Zur Zukunft der Demokratie – Europäische Perspektiven · Die Zukunft der Europäischen Union ......

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126. Bergedorfer Gesprächskreis Zur Zukunft der Demokratie – Europäische Perspektiven 13.–15. Juni 2003 in der Villa La Fonte, Florenz

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126. Bergedorfer Gesprächskreis

Zur Zukunft der Demokratie – Europäische Perspektiven

13.–15. Juni 2003 in der Villa La Fonte, Florenz

Fotodokumentation 1Teilnehmer 20Zusammenfassung 21

Anhang

Teilnehmer 126Literaturhinweise 132Glossar 134Register 144Bisherige Gesprächskreise 149Die Körber-Stiftung 167Impressum 168

Protokoll

Begrüßung 23

I.Traditionen und aktuelle Trends – Demokratie in Europa zwischen Nation und Union 27II.Die nationale Ebene – ähnliche Herausforderungen, unterschiedliche Antworten ? 58III.Die Zukunft der Europäischen Union – Perspektiven einer supranationalen Demokratie 94

INHALT

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DISKUSSIONSLEITER

Roger de WeckPublizist, Berlin und Zürich

REFERENTEN

Henri de Bresson,Europakorrespondent, Le Monde, Paris Prof. Andrea Manzella, Senator; Direktor, Advanced School of Parliamentary Law, RomProf. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt / OderProf. Larry Siedentop, Keble College, Oxford UniversityGijs de Vries,Regierungsvertreter der Niederlande, Europäischer Konvent, Den HaagProf. Helen Wallace,Direktorin, Robert Schuman Centre, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

TEILNEHMER

Peter Altmaier, MdB,Mitglied des Deutschen Bundestags, BerlinProf. Dr. P. Nikiforos Diamandouros,Europäischer Bürgerbeauftragter, StraßburgSilvio Fagiolo,Botschafter Italiens in der Bundesrepublik Deutschland, BerlinDr. Peter Frey,Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios, BerlinGary Gibbon,Politischer Korrespondent, Channel 4 News, London

Dr. Anne-Marie Le Gloannec,Centre Marc Bloch, BerlinDr. Minu Hemmati,Unabhängige Beraterin, London und BerlinAli H. Jafari, Direktor, Centre for Euro-American Studies, IPIS, TeheranProf. Dr. Lena Kolarska-Bobinska,Direktorin, Institute of Public Affairs, WarschauDr. Ivan Krastev,Direktor, Centre for Liberal Strategies, SofiaProf. Dr. Christine Landfried, Universität HamburgProf. Philippe C. Schmitter,Europäisches Hochschulinstitut, FlorenzCarsten Schneider, MdB,Mitglied des Deutschen Bundestags, BerlinProf. Stephen F. Szabo,Johns Hopkins University, Washington D.C.Dr. Levin von Trott zu Solz,Bergedorfer Gesprächskreis, BerlinProf. William Wallace, Lord Wallace of Saltaire,House of Lords; London School of Economics and Political Science, LondonDr. Klaus Wehmeier,Körber-Stiftung, HamburgDr. Richard von Weizsäcker,Bundespräsident a. D., BerlinChristian Wriedt,Körber-Stiftung, Hamburg

INITIATOR

Dr. Kurt A. Körber

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Während der Schlussberatungen des Europäischen Konvents tagte der 126. Berge-dorfer Gesprächskreis »Zur Zukunft der Demokratie – Europäische Perspektiven«. In Florenz, wo während der Renaissance antike Ideale mit neuem Leben erfüllt wurden, ging es um die Zukunft des demokratischen Modells der Polis von Athen. Welche Probleme und welche Chancen, so fragten Vertreter aus den alten EU-Staa-ten, den Beitrittskandidaten und den USA, hat die Demokratie im vereinten Europa vor dem Hintergrund einer sich rapide wandelnden Welt ? Unter dem Vorsitz Richard von Weizsäckers und der Moderation von Roger de Weck unternahm der Gesprächskreis zunächst eine Bestandsaufnahme. Durch das globale Zusammenwachsen von Märkten sinke das Vermögen traditioneller politischer Institutionen, Entwicklungen zu steuern und Probleme zu lösen. Kom-plexe politische Entscheidungsprozesse seien immer weniger transparent. Das führe zu Vertrauensverlust und Apathie. Die Folgerungen fielen unterschiedlich aus : Manche Teilnehmer forderten, politische Autonomie gegen die Einflüsse der Globalisierung zu verteidigen. Andere verlangten die Anpassung politischer Insti-tutionen. Die Krise biete auch Chancen, etwa wenn der Mitgliederschwund der Parteien jungen Leuten den Aufstieg in politische Entscheidungspositionen er-laubt. Neue politische Institutionen, wie transnationale Netzwerke und NGOs, gewönnen an Bedeutung. Kontrovers war die Frage, welche Rolle Medien und die politische Klasse bei der Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit und eines europäischen politischen Bewusstseins spielen.In einem zweiten Abschnitt konzentrierte sich der Gesprächskreis auf die natio-nale Dimension der Demokratie. Einerseits seien nationale Identitäten und Insti-tutionen nach wie vor zentral wichtig für die Legitimität politischer Entscheidun-gen. Doch Nationalstaaten verlören in zwei Richtungen an Macht : So könne man lokale und regionale Probleme effektiver dezentral lösen, europäische und glo-bale Probleme auf der Ebene der EU. Vor allem in einigen Beitrittsländern der EU, so deren Vertreter, sei das Vertrauen in nationale Politik gering. Deshalb sei man dort durchaus bereit, die neu gewonnene nationale Souveränität an europäische Institutionen abzugeben.Schließlich ging es um die europäische Ebene und, in Anwesenheit von zwei Kon-ventsmitgliedern, um den Entwurf einer europäischen Verfassung. In einem Vergleich mit der Philadelphia Convention der USA von 1787 lobten die Teilneh-

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ZUSAMMENFASSUNG

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mer dessen zukunftweisende Funktion. Doch müssten die nationale und europä-ische Ebene besser verbunden werden – ob durch ein »europäisches CNN«, Bil-dungseinrichtungen oder bessere Kommunikation europäischer Politik durch nationale Politiker. Die anwesenden Praktiker und Theoretiker kamen so zu einer positiven Gesamteinschätzung, schlugen aber vor allem eine Vielzahl von Verbes-serungen für konkrete Defizite vor.

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von Weizsäcker

Begrüßung

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie herzlich zu unserem 126. Bergedorfer Gesprächskreis begrüßen und Ihnen allen dan-ken, dass Sie der Einladung gefolgt sind. Wir sind in Florenz zu-sammengekommen, um uns mit dem Problem der Demokratie in Europa auseinander zu setzen – einem äußerst vielschichtigen Thema, das uns lokal, regional, national, europäisch, transatlan-tisch und weltweit beschäftigt. Besondere Aktualität gewinnt un-

sere Diskussion durch den Umstand, dass der Europäische Konvent gestern den Entwurf einer europäischen Verfassung verabschiedet hat.Mit dem Ort Florenz verbindet man in erster Linie das 15. Jahrhundert und die Geburt der Renaissance. In der gegenwärtigen transatlantischen Kontroverse über den Umgang mit dem Nahen und Mittleren Osten gelangen wir sehr schnell zu der Frage, ob unser Ziel wirklich ist und sein kann, in der islamischen und arabi-schen Welt die Demokratie einzuführen. In diesem Zusammenhang hört man immer wieder, die Etablierung der Demokratie in einem Land setze voraus, dass die Gesellschaft die geistigen Entwicklungen der Renaissance und der Aufklärung durchlaufen hat. Wir befinden uns hier am Entstehungsort der Renaissance, aber es bleibt zu klären, ob dies auch der Entstehungsort der modernen Demokra-tie ist. Beim Thema Demokratie situiert uns Florenz irgendwo zwischen Giscard d’Estaing und den Medici. Es liegt nun an uns, daraus eventuelle Schlüsse für unsere eigene Zukunft zu ziehen. Herrn de Weck danke ich, dass er die Last auf sich genommen hat, uns durch dieses schwierige Thema zu leiten, und vertraue ihm nunmehr die Gesprächsfüh-rung an.

Dieses Protokoll enthält eine von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern

autorisierte, überarbeitete Version ihrer mündlichen Beiträge.

PROTOKOLL

Wir sind zusammengekommen, um ein in der Tat hochaktuelles und brisantes Thema zu diskutieren : die Zukunft der Demokratie in Europa. Wir haben das Privileg, zwei Mitglieder des Europäischen Konvents unter uns zu haben, Herrn de Vries und Herrn Altmaier. Wir alle sind auf Ihre Erfahrungen gestern bei der Verabschiedung des Verfassungsentwurfs gespannt. Ehe wir in die Diskussion einsteigen, möchte ich daher beide bitten, uns kurz von der Stimmung, die ges-tern im Konvent herrschte, zu berichten.

Ich habe immer noch den Chor aus der 9. Sinfonie Beethovens im Ohr, der zum feierlichen Abschluss des Konvents gespielt wurde. Allerdings hätte diese wunder-volle Musik in einem echten Konzertsaal besser geklungen als in der Halle, in der die Mitglieder des Konvents zusammengekommen waren.

Die Mitglieder des Konvents geraten leicht in Versuchung, ihre Arbeit und deren Ergebnisse zu überschätzen, während andere, die nicht bei den Diskussio-nen dabei waren, dazu neigen, sie zu unterschätzen. Wie so oft kann man der Ansicht sein, das Glas sei halb voll oder eben halb leer. Aber hier handelt es sich in jedem Fall um ein sehr großes Glas. Im Vergleich zu den vorangegangenen Regierungskonferenzen hat dieser Konvent eine ganze Reihe von substanziellen Verbesserungen erzielt, und zwar sowohl im Bereich der eigentlichen europä-ischen Politik als auch in Verfahrensfragen. Aber wie die anderen europäischen Übereinkünfte enthält auch dieser Text viele Kompromisse. Die Veränderungen sind daher eher schrittweise als revolutionär, aber ich denke, wir könnten am Ende wirkliche Fortschritte erreichen.

Fortschritte wurden in einigen Schlüsselfragen erzielt. Die Stellung der Men-schenrechte in der EU wurde gestärkt, ebenso die Verankerung der Demokratie in der Union. Auch ist der EU-Vertrag um einiges verständlicher geworden, zumin-dest für Eingeweihte. Ob er auch für den durchschnittlichen Wähler einfacher ge worden ist, wird sich zeigen. Im Gegensatz zu diesen positiven Entwicklungen hat der Konvent in der wichtigen Frage der Effektivität noch nicht genug erreicht. Wenn die Europäische Kommission dem Konvent allerdings den Auftrag gäbe, noch weiter an dem dritten Teil des Verfassungsentwurfs zu arbeiten, dann könnte dieses Defizit in den nächsten Wochen vielleicht ausgeglichen werden.

Lassen Sie mich zum Schluss einige Worte zu der Atmosphäre während der Diskussionen sagen. Denn der Verlauf des Konvents war vermutlich ebenso wich-tig wie seine Ergebnisse. Es war sehr bereichernd und produktiv, dass sowohl Vertreter der Regierungen und Parlamentsmitglieder als auch Abgesandte europä-

de WeckErgebnisse des Europäischen Konvents

de Vries

Gemischte Bilanz

Konstruktive Atmosphäre

de Weck | de Vries 24

ischer und nationaler Institutionen am Konvent teilgenommen haben. Die bei den teilnehmenden EU-Kommissare haben immer wieder sehr konstruktive Beiträge geliefert, und auch der Präsident und die beiden Vize-Präsidenten des Konvents haben wichtige Rollen gespielt. Hinter den Kulissen war Sir John Kerr außeror-dentlich hilfreich. Er hat gleichzeitig die Sichtweise des Konventssekretariats und die der britischen Regierung repräsentiert. Als die Regierungsvertreter sich gegen Ende der Beratungen hinter ihren nationalen Interessen verschanzen woll-ten, üb ten die Mitglieder nationaler Parlamente eindeutig einen stimulierenden Einfluss aus.

Der Konvent führte bei vielen Fragen zur Bildung einer gemeinsamen Position. Es war sehr inspirierend, dies in einer Zeit mitzuerleben, in der man in Europa so oft Intoleranz, Irrationalität und eine mangelnde Bereitschaft, anderen Meinun-gen zuzuhören, beobachten kann. Dieser Konvent hat gezeigt, dass Vertreter von 28 Ländern beinahe mit Konsens ein Ergebnis verabschieden können, wenn sie einander zuhören und bereit sind, voneinander zu lernen.

Ich habe die Freude, mit Herrn de Vries nicht nur die Frisur zu teilen, sondern auch seine Einschätzung der Konventsergebnisse. Gestern mag die musikalische Qualität der Hymne »An die Freude« zweifelhaft gewesen sein, der Champagner etwas zu warm und das Mittagessen verspätet, doch es war äußerst eindrucksvoll, dass schließlich mehr als 98 % der Konventsmitglieder diesem Ergebnis wirklich zugestimmt haben. Die Freude über die erfolgreiche Abstimmung war so groß, dass sie sich auch auf die anwesenden Journalisten, also die Vertreter der europä-ischen Öffentlichkeit, und Mitarbeiter übertragen hat.

