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46 RAAbits Ethik/Philosophie März 2016 S I 1 Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie A Anthropologie · Beitrag 40 Wilhelm Schmids Philosophie der Lebenskunst – über die Kunst, glücklich zu sein Julia Witt, Hannover Klasse: 9/10 Dauer: 14 Stunden Arbeitsbereich: Anthropologie / Glück und Glückstheorien Ist glücklich, wer Spaß hat? Wilhelm Schmid fordert dieses Glücksverständnis heraus, indem er ihm ein starkes Lebenskonzept gegenüberstellt, das den Menschen in seiner Komplexität anerkennt und das Leben mit seinen Höhen und Tiefen ins Zentrum seiner Betrachtungen rückt. Die Lektüre zentraler Textstellen aus seinem Buch Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist lädt die Lernenden ein, ihr Verständ- nis von Glück zu überdenken und Erfüllung im Leben jenseits oberflächlicher Freuden zu suchen. Sie ermutigt zur aktiven Gestaltung eines erfüllten Lebens im Sinne der philosophi- schen Lebenskunst. Die Jugendlichen lernen, verschiedene Arten von Glück zu unterschei- den, und setzen sich mithilfe vielfältiger handlungs- und produktionsorientierter Verfahren ganzheitlich mit dem Thema Glück auseinander. Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer, (um 1818), © Kunsthalle Hamburg. Die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen vermittelt erst den Eindruck, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren. (Wilhelm Schmid) zur Vollversion

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46 RAAbits Ethik/Philosophie März 2016

S I 1Wilhelm Schmids LebenskunstphilosophieA Anthropologie · Beitrag 40

Wilhelm Schmids Philosophie der Lebenskunst –

über die Kunst, glücklich zu sein

Julia Witt, Hannover

Klasse: 9/10

Dauer: 14 Stunden

Arbeitsbereich: Anthropologie / Glück und Glückstheorien

Ist glücklich, wer Spaß hat? Wilhelm Schmid fordert dieses Glücksverständnis heraus, indem

er ihm ein starkes Lebenskonzept gegenüberstellt, das den Menschen in seiner Komplexität

anerkennt und das Leben mit seinen Höhen und Tiefen ins Zentrum seiner Betrachtungen

rückt. Die Lektüre zentraler Textstellen aus seinem Buch Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist lädt die Lernenden ein, ihr Verständ-

nis von Glück zu überdenken und Erfüllung im Leben jenseits oberflächlicher Freuden zu

suchen. Sie ermutigt zur aktiven Gestaltung eines erfüllten Lebens im Sinne der philosophi-

schen Lebenskunst. Die Jugendlichen lernen, verschiedene Arten von Glück zu unterschei-

den, und setzen sich mithilfe vielfältiger handlungs- und produktionsorientierter Verfahren

ganzheitlich mit dem Thema Glück auseinander.

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Die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen vermittelt erst

den Eindruck, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren.

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S I2 Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie A Anthropologie · Beitrag 40

Fachwissenschaftliche Orientierung

Von Beginn an ist der Mensch auf der Suche nach einem glücklichen und erfüllten Leben. Im

Zentrum steht dabei die Frage: Bin ich für mein Glück selbst verantwortlich? Und wenn ja: Was

kann ich tun, um glücklich zu werden?

I Glück gleich Spaß und Erfolg? – Unser Glücksbegriff heute

Unsere Gesellschaft verbindet Glück vor allem mit Leistungsfähigkeit und Spaß. „Glück gilt

heute mehr denn je als universelle Forderung. Von jedem wird freudiges Vergnügtsein und

absolute Leistungsbereitschaft erwartet. […] Das hier formulierte Ideal […] ist [jedoch] so hoch,

dass man schon im Voraus entmutigt aufgibt, hat man einmal festgestellt, dass man seine

Unvollkommenheit niemals überwinden wird. […] Unglück ist das Stigma der Versager und

Faulen. Auf alle Fälle muss man seine glitzernde Fassade aufrechterhalten.“1

So entsteht ein großer Druck, der viele Menschen inmitten ihres Bemühens, diesem Idealbild

zumindest nach außen hin gerecht zu werden, vergessen lässt, nach innen zu hören und sich

zu fragen, was Glück für sie selbst bedeutet. Vor allem Jugendliche, die nicht mehr Kind sind

und noch nicht erwachsen, leiden unter dem an sie formulierten Anspruch. Sie sind noch auf

der Suche nach Orientierung und müssen das Selbstvertrauen, ihren eigenen Weg zu gehen,

erst entwickeln.

