 

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(d) Die Dekonstruktion Die Dekonstruktion ist eine von Jacques Derrida in die Philosophie einge‐führte Vorgehensweise, die  auf die  interkulturelle  Forschung  angewandt wird, um manche sich widersprechenden Aspekte in bestimmten Konzep‐ten zu eliminieren. Derrida  selbst vertritt die These, die Bedeutung eines Textes ergebe sich aus der Differenz zwischen den verwendeten Wörtern und nicht aus deren Referenz auf die Dinge, die  sie  repräsentieren.17 Die interkulturelle Dekonstruktion setzt auf »die Fähigkeit, sich auf den Stand‐punkt des Anderen zu versetzen«18 und strebt zugleich die Überwindung des Absolutheitsanspruchs insbesondere der westlich‐europäischen Kultur bei Begriffsbildungen,19 was  als Dekonstruktion des Ethnozentrismus be‐zeichnen  kann, der  zur  kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Tei‐lung der Welt beispielsweise in Erste und Dritte Welt, Industrieländer und Schwellen‐ bzw. Entwicklungsländer, Norden und Süden geführt hat. Mit der Dekonstruktion des Ethnozentrismus soll dem Wissensmonopol einer Kultur ein Ende gesetzt werden. Denn die Dekonstruktion  fördert die  In‐teraktion der Kulturen durch Kooperation, Austausch, Dialog und Transfer von Wissen und nicht von kulturellem Exotismus. Mit der Dekonstruktion sollen die Repräsentanten der jeweiligen Kulturen für sich selbst sprechen, ohne  dabei  provokative  Gegendiskurse  zu  fürchten,  sondern  ihnen mit rationalen Argumenten zu begegnen.20 

(e) Die vergleichende Methode Die komparatistische Methode etabliert einen Vergleichsrahmen für philo‐sophische Reflexionen, von dem die Philosophen ausgehen, um die mögli‐chen  erkenntnistheoretischen,  ethischen,  metaphysischen  Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen aufzuzeigen.21 Der Vergleich hat  leider den Nach‐

17   Siehe  Jacques Derrida: De  la  grammatologie, Paris  1967; ders: L’écriture  et  la 

différence, Paris 1967. 18   Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie, S. 14. 19   Einzelheiten  bei  Heinz  Kimmerle:  Jacques  Derrida  zur  Einführung,  5.  Aufl., 

Hamburg 2000.  20   Vgl. Léopold Sédar Senghor, Liberté V: Le dialogue des cultures, Paris 1993.  21   Rham A. Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen 1995; Jörg Salaquarda: Zu 

Archie J. Bahma. Comparative Philosophy. Western, Indian and Chinese Philo‐

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teil, daß er dazu verführen kann, sich ein Bild von seiner Kultur zu machen und sie dabei höher als die anderen Kulturen zu schätzen. Ram Adhar Mall ist ein großer Verfechter dieser Methode. Heinz Kimmerle wirft  ihm vor, sich  dabei  nicht  von  der  klassischen Komparatistik  des  19.  Jahrhunderts deutlich abzugrenzen22. Leider vermag auch Kimmerle nicht zu erklären, wie er ohne Vergleich behaupten kann, die Kulturen seien vom Rang gleich und vom Inhalt verschieden.23 Denn solche Behauptung hängen meist von den Auffassungen ab, die Menschen von den Kulturen haben. 

(f) Die Konvergenzmethode Die Konvergenzmethode  ist  ein von  Jacob Emmanuel Mabe bezeichnetes Verfahren, das die Zusammenführung von mündlichen und  schriftlichen Denkstilen  sowie  Artikulationsformen  zur  Aufgabe  der  Philosophie macht.24 Das Ziel dieser Methode besteht  in der Aufhebung der Differenz zwischen  der  akademischen  Schriftphilosophie  und  der Oralphilosophie, die nach Mabes Ansicht ebenfalls aus individuellen Reflexionen entsteht. 25 Wenn  auch  die  Oralphilosophie  überwiegend  durch  die  gesprochenen Sprachen überliefert  ist, grenz  sie  sich vom oraltraditionellen Denken ab, das sämtliche kollektiven Überlieferungen einer Kultur mitsamt allen My‐then umfaßt. Die Konvergenzmethode sucht auf diese Weise die Integrati‐on mündlicher Konzepte in die geschriebene Philosophie. 