Aus meiner Sicht war es für den Erfolg des Konvents zentral wichtig, dass wir öffentlich getagt haben. Öffentliche Kontrolle kann einen beachtlichen Einfluss auf die Diskussionen und Ergebnisse haben. Durch öffentlichen Druck wurde verhindert, dass John Kerr zu Beginn eine Geschäftsordnung durchsetzen konnte, die bestenfalls vordemokratisch war. Giscard d’Estaing musste seine Vorschläge zu den institutionellen Reformen innerhalb kürzester Zeit verändern, und jeder Versuch, mit dem Veto zu drohen, traf auf heftigen öffentlichen Widerstand. So konnten wir viele Dinge erreichen, die in Nizza und Amsterdam nicht möglich waren.

Ein weiterer Erfolg war die Anwesenheit von Vertretern der osteuropäischen Kandidatenländer. Sie hat gezeigt hat, dass der europapolitische Konsens mit den osteuropäischen Ländern mindestens so groß ist wie mit den Gründungsstaaten.

Altmaier

Erfolg durch Öffentlichkeit

25 de Vries | Altmaier

So wurde allen Überlegungen von einem Kerneuropa ein Ende gesetzt, denn in allen Punkten, die für die sechs Gründungsstaaten konsensfähig sind, können wir auch mit Ungarn, Polen und den baltischen Ländern zu einer Einigung kommen.

Der einzige Wermutstropfen im Verfassungsentwurf ist der Bereich der Au-ßen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Außer dem Amt des europäischen Außenministers wurden hier kaum Fortschritte erzielt. Das ist auch der Preis für die Zerrissenheit der europäischen Länder im Irak-Krieg. Noch Anfang dieses Jah-res hatten wir die Hoffnung, dass die Irak-Krise zu einer weiteren Integration auf diesem Gebiet führen könnte. Doch schließlich hat sich gezeigt, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen ist und die europäische Integration durch den Konvent ihr Endziel noch nicht erreicht. Dennoch hoffe ich, dass die Beschlüsse in der Öffent-lichkeit und in der Praxis nicht als Misserfolg, sondern als wirklicher Schritt nach vorne empfunden werden.

Gesamteuropäischer Konsens

Wermutstropfen : Außen- und

Sicherheitspolitik

Altmaier 26

Man hat in den vergangenen Jahren oft gesagt, Florenz sei die cità immobile, weil sich architektonisch nichts veränderte. Doch seit kurzem verändert sich die Stadt und erlebt eine neue Blüte der Architektur. Vielleicht steht das sinnbildlich auch für die Entwicklung der Demokratie, denn auch hier befinden wir uns in einer Aufbruchstimmung. All das, was sich bewegt oder in Frage gestellt wird, wollen wir heute und morgen erörtern.

Wir beginnen mit einer Diskussion über die geschichtlichen und kulturellen Wurzeln von Demokratie in Europa und ihre aktuellen Entwicklungen, also auch die Gefährdungen wie den Absentismus, den Populismus, die Korruption oder die Entmachtung der Parlamente. Dann wenden wir uns der nationalen Ebene zu und der Frage, wie Demokratie im Nationalstaat erneuert und modernisiert werden kann. Schließlich diskutieren wir die Zukunft der Europäischen Union und die Perspektiven einer supranationalen Demokratie.

Ich freue mich besonders, dass uns zwei Persönlichkeiten in die Thematik einführen, die diese Debatte stark prägen. Das erste Kurzreferat hält Larry Sieden-top, der eines der wichtigsten Referenzbücher zur Demokratie in Europa verfasst hat. Anschließend spricht einer unserer Mitgastgeber in Italien, Senator Manzella, der Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des italienischen Senats ist.

Larry Siedentops Buch beginnt mit dem besorgten Satz »Die demokratische Legitimität in Europa ist in Gefahr«. Doch dieses durch und durch liberale und offene Buch enthält auch viel Optimismus, und ich bin gespannt, ob bei Ihnen heute der Optimismus oder der Skeptizismus dominiert.

Durch das Licht, das durch dieses Fenster hinter mir scheint, fühle ich mich wie in einem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert !

Seit den 1990er Jahren, als die europäische Einigung durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam beschleunigt wurde, gab es keine wirkliche, öffentli-che Debatte über die Art des politischen Projekts oder die verfassungsmäßigen Fragen, die eine solche Einigung nach sich zieht. Deshalb begrüße ich den Kon-vent sehr und freue mich, nun mehr über die Ergebnisse der Diskussionen im Konvent zu hören. In den 1990er Jahren war die öffentliche Debatte sehr polari-siert. Befürworter einer weiter gehenden Integration sprachen von wirtschaftli-chen Vorteilen, und Gegner zogen sich auf das sehr einseitige Argument der na tionalen Souveränität zurück. Aber die wirklich wichtige Frage nach der Re -gierungsform und nach den Bedingungen für eine demokratische Regierung für den ganzen Kontinent wurde weder gestellt noch beantwortet.

de Weck

Siedentop Referat

Konvent schafft endlich eine

öffentliche Debatte über Europa

I. Traditionen und aktuelle Trends – Demokratie in Europa zwischen Nation und Union

27 de Weck | Siedentop

Für diese Frage ist das Beispiel des amerikanischen Föderalismus sehr rele-vant. Nicht, weil man ihn sklavisch nachmachen sollte, sondern weil er das ein-zige Beispiel einer langjährigen kontinentweiten Regierung ist. In meinem Buch beschäftige ich mich deshalb besonders mit den informellen Bedingungen, die den Erfolg des amerikanischen Föderalismus möglich gemacht haben, und damit, ob und inwieweit diese Bedingungen heute in Europa erfüllt werden.

Eine dieser Bedingungen ist eine starke Tradition lokaler und regionaler Selbstverwaltung. Die Dezentralisierung in Spanien, Italien und sogar Großbritan-nien in den letzten Jahrzehnten ist in dieser Hinsicht sehr viel versprechend. Das Problem einer gemeinsamen Sprache scheint so gut wie gelöst. Englisch ist eine Art modernes Latein geworden, die lingua franca der gebildeten Klassen.

Dagegen bin ich weniger optimistisch, was die Bildung einer offenen politi-schen Klasse in Europa betrifft. Das Europäische Parlament hat es bislang nicht geschafft, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Fortschritte wären hier dringend nötig. Es scheint sogar so, dass einige nationale Politiker das Europä ische Parlament als Ausrede für ihre Abkehr vom Europäischen Projekt benutzt haben. Die letzte Bedingung sind gemeinsame Vorstellungen über die Stellung des Indi-viduums in der Gesellschaft und die Rolle des Staates. Nach dem Ende des Kom-munismus und dem Niedergang des marxistisch geprägten Sozialismus gibt es keine fundamentalen Gegensätze mehr. Allerdings sind noch nicht alle Gegen-sätze überwunden, und es ist durchaus möglich, dass durch die Erweiterung der Europäischen Union die Diskussion dieser Fragen wieder schwieriger werden wird.

Aber im Ganzen gesehen, scheint Europa auf gutem Weg zu sein, dieselben informellen Bedingungen zu erreichen, die den amerikanischen Föderalismus so erfolgreich gemacht haben. Aber in einer Hinsicht unterscheidet sich die derzei-tige Situation in Europa völlig von der Gründungsphase der Vereinigten Staaten : Die Abgeordneten des Konvents von Philadelphia hatten die gemeinsame Erfah-rung, der imperialen Regierung von London zu unterstehen. Dieses »Gespenst« des Konvents von Philadelphia sorgte für große Übereinstimmungen in Verfassungs-fragen, und das erleichterte die Beratungen ungemein. Die größte Herausforde-rung für Europa ist, dass es über keine solchen gemeinsamen Erfahrungen verfügt und deshalb gleichzeitig mit den neuen Institutionen einen Konsens über die Verfasstheit Europas schaffen muss. Diese Herausforderung ist umso größer, weil Integration in Europas Geschichte Imperialismus, Gewalt und Zwang bedeutet und an die Pläne Karl des V., Napoleons, Hitlers und Stalins erinnert.

Vergleich EU – Gründung der USA

Ähnliche Ausgangbedingungen, außer ...

... Fehlen eines »gemeinsamen Feindes« ...

Siedentop 28

Ein anderes Element, das neue Komplikationen und Schwierigkeiten für Eu-ropa mit sich bringt, ist das intellektuelle Primat der Ökonomie. Wir haben die Gewohnheit angenommen, Verfassungsfragen der Ökonomie unterzuordnen. Diese Manie ist durch den außerordentlichen wirtschaftlichen Erfolg Europas nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Der Erfolg hat dazu geführt, die Schwie-rigkeiten bei der Fusion unterschiedlicher politischer Kulturen zu unterschätzen. Als ein Beispiel mag hier die Empörung einzelner europäischer Staaten dienen, als während der Wahl George W. Bushs das Mehrheitssystem außer Kraft gesetzt wurde. Für jemanden, der aus einem zentralistischen politischen System kommt, mag dies skandalös erscheinen. Aber aus einer föderalistischen Perspektive he-raus ist es dies nicht. Wer in einem föderalistischen System lebt, hat gelernt, dass das territoriale Prinzip mehr Gewicht als das Mehrheitsprinzip haben kann. Diese föderalistische Sichtweise muss sich in dem Maße, in dem der Integrationsprozess vorangeht, auch in Europa weiter verbreiten.

Eine letzte Schwierigkeit ist der verdeckte Wettbewerb von drei Staaten, die jeweils ihre Staatsform als Modell für Europa durchsetzen wollen. In diesem Zu-sammenhang hat Großbritannien keine rühmliche Rolle gespielt. Es widersetzt sich allem, was auf eine Europäische Föderation hindeuten könnte. Es schlägt aber auch keine Alternativen vor, weil man das britischen Rechtssystem, das Common Law, nicht exportieren kann. In der Auseinandersetzung zwischen deutschem oder niederländischem Föderalismus auf der einen und dem britischen Common Law auf der anderen Seite konnte Frankreich einen solch entscheidenden Einfluss erlangen und Europa in Richtung Föderalismus drängen. Aber die politische Tradition Frankreichs ist radikal zentralistisch und deshalb wenig für Europa geeignet.

Europa muss nach und nach einen gemeinsamen Verfassungsgeist entwi-ckeln, denn nur dann kann ein europäischer Demos entstehen. Sonst liefe Europa Gefahr, dass die demokratischen politischen Kulturen in den einzelnen Staaten geschwächt werden, ohne dass diese Lücken auf einem anderen Niveau wieder geschlossen werden. Der Konvent und die Regierungskonferenz müssen entschei-den, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um dieser Gefahr zu begegnen. Aber ich möchte hier einige Punkte nennen, die meiner Auffassung nach entschei-dend sind.

Erstens sollten wir den Staaten die Möglichkeit geben, auch wieder aus der Gemeinschaft auszuscheiden. Anders als im Fall der USA – wo es den Staaten seit dem Bürgerkrieg untersagt ist, sich wieder von der Union zu trennen – gäbe dies

... Primat der Ökonomie über

Verfassungsfragen ...

... Fehlen eines gemeinsamen

Verfassungsgeistes

Europa muss nach und nach einen gemeinsamen Verfassungsgeist entwickeln, denn nur dann kann ein europäischer Demos entstehen.

Siedentop

29 Siedentop

der EU einen freiwilligen und akzeptablen Charakter. Zweitens sollten wir uns auf eine einfache Definition der Grundrechte einigen. Ich bin nicht ganz mit der vorgeschlagenen Grundrechtscharta zufrieden, weil sie zu kompliziert formuliert ist. Aber wenn man versucht, eine politische Kultur zu schaffen, die auf gemein-samen Rechten basiert, ist es wesentlich, sich auf eine kurze Liste von Grundrech-ten zu verständigen, die einfach verstanden und leicht erinnert werden können. Drittens braucht Europa ein Zweikammer-System. Durch einen europäischen Se-nat, der von den nationalen Parlamenten gewählt wird und dessen Mitglieder ihre nationalen Funktionen behalten, könnten drei Dinge erreicht werden. Erstens würde der europäischen Öffentlichkeit dadurch der Unterschied zwischen dem Territorialprinzip und dem Mehrheitsprinzip klar. Zweitens könnte es helfen, die nationalen politischen Klassen miteinander zu verschmelzen. Und schließlich könnte dieser Senat ein ständiger Verfassungskonvent für Europa werden, in dem entschieden würde, welche Fragen zentral und welche weiterhin auf der Ebene der Nationalstaaten gelöst werden.