II Glück aus der Perspektive der philosophischen Lebenskunst – eine Alternative?

Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie bietet Orientierung bei der Suche nach einem Glück

jenseits oberflächlicher Konsumversprechen. In seiner Kurzschrift Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist unterscheidet er drei Erschei-

nungsformen von Glück, bestimmt deren Wert und setzt sie anschließend in Beziehung zuein-

ander.

Er unterscheidet das Zufallsglück vom Wohlfühlglück, das Spaß und Konsum mit einschließt.

Das eigentliche philosophische Glück aber nennt Schmid das Glück der Fülle. Dieses ergibt sich,

wenn wir das Leben anzunehmen vermögen, wie es ist, mit all seinen Höhen und Tiefen. Nur

wenn es uns gelingt, Freude und Traurigkeit – im positiven Sinne als Melancholie verstanden

– in unserem Leben Raum zu geben und zwischen diesen Polen eine Balance zu finden, werden

wir glücklich.

Mit einer heiter-gelassenen Haltung begegnet der philosophische Lebenskünstler dem Zufalls-

glück, den positiven Fügungen im Leben, und weiß sie für sich zu nutzen. Er weiß das Wohl-

fühlglück im Bewusstsein seiner Vergänglichkeit zu genießen. Zugleich erkennt der philosophi-

sche Lebenskünstler auch die Notwendigkeit der Widrigkeiten des Lebens an und nimmt sie

gelassen hin. Denn über allem steht die Erkenntnis, dass wir weniger nach Glück als vielmehr

nach Sinn suchen. Dieser aber wird gestiftet durch Zusammenhänge auf verschiedenen Ebenen

des Lebens. Er ergibt sich aus der Verbundenheit mit anderen Menschen, in Form von Freund-

schaft oder Liebe, oder durch die Verbundenheit mit einer Aufgabe, der Heimat oder der Natur.

Das Glückskonzept Wilhelm Schmids fordert uns dazu auf, unser Leben bewusst zu reflektieren

und es aktiv zu gestalten. Die Benennung und Unterscheidung der verschiedenen Arten von

Glück führt uns die Wertigkeiten in unserem Leben vor Augen. Wir erkennen, wie wichtig es ist,

das Leben in all seinen Schattierungen anzuerkennen. Anstatt die negativen Aspekte zu ver-

drängen, sind wir aufgefordert, diese als Teil unseres Lebens zu begreifen, sie zu akzeptieren

und zu integrieren. Wilhelm Schmids Glückskonzept eröffnet so die Perspektive auf ein erfülltes

Leben.

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S I 3Wilhelm Schmids LebenskunstphilosophieA Anthropologie · Beitrag 40

Didaktisch-methodische Überlegungen

I Wie bettet sich diese Reihe in den Lehrplan?

Die Frage nach dem Glück ist eines der zentralen Themen im Arbeitsbereich Metaphysik im

Bildungsplan Hamburg Sekundarstufe I für das Gymnasium2. Dabei steht in der Mittelstufe

zunächst die Begriffsbestimmung im Fokus der Aufmerksamkeit. Unterschieden wird zwischen

Glück haben und glücklich sein. In der Folge geht es um die Frage, wie es gelingen kann, ein

glückliches Leben zu führen. Dabei wird zumeist auf antike Philosophen wie Epikur oder Seneca

Bezug genommen.

Dieser erste Zugang zum Thema stellt eine gute Grundlage für diese Einheit dar. Denn auf diese

Erkenntnisse aufbauend setzen sich die Lernenden innerhalb dieser Reihe mit dem ebenso

komplexen wie anspruchsvollen Glückskonzept eines zeitgenössischen Philosophen auseinan-

der. Die Auseinandersetzung mit Schmids Texten fordert von den Lernenden, ihre Glücksvor-

stellungen und diejenigen der Gesellschaft kritisch zu beleuchten und eine eigene begründete

Position zu formulieren.

Deshalb eignet sich diese Reihe auch für den Philosophieunterricht der gymnasialen Oberstufe.