1. 2. 3. Die angewandten Methoden 

(a) Der Dialog Der Dialog  (gr. Dialogón  = Gespräch) wurde von den  alten Griechen  als Denkprinzip begriffen. Doch  es war Platon, der  als  erster Philosoph den 

sophy compared, Albuquerque 1995; Rolf Eberfeldt: Kitaro Nishida – Das ver‐stehen der Kulturen. Moderne  japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam – Atlanta 1999; Walter Schweidler (Hg.): Westliche und östliche Denkwege, Sankt Augustin 2009 

22   Vgl. Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie, S. 72 f. 23   Ibid., S. 8. 24   Vgl. Heinz Kimmerle: Afrikanische  Philosophie  im Kontext  der Weltphiloso‐

phie, Nordhausen 2005, S. 120 f. 25   J. E. Mabe, Mündliche und schriftliche Formen, S. 353 ff. 

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Dialog zu einem Diskussions‐ und Reflexionssystem machte. Dabei brachte er Denker aus verschiedenen Disziplinen  (Philosophen, Astronomen, Ma‐thematikern etc.) in einem Gespräch zusammen, bei dem sie ihre Meinun‐gen und Argumente in direkter Konfrontation austauschten. Um dem Dia‐log philosophische  Substanz  zu  verleihen,  setzte Platon die Dialektik  als Methode ein, deren Aufgabe darin bestand, nicht nur die Differenzen und Übereinstimmungen  zwischen  den  Denkern  erkennbar  zu machen,  son‐dern auch alle Widersprüche beim Dialog aufzulösen.  Die gegenwärtige Philosophie des Weltdialogs knüpft an diese platoni‐

sche Tradition an, indem sie den Dialog als Methode und Prinzip zugleich auffaßt. Das Prinzip dabei drückt sich durch die Regeln aus, die dem Ge‐spräch, d.h. dem miteinander Sprechen, Diskutieren, Reflektieren der Kul‐turen und Völker über alle Fragen des Lebens und der Welt  im Hinblick auf ihre möglichen Lösungen zugrunde liegen. Die Prinzipien des interkul‐turellen Dialogs sind u.a.: 

– der Konsens, d.h. die Realisierung eines gemeinsamen Denkhorizonts – die symmetrische Kommunikation – die Verständigung durch Kooperation und Partnerschaft. Als Methode ist der Dialog durch zwei Formen gekennzeichnet: – Der Dialog »mit« oder der vertikale Dialog ist diejenige Form, die zwei oder meh-

rere ungleiche Partner sprechen läßt. Dabei herrscht eine Meinungsdiktatur der dominanten Kultur, die sowohl die Themen als auch die Sprache und die Rich-tung des Dialogs bestimmt. So findet man Menschen in Europa, die vom »Dialog mit Afrika, mit dem Islam, mit der Türkei« etc. sprechen.

– Der Dialog »zwischen« oder der horizontale Dialog stellt gleichwertige Partner dar, die alle Fragen ohne Bevormundung oder Absolutheitsanspruch gemeinsam erörtern.

Die  in  der  interkulturellen  Philosophie  favorisierte  Form  ist  der  Dialog »zwischen«,  bei  der  die  Kulturen  aufeinander  zugehen,  um  durch  kon‐struktive Gespräche voneinander zu lernen. Dieser Dialog erfolgt 

– durch mündliche Gespräche und Absprachen, – durch schriftlichen Austausch von Ideen und Meinungen in Form von Briefskor-

respondenzen, Publikationen und Rezensionen, – durch gemeinsame Reflexionen bei Konferenzen etc.