Die Agenda für die Europäische Einigung ist so vielschichtig und kompliziert, dass ich manchmal an ein Graffito denken muss, das ich einmal an der Wand eines Pubs in Oxford gelesen habe : »Gott lebt und es geht ihm gut, aber er arbeitet derzeit an einem weniger ehrgeizigen Projekt.«

Ich möchte fünf Punkte zum Prinzip der Demokratie zur Diskussion stellen : Ers-tens : Demokratie ist sowohl Organisations- als auch Rechtsprinzip. Obwohl beide Aspekte miteinander verbunden sind, muss man sie unterscheiden. Der Grund-satz der Demokratie liefert einerseits Kriterien für die Ausgestaltung staatlicher Institutionen. Da eine gewisse politische Repräsentanz erreicht werden muss, ge -hört dazu die Einrichtung eines Parlaments mit einem entsprechenden Wahl-recht. Andererseits bedeutet Demokratie die Schaffung von Rechten. Durch ihre Staatsangehörigkeit werden die Grundrechte von Individuen und Gruppen abge-sichert. Der aktuelle Entwurf für eine europäische Verfassung enthält beide Di-mensionen, indem von demokratischen Institutionen und dem Rechtsstaat die Rede ist.

Zweitens : Der Grundsatz der Demokratie ist das wesentliche rechtliche und kulturelle Bindeglied zwischen den Nationalstaaten und der Europäischen Union. Die Arbeiten des Konvents zur konkreten Ausgestaltung der Demokratie bestäti-gen Trends, die sich bereits länger abzeichnen, nämlich die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Institutionen und Verfahren. Um das System repräsen-

Europa braucht einen Senat

Manzella Referat

Der Grundsatz der Demokratie ist das wesentliche rechtliche und kulturelle Bindeglied zwischen den Nationalstaaten

und der Euro päischen Union.

Manzella

Siedentop | Manzella 30

tativer zu gestalten, wurden die Befugnisse des Europäischen Parlaments deutlich ausgeweitet. Außerdem wurde die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen und den nationalen Parlamenten, die man in Fachkreisen als COSAC bezeichnet, gestärkt und damit das Europäische Parlament ins Zentrum eines Netzwerks der Parlamente gestellt.

Neu ist die Aufmerksamkeit, die der Konvent der regionalen und lokalen Di -mension geschenkt hat, insbesondere bei den Themen Subsidiarität und Proporz. Gleichzeitig gibt es jedoch im System der Europäischen Union einige Kontrollme-chanismen, um Probleme zu verhindern. So zum Beispiel das Frühwarnsystem, das auch zeigt, wie unmerklich der Übergang zwischen staatlicher und gemein-schaftlicher Ordnung geworden ist. Demokratie, also das tief verwurzelte Prinzip, zu dem sich alle europäischen Staaten in ihrer Vielfalt bekennen, wirkt gestaltend und vereinheitlichend auf die gemeinsame institutionelle Ordnung. Diese Ord-nung ist eine pluralistische, was bedeutet, dass das Europäische Parlament nicht alleinige Quelle demokratischer Legitimation in der EU ist. Vielmehr legitimiert sie sich aus der gesamten gemeinschaftlichen Ordnung, d.h. aus den Rechtsord-nungen aller Staaten und der EU und der Legitimität nationaler Parlamente sowie der Länder- und Kommunalparlamente. Das kam auch im Bundesverfassungsge-richtsurteil von 1993 zum Ausdruck, laut dem jede Machtübertragung von der staatlichen auf die gemeinschaftliche Ebene von einer Rekonstituierung der Legi-timierungsgarantien begleitet sein muss.

Drittens : Auch als Rechtsprinzip schafft die Demokratie Bindungen zwischen den Staaten und der Union. In Artikel 58 des Verfassungsentwurfs (in früheren Verträgen Artikel 7) gewährt die Europäische Union den Bürgern Rechte ge gen-über den Nationalstaaten, die klar zeigen, dass keine ordnungspolitischen Gren-zen mehr bestehen. Die Grundrechtscharta von Nizza, die jetzt Teil des Ver-fassungsentwurfs ist, bildet einen europäischen Bezugspunkt für nationale Ver fassungen und Richter. Ich verstehe die Vorbehalte, die Herr Siedentop wegen der Komple xität dieser Charta geäußert hat. Dennoch glaube ich, dass sie auf-grund ihrer Funktion eine entscheidende Rolle für die demokratische Identität des kleinen Europa spielt, so wie die Grundrechtscharta des Konvents von Rom für das große Europa zwischen Atlantik und Wladiwostok wichtig ist. Dass wir solche Rechtsdokumente gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen haben, ist mei-nes Erachtens nur Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Subsidiarität.

Im Konvent gab es darüber hinaus auch eine Diskussion über die öffentliche Zugänglichkeit der Rechte, ihre Verständlichkeit und ihre Übertragbarkeit. Wie

Demokratie schaffte eine einheitliche

institutionelle Ordnung in Europa

Die Grundrechtscharta schafft eine

europäische demokratische Identität

31 Manzella

Herr de Vries sagte, ist die Verständlichkeit der Rechte für ihre Wirkung sehr wichtig. Um die Anwendung der Rechte im gesamten Unionsgebiet zu erleichtern, wurden Entscheidungsverfahren vereinheitlicht. Damit haben wir begonnen, das Verfahrenslabyrinth durch die Union standardisieren zu lassen, und erkennen an, dass die EU in rechtlichen Fragen das letzte Wort hat.

Viertens : Das demokratische Prinzip entfaltet sich im europäischen System auf vier Spuren. Auf den ersten beiden entwickeln sich im Gegenspiel die organi-satorische und rechtsstaatliche Dimension der Demokratie. Auf den anderen beiden Spuren bewegen sich demokratische Grundsätze von den Staaten zur Union und umgekehrt, wie im Falle des Artikels 7. Ähnliches kann man auch au-ßerhalb Europas beobachten, so zum Beispiel im lateinamerikanischen Staaten-verbund MERCOSUR, dessen Demokratierat eine multilaterale gegenseitige Kon-trolle über die Einhaltung demokratischer Prinzipien ermöglicht.

Fünftens und letztens : In dem Prozess der wechselseitigen Ausgestaltung der Demokratie formt sich auch der europäische Demos. Die Verbindungen zwischen Mitgliedstaaten und Union wirken sich auch auf die Bildung eines europäischen Volkes aus. Genau darin unterscheidet sich der europäische Staatenbund von an -deren supranationalen Organisationen : durch die gemeinsame Rechtsordnung. Deshalb sind auch in den Kopenhagener Kriterien Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit wesentliche Bedingungen für einen EU-Beitritt. Und schon vor der An -nahme der europäischen Grundrechtscharta spielte Demokratie in der wirtschaft-lichen Definition der Europäischen Union eine entscheidende Rolle, denn man handelte nach dem Grundsatz »wenn du kein Demokrat bist, treibe ich keinen Handel mit dir«.

Das europäische Volk ist daher zwar geeint, aber in unterschiedliche Wähler-schaften getrennt, durch die ein Netzwerk von Parlamenten gewählt wird. Das europäische »Wahlvolk« wählt also verschiedene Institutionen, findet sich aber wieder zusammen, indem diese Institutionen sich miteinander verbinden. Das Prinzip der Demokratie ist daher der Motor hinter einer Integration, die weniger in einem Staatenbund als vielmehr in einer ordnungspolitischen Union, also einer Union von Verfassungen, mündet.

In diesen Auftaktreferaten sucht Herr Manzella ebenso nach Übergängen zwi-schen politischen Systemen, wie Herr Siedentop ihre Unterschiedlichkeit heraus-gearbeitet hat. Damit sind wir mitten in der Diskussion über unterschiedliche nationale Ausprägungen von Demokratie, in der wir untersuchen wollen, wie

Durch die gemeinsame Rechtsordnung

entwickelt sich ein europäischer Demos

de Weck

Manzella | de Weck 32

stark Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind. Dabei sollten wir uns auch fragen, wo wir Gemeinsamkeiten erst erarbeiten müssen, etwa nach Larry Siedentops Vorschlag, wir bräuchten einen Senat als permanenten Konvent, um nach und nach zu einem gemeinsamen Demokratieverständnis zu gelangen.

Damit eröffne ich die Debatte und werde sie leiten in der stolzen Demut des Journalisten, der den Unterschied zwischen sich und dem Bundespräsidenten zu seiner Rechten kennt : Der Bundespräsident überlegt dreimal, bevor er etwas sagt, und der Journalist sagt es lieber dreimal, bevor er es sich überlegt hat.

Sehr treffend haben die beiden Vorredner die Fragestellung formuliert : Wie ist es möglich, bei der Übertragung von Souveränität auf die supranationale Ebene die Demokratie nicht zu verlieren, die schließlich auf der nationalen Ebene gewach-sen ist ? Mir scheint es mitunter, als ob man im Prozess der europäischen Integra-tion die Demokratie neu erfinden würde, ohne die historische Erfahrung der Staaten in Acht zu nehmen. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen :

Aus finanzpolitischer Sicht bedeutet Demokratie »no taxation without repre-sentation«. Ich kenne zwar die endgültige Fassung des Verfassungsentwurfs noch nicht, aber dort scheint das Europäische Parlament endlich volle Autorität über die Finanzpolitik zu erhalten. Mit welcher Verzögerung wird damit das erreicht, was in der europäischen Geschichte die erste Stufe der Demokratie war !

Auch in puncto Verantwortlichkeit politischer Macht sehen wir eine solche Verzögerung. Der Kommissionspräsident soll jetzt zwar durch das Europäische Parlament gewählt werden, aber die Machtteilung zwischen Parlament und Kom-mission bleibt uneindeutig. So haben wir eine Exekutive, die in gewissen Berei-chen keiner anderen Instanz verantwortlich ist. Bei den europäischen National-staaten konnten wir während des Übergangs von der Monarchie zur Demokratie Ähnliches beobachten, als beispielsweise die Entscheidung über Krieg und Frie-den zunächst dem Herrscher vorbehalten war. Bei dieser zentralen Frage der De mokratie ist meines Erachtens der Konvent nicht weit genug gegangen.

Der letzte entscheidende Punkt, bei dem die EU den Nationalstaaten hin-terherhinkt, ist das Mehrheitsprinzip. Das Vetorecht ist in meinen Augen sehr undemokratisch, so wie es in den europäischen Staaten vor der Französischen Revolution jedem der drei Stände zugestanden wurde. Auch hier geht der Verfas-sungsentwurf nicht weit genug, denn er führt Mehrheitsentscheidungen nur in bestimmten Bereichen ein; in den übrigen kann eine kleine Minderheit das ge -samte System blockieren.

FagioloDie EU muss das Rad der Demokratie

nicht neu erfinden !

33 de Weck | Fagiolo

Insgesamt vollzieht die Europäische Union die Entwicklung der Staaten also mit einer unglaublichen Langsamkeit nach – sei es bei finanzpolitischen Entschei-dungen, der Verantwortlichkeit der Exekutive oder dem Prinzip der Mehrheitsent-scheidung.

Ich möchte mich zu einigen erschreckenden Tendenzen der demokratischen Entwicklung in allen unseren Ländern und der Europäischen Union äußern. Zunächst einmal befinden sich traditionelle politische Parteien überall in Euro-pa im Niedergang. Parteien verbinden die breite Öffentlichkeit mit den Eliten und rekrutieren zukünftige politische Führungspersönlichkeiten. Die britische Labour-Partei beispielsweise hat derzeit nur noch knapp 250.000 Mitglieder. Vor dreißig Jahren waren es noch eine Million. Dazu kamen etwa zehn bis zwölf Millionen Mitglieder in den ihr nahe stehenden Gewerkschaften. Heute haben alle Parteien in Großbritannien aufgehört, um Mitglieder unter dreißig Jahren zu werben, weil die meisten Menschen dieser Altersgruppe gar nicht mehr zur Wahl gehen.

Als Ergebnis dieses Parteienniedergangs wird die Politik in allen europäischen Ländern personalisierter und populistischer. Gleichzeitig sinkt die Wahlbeteili-gung in den Mitgliedstaaten, vor allem bei den Wahlen zum Europaparlament. Eine andere Gefahr für die europäische Demokratie ist die Spaltung unserer Ge-sellschaften in eine erfolgreiche und eine erfolglose Schicht. Die weniger Erfolg-reichen sind empfänglich für populistische Ideologien, dadurch steigt die Gefahr von rechts- oder linksnationalistischen Revolten. Wenn wir diese Risiken nicht erkennen, laufen wir Gefahr, Verfassungs-Luftschlösser zu bauen, die sich auf die Realität in unseren Ländern nicht auswirken.

Auch die Beziehungen zwischen den nationalen Parlamenten und der Europä-ischen Union halte ich nicht für besonders gefestigt. Herr Manzella sprach von COSAC, aber die Erfahrungen mit diesem Programm waren so negativ, dass des-wegen viele gegen die Schaffung eines europäischen Kongresses oder Senats sind. Zudem haben die meisten nationalen Parlamente – außer den Abgeordneten, die in den Konvent entsandt wurden – die Arbeit des Konvents kaum wahrgenommen, und auch in den nationalen Medien fand das Thema »Konvent« so gut wie keine Beachtung. Aus diesem Grund können wir schlecht einschätzen, wie die nationa-len Parlamente und vor allem wie die jeweiligen Oppositionsparteien den Verfas-sungsentwurf aufnehmen werden. An der Ausarbeitung der Verfassung von Phi-ladelphia waren nur dreizehn Staaten beteiligt, die jeweils nur über eine kleine

W. Wallace Krisenphänomene der Demokratie :

Niedergang der Parteien

Populismusgefahr

Nationale Nabelschau

Wir laufen Gefahr, Verfassungs-Luftschlösser zu bauen.