Denn sie fordert von den Jugendlichen, sich mit „grundsätzlichen Fragen und Problemen

auseinander(zusetzen), die ihr Welt- und Selbstverständnis berühren“3. Gerade auf der Schwel-

le zum Erwachsenwerden gewinnt die Frage, wie man ein erfülltes Leben führt, vor allem für

Jugendliche in der Sekundarstufe II an Bedeutung.

II Welche Ziele verfolgt diese Reihe?

Die Lernenden setzen sich kritisch mit ihrem eigenen Glücksverständnis und demjenigen der

Gesellschaft auseinander. Sie bestätigen oder erweitern ihr persönliches Glücksverständnis in

der Auseinandersetzung mit Schmids Texten. Bestenfalls werden sie dazu ermutigt, ihr Leben

im Sinne der philosophischen Lebenskunst zu reflektieren und aktiv zu gestalten.

III Wie ist die vorliegende Reihe aufgebaut?

Der Verlauf der Einheit folgt dem Dreischritt, welcher Wilhelm Schmids Text Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist zugrunde liegt. Zu

Beginn der Reihe widmen sich die Lernenden den beiden ihnen vertrauten Glücksarten, dem

Zufallsglück und dem Wohlfühlglück. Anschließend setzen sie sich mit Schmids Definition von

Glück als Verbundenheit auseinander und erörtern abschließend sein Konzept des philosophi-

schen Glücks, des Glücks der Fülle.

Der Einstieg in die jeweilige Stunde regt die Lernenden zunächst zu eigenen Gedanken an. Nach

der Lektüre der Texte erhalten die Jugendlichen dann die Möglichkeit, sich entweder kognitiv

oder kreativ-gestalterisch mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen.

Tipp

Da die Reihe sich auf Wilhelm Schmids Glückstexte konzentriert, ist es sinnvoll, so Zeit zur Ver-

fügung steht, die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Texten durch Kurzreferate zu den

Glückskonzepten antiker Philosophen zu ergänzen.

Stunde 1 und 2: Was ist Glück?

Mithilfe von Zeitungsausschnitten erstellen die Lernenden eine Collage zum Thema Glück. An-

schließend systematisieren sie die in den Collagen zur Sprache kommenden Aspekte zum

Thema Glück in Partnerarbeit. Diese werden im Plenum an der Tafel gemeinsam kategorisiert.

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S I 7Wilhelm Schmids LebenskunstphilosophieA Anthropologie · Beitrag 40

Materialübersicht

Stunde 1 und 2 Was ist Glück?

[Die Lernenden erstellen eine Collage aus selbst mitgebrachten Materialien.]

Stunde 3 und 4 Was, wenn das Glück dich zufällig trifft? – Auf die Haltung kommt es an!

M 1 (Bd) Wenn plötzlich das Glück vor der Tür stehtM 2 (Tx) Wilhelm Schmid: Das Zufallsglück

Stunde 5 und 6 Ist Spaß das Wichtigste im Leben? – Der Wert des Wohlfühlglücks

M 3 (Bd/Fo) Freude und Leid – beide gehören zum LebenM 4 (Tx) Wilhelm Schmid: Das WohlfühlglückM 5 (Ab) Teste dein Textverständnis! – Ein Begriffspuzzle

Stunde 7 Was bleibt in der Not? – Was Glück wirklich für dich bedeutet

[Die Lernenden diskutieren über selbst erstellte Fotos von Dingen, die für sie wertvoll sind.]

Stunde 8 Ist es sinnvoll, glücklich zu sein? – Das Glück der Verbundenheit

M 6 (Tx) Wilhelm Schmid: Über den Zusammenhang von Glück und Sinn

Stunde 9 und 10 Kann es glücklich machen, unglücklich zu sein? – Das Glück der Fülle

M 7 (Tx/Fo) Wilhelm Schmid: Das Glück der FülleM 8 (Ab) Was ist das Glück der Fülle? – Ein Partnerinterview

Stunde 11 und 12 Lernerfolgskontrolle

M 9 (Ab) Klausurvorschlag: Wilhelm Schmid: Das Glück des Unglücklichseins

Stunde 13 und 14 Bist du ein philosophischer Lebenskünstler?