Der  Philosophie  fällt  dabei  die Aufgabe  zu,  die  Partner  thematisch  und sprachliche auf den Dialog  so vorzubereiten, daß  sie  sich gegenseitig gut verstehen.  Dabei  erarbeitet  sie  Denkmodelle,  die  den Menschen  helfen, ebenso vom Differenzkult wie von der obsoleten Fiktion der Identität Ab‐

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stand zu nehmen, auf die  sich manche Völker berufen, um  sich kulturell von anderen Menschen abzugrenzen. Denn hinter der Fiktion der Differenz verbirgt sich stets ein Moment der Negativität anderer Lebens‐ und Denk‐stile. Der Dialog  soll  vielmehr  zu  einer  universellen  Verständigung  führen. 

Letztere soll verhindern, daß ein Partner den Rationalitätsanspruch nur für seine Kultur allein reklamiert. Im Dialog sollen alle Partner erkennen, daß sich alle Kulturen auf die gleiche Vernunft als Maßstab für das Denken und Handeln des Menschen berufen.  Insofern gibt es weder eine Kultur noch eine Dialogsform, die nicht vernünftig  sind, und  ein vernünftiger Dialog führt dazu, daß der Kampf der Kulturen durch deren Versöhnung ersetzt wird. Setzt sich die Philosophie mit dem  interkulturellen Dialog auseinander, 

so  fragt  sie nicht danach, wie die Kulturen  strukturiert  sind oder welche Bilder sie für  ihre Wahrnehmung vermitteln. Die philosophische Untersu‐chung widmet  sich vielmehr den grundlegenden Elementen, die weniger die Differenzen der Kulturen als deren Analogien in der Ethik, Moral, Äs‐thetik, Metaphysik  etc.  evident werden  lassen. Dabei hat die Philosophie die Gründe  für  die Rivalitäten  zwischen  den Kulturen  zu  ermitteln,  um Wege  zu  einem  vernünftigen Verlaufsprozeß  von Dialogen  aufzuzeigen. Das Ziel ist, die bestehenden Divergenzen zu überbrücken. Welche Logik hat denn der Dialog? Der Ausgangspunkt beruht auf der 

Erkenntnis, daß die den Kulturen zugeschriebenen Ähnlichkeiten und Un‐terschiede weder den Naturgesetzen noch dem göttlichen Willen unterlie‐gen. Denn weder Gott noch die Natur wirken  im menschlichen Verstand. Daher können die vermeintlichen Differenzen oder Ähnlichkeiten auch auf Einbildungen beruhen, die die objektive Wirklichkeit vielleicht nicht spie‐geln. Ohne Dialog bleiben die Menschen ihren Fiktionen und Einbildungen verhaftet, indem sie sich falsche Bilder machen, die sie zu konfusen Begrif‐fen verführen. In der Konsequenz dieser Erkenntnis versucht die Philosophie, die Rich‐

tung des Dialogs so zu bestimmen, daß alle Völker weltweit zur Einsicht nicht  nur  ihrer Werteanalogie,  sondern  auch  der Grenzen  ihres Wissens sowohl über die eigene Kultur als auch über andere Kulturen gelangen. Im gegenseitigen kulturellen Austausch sollen sie Defizite aufheben. Dies be‐sagt, daß der Dialog die besten Voraussetzungen für die Angleichung der 

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kulturellen Wissensniveaus  weltweit  stellt.  Denn  er  hilft  einerseits,  der okkulten und amorphen Indifferenz gegenüber anderen Traditionen effek‐tiv entgegenzuwirken und andererseits zu erkennen, daß es keine kulturel‐le Supermacht, geschweige denn Metropolkultur gibt, von der andere Kul‐turen peripher abhängen. 