W. Wallace

Fagiolo | W. Wallace 34

politische Elite verfügten. Demgegenüber ist die Europäische Union heute viel größer und komplexer. Die Kommunikation ist sehr viel schwieriger, vor allem weil die Politiker hauptsächlich mit ihren innenpolitischen Problemen beschäf-tigt sind.

Eine letzte Bemerkung über die Grundrechtsfrage. Meines Erachtens müssen wir vorsichtig sein, wie weit wir Grundrechte auf der europäischen Ebene gegen die unterschiedlichen nationalen Traditionen durchsetzen können. Artikel 13 des Amsterdamer Vertrags beispielsweise ächtet sehr weitreichend jegliche Diskrimi-nierung in den Unterzeichnerstaaten. Die meisten nationalen Parlamente waren sich der Bedeutung dieses Artikels gar nicht bewusst. Erst jetzt, wo Artikel 13 umgesetzt wird, befürchte ich viel Widerstand aus Staaten, die sich gegen solche aufgezwungenen Regeln wehren.

Die Krisensymptome der Demokratie, die Herr Wallace angesprochen hat – der Niedergang der traditionellen Parteien, das Aufkommen des Populismus und die nationale Nabelschau –, sind alle auch in Deutschland stark präsent, und mögli-cherweise besonders in Ostdeutschland. Deshalb würde uns die Sicht von Gesine Schwan, die sich in Frankfurt / Oder direkt an der polnischen Grenze befindet, sehr interessieren.

Ich bin froh, dass Herr Wallace auf die Probleme der Demokratie auf nationaler Ebene hingewiesen hat. Denn diese Probleme entstehen nicht erst durch Europä-isierung, sondern die Infragestellung der Legitimität von Institutionen und der Vertrauensschwund in die westliche Demokratie existieren längst im nationalen Rahmen. Das Stichwort dazu lautet »Globalisierung«. Wir müssen uns darüber klar sein, dass demokratische Politik sehr stark durch die weitgehende Ökonomi-sierung von Entscheidungen unterminiert wird. Normative und damit politische Entscheidungen werden durch wirtschaftliche Bedingungen vorentschieden, die weder von Nationalstaaten noch von anderen politischen Organen beeinflusst werden können. Dies führt dazu, dass die Politik in zentralen Bereichen nicht mehr handlungsfähig erscheint und damit Legitimität verliert.

Dieses Phänomen ist in Ostdeutschland besonders ausgeprägt. Wenn man die Einführung der Demokratie in Westdeutschland nach 1945 und in Ostdeutsch-land nach 1989 vergleicht – der Unterschied könnte nicht größer sein. Denn in der Bundesrepublik nach 1945 wurde die neue Demokratie auch durch den wirt-schaftlichen Erfolg legitimiert. In Ostdeutschland ist das Gegenteil der Fall. Natür-

de Weck

Schwan Krisenursache : Globalisierung und

Ökonomisierung …

35 W. Wallace | de Weck | Schwan

lich geht es den Menschen objektiv besser, aber subjektiv geht es vielen schlech-ter, vor allem was ihr Selbstwertgefühl betrifft. Deshalb wird zwar Demokratie als Prinzip weitgehend bejaht, doch in der Praxis haben die Menschen nicht den Eindruck, dass sie ihnen hilft oder dass sie wirklichen Einfluss ausüben können. Deshalb beteiligen sie sich auch nicht mit Verve an dem System.

Die Gefahr ist also, dass eine Kluft entsteht zwischen der Selbstverständlich-keit, mit der wir den Wert der Demokratie und ihrer verfassungsmäßigen Ver-ankerung annehmen, und der politischen Abstinenz breiter Schichten der Bevöl-kerung, die wenig damit anfangen können, weil sie die nicht ganz falsche Em pfindung haben, dass das Machtzentrum zurzeit nicht in den formal dafür vorgesehenen demokratischen Institutionen liegt.

Herr Krastev und Frau Kolarska-Bobinska, könnten Sie uns einen kurzen Einblick in das derzeitige Demokratiegefühl in Bulgarien und in Polen geben ?

Leider habe ich hier keine guten Nachrichten. Nehmen Sie zum Beispiel die jüngsten Meinungsumfragen über das Vertrauen in unsere Institutionen. Die Er-geb nisse zeigen ganz deutlich, dass nicht-repräsentativen Institutionen wie bei-spielsweise der Armee, der Kirche und den Universitäten das größte Vertrauen entgegengebracht wird. Die Wertschätzung des Parlaments ist dagegen auf zwölf Prozent gesunken. Mehr Menschen glauben, dass es Leben auf dem Mars gibt, als dass sie den Parteien vertrauen.

Aber nicht nur Meinungsumfragen, auch die jüngsten politischen Ereignisse zeigen, welchen schwierigen Stand die Demokratie derzeit in Bulgarien hat. Un-sere letzten Wahlen fanden unter ganz außerordentlichen Umständen statt. Nur drei Monate vor den Wahlen ist der ehemalige König ins Land zurückgekehrt und hat dort eine politische Partei gegründet. Diese Partei hat nicht nur die Mehrheit aller Stimmen und aller Parlamentssitze gewonnen, sie gewann auch in allen Al-tersgruppen, in allen sozialen Schichten und in jeder einzelnen Region des Landes mit Ausnahme der türkisch dominierten Gegenden. Bei diesen Wahlen betrug der Anteil der Wechselwähler 47 Prozent.

Diese Art von Protestwahl findet man nicht nur in Bulgarien, sondern in allen osteuropäischen Ländern. Nach zehn Jahren Demokratie haben die Wähler den Eindruck, dass sie die Politik nicht verändern können. Sie glauben, dass sie ledig-lich die Personen austauschen können, die an der Macht sind, denn egal, wer gewählt wird, die Politik wird doch durch Brüssel, den Internationalen Währungs-

Machtverlust demokratischer

Institutionen

de Weck

Krastev

Bulgarien : kaum Vertrauen in die Politik

Schwan | de Weck | Krastev 36

fonds oder die Weltbank bestimmt. Deshalb werden Wahlen inzwischen vor-nehmlich dazu genutzt, politische Eliten abzustrafen.

Ein anderer wichtiger Grund für die Krise der Demokratie ist die allgemein in der Bevölkerung verbreitete Ansicht, wer die Gewinner und Verlierer des Über-gangs zu Demokratie und Marktwirtschaft sind. In einer offen formulierten Fra-gen nannten 53 Prozent der Befragten Politiker und 37 Prozent Kriminelle als Gewinner der Übergangszeit. Auf die Frage, wer die Verlierer seien, antworteten viele »Menschen wie ich«. Diese Umfrage zeigt, dass die Gesellschaft nach einem Muster »wir gegen die« funktioniert. Die politische Klasse wird als monolithischer Block gesehen, und durch das Fehlen wirklicher politischer Unterschiede entsteht eine hohe Frustration in der Bevölkerung. Wir haben manchmal das Gefühl, dass unsere politischen Eliten nur deshalb so stark darauf drängen, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, weil sie Angst vor ihren Wählern zu Hause be-kommen haben.

Zum Schluss noch eine Bemerkung über Transparenz. Ich bin der Auffassung, dass Transparenz allein nicht genügt, um Legitimität zu erzeugen. Die Europä-ische Union ist hierfür ein beredtes Beispiel. Demokratisierung wird hier als Insti-tutionalisierung verstanden. Wenn wir über Demokratie sprechen, reden wir über Institutionen und die Verteilung von Macht und Befugnissen, aber was fehlt, ist ein Gefühl der Zugehörigkeit und der wirklichen Vertretung. Die Wähler füh-len sich nicht repräsentiert, weil sie das Gefühl haben, dass nichts und niemand von ihnen abhängt. Und dieser Aspekt der Krise kann nicht einfach durch eine stärkere Transparenz gelöst werden.

In Polen erkennen viele Demokratie als das theoretisch beste politische System an. Aber diese Meinung verändert sich, wenn es um die politische Realität geht : Nur 15 Prozent der Bevölkerung glauben, dass die Demokratie gut funktioniert. Es ist erschreckend, wie wenig Vertrauen die Bevölkerung in die Institutionen hat. Noch vor einigen Jahren hielten 50 Prozent der Bevölkerung das Parlament für eine glaubwürdige und wertvolle Institution. Dieser Wert ist nun auf 12 Prozent gesun-ken. Das Vertrauen in die Regierung liegt bei 15 Prozent, und auch andere demo-kratische Schlüssel-Institutionen kommen kaum auf bessere Werte.

Vor kurzem hat das Institute for Public Affairs im Auftrag des Europäischen Parlaments eine Studie über das Vertrauen in westliche Institutionen wie die NATO, die Weltbank, die EU-Kommission, das Europäische Parlament und die UNO durchgeführt. 55 Prozent der polnischen Staatsbürger vertrauen diesen

Viele sehen sich als Verlierer

des Systemwechsels

Kolarska-Bobinska

Polen : mehr Vertrauen in internationale,

als in nationale Institutionen

37 Krastev | Kolarska-Bobinska

Institutionen, aber nur 12 Prozent den nationalen Institutionen. Dieser Kontrast wurde sogar noch größer, wenn nach der Arbeitsweise dieser Institutionen gefragt wurde. Auf die Frage, welche der Einrichtungen sich um die Bürger kümmere, nannten nur 4 Prozent der Befragten polnische Institutionen, während 70 Pro zent der Befragten die EU-Kommission oder das Europäische Parlament angaben. Bei Fragen nach Korruption, Effizienz oder Ähnlichem waren die Ergebnisse ähnlich.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht : Die meisten Polen sind der Auffassung, dass sich die Arbeit unserer Einrichtungen verbessern wird, sobald wir Mitglied in der Europäischen Union sein werden. Der Beitritt zur EU ist – so der politische Wille vorhanden ist – eine Chance, um die polnischen Institutionen nachhaltig zu verbessern. Wenn diese Chance nicht ergriffen wird und der Vertrauensverlust in demokratische Institutionen weiter zunimmt, besteht die Gefahr, dass populisti-sche Parteien die Situation für ihre Zwecke missbrauchen.

In unserem politischen System sind die Parteien das schwächste Element. Sie haben sich noch nicht konsolidieren können, und die politische Landschaft än-dert sich von Wahl zu Wahl. Beunruhigend ist außerdem die oft sehr niedrige Wahlbeteiligung. Normalerweise nehmen nur rund 45 Prozent der Wahlberech-tigten auch an Wahlen oder Referenden teil. Dass wir bei dem Referendum über den EU-Beitritt 59 Prozent der Wahlberechtigten mobilisieren konnten, grenzt an ein Wunder. Sicherlich hat es geholfen, dass der Papst sich zu Wort gemeldet hat. Aber den Menschen war auch bewusst, wie wichtig ihre Beteiligung an diesem Referendum war, denn die Abstimmung war nur mit einem Quorum von 50 Pro-zent gültig. Dies zeigt auch, dass die Eliten in der Lage sind, die Massen zu beein-flussen und sie zu mobilisieren, wenn sie eine Sache für wirklich wichtig halten.

Eine letzte Bemerkung zu dem oft angeführten Argument, dass Polen und andere ehemalige kommunistische Länder ihre gerade erst gewonnene Souve rä-nität erhalten möchten. Dieses Argument entspricht einfach nicht den Tatsachen. Im Gegenteil befürworten 45 Prozent der Polen eine starke europäische Regie-rung, 39 Prozent können sich einen europäischen Präsidenten vorstellen, und 44 Prozent sind für die Einrichtung einer gemeinsamen europäischen Verteidi-gungstruppe. Das ist auch eine Reaktion auf die mangelnde Qualität der Arbeit polnischer Institutionen. Weit entfernt davon, eine Einschränkung ihrer eigenen Souveränität zu fürchten, halten die Menschen sehr viel von westlichen Institu-tionen. Bei den Diskussionen im Europäischen Konvent sollten diese Tatsachen berücksichtigt werden.

EU Beitritt als Chance für polnische Politik

Souveränitätsverlust gerne akzeptiert

Kolarska-Bobinska 38

Das Bild, das soeben von Bulgarien und Polen gezeichnet wurde, ist ein sehr kras-ses. Darf ich Herrn Diamandouros, den europäischen Ombudsmann, fragen, ob die Lage in Westeuropa davon so grundverschieden ist ?

Lassen Sie mich die Erfahrungen, die ich während meiner erst kurzen Amtszeit sammeln konnte, in drei Punkten zusammenfassen. Erstens, nach den Ausführungen von Frau Kolarska-Bobinska stellt sich die Frage, inwieweit die Situation in Polen auch auf andere Kandidatenländer zutrifft. Mei-ner Meinung nach müssen wir zwischen einzelnen Beitrittsländern unterschei-den. Einige der ost- und mitteleuropäischen Länder haben mehr Gewicht als andere, nicht nur weil sie mehr Einwohner haben, sondern auch von ihrem Selbstverständnis her.