M 10 (Ab) Erstelle dein eigenes Glücksprodukt!M 11 (Tx/Bd) 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuenM 12 (Tx) Schreibaufträge für das philosophische Portfolio

Abkürzungen

Ab = Arbeitsblatt, Bd = Bild , Fo = Folie, Tx = Text

Minimalplan

Ist es zu zeitaufwändig, in der ersten Stunde Collagen erstellen zu lassen, kann die kreative Phase zugunsten eines Plenumsgespräches entfallen, in dem der Begriff „Glück“ erörtert wird. An die Stelle der Betrachtung von Fotos kann ein Gedankenspiel treten, das schriftlich oder mündlich durchgeführt wird. Die Erstellung eines eigenen Produkts in den Stunden 13 und 14 ist fakultativ. An die Stelle einer abschließenden schriftlichen Leistungsüberprüfung kann die Bewertung der Schülerprodukte treten.

Alle unsere Unterrichtseinheiten bieten wir Ihnen in

unserem Portal RAAbits Ethik online nun auch als

veränderbare Word-Dokumente an.

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46 RAAbits Ethik/Philosophie März 2016

S I16 Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie A Anthropologie · Beitrag 40

M 4 Wilhelm Schmid: Das Wohlfühlglück

Spaß und gute Laune gehören zum Leben. Wer wünscht sich nicht, möglichst oft gut drauf zu

sein? Schöne Dinge wie ein leckeres Essen, ein tolles Konzert oder einfach eine gute Zeit mit

Freunden genießen – das sind für viele die Highlights des Alltags. Wichtig aber ist, um deren

Vergänglichkeit zu wissen.

Suchen Menschen in moderner Zeit nach Glück,

so verstehen sie darunter meist, dass es ihnen

gut geht, dass sie gesund sind, sich wohlfüh-

len, Spaß haben, angenehme Erfahrungen ma-

chen, Lüste empfinden, Erfolg haben, kurz: all

das erleben, was als positiv gilt. Menschen su-

chen ihr Glück vorzugsweise in der „guten

Stimmung“, und wenn es dann doch zu einer

Verstimmung kommt, müssen sie sich von die-

ser lästigen Störung alsbald wieder befreien.

[…] In England präzisierte Jeremy Bentham,

der Begründer der philosophischen Schule des

Utilitarismus, was unter Glück zu verstehen sei.

[…] Glück sei, so Bentham in seinem Buch Ein-

führung in die Prinzipien der Moral und der Ge-

setzgebung, […] eine Maximierung von Lust

sowie Minimierung oder besser Eliminierung

von Schmerz. […]

Nicht dass es in irgendeiner Weise verwerflich sein könnte, Lüste zu empfinden und von Schmer-

zen frei zu sein. Das Problem ist nur: Diese Art von Glück hält nie lange vor. Es hat seine Zeit,

die „gute Stunde“ eines bonheur, es hält glückliche Augenblicke bereit, für die der Einzelne sich

offen halten und die er auch selbst präparieren kann. […] So ein Glücksmoment ist eine aroma-

tisch duftende, wohlschmeckende Tasse Kaffee. Oder ein schöner Film, der zelebriert wird oder

für den man vielleicht einen ganzen Abend im Kino verbringt. Oder das vertraute Gespräch, in

dem Liebende und Freunde sich miteinander gelegentlich selig verlieren, denn die Auf-

merksamkeit des Anderen tut so gut, dass es dabei kaum je zu zur Sättigung kommt. Oder die

Wellness, die in der Sauna, im Spa oder sonst wo zu genießen ist. Die Schokolade nicht zu

vergessen. […]

Auch die Herausforderung, die bewältigt wird, die neue Erkenntnis, die neue Erfahrung, der

unbekannte Weg, die ungewohnte Umgebung, die andere Tätigkeit, solange sie den Reiz des

Neuen bietet. Und durchweg die Freude auf all das, das Verlangen und Begehren danach, das

oft mehr Glück vermittelt als das Genießen selbst, noch dazu eines, das weit länger vorhält. […]

Man kann sich wohlfühlen aufgrund eines Gelingens, eines Erfolgs, die umso mehr zu genie-

ßen sind, wenn ihnen eine große Anstrengung vorausgegangen ist, aber an Genuss verliert,

wenn sie keine Mühe gekostet haben, da dann die Kontrasterfahrung fehlt. […]

Ohne jeden Zweifel hat dieses Glück seine Bedeutung, und es ist sinnvoll, es zu nutzen, und

auch nicht zu knapp. Aber es ist die philosophische Lebenskunst, die einen Menschen davor

bewahren kann, das gesamte Leben mit einem einzigen Wohlfühlglück zu verwechseln. Beizei-

ten stellt sie ihn darauf ein, dass es noch andere Zeiten geben wird, dass nicht alles jederzeit

lustvoll sein kann und völlige physische und psychische Schmerzfreiheit nicht zu erreichen ist.