(h) Die Didaktik Die  didaktische Methode  zielt  auf  die  Vermittlung  der  interkulturellen Kompetenz durch Erziehung und Bildung  ab.  Sie wird  insbesondere  bei pädagogischen Beratungen und Übungen  sowie  in Kolloquien, Vorlesun‐gen, Praxisseminaren, Bildungsreisen etc. angewandt. Bei dieser Methode werden  die Menschen  befähigt,  die  globalen  Fragen  aus  verschiedenen Perspektiven zu begreifen. Durch bestimmte Bildungsinhalte werden ihnen Werte wie Mitmenschlichkeit, gegenseitige Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenwürde und Grundrechte etc. vermittelt. Erziehung und Bil‐dung haben sich im interkulturellen Denken weitgehend bewährt, insofern sie die Denk‐ und Wissenshorizonte erweitern sowie zu mehr Sensibilität beim Umgang mit anderen Kulturen verhelfen.26 Da Kulturen vielfach auf die Werte der  jeweiligen Gesellschaften bezo‐

gen werden,  lassen sich  ihre Antagonismen viel  leichter aus den sozialen, politischen,  ökonomischen  und  religiösen  Strukturen  ableiten. Dies  führt unterdessen zur Bildung von Kategorien, wie etwa Leistungsfähigkeit oder Standard, als Beurteilungskriterien von Kulturen. So werden die Kulturen aufgrund  der  ökonomischen  Standards  (Volkseinkommen,  Brutto‐Inlandsprodukt  etc.)  oder  der  Leistungsfähigkeit  der Wirtschaftssysteme (Struktur  der Arbeit,  der  Beschäftigung  etc.),  der  politischen,  zivilgesell‐schaftlichen und  religiösen  Institutionen etc. der Länder voneinander un‐terschieden.  Solche  Differenzierungskriterien mögen wissenschaftlich  relevant  sein, 

sollten aber keineswegs dazu  führen, über die Werteanalogien der Kultu‐ren hinwegzusehen. Man denke dabei nur an Werte, wie Ehrlichkeit, Höf‐lichkeit,  Treue,  Loyalität,  Seriosität,  Geduld,  Frieden,  Gesundheit, Auto‐nomie, Glaube, Vertrauen,  Solidarität  etc.,  die  alle Kulturen  und Völker 

26   Siehe z.B. Lothar Bedella und Herbert Christ (Hg.): Begegnung mit dem Frem‐

den, Gießen 1996 

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ausnahmslos  gemeinsam  haben.  Sie  werden  in  den  wissenschaftlichen Analysen  leider  nicht  hinreichend  reflektiert, weshalb  sie  im Weltdialog unangemessen  rezipiert werden. Die  interkulturelle  Philosophie  hat  nun von  dieser  These  der Analogie  auszugehen,  um  nach  neuen Werten  zu suchen, die politisch,  sozial, ökonomisch, ökologisch  etc. kompatibel wä‐ren. 

2. Zur Praxis der interkulturellen Philosophie Die Praxis der interkulturellen Philosophie bezieht sich auf ihre Auseinan‐dersetzungen mit den kulturellen Realitäten der Welt, insbesondere in den Bereichen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft,  internationales Recht und Völ‐kerrecht, Gesundheit  etc. Die  interkulturelle  Praxis  hängt  daher mit  der Etablierung  einer  globalen Ethik  zusammen, deren Quelle  nicht  aus den überkommenen Moraltheorien einer einzelnen Kultur schöpft. Doch nicht die Herkunft als solche stellt das Problem der philosophischen Ethik dar. Sie wird vielmehr kritisiert, daß  sich  ihre dominanten Doktrinen aus der eurozentrischen Motivation heraus konstituiert haben.27 Dieses Argument mag vielleicht verallgemeinernd sein, bleibt insofern stichhaltig, weil selbst die der großen Denker der Aufklärung bei aller Kritik an der europäischen Kultur ihrem Geist verhaftet waren. Schon die Gleichgültigkeit der meisten damaligen  Philosophen  gegenüber  dem  Sklavenhandel,  dem  Kolonialis‐mus und Imperialismus sowie dem Rassismus und Nationalismus genügt, um  diese  These  zu  rechtfertigen. Daher  können  die  Ideen  jener Philoso‐phen nur sehr bedingt universelle Geltung beanspruchen. Dies  trifft ebenfalls auf die Gegenwartsphilosophie aufgrund  ihrer Zen‐