Esten zum Beispiel befürchten, dass die europäische Integration für sie bedeu-ten könnte, dass ein Machtzentrum gegen ein anderes ausgetauscht wird, nämlich Moskau gegen Brüssel. Die Europäische Union wird dort als ein System gesehen, über das die Esten überhaupt keine Kontrolle haben. Aus guten Gründen sind die Polen da ganz anderer Ansicht : Die baltischen Staaten sind zum einen sehr viel kleiner als andere Staaten und haben zum anderen in ihrer Geschichte immer wieder die Verletzung ihrer nationalen Souveränität erfahren. Auch wenn sie klein sind, sind Malta und Zypern ganz andere politische Gebilde. Slowenien ver-fügt über ein Rechtssystem, das dem westeuropäischen sehr ähnelt, weil es lange Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie war.

Zweitens haben wir sehr schnell kritische Fragen wie die nach der Legitimität, der Transparenz und dem demokratischen Defizit angesprochen, aber wir haben uns noch nicht mit dem schwierigen Thema der Verantwortlichkeit beschäftigt. Aber Verantwortlichkeit ist eine Schlüsselfrage, wenn wir über die Qua lität von Demokratie auf der nationalen oder europäischen Ebene sprechen. Frau Kolarska-Bobinska hat darauf hingewiesen, dass sich Demokratie als Prinzip großer Beliebt-heit erfreut. Seit 1989 / 90 ist Demokratie das einzige anerkannte politische Modell, und weil es keine Alternativen gibt, können wir hier von einer negativen Legiti-mierung sprechen. Aber wenn wir über die Qualität von Demokratie und ihrer konkreten Arbeitsweise sprechen, dann wird die Frage nach der Verantwortlich-keit sofort unglaublich wichtig.

Guillermo A. O’Donnell, ein führender argentinischer Politikwissenschaftler, der eng mit Philippe Schmitter zusammenarbeitet, unterscheidet zwei Arten von Verantwortlichkeit. Klassisch versteht man den Begriff Verantwortlichkeit als

de Weck

Diamandouros

Polen steht nicht für alle Beitrittsländer

Kernfrage : politische Verantwortlichkeit

39 de Weck | Diamandouros

»vertikale Verantwortlichkeit« : Durch Wahlen werden die Herrschenden alle vier bis fünf Jahre von den Bürgern zur Verantwortung gezogen. Dieser Mechanismus ist zwar sehr wichtig, aber Wahlen erfolgen nur in bestimmten Zeitabständen und dazwischen gibt es keine vergleichbaren Instrumente oder Prozeduren. Alterna-tiv kann man Verantwortlichkeit als »horizontale Verantwortlichkeit« verstehen. Dies bedeutet, dass im Staat ein System von checks and balances, also von Hemmnis-sen und Gleichgewichten, installiert wird. Dadurch wird die Exekutive Tag für Tag zur Verantwortung gezogen. Oft geschieht dies mit Hilfe von unabhängigen Insti-tutionen wie der Zentralbank, Wahlkommissionen oder einem Ombudsmann.

In dem egalitären oder jakobinischen Verständnis von Demokratie, dessen Ursprünge in der Französischen Revolution liegen, geht die Legitimität allein vom Volk aus und spiegelt sich im Parlament. Kontrollinstrumente werden deshalb als Übergriff auf die Legitimität dieser Institution gesehen. Der Begriff der horizon-talen Verantwortlichkeit betont dagegen die liberale Komponente in Demokra-tien, weil Kontrollen und Gegengewichten mehr Bedeutung eingeräumt wird. Mit Hilfe von Mechanismen, die nach dem Prinzip der horizontalen Verantwortlich-keit funktionieren, können wir vielleicht dem Problem entgegentreten, das Herr Krastev angesprochen hat : nämlich, dass viele Wähler das Gefühl haben, sie könn-ten lediglich die Personen an der Spitze des Staates austauschen, aber keinen Einfluss auf die Politik nehmen. Vielleicht könnte so wieder Vertrauen in das politische System geschaffen werden und die fuite en avant gestoppt werden, bei der sich Menschen auf die europäische Ebene konzentrieren, anstatt die Demo-kratie zunächst auf der nationalen Ebene zu reformieren.

Herr Wallace hat die Spaltung unserer Gesellschaften in eine erfolgreiche und eine erfolglose Schicht angesprochen. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren hat sich folgendes Problem herauskristallisiert : Viele Fragen werden nicht mehr als etwas betrachtet, bei dem jeder gewinnen kann, wie bei der europäischen In-tegration, sondern als Nullsummen-Spiel. Wir sprechen immer mehr über Gewin-ner und Verlierer, und dieses Problem wird dadurch verschärft, dass einige Min-derheiten sich sehr lautstark zu Wort melden können. Unsere Welt verändert sich, und wir müssen uns großen Herausforderungen infolge der Immigration stellen. Zu den negativen Folgen der Globalisierung gehört auch die Missachtung einzel-ner Bürger, wie das Beispiel des Frauenhandels zeigt. In einer solchen Situation werden die Verlierer zu einer Kraft, die man berücksichtigen muss, wenn man über Demokratie spricht.

Wähler glauben nicht, dass sie

die Politik beeinflussen können

Politik wird zum Nullsummenspiel

Diamandouros 40

Das Stichwort Frankreich ist nun zum dritten oder vierten Mal gefallen, als das Demokratiemodell, das gleichsam am Anfang steht, aber auch als eines, das adap-tiert werden muss, weil es nicht mehr zeitgemäß ist. Daher meine Frage an Anne-Marie Le Gloannec, welchen Problemen sich die französische Demokratie gegen-übersieht.

Herr Wallace versteht die sinkende Wahlbeteiligung und die schrumpfenden Mit-gliederzahlen der politischen Parteien als ein Demokratieproblem europäischer Staaten. Dem stimme ich zwar zu – und denke, dass wir dabei nicht zwischen der europäischen und der nationalen Ebene unterscheiden können, weil beide so eng miteinander verwoben sind –, möchte dieser Beobachtung aber ein anderes inte-ressantes Phänomen gegenüberstellen : Bürgerinitiativen haben wachsenden Zu-lauf. Seit den 1980er Jahren hat die Bedeutung dieser Bewegungen stetig zugenom-men, und man kann von einer zweiten Blüte, nach einer ersten in den 1960er Jahren, sprechen. Einige Beispiele zeigen vielleicht, was ich meine.

Die Gewerkschaften zum Beispiel repräsentieren in Frankreich nur noch etwa acht Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Aber auf den Straßen sind neue Orga-nisationen und Bewegungen entstanden. Da gibt es Populisten wie José Bové, aber auch seriösere Organisationen wie Attac, die nicht nur in Frankreich, sondern international aktiv sind. Ein anderes eindrucksvolles Beispiel ist die Friedensbe-wegung, die sich gegen den Irak-Krieg gestellt hat. Am 15. Februar gab es Massen-demonstrationen in London, Barcelona, Rom, Madrid, Paris, Berlin, Helsinki etc. Das Interessante daran ist, dass die Demonstrationen koordiniert waren, diesel-ben Slogans verwendeten und das gleiche Ziel verfolgten. Trotz unterschiedlicher politischer Kulturen – vom französischen Interventionismus bis zur deutschen Vorsicht – protestierten die Menschen gemeinsam gegen dieselbe Sache.

Vielleicht entsteht hier eine neue Form partizipativer Demokratie : Menschen gehen auf die Straße, weil sie das Gefühl haben, dass das System der repräsenta-tiven Demokratie ihre Interessen nicht mehr ausreichend vertritt. Das kann auch unangenehm und populistisch sein, aber wir müssen diese Unzufriedenheit ernst nehmen. Und es könnte ein Zeichen dafür sein, dass ein europäischer Demos ent-steht. Natürlich gab es auch in den Vereinigten Staaten Demonstrationen, und Attac ist eine internationale und nicht nur europäische Bewegung, aber durch die Kommunikation und gemeinsame Taten könnte etwas ganz spezifisch Europä-isches entstehen.

de Weck

Le Gloannec

Bürgerinitiativen als neue Form

der politischen Partizipation

41 de Weck | Le Gloannec

Auch wenn wir angesichts des europäischen demokratischen Defizits und der Krise der Demokratien auf der nationalen Ebene pessimistisch sind, erleben wir gerade die Entstehung einer neuen Bewegung, die sich zu einer neuen Form der Demokratie auswachsen könnte. Dieses Phänomen ist sicher nicht auf ein-zelne Nationen beschränkt, aber es bleibt abzuwarten, ob es wirklich etwas spezifisch Europäisches ist. Vielleicht können wir mit Hilfe dieser neuen Bewe-gungen unser traditionelles Demokratie-Modell, das aus den Industriegesellschaf-ten des 19. Jahrhunderts stammt, den neuen Realitäten und Herausforderungen anpassen.

Zu den drei genannten Themen – dem Verhältnis zwischen Ökonomisierung und Demokratie, dem Phänomen der Protestwähler und den neuen Bewegungen wie Attac in der alten Demokratie – möchte ich die Praktiker und die Medienvertreter unter uns zu einer Stellungnahme anregen. Darf ich mir dazu einen Überfall ge-statten auf das jüngste Mitglied unserer Runde und einen der jüngsten Bundes-tagsabgeordneten, Carsten Schneider. Als 26-jähriger Abgeordneter für Thüringen im Deutschen Bundestag würde mich Ihre Sicht der Dinge sehr interessieren.

Jetzt in meiner zweiten Legislaturperiode bin ich nicht mehr jüngster Bundestags-abgeordneter, sondern nur noch jüngster Abgeordneter der SPD. Insgesamt hat sich der Bundestag in den letzten Jahren stark verjüngt – in der letzten Legislatur-periode gab es in der SPD durch den Schröder-Trend viele neue jüngere Abgeord-nete, und in dieser Periode sind bei der CDU / CSU viele dazugekommen. In der jüngeren Generation gibt es also sowohl Engagement als auch Vertreter im Parla-ment.

Herr Wallace hat gesagt, die Parteien kümmerten sich nicht um die unter 30-Jährigen, weil die sich ohnehin nicht für Politik interessieren. Ich sehe das nicht so. Das Interesse ist, zumindest in Deutschland, nur anders geartet als in den Jahren davor. Meines Erachtens gibt es ein sehr starkes vagabundierendes Engage-ment und Interesse auch an politischen Themen. Die rückläufigen Mitgliedschaf-ten in Groß-Organisationen wie den Gewerkschaften oder Parteien kann man auch darauf zurückführen, dass junge Menschen in ihrem Arbeitsleben und ihrer Lebenssituation sehr flexibel sein müssen. Doch jeder hier weiß, wie lange es dauert, bis man in einer Partei Vertrauen gewonnen hat und von ihr bei Wahlen aufgestellt wird. Diese Zeit haben viele junge Leute nicht, und die Organisationen müssen sich darauf einstellen, wenn sie diese Menschen erreichen wollen.

de Weck

Schneider

Junge Menschen engagieren

sich politisch, aber auf andere Art

Le Gloannec | de Weck | Schneider 42

Was geringe Mitgliederzahlen in Parteien angeht, ist die Situation in den neuen Bundesländern vielleicht symptomatisch für das, was den Rest der Bundes-republik bald erwartet. In Erfurt haben wir beispielsweise nur 500 SPD-Mitglieder bei 200.000 Einwohnern, und der gesamte Landesverband Thüringen ist so groß wie ein Kreisverband im Ruhrgebiet. Dadurch haben wir enorme Probleme damit, zur politischen Meinungsbildung – einer der eigentlichen Aufgaben von Parteien – beizutragen oder überhaupt genügend Kandidaten für Kommunalwah-len zu finden. Wegen dieser Notlage hat sich die Partei dahin gehend geöffnet, dass Nichtmitglieder in die Wahllisten aufgenommen werden, andere Partizi-pationsmöglichkeiten geschaffen werden und in vielen Punkten mehr Flexibilität herrscht. Dazu gehört auch, dass jemand wie ich für den Bundestag aufgestellt wurde, der erst seit zwei Jahren SPD-Mitglied war. Im Ruhrgebiet wäre das wahr-scheinlich unmöglich gewesen, aber auch dort wird sich die Lage in diese Rich-tung verändern.

Die Frage nach dem Demokratiedefizit in der Europäischen Union und nach der Anbindung der EU an die Bürger, die hier aufgeworfen wurde, bereitet mir Sorge. Aus einem einfachen Grund : Als Wahlkreisabgeordneter vertrete ich 200.000 Einwohner und habe einen sehr starken Bezug zur Bevölkerung, von der ich direktes Feedback zu einzelnen politischen Themen bekomme. Doch Thürin-gens SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament habe selbst ich als Bundes-tagsabgeordneter in den fünf Jahren nur zwei Mal gesehen ! Und wenn es kaum Rückkopplung der Arbeit auf europäischer Ebene zu nationalen Parlamenten gibt, wie wenig sind dann erst Normalbürger einbezogen ?