Wie es um die Maximierung der Lust bestellt ist, kann jede und jeder im Grunde jeden Tag in

Erfahrung bringen: Ein Essen schmeckt sehr gut? Nach der dritten Portion verkehrt sich das

Wohlgefühl in ein Unwohlsein. Der Wein ist exzellent? Aber der Genuss wächst keineswegs mit

der Zahl der Gläser. Das Gespräch ist spannend? Aber irgendwann macht sich Erschöpfung

breit. Was eben noch so lustvoll erschien, verliert plötzlich an Anziehungskraft.

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S I 27Wilhelm Schmids LebenskunstphilosophieA Anthropologie · Beitrag 40

M 7 Wilhelm Schmid: Das Glück der Fülle

„Heitere Gelassenheit ist das Bewusstsein davon, dass in allem, was ist, auch noch etwas an-

deres möglich ist; dass Höhen und Tiefen sich abwechseln wie Tag und Nacht, wie Ein- und

Ausatmen; dass dies der Takt des Lebens ist, das aus der Polarität in allen Dingen seine Span-

nung bezieht.“ (Wilhelm Schmid)

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Aufgabe (M 7)

Beschreibe das Bild „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich. Stelle dann

einen Bezug her zwischen dem Bild oben und dem Text Wilhelm Schmids. Welche Facetten des

„Glücks der Fülle“ finden sich im Bild wieder? Welche Haltung dem Leben gegenüber kommt

hier zum Ausdruck?

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S I28 Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie A Anthropologie · Beitrag 40

M 7 Wilhelm Schmid: Das Glück der Fülle

Freude und Leid, Sinn und Verbundenheit – wie passt das zusammen? Im nachfolgenden Text

erläutert Wilhelm Schmid, was für ihn das „eigentlich philosophische Glück“ ausmacht. Zu-

gleich stellt er dar, wie mit diesem Glück umzugehen ist …

Die antiken Philosophen, Platon, Aristoteles, Seneca, die alle schon vom Glück sprachen, […] schrieben ihm vor allem Dauerhaftigkeit zu. Das bloße Wohl-fühlglück konnten sie damit nicht gemeint haben. […] Glück […] geht nicht darin auf, nur eine Seite des Le-bens, nämlich die des Angenehmen, Lustvollen und „Positiven“, anzuerkennen und allein zu betonen.

Das größere Glück, das Glück der Fülle, umfasst immer auch die andere Seite, das Unangenehme, Schmerzliche und „Negative“, mit dem zurechtzukom-men ist. Niemand sucht dieses Andere, aber auszu-schließen ist es nicht. Im besten Fall ist es zu mäßigen, und die beste Voraussetzung dafür ist, das Andere des Lebens in seinem Recht auf Existenz grundsätz-lich anzuerkennen.

Abhängig ist dieses Glück der Fülle allein von der geistigen Haltung zum Leben, die ein Mensch ein-nimmt und im Laufe der Zeit im Denken einübt, ausgehend von der Überlegung, was denn das Ei-gentümliche des Lebens durch all seine Phänomene und Unwägbarkeiten hindurch ist: Ist es nicht die Po-

larität, die Gegensätzlichkeit und Widersprüchlich-keit, die sich in allen Dingen und Erfahrungen zeigt? […] Die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen vermittelt erst den Eindruck, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren. Wodurch sollte dieses Glück jemals infrage gestellt werden?