trierung auf die rationalistischen, materialistischen,  idealistischen, empiri‐stischen,  positivistischen, marxistischen,  realistischen  und  sonstigen  ethi‐schen Überlieferungen des Westens zu. Daraus hat sich noch nie eine Sitte entwickelt, auf die selbst alle Völker achten. Von  ihnen zu erwarten, daß sie eine globale Moral herbeiführen,  ist  illusionär. Es  ist nicht zuletzt sehr bedauernswert, daß viele zeitgenössischen Denker Europas, die sogar  für universelle normen eintreten, der neokolonialen Ideologie, der Afrophobie, Semitophobie, und Islamophobie passiv unterworfen sind. Umgekehrt darf 

27   Näheres  dazu  bei  Peter  Sloterdijk:  Im Weltinnenraum  des Kapitals.  Für  eine 

philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt/M. 2006, S. 263 f.  

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man  sich  nicht wundern,  daß  Lehrmeinungen  aus Afrika, China,  Japan, Indien  etc.  nicht  einmal  auf Akzeptanz  in  eigenen Kulturen  stoßen,  ge‐schweige  denn Menschen  in  anderen Kulturen  besonders  begeistern.  Im Gegenteil,  die  okzidentophoben  (antiwestlichen)  und  tribalistischen  oder ethnizistischen  sowie  sonstigen  fundamentalistischen  Tendenzen  bleiben weltweit im Vormarsch. Was für eine Unlogik!  Die interkulturelle Philosophie versucht, sich mit allen Formen von Zen‐

trismen auseinanderzusetzen, um zu zeigen, daß sie gegen die Menschheit ausgerichtet  und  deshalb  nicht  in  der  Lage  sind,  eine  globale  Ethik  für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Menschenwürde, Sicher‐heit etc. zu formulieren, die alle Völker akzeptieren können. So setzt sie auf den Dialog,  um  jeder  Form  des  Ethnomoralismus  entgegenzutreten.  Sie sucht stattdessen nach einer Konvergenz aller moralischen Anschauungen aus allen Denktraditionen, damit sich daraus ein Normensystem herleiten läßt, das mit den gegenwärtigen Erwartungen an die universelle Sittlichkeit vereinbar wäre.  Mit seinem Polylog schlägt Franz Martin Wimmer ein interessantes Mo‐

dell der internationalen Kommunikation vor, das Menschen aus allen Kul‐turen  am Miteinandersprechen  aktiv  teilnehmen  läßt. Dieser Ansatz  soll vertieft werden,  indem man  nach  den  anthropologischen  und  ontologi‐schen Bedingungen sucht, die das Wesen des Polylogs verständlicher ma‐chen.28  Heinz Kimmerle  setzt  sich  seit mehr als zwei  Jahrzehnten mit afrikani‐

schen und europäischen Geistestraditionen  intensiv auseinander und ver‐weist auf einige kulturelle Similaritäten, die nach seiner Ansicht den Dialog zwischen Afrikanern  und  Europäern  ermöglichen  können.  Interkulturell stellt  sich  dennoch  die  Frage,  ob  eine mögliche  europäisch‐afrikanische Kultursynthese zugleich die Basis  für eine wahrhaft universale Moral bil‐den kann.  Während  Kimmerle  rein  hermeneutisch  verfährt,  argumentieren  Ram 

Adhar Mall, Raul Fornet‐Betancourt und viele andere Vertreter der  inter‐

28   Zu Recht weist Wimmer darauf hin, daß es im Gespräch »zwischen vielen über 

einen Gegenstand«  darauf  ankommt,  zu  verstehen,  »was  gemeint  ist«.  Franz Martin Wimmer, Interkulturelle Philosophie, S. 66 und 67. Viel wichtiger wären auch das sich Fragen, ob der Andere mit seiner Ansicht doch nicht Recht hat. 