Im nächsten Jahr finden Europa-Wahlen statt, aber die SPD hat bisher keiner-lei Konzept für den Wahlkampf. Wir befürchten, dass die CDU sich auf die Türkei-Frage konzentrieren wird, und wir haben darauf keine Antwort. Ohne klares Pro-gramm und ohne erkennbare Gesichter ist es schon sehr schwer, die Partei für den Wahlkampf zu mobilisieren. Noch schwieriger ist es, die Bevölkerung zu er-reichen. Deshalb erwarte ich eine geringe Wahlbeteiligung.

Gleichzeitig bin ich darüber besorgt, dass wir als nationales Parlament weiter Kompetenzen verlieren – mich als Haushaltspolitiker betrifft das besonders –, ohne dass die europäische Ebene an Legitimität gewinnt. Eine mögliche Lösung wären europäische Parteien. Vielleicht könnte man die bestehenden europä-ischen Parteien dadurch stärken, dass Mitglieder einen direkten Mitgliedsbeitrag für sie bezahlen. So könnte man die europäischen Parteien stärker bei den Bür-gern verankern und Europa fassbarer machen.

Mitgliederschwund kann zu einer

Öffnung der Parteien führen

Fehlende Anbindung der EU an die Bürger

Lösung : europäische Parteien ?

43 Schneider

Herr Altmaier, kommt die CDU mit der Türkei-Frage ?

Solange die Frage einer Mitgliedschaft der Türkei in der EU nicht geklärt ist, wird dies nicht zu vermeiden sein. Doch wir sollten dieses Thema aus Wahlkämpfen heraushalten, weil es viel zu sensibel ist und auch dazu führen könnte, dass Res-sentiments in der Innenpolitik wieder aufbrechen.

Ich teile mit Carsten Schneider die Auffassung, dass der Mitgliederschwund bei politischen Parteien kein Zeichen für ihren Niedergang ist, wie Herr Wallace behauptet hat. Im Gegenteil, je mehr Mitglieder sie haben, desto unpolitischer werden Parteien und desto schwieriger werden unkonventionelle Karrieren wie die von Carsten Schneider. Diese Erfahrung habe ich bereits vor 20 Jahren in ei-nem Seminar mit jungen niederländischen Christdemokraten gemacht. Im Saar-land hatten wir bei 1 Million Einwohnern 10.000 Mitglieder in der Jungen Union. Unsere niederländischen Freunde aus Limburg hatten bei gleicher Einwohnerzahl nur 100 Mitglieder, die aber besser ausgebildet, politischer und besser organisiert waren. Dagegen haben wir uns oft mit internen politischen Fragen beschäftigt statt mit neuen Konzepten. Ich denke daher, dass unsere eigentliche Herausforde-rung die zukünftige Rekrutierung politischer Eliten und nicht die Größe der Par-teien ist.

Es heißt, das Vertrauen in die Existenz von Leben auf dem Mars sei größer als in Parteien und Parlamente. Das ist nicht weiter dramatisch, denn meines Erach-tens gehört ein gesundes Misstrauen gegen die Repräsentanten demokratischer Institutionen zu einer entwickelten Demokratie. Viel eher macht mich besorgt, dass der harte Kern von Demokratie, der im gesamten Nachkriegseuropa unab-hängig von der politischen Kultur praktiziert wurde, in Frage steht. Dieser Kern besteht darin, dass die Bürgerinnen und Bürger alle vier Jahre eine Wahl zwischen politischen Alternativen haben, die sich in unterschiedlichen Regierungen aus-drücken.

In Deutschland war das in den fünfziger Jahren die Wahl zwischen sozialer Marktwirtschaft und dem französischen Modell der planification, sowie zwischen Westintegration und eigenständiger Politik. In den siebziger Jahren konnten wir zwischen neuer Ostpolitik und alter Hallsteindoktrin wählen. Und in den achtzi-ger Jahren konnten wir immerhin noch darüber entscheiden, wie der Zuwachs am Bruttosozialprodukt verteilt werden soll.

Aber mit der immer weiter gehenden Übertragung von Zuständigkeiten auf die Europäische Union und unter den Bedingungen der Globalisierung und

de Weck

Altmaier

Parteien mit weniger

Mitgliedern sind politischer

Parteien bieten keine wirklichen

politischen Alternativen mehr

de Weck | Altmaier 44

der notwendigen Strukturreformen in den europäischen Gesellschaften sind die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik auf nationaler Ebene erheblich ein-geschränkt. Es gibt immer weniger grundlegende Wahlmöglichkeiten, und die Parteien bieten keine fundamental verschiedenen Programme mehr an. Dieses Problem stellt demokratische Wahlen als solche in Frage, denn wenn die Partei-programme identisch sind, dann entfällt eine wesentliche Voraussetzung für Demokratie. Gleichwohl erhalten wir die Fiktion einer Wahlmöglichkeit auf nationaler Ebene aufrecht und beklagen zugleich das demokratische Defizit auf europä ischer Ebene.

In Großbritannien lag die Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl bei 22 %. Doch wenn mir die britischen Kollegen erklären, sie schämten sich dafür, kann ich nur entgegnen, sie können stolz auf ihre Bevölkerung sein, denn sie haben als Einzige begriffen, dass mit der Wahl zum Europäischen Parlament weder die europäische Regierung noch europäische Politik entschieden wird. Der Rat entscheidet weitgehend im Konsens, und die Mitwirkungs- und Gestaltungs-möglichkeiten des Europäischen Parlaments sind nach wie vor recht begrenzt. Die Kommission ist in der Gefahr, ihre Funktion als Motor der Integration zu verlieren, und droht zu einem zweiten Gremium der nationalen Interessenvertretung zu werden. Deshalb müssen die zentralen Entscheidungsprozesse der EU zwingend politisiert werden. Nur so haben die Unionsbürger eine Wahl, die das Attribut demokratisch verdient.

Den entscheidenden Erfolg des Konvents sehe ich daher darin, dass das Euro-päische Parlament in Zukunft den Kommissionspräsidenten wählen wird. Als Fol ge werden die Parteien Spitzenkandidaten für die Europawahl benennen, Pro-gramme ausarbeiten und Alternativen vorschlagen. Erst wenn die Wahl zum Eu-ropäischen Parlament tatsächliche Folgen hat, wird es eine öffentliche Debatte geben und sich ein europäischer Demos entwickeln, dessen Fehlen Herr Siedentop zu Recht beklagt hat. Die zweite wichtige Entscheidung war die zur Einführung eines Legislativrats, der öffentlich tagt. So wird Öffentlichkeit hergestellt und werden Alternativen aufgezeigt.

Abschließend zu einer beunruhigenden Entwicklung, die sich sowohl auf der nationalen wie der europäischen Ebene abspielt. Je weniger wirkliche Alternati-ven es in der Politik gibt, desto stärker wird in den Nationalstaaten der Ruf nach direkter Demokratie, etwa in Form von Volksentscheiden. Jetzt hat der Europä-ische Konvent mit großer Mehrheit beschlossen, einen europäischen Bürgeran-trag einzuführen, durch den eine Million Bürger die Kommission auffordern

Europawahlen sind politisch wenig relevant

Mehr direkte Demokratie ist keine Lösung

Erst wenn die Wahl zum Europäischen Parlament tatsächliche Folgen hat, wird sich ein europäischer Demos entwickeln.

Altmaier

45 Altmaier

können, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich frage mich, ob dieser Weg die Ak-zeptanzkrise der traditionellen Institutionen nicht noch verstärkt.

Eine unernste und eine ernste Frage an den dritten Praktiker, Herrn de Vries : Sind Sie froh über weniger Parteimitglieder ? Und sind Sie, wie Herr Altmaier, der Meinung, dass die Unterschiede zwischen den Parteien verschwimmen und die Demokratie deshalb Schaden nimmt ?

Vermutlich wünschen sich alle Politiker irgendwann in ihrer Karriere sehnsüch-tig, aber vorübergehend eine Demokratie ohne Wähler. Dennoch müssen wir alle genannten Bedenken ernst nehmen, denn das sind nur die Symptome weit schwerwiegenderer Probleme.

Ich möchte zu einigen Punkten aus der Diskussion Stellung nehmen. Zu-nächst wurde vorgeschlagen, dass horizontale Verantwortlichkeit, so wie sie O’Donnell definiert, das Funktionieren einer Demokratie verbessern könnte. Aus holländischer Sicht sehe ich das ein wenig kritisch. In den Niederlanden haben wir ein kooperatives System, das so genannte Poldermodell. Wie Sie wissen, liegt mindestens die Hälfte unseres Landes unter dem Meeresspiegel, und manche be-haupten, das würde unsere kooperative politische Tradition erklären, denn seit dem 12. Jahrhundert mussten wir zusammenhalten, um keine nassen Füße zu bekommen. Dieses Modell, das im Ausland immer so gelobt wurde, ist gerade spektakulär zusammengebrochen, und die holländische politische Elite weiß derzeit nicht, wie und durch was es ersetzt werden könnte. Der Aufstieg von Pim Fortuyn war das Zeichen einer Revolte der Bevölkerung gegen dieses allzu gemüt-liche System der horizontalen Verantwortlichkeit, das O’Donnell anscheinend favorisiert.

Zweitens zur partizipativen Demokratie : Der Europäische Konvent hat ihr in seinem Verfassungsentwurf ein Unterkapitel gewidmet und spricht sich also deut-lich für dieses Prinzip aus. Ich zweifle aber daran, dass wir damit die geschilderten Probleme lösen können. Philippe Schmitter hat sehr richtig angemerkt, dass Ver-antwortlichkeit nicht nur eine räumlich Komponente hat – also vertikal oder horizontal –, sondern auch eine zeitliche, nämlich ex-post und ex-ante. Ex-ante Verantwortlichkeit bezieht sich auf partizipative Ansätze, bei denen die Zivilge-sellschaft an der Entscheidungsfindung teilhat. Diejenigen, die in diese Prozesse involviert sind, also die Leiter von Nichtregierungsorganisationen, von Kirchen oder Firmen, gehören meist zur Elite eines Landes. Ex-post Verantwortlichkeit

de Weck

de Vries

Hollands Poldermodell

funktioniert nicht mehr

Partizipative Demokratie

bindet nur die Elite ein

Altmaier | de Weck | de Vries 46

dagegen wird hauptsächlich durch Wahlen hergestellt, die theoretisch die ge-samte Gesellschaft einbeziehen. Wenn aber ein großer Teil der Gesellschaft auf sein Wahlrecht verzichtet, kann eine demokratische Unterschicht entstehen, die weder ex-ante noch ex-post vertreten ist. Partizipative Demokratie kann also sinn-voll sein, um Eliten einzubinden, erreicht aber nicht unbedingt die breite Masse.

Wenn man nach Lösungen für diese Probleme sucht, ist es wichtig, anzu-erkennen, dass die Nationalstaaten zunehmend ein Legitimitätsproblem haben, weil sie zu wenig Ergebnisse produzieren. Die Menschen in Europa haben das Gefühl, dass die Staaten nicht mehr liefern können, was die Politiker versprechen. Das hat auch damit zu tun, dass sich so viele Probleme internationalisiert haben (wie Arbeitslosigkeit, Verbrechen, Nahrungsmittelsicherheit, Umweltverschmut-zung und vieles mehr) und Nationalstaaten alleine oft nicht mehr in der Lage sind, sie zu lösen. Deshalb müssen wir die Entscheidungsfähigkeit und Effektivität der Europäischen Union stärken.

Die Menschen haben das Gefühl, dass sie wichtige Entscheidungen auf natio-naler Ebene nicht mehr beeinflussen können, weil sowohl die Probleme als auch die Lösungen auf die europäische Ebene verlagert worden sind. Deshalb müssen wir auch die Demokratie auf europäischer Ebene verankern. Demokratische Ver -antwortlichkeit muss dort gefordert werden, wo die Macht liegt. In anderen Wor-ten : Demokratische Legitimität in unseren interdependenten Staaten braucht ›mehr Europa‹, nicht weniger.

Es wurde mehrfach das Problem angesprochen, dass demokratisch gewählte In-stitutionen an Macht verlieren. Anne-Marie Le Gloannec meinte, neue Bewegun-gen wie Attac könnten Teil einer Lösung des Problems sein. Diese Formen der partizipativen Demokratie sind auf jeden Fall sinnvoll, denn sie schaffen mehr Vielfalt. Doch es bleibt die Frage, wie diese dezentralen Bewegungen und Institu-tionen letztlich verantwortlich gemacht werden können. Denn Netzwerke wie Attac repräsentieren jeweils nur eine bestimmte Minderheit, und wie Herr de Vries erläutert hat, bleiben viele Bürger vom demokratischen Prozess ausge-schlossen.