Was zur Fülle des Lebens beiträgt, bestärkt dieses Glück, geschwächt wird es durch die Verein-seitigung der Erfahrung, meist nach der Seite des Angenehmen hin, die am ehesten festzuhal-ten versucht wird. Dieses Glück ist umfassender und dauerhafter als alles Zufallsglück und Wohlfühlglück; es ist das eigentlich philosophische Glück, nicht abhängig von günstigen und ungünstigen Zufällen, von den momentanen Schwankungen zwischen Wohlgefühl und Un-wohlsein, vielmehr die immer aufs Neue zu findende Balance in aller Polarität des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, sondern durch das gesamte Leben hindurch: Nicht nur Gelingen, auch Misslingen; nicht nur Erfolg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz; nicht nur Gesundheit, auch Krankheit; nicht nur Fröhlichsein, auch Traurigsein; nicht nur Zufrie-densein, auch Unzufriedensein. […]

Zufallsglück und Wohlfühlglück beruhen auf vereinzelten Erfahrungen, kleinen und größeren Episoden, sodass von einem episodischen Glück die Rede sein kann, das zufällig geschieht und sich gelegentlich zeigt. […] Das Glück der Fülle ist demgegenüber ein anhaltendes, auch ein zurückhaltendes Glück, das die Zeiten übergreift und von Dauer ist, ein epochales Glück, das erst möglich wird durch die Einbeziehung all dessen, was die Fülle des Lebens ausmacht. Wer von diesem Glück etwas Spektakuläres erwartet, wird wohl enttäuscht sein: Es ist nichts Beson-deres. Schwer zu erreichen ist es vor allem dadurch, dass immerzu nach dem Besonderen und Spektakulären gesucht wird. […]

Die Heiterkeit ist eine geistige Haltung, die der Fröhlichkeit ebenso viel Bedeutung zumisst wie der Traurigkeit. Die Gelassenheit ermöglicht das Gewährenlassen auch des Abgründigen und

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Das philosophische Glück meint die immer aufs Neue zu findende Balance in aller Polarität des Lebens.

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S I30 Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie A Anthropologie · Beitrag 40

M 8 Was ist das Glück der Fülle? – Ein Partnerinterview

Nachdem du den Text über das Glück der Fülle gelesen hast, überprüfe nun gemeinsam mit

deinem Nachbarn / deiner Nachbarin dein Textverständnis. Führt ein Interview durch, in dem

ihr euch abwechselnd Fragen zum Text stellt. Entscheidet vorab, wer von euch Person A und

wer Person B ist.

Person A beantwortet die Fragen 1 und 3

und notiert Bs Antwort auf die Fragen 2

und 4.

Person B beantwortet die Fragen 2 und 4

und notiert As Antworten auf die Fragen 1

und 3.

1 Wodurch unterscheidet sich das Glück

der Fülle vom Zufalls- und Wohlfühl-

glück?

2 Was meint Schmid mit dem Begriff

Polarität in Bezug auf das Glück der

Fülle?

3 Nenne drei der Gegensatzpaare,

die laut Schmid zum Glück der Fülle

gehören.

4 Wie nennt Schmid die geistige Haltung,

die der philosophische Lebenskünstler

dem Glück der Fülle gegenüber einneh-

men sollte? Erkläre, was damit gemeint

ist.

Aufgabe (M 8)

Ihr habt den Text über das „Glück der Fülle“ gelesen. Füllt nun gemeinsam die Spalten auf der

linken und rechten Seite der Tabelle aus. Befragt euch wechselseitig und notiert eure Antworten.

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S I38 Wilhelm Schmids Lebenskunstphilosophie A Anthropologie · Beitrag 40

M 11 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen

Die Australierin Bronnie Ware ist Palliativpflegerin und betreut sterbenskranke Menschen. Diese hat sie gefragt, was sie am Ende ihres Lebens am meisten bereuen. Anbei findest du eine Liste mit den fünf Versäumnissen, welche sie genannt haben.

Versäumnis Nummer 1:

Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst

treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es

von mir erwarteten.

Versäumnis Nummer 2:

Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.

Versäumnis Nummer 3:

Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen

Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Versäumnis Nummer 4:

Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen

Freunden gehalten.

Versäumnis Nummer 5:

Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.

Text: Ware, Bronnie: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden.

Arkana Verlag, München 2013.

Aufgaben (M 11)

1. Stellt Vermutungen darüber an, welche Versäumnisse Sterbende am Ende ihres Lebens am meisten bereuen. Vergleicht eure Antworten anschließend mit denen, die Bronnie Ware er-halten hat. Äußert euch zu Entsprechungen und Unterschieden, aber auch dazu, welche Nennungen euch überrascht haben.

2. Stellt einen Bezug zu Wilhelm Schmids Glückskonzept her. Arbeitet heraus, mit welchen Glücksarten oder welchem Verständnis von Glück die einzelnen Versäumnisse korrespondie-ren. Haltet eure Ergebnisse auf Folie fest.

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