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kulturellen Philosophie komparatistisch, indem sie die Kulturen meist me‐taphysisch  und  historisch miteinander  vergleichen. Man  soll  nur  darauf achten, daß der Vergleich die sittlichen Ähnlichkeiten verdeutlicht,  indem die Waage  stets  in  der Mitte  gehalten wird,  um  das Gleichgewicht  zwi‐schen den Kulturen aufrechtzuerhalten. Von  diesem  Prinzip  der Nichtbeeinträchtigung  der  kulturellen Gleich‐

wertigkeit  soll  die  interkulturelle  Philosophie  in  Zukunft  ausgehen.  So kann  sie  zeigen,  inwieweit  die Denktraditionen  ungeachtet  ihrer Vielfalt den gleichen moralischen Grundwert haben, der ihre jeweilige Rationalität begründet. Diese  fundamentale These  soll beweisen, daß nur gemeinsam die  Kulturen  zur  ethischen  Erneuerung  der Welt  fähig  sind.  Denn  eine einzelne Kultur, sei es die kapitalistische oder sozialistische, die westliche oder orientalische, die  europäische oder  afrikanische, die  christliche oder die moslemische, die konfuzianische oder buddhistische Kultur etc., kann nicht allein das Los der gesamten Menschheit bestimmen. Doch gemeinsam können sie die Menschen entweder verderben oder beglücken. Zusammengefaßt  besteht  die Aufgabe  der  interkulturellen  Ethik  unter 

anderem darin,  a) die moralischen Aufgaben der Philosophie in der globalen Welt zu bestimmen29, b) eine allgemeine Tugendennomenklatur für Machtträger bei der Lösung interna-

tionaler Aufgaben (Umwelt- und Klimaschutz, Friedenskonsolidierung etc.) zu etablieren

c) die Bedingungen zur Globalisierung der Regeln fürs rationale und verantwortli-che Regieren und Verwalten zu stellen,

d) die rationalen Prämissen für einen globalen Moralkodex zur Vermeidung ethno-zentrischer Ressentiments bei interkulturellen Begegnungen insbesondere in den Bereichen Entwicklungspolitik, Freizeit, Sport, Tourismus, Wirtschaffs- und Handelsbeziehungen etc. zu eruieren,

e) zur sittlichen Verbesserung des Menschen durch Erziehung und Bildung beizu-tragen,

f) eine Werteordnung zu etablieren, auf deren Grundlagen sich die politischen, so-zialen und ökonomischen Denkmodelle der Gegenwart aufbauen lassen können.

29   Arno  Baruzzi  und  Takeichi Akihiro:  Ethos  des  Interkulturellen. Was  ist  das, 

woran wir uns  jetzt und  in Zukunft halten können? Würzburg 1998; Karl‐Josef Kuschel et al (Hg.): Ein Ethos für die Welt? Globalisierung als ethische Heraus‐forderung,  Frankfurt/M.  1999;  Rainer  Zimmer:  Ethik  und  interkulturelle Ver‐nunft: Struktur des universellen Diskurses, Nordhausen 2005. 

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Hatten die Religionen über  Jahrhunderte die Maßstäbe  für das Gute und Böse sowie  für das Wahre und Falsche gelegt, wenn sie auch diesem An‐spruch nie gerecht wurden, würden sie sich heute und in Zukunft mit die‐ser Aufgabe selbst extrem überfordern. Denn keine einzige Religion kann heute  den Anspruch  erheben,  die  Rolle  des  Kompasses  für moralisches Handeln sogar unter religiös gläubigen Menschen würdig zu erfüllen. Ab‐gesehen davon zeigt der moralische Wirrwarr in  jüdisch, islamisch, christ‐lich oder buddhistisch geprägten Ländern, daß auch diese Religionen nur begrenzte Möglichkeiten besitzen, um eine globale Ethik des Friedens und des Dialogs aus eigener Kraft zu etablieren. Ein veritabler Dialog der Kul‐turen, der die Völker versöhnen soll, darf keine  religiösen oder politisch‐ideologischen Ziele  allein  verfolgen, um  nicht die Position des  stärkeren Partners zu  festigen; er  soll ausschließlich epistemischen und normativen Zwecken dienen. Da die Philosophie Wurzeln in jeder Kultur hat, sollte sie die Verantwor‐