Eine Anmerkung zur Rolle der Parteien und der nationalen Parlamente. Die These, Parteien seien desto politischer, je weniger Mitglieder sie haben, halte ich für gewagt. Denn in einer Demokratie und in politischen Parteien geht es nicht nur um Eliten. Die Aussage von Herrn Krastev, man glaube eher an Menschen auf dem Mars, als dass man politischen Parteien vertraue, wäre erst noch empirisch

Demokratie muss dort verankert sein,

wo auch die Macht ist : in Europa

Landfried

Demokratische Legitimität in unseren inter-dependenten Staaten braucht ›mehr Europa‹, nicht weniger.

de Vries

47 de Vries | Landfried

zu prüfen. Soweit sich mit dieser Aussage aber ein Teil der Realität beschreiben ließe, wäre dies ein sehr beunruhigender Zustand.

Um diesen Zustand zu ändern, müssen wir einerseits die partizipativen Ele-mente in der repräsentativen Demokratie stärken und andererseits versuchen, die nationale und die europäische Demokratie besser zu verknüpfen. Da zahlrei-che kollektiv verbindliche Entscheidungen über die Gestaltung des gesellschaft-lichen Zusammenlebens inzwischen auf europäischer Ebene getroffen werden, verlieren die nationalen Parlamente an Bedeutung. Wir sollten daher überlegen, wie man den nationalen Parlamenten als institutionellem Sitz der Volkssouverä-nität wieder eine gewichtige Stimme geben könnte. Die nationalen Parlamente müssten in der europäischen Politik mehr Einfluss haben.

Zunächst möchte ich anmerken, dass die Unzufriedenheit mit der bestehenden demokratischen Praxis kein nationales oder europäisches, sondern ein globales Problem ist. Im Kern handelt es sich um ein Problem der Repräsentation. In der klassischen liberalen Demokratie wird folgende Repräsentationsmethode ange-wandt : Die Bürger eines territorial definierten Wahlbezirks wählen Einzelperso-nen, die zu konkurrierenden Parteien gehören. Ob dies durch Verhältnis- oder durch Mehrheitswahlrecht geschieht, scheint keinen großen Unterschied zu ma-chen. Aber dieser Mechanismus hat an Glaubwürdigkeit verloren. Die Frage ist nun, ob die Menschen wirklich das Gefühl haben, dass ihre Vorlieben, Bedenken und Ängste auf einer anderen Ebene vertreten werden. Wir sollten deshalb darü-ber nachdenken, wie man das Prinzip der Repräsentation verbessern, reformieren oder sogar radikal verändern kann.

Wir haben am Anfang unserer Diskussionen oft von den »ewigen Prinzipien der Demokratie« gesprochen. Meiner Meinung nach ist das der falsche Ansatz, denn die Prinzipien der Demokratie haben sich bereits einige Male radikal verän-dert. Selbst das Mehrheitsprinzip kann nicht als ein solches grundlegendes Prin-zip angesehen werden, weil die meisten Demokratien die meisten Entscheidun-gen nicht ausschließlich durch Mehrheiten entscheiden.

Nehmen Sie als Grundregel stattdessen an, dass gewählten Volksvertretern so viel Legitimität zugesprochen wird, dass die Bürger ihren Entscheidungen freiwil-lig folgen, auch wenn sie nicht direkt ihren eigenen Interessen entsprechen. Wie könnte man das heute erreichen ? Eine Möglichkeit wäre, die Wahlkreise mög-lichst so zu bilden, dass eine wirkliche Vertretung möglich ist. In liberalen Demo-kratien geht man von der Annahme aus, dass ein solcher Wahlkreis territorial

Nationale Parlamente sollten mehr Einfluss

auf die europäische Politik haben

SchmitterDas Prinzip der Repräsentation

muss reformiert werden ...

Landfried | Schmitter 48

definiert ist und dass ein Landkreis oder eine Kommune eine natürliche Einheit bilde. Dies mag für einige Entscheidungen richtig sein, aber es gibt keinen Grund, warum dieses Prinzip von der lokalen bis hin zur kontinentalen Ebene ange-wendet werden sollte.

Eine Alternative wäre, Wahlkreise mit Hilfe der Zivilgesellschaft zu definie-ren. So kann Interessen entsprochen werden, die sich nicht in territoriale oder parteipolitische Kategorien aufteilen lassen. Leider ist dieses Vorgehen in der Re-alität undemokratisch, weil es systematisch einige Interessen über- und andere unterrepräsentiert. Wir brauchen deshalb eine Methode, um der Zivilgesellschaft eine gerechtere und gleichere Grundlage zu geben. Mein Vorschlag wäre ein Gut-schein-System, mit dem das ehrwürdige Prinzip »no taxation without representa-tion« – keine Steuern ohne politische Mitspracherechte – umgekehrt würde in »no representation without taxation« – wer keine Steuern zahlt, hat auch kein Recht auf Mitsprache. In diesem System müssten die Bürger eine bestimmte Summe beitragen, sie könnten aber selbst entscheiden, welche zivilgesellschaftlichen Or-ganisationen sie unterstützen wollen. So könnte man zumindest die Mittel erhö-hen, um vielfältige und nicht-territoriale Interessen zu repräsentieren.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist die politische Partizipation. Dabei denken wir zuerst an Menschen, die sich einer Organisation anschließen und an Treffen teilnehmen. Doch ein Großteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen wird inzwischen von Menschen finanziert, die sich nicht direkt engagieren. Wenn Sie zum Beispiel in den USA leben, erhalten Sie eine schier unglaubliche Anzahl von Bittbriefen, doch diese oder jene Organisation finanziell zu unterstützen. Viele spenden, weil sie die Ziele dieser Organisationen für richtig halten, nehmen aber nie an Mitgliederversammlungen teil.

Der wichtigste Faktor, der diese Organisationen beeinflusst, ist die Entwick-lung elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten. Durch sie sind Tausende vir tueller Gruppen entstanden, die ständig miteinander in Verbindung stehen und manchmal gemeinsam agieren, um ihre Forderungen publik zu machen. Elek-tronische Kommunikationstechnologien haben die Formen des politischen Enga-gements grundlegend verändert, und Regierungen sollten ihren Bürgern freien Zu gang zu diesen Technologien ermöglichen. Damit könnten die Bürger einerseits Informationen sammeln und andererseits auf globaler, nationaler oder lokaler Ebene Menschen finden, die ihre Sorgen teilen.

Ein anderer Vorschlag sind Referenden. Im Großen und Ganzen befürworte ich diese Idee, bin aber der Meinung, dass man mit ihnen sehr sorgsam umgehen

... durch eine Stärkung der

Zivilgesellschaft ...

... oder durch Referenden ...

49 Schmitter

muss. Kalifornien zum Beispiel mutet manchmal wie eine übertriebene Version der Schweiz an, wenn in einem Wahlgang über bis zu 25 verschiedene Fragen abgestimmt wird. Es ist unmöglich, sinnvolle Entscheidungen zu so vielen The-men zu treffen. Nach und nach werden die Menschen nicht mehr an den Ab-stimmungen teilnehmen, weil sie von den Wahlmöglichkeiten schlicht über-fordert sind. Deshalb sollten Referenden nur bei kontroversen politischen Fra-gen abgehalten werden, die für die ganze Gesellschaft wichtig sind. Dazu kommt, dass die Menschen oft die Fragen, über die sie abstimmen sollen, missverste-hen. Man benötigt also eine Institution, die Fragen für Referenden sorgfältig for-muliert und testet. Das Europäische Parlament beispielsweise könnte diese Auf-gaben übernehmen, wenn Referenden auf der europäischen Ebene eingeführt werden.

Es wurde erwähnt, dass die Demokratie in Europa von der Demokratisierung Europas abhängt, d.h. von der Verschiebung der Verantwortlichkeit auf ein höhe-res Niveau. Gleichzeitig sollte aber bei anderen Fragen eine Dezentralisierung stattfinden, also eine Verschiebung der Verantwortlichkeit nach unten. Ich hatte gehofft, dass diese Aufwärts- und Abwärtsbewegung Teil der Diskussionen über das Subsidiaritätsprinzip sein würde. Aber wir mussten enttäuscht feststellen, dass sie lediglich die Angst vor »unnötiger« Abgabe von Souveränitätsrechten er-zeugt hat.

Schließlich möchte ich noch kurz den demokratischsten aller Mechanismen erwähnen, der manchmal die beste Lösung sein kann : die Zufallsstichprobe. Zu-fällig ausgewählte Bürger können in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, sei es durch deliberative Meinungsumfragen, wie James Fishkin es genannt hat, oder durch die Teilnahme an einem zeitlich begrenzten Parlament. Im Übrigen wird hier im Europäischen Universitätsinstitut gerade über die mögliche Ein-führung elektronischer Wahlmöglichkeiten diskutiert. Die alten Griechen haben dieses Verfahren genutzt, um viele der Beamten ihrer Stadtstaaten zu rekrutieren, und auch wir sollten über das Potenzial dieses Verfahrens nachdenken, sogar für die europäische Ebene.

Die letzten Beiträge haben drei Themen in den Vordergrund gestellt : zum einen die Tatsache, dass die Krise der Demokratie nicht nur ein europäisches, sondern z.B. auch ein US-amerikanisches Phänomen ist; zum anderen die Suche nach neuen Wegen der Demokratie in Form von direkter Demokratie oder neuen Prin-zipien der Verantwortlichkeit und drittens die Rolle der Medien.

... oder durch Zufallsstichproben

de Weck

Schmitter | de Weck 50

Deshalb meine Frage an Herrn Frey : Sind die Medien mitverantwortlich für die Schwierigkeiten der Demokratie, wenn sie suggerieren, die Bevölkerung könne die Politik nur erdulden, aber nicht beeinflussen, wenn sie immer wie-der die Macht der Märkte statt des Primats der Politik betonen und wenn sie manchmal populistischer sind als die politischen Populisten, weil das die Ein-schaltquoten erhöht ?

Ich möchte zwei signifikante Einschränkungen machen und einwenden, dass die Medien demokratische Entwicklungen und Pluralismus in der Gesellschaft ganz wesentlich mitgestalten und z.T. erst möglich machen. Zum einen sind die Medien heute sehr breit gefächert und vielfältig. Zwar finden sich in ganz Europa Zeitungen, die populistischer agieren als mancher Politiker. Aber Europa, vor al-lem Deutschland, zeichnet sich eben vor allem durch eine ungewöhnlich dichte Landschaft von Qualitätszeitungen aus und durch Fernsehprogramme, die, jeden-falls vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich, hinsichtlich ihrer Informations-tiefe keinen internationalen Vergleich scheuen müssen – im Gegenteil. Die publi-zistische Landschaft Europas ist eindeutig lebendiger, vielfältiger und stärker mit den Bürgern verwoben als z.B. in den USA.

Dazu kommt die Rolle des Internets, auf die Frau Le Gloannec angespielt hat. Das ist ja das Faszinierende an diesem Medium : Es schafft völlig neue Möglichkei-ten der Partizipation und damit der Demokratisierung, es macht jedermann Ma terial zugänglich, das in der Vergangenheit Beamten, Spezialisten und Journa-listen vorbehalten war. Das Internet verbreitert den Informations- und Meinungs-strom, vertieft ihn und befördert die Entstehung neuer Öffentlichkeiten, indem es eine direkte Verständigung zwischen Menschen mit gemeinsamen Interessen ohne den Filter einer Zeitungs- oder Fernsehredaktion möglich macht.

Zum Thema Europa hat mir Herr Schneider eine sehr gute Vorlage gegeben. Ich will fragen : Wenn selbst die Parteien wenig mit der Europawahl anfangen können, warum sollen dann die Medien darüber berichten ? Unsere erste Aufgabe ist es, darüber zu informieren, was ist. Volkspädagogische Ansprüche (»Ihr müsst etwas für Europa tun«) möchte ich zurückweisen. Es liegt an der Politik, Pro-gramme und Personen hervorzubringen, die für Europa werben und diese neue politische Realität für den Bürger begreifbar machen. Dazu gibt es nur einen Weg : Wichtige, medial vermittelbare Politikfelder müssen von der nationalen Ebene an Europa übertragen und dann vor allem durch Personalisierung zur Debatte ge-stellt werden.

Sind die Medien für die Krise der

Demokratie mitverantwortlich ?

Frey

Medien sollen über die Wirklichkeit

berichten, nicht Volkspädagogik betreiben

51 de Weck | Frey

Eins will ich allerdings selbstkritisch sagen : Der zunehmende kommerzielle Druck, unter dem Verlage und Rundfunkanstalten stehen, kann dazu verführen, vorrangig die Themen zu reproduzieren, die das Publikum wünscht. Eine europä-ische Perspektive verkauft sich schlecht. Das beginnt mit der Sprache. Es besteht schon die Gefahr, dass wir europäische Themen wegen ihrer inhaltlichen Komple-xität und ihrer schwierigen Vermittelbarkeit weniger berücksichtigen, als dies sachlich geboten wäre. Gerade als Verantwortlicher für eine Parlamentsredaktion stelle ich mir gelegentlich die Frage, wie relevant das »nationale Polit-Theater«, das wir dem Publikum mitunter bieten, tatsächlich ist und ob demgegenüber andere Entscheidungsräume (Europa, die Wirtschaft usw.) in der Berichterstat-tung nicht unterrepräsentiert sind.