tung  übernehmen,  zwischen  den Kulturen  zu  vermitteln,  indem  sie  ihre jeweiligen schriftlich und mündlich überlieferten Theorien neu reflektiert, um sie miteinander so zu konvergieren, daß sie zur Geltung in der globalen Welt kommen können. Dabei soll sie stets das Prinzip der Heterokultur in ihren Mittelpunkt  stellen,  um  die Handlungsmaximen  zu  verdeutlichen, die den Menschen aus allen Weltregionen heute gemein sind. Denn durch die zunehmende Verbreitung von Kommunikationsmitteln und Informati‐onsmedien  sowie  durch  den Massentourismus  und  die  Internationalisie‐rung von Bildung etc. sind fast alle heutigen heterokulturell geworden. Mit anderen Worten: Der homo sapiens  (des 21.  Jahrhunderts)  ist nicht nur ein ökonomisches  (homo  oeconomicus)  und  kommunikatives  (homo  communi‐cans),  sondern  auch und heterokulturelles Wesen. Denn der Mensch ver‐mag, fremde Lebens‐ und Denkstile in sich zu integrieren sowie mit seinen kulturellen Überlieferungen harmonisch zu kombinieren.  So bedient sich der Afrikaner des Englischen, Französischen, Arabischen 

etc. wie seine eigene Muttersprache. Dies trifft auch für einen Perser oder Araber, der chinesische,  indische, kamerunische,  thailändische Küche wie seine  nationalen Gerichte  kocht und  genießt. Man denke  zudem  an  eine Japanerin, die  sich  nur mit der deutschen,  russischen,  spanischen,  engli‐schen,  südafrikanischen  Literatur  identifiziert.  Es  verwundert  in  diesem Zusammenhang nicht, daß sich manche Mitteleuropäerinnen mit der Frage 

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der Genitalverstümmelung und Hexerei in Afrika kompetent auseinander‐setzen können. Nicht zuletzt gibt es Menschen  in Afrika, Asien und Süd‐amerika, die mit den Funktionsmechanismen des westlichen Kapitalismus sehr gut vertraut sind, oder Osteuropäer, die trotz kommunistischer Sozia‐lisation mit  der  demokratischen Machtkontrolle  sowie  der  deregulierten Marktwirtschaft sehr gut umgehen wissen. Diese Beispiele zeigen, daß eine globale  Ethik,  der  sich möglichst  viele Menschen  verpflichten,  durchaus möglich ist. Zwar haben manche Philosophietheorien des  20.  Jahrhunderts, wie die 

des Realismus  (Richard Rorty, Hilary Putnam)30, Konstruktivismus  (Paul Lorenzen)31,  der Universalpragmatik  (Jürgen Habermas)32  und  Transzen‐dentalpragmatik (Hans‐Otto Apel)33 gute formale Regeln für die Argumen‐tationspraxis  bei  internationalen  Begegnungen  geliefert.  Die  Universal‐pragmatik untersucht die Bedingungen für mögliche universale Verständi‐gung  und  versucht,  sie  »zu  identifizieren  und  nachzukonstruieren«. Die Transzendentalpragmatik  bemüht  sich  um  eine Wortgemeinschaft.  Beide praktische  Diskurstheorien  haben  zwar  die  Strukturen  des  Verständi‐gungsprozesses  profund  analysiert,  aber  leider  nicht  erkannt,  daß Men‐schen nur aufgrund ihrer heterokulturellen Eigenschaften oder Kompetenz in der Lage sind, zu einem wahrhaft universalen Konsens zu gelangen oder sich auf viele Fragen ebenso sprachlich wie begrifflich zu verständigen.  Die Realisten Richard Rorty und Hilary Putnam erkennen den Menschen 

aus allen Kulturen die Fähigkeit zu kommunizieren, zu  lernen und zu ar‐gumentieren  zu,  weshalb  sie  die  Grenzen  zwischen  den  Lebensformen sowie  die  interkulturellen  Konflikte  durchaus  für  überwindbar  halten. Dabei  gehen  sie  von  der  Erfahrung Amerikas  als  einer multikulturellen Gesellschaft  von Menschen  aus,  die  trotz  unterschiedlicher Herkunft  ein  30   Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte,  1982;Richard Rorty: Eine 

Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Frankfurt/M. 1993; ders.: Phi‐losophy and the Miror of Nature, Princeton 1997. 

31   Paul  Lorenzen:  Lehrbuch  der  konstruktiven Wissenschaftstheorie, Mannheim 1987. 

32   Jürgen  Habermas:  Was  heißt  Universalpragmatik?  Frankfurt/M.  1976;  ders: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991. 

33   Karl‐Otto Apel: Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionalen Moral, Frankfurt/M. 1988. 

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Zusammengehörigkeitsgefühl (in bestimmten Bereichen) entwickelt haben, die  sie  ihrer gemeinsamen Erziehungskultur verdanken. Für die Relativi‐sten gibt es keinen Rationalitätsstandard für eine Kultur, geschweige denn für alle Kulturen. Auch die Konstruktivisten fordern, daß die Wissenschaf‐ten aus der Lebenswelt aufgebaut und begründet werden.  Ihr Ziel  ist die Verbesserung der Argumentationspraxis. Paul Lorenzen spricht dabei vom vernünftigen Argumentieren, das durch die  »Transsubjektivität« des Ar‐gumentierenden bestimmt sein soll.  Alle diese um Diskurs‐Universalismus bemühten philosophischen Posi‐

tionen vertreten die These, daß alle Völker a priori auf gemeinsame Erfah‐rungen angewiesen seien, man müsse ihnen lediglich zu dieser Erkenntnis verhelfen. So glauben sie zu zeigen, wie die verschiedenen Völker zu einer einheitlichen Auffassung von Vernunft trotz ihrer divergenten Vorstellun‐gen von Werten und Normen kommen könnten. Sie scheinen allerdings zu übersehen, daß diese Fähigkeit, die den Menschen zur Einsicht ihrer ratio‐nalen Gemeinsamkeiten verholfen haben, nicht naturgesetzlich bestimmt, sondern erst durch die verstärkten Begegnung mit anderen Kulturen durch Erziehung, Bildung, Medien, Gastronomie, Reisen, Sport‐ und Musikver‐anstaltungen etc. bedingt ist.  Dieses Vermögen, andere Lebens‐ und Denkweisen in sich zu integrieren 

und zu vereinigen, bestimmt das Wesen des heterokulturellen Menschen. Die Heterokultur  ist mithin eine emotionale und zugleich  rationale Kraft, die  jeden Menschen dazu  treibt, die Nähe zu  jedem Anderen ohne Rück‐sicht  auf  dessen  Herkunft  zu  suchen.  Aufgrund  ihrer  heterokulturellen Eigenschaft fällt es den Menschen heute viel leichter, eine religiöse, politi‐sche und ökonomische Allianz  jenseits aller geographischen und kulturel‐len Grenzen zu bilden. Will die  interkulturelle Philosophie eine wahrhaft globale Ethik der Vielfalt realisieren, der alle Völker verpflichtet sein kön‐nen,  so  sollten  ihre Denkmodule  für Gesellschafts‐,  Rechts‐,  Staats‐  und Wirtschaftsordnungen der heterokulturellen Realität der Menschen Rech‐nung tragen. 

Literaturangabe: Mabe,  Jacob Emmanuel: Zur Theorie  und Praxis  interkultureller Philosophie, in: Interkulturalität. Diskussionsfelder eines umfassenden Begriffs, hrsg. v.  Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer, Nordhausen 2010 (35‐52).