Ich möchte kurz das aufgreifen, was Herr Wallace gesagt hat, und davor war-nen, sinkende Wahlbeteiligung mit mangelndem Interesse an politischen Proble-men zu verwechseln. Die Anti-Kriegsdemonstrationen, aber auch die Beteiligung von Hunderttausenden an Umweltaktivitäten wie der Reinigung der spanischen Strände von der Ölkatastrophe zeigen, dass sich Menschen weiter für Politik inte-ressieren. Nur führt das offensichtlich nicht zu stärkerem Engagement in Par-teien. Viele und besorgniserregenderweise besonders junge Leute fühlen sich von Parteipolitik nicht mehr repräsentiert, sie sind ausgestiegen. Wenn sie sich des-halb der Stimme enthalten und damit ihre Unzufriedenheit signalisieren, ist das meines Erachtens ein sehr rationales Protestverhalten, das den etablierten politi-schen Kräften zu denken geben muss.

Glücklicherweise spielt sich die Parteienfrustration zumindest in Deutsch-land nicht am linken oder am rechten Rand der Gesellschaft ab. Der Protest kommt eher aus der Mitte der Gesellschaft, läuft aber Gefahr, sich zu radikali-sieren, wenn die Parteien nicht reagieren. Ich glaube : Politik gewinnt nur dann Legitimität, wenn sie alltägliche Sorgen wie Arbeitsplätze, Bildung und Renten aufgreift. In vielen europäischen Ländern wird die Frage der künftigen Gestaltung der Sozialsysteme heiß diskutiert. Aber im institutionalisierten Europa scheint das nicht anzukommen. So verpasst die EU die Gelegenheit, sich für die Bürger relevant zu machen. Wenn sie es täte, mehr Anwalt der Bürger wäre, dann würden die Medien auch darauf reagieren.

Was die Übertragung weiterer Rechte an das Europäische Parlament angeht, bin ich skeptisch. Wir haben es momentan mit einer »demokratischen Ungleich-zeitigkeit« zu tun, denn die Staaten Europas stehen an ganz unterschiedlichen Punkten in ihrer Entwicklung. In Osteuropa (und auch im östlichen Deutschland)

Unter kommerziellem Druck kommen

europäische Themen zu kurz

Parteienfrustration kann radikalen Kräften

Zulauf verschaffen

Frey 52

herrscht noch eine massive demokratische Lücke, während im Westen die be-schriebene Verdrossenheit vorherrscht. Die Phase des Aufbaus einer Parteienland-schaft und einer Zivilgesellschaft im Osten kann man nicht einfach durch ei nen Verweis auf die supranationale Ebene überspringen. Außerdem hat es für die neuen EU-Mitglieder aus Ost- und Mitteleuropa etwas Frustrierendes, dass sie – nur ein Jahrzehnt nach ihrer demokratischen Neugründung – ihre nationale Souveränität wieder abgeben sollen – noch dazu an einen Korpus, der als wenig transparent und demokratisch empfunden wird.

Herr Siedentop hat in seiner Einführung die Herausforderungen in Europa mit den Vereinigten Staaten von Amerika verglichen. Damit schildert er aber die Lage in Europa etwas lösbarer, als sie in Wirklichkeit ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind seit ihrer Gründung eine Nation. Winston Churchill rief 1946 die Vereinigten Staaten von Europa aus, ohne zu erwähnen, was er natürlich wusste : dass Europa niemals eine mit den USA vergleichbare Nation werden kann.

Auf beiden Seiten des Atlantiks stammen wir von der Aufklärung ab. Das möglicherweise beste Ergebnis der Aufklärung ist die Amerikanische Verfassung und besonders das System der checks and balances. Gegenwärtig mögen wir in den USA weder von checks noch von balances viel wahrnehmen, aber ich bin davon überzeugt, dass sie wieder zur Geltung kommen werden. Wir Europäer können zwar auf die Geschehnisse in den USA kaum direkten Einfluss nehmen, schon gar nicht in der Außen- und Sicherheitspolitik. Aber ich habe volles Vertrauen darin, dass dieser Kern des amerikanischen demokratischen Vorbilds wieder zu vollem Leben kommt. Auf dieses Zutrauen können, sollen und müssen wir Euro-päer setzen.

Eine kurze Bemerkung zu Herrn Schmitters Beitrag : Für mich bleibt die Frage des Mehrheitswahlrechts nach wie vor sehr wichtig. In Deutschland ist sie leider nicht lösbar, weil die beiden großen Parteien bei diesem Thema immer im ent-scheidenden Moment feststellen, dass die Einführung des Mehrheitswahlrechts der anderen Partei nützen, der eigenen aber schaden würde.

Herr Siedentop nannte das Stichwort Senat : Während der deutschen Verfas-sungsdebatte wurde heftig darüber gestritten, ob wir unser föderales System durch das Senatsprinzip oder das Bundesratsprinzip zum Ausdruck bringen soll-ten – und bekanntlich verstehen wir unter Föderalismus etwas ganz anderes als die Angelsachsen. Ich bedaure lebhaft, dass sich in dieser Diskussion Adenauer mit seinem Plädoyer für das Senatsprinzip nicht durchsetzen konnte.

von Weizsäcker Europa kann keine mit den USA

vergleichbare Nation werden

53 Frey | von Weizsäcker

Was die geringe Partizipation angeht, teile ich die Meinung, dass die Ununter-scheidbarkeit der Parteiprogramme naturgemäß die Wahlbeteiligung verringern muss. Beim Übergang zur Regierung Brandt Ende der 1960er Jahre gab es eine Woge neuer Parteimitgliedschaften. Damals ging das so weit, dass selbst die Kinder die Parteiabzeichen ihrer Eltern auf den Schulranzen trugen. So war das natürlich stark übertrieben, aber es fand eine echte Gegenüberstellung statt, die sowohl von Herrn Altmaier als auch von Herrn Frey angesprochen wurde. Über die Frage, ob man in der Ostpolitik dem Prinzip Hallstein oder dem Prinzip Egon Bahr folgen sollte, stritt man sich sogar in den U-Bahnen auf das Heftigste, und die Demo kratie war ungemein lebendig. Die zentralen Fragen heute – wie beispielsweise, ob Men-schen in meinem Alter noch eine Gesundheitsversorgung erhalten sollen – sind anscheinend nicht ausreichend, um die demokratische Debatte zu mobilisieren.

Frau Landfried hat eine Stärkung der Parlamente gefordert. Tatsache ist, dass von allen Verfassungsorganen die Parlamente am meisten Macht verloren haben. In Deutschland haben in erster Linie die Landtage viel Einfluss an die Minister-präsidenten, aber auch der Bundestag an die Bundesregierung abgetreten. Dazu stürmen die großen, globalen wirtschaftlichen und ökologischen Fragen auf uns ein. Diese Probleme müssen zunehmend international und durch Verhandlungen anstatt durch parlamentarische Diskussionen gelöst werden. Ganz unvermeidlich entsteht daraus eine Verhandlungsdemokratie, in der die Regierung gemeinsam mit Experten die Lösung eines bestimmten Problems erarbeitet. Das Ergebnis wird dann in einer Art Vertrag festgehalten, über den das Parlament nur noch abstim-men darf, ohne den Wortlaut zu verändern. Auf diesem Wege werden die Exeku-tiven zu Lasten der Parlamente gestärkt.

Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die Demokratie dort, wo sie zumin-dest in Deutschland angefangen hat, nämlich auf der kommunalen Ebene, nach wie vor gesund ist und Unterstützung findet. Gleichzeitig werden die nationalen Demokratieprobleme meiner Meinung nach durch das europäische Vereinigungs-programm nicht verstärkt, sondern im Gegenteil gemindert. Auch bei den Bür-gern nimmt die Einsicht zu, dass Problemlösungen zunehmend auf internationa-ler und europäischer Ebene gefunden werden müssen. So sagte mir neulich ein mich sehr beeindruckender Waliser, er fühle sich mit fortschreitender Zeit einer-seits in Wales und andererseits in Europa zu Hause. Diese Aussage war gar nicht gegen Großbritannien gerichtet, sondern beschrieb die Ebenen, die er für die Lösung seiner Probleme für relevant hielt. Von dieser Haltung könnten zum Bei-spiel die Bayern etwas lernen, denn sie sind zwar auch der nationalen Ebene ge-

Die Parlamente verlieren Macht

an die Exekutiven

Europäische Einigung mindert die

Probleme der nationalen Demokratie ...

von Weizsäcker 54

genüber skeptisch – einer meiner Söhne hat früher gesagt, die Bayern könnten auch ohne die deutsche Nation Fußballweltmeister werden –, aber sie haben noch nicht ganz akzeptiert, dass die Lösung der bayerischen Probleme auch weitgehend von der europäischen Politik abhängt. Deshalb sollten wir alles tun, was in unserer Macht steht, um die europäische Handlungsfähigkeit zu stärken, auch wenn es zunächst zu einem Übergewicht der Exekutive führt.

Was dann die Demokratisierung Europas angeht, finde ich sehr ermutigend, was Sie aus Frankreich berichtet haben. An Attac kann man vieles kritisieren, aber viele Menschen wirken daran mit und es ist eine wirklich interessante Organisa-tion. Die Friedensbewegungen sind schwieriger beim Namen zu nennen, doch sie scheinen auch bei demokratischen Verbänden ein reges Interesse daran geweckt zu haben, eine europäische sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit herzustel-len. Letztlich scheint mir ein Anwachsen der demokratischen Elemente auf der europäischen Ebene umso wahrscheinlicher, je besser es uns gelingt, zunächst die exekutive Potenz der EU wirklich zu stärken.

Erlauben Sie mir zunächst, Herrn von Weizsäcker in einem historischen Punkt zu korrigieren. Vor dem Bürgerkrieg war die politische Identität der Nord-Amerika-ner sehr viel stärker in den einzelnen Staaten verwurzelt als in der Nation. Die Bürger von Virginia waren zunächst Bürger von Virginia und erst dann Amerika-ner, und genau das hat auch zum Ausbruch des Bürgerkrieges beigetragen. Der Unterschied zwischen den amerikanischen und den europäischen Erfahrungen ist deshalb nicht so groß, wie Sie es dargestellt haben.

Unsere Diskussion über die Demokratie in Europa erinnert mich an eine zynische Bemerkung, die Bertolt Brecht in den 50er Jahren während des Auf-stands in Ostdeutschland gemacht hat. Er sagte : »Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes ?« Einige Teile der Debatte würden von einer klaren Unterscheidung zwischen der Legitimitätskrise auf der einen Seite und dem demokratischen Defizit auf der anderen Seite profitieren. Ersteres bezieht sich auf das Fehlen eines weithin akzeptierten Systems für öffent-liche Entscheidungen. Ein demokratisches Defizit existiert dagegen, zumindest in einem gewissen Maße, eigentlich immer.

Auch habe ich den Eindruck, dass heftiger Euro-Skeptizismus oder -Enthusias-mus vor allem bei der mittleren und älteren Generation zu finden ist. Die jünge-ren Leute scheinen viele der europäischen Errungenschaften wie die Freizügigkeit und den freien Warenaustausch für selbstverständlich zu erachten, ohne der EU

... deshalb sollten wir die europäische

Handlungsfähigkeit weiter stärken

SiedentopAuch die USA waren am Anfang keine

Nation

Für die jüngere Generation ist die EU

selbstverständlich

»Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes ?«

Siedentop

55 von Weizsäcker | Siedentop

dafür dankbar zu sein. Meines Erachtens liegt das daran, dass ein allgemein ak-zeptiertes und verständliches Regelwerk für politische Entscheidungsprozesse in Europa fehlt. Es ist daher ungeheuer wichtig, dass eine europäische Verfassung diese Fragen klärt. Erst dann wird die Europäische Union sich als Institution mit den Identitäten und Ambitionen der Europäer verbinden.

Unsere Debatte zeichnet ein klares Bild der Krise der Demokratie in Europa. Ge-rade als Italiener werde ich das nicht abstreiten, denn bei uns bestimmt das Fern-sehen besonders weitgehend über politischen Erfolg und Misserfolg. Der Macht -gewinn der Exekutive, den Herr von Weizsäcker angesprochen hat, hat wichtige Folgen. Denn er bedeutet, dass der Gewinner einer Wahl alles bekommt. So wird einer Diktatur der Mehrheit der Boden bereitet, das Machtgleichgewicht verküm-mert, und der Rechtsstaat verfällt.

Doch die vielen neuen Bewegungen in Europa, die Frau Le Gloannec erwähnt hat, bilden ein neues Gegengewicht. In Italien zum Beispiel unterstützen außer-parlamentarische Bewegungen die im Parlament zahlenmäßig unterlegene Oppo-sition. Diese Bewegungen können sich in das herkömmliche System einbringen, indem sie sich mit demokratischen Institutionen verflechten. Selbstverständlich müssen sich diese Institutionen aber auch erneuern, und Herr Schmitter hat eine Reihe möglicher Reformen angesprochen.

Zum Thema Zivilgesellschaft möchte ich all jenen, die von einer Krise der politischen Repräsentanz gesprochen haben, sagen, dass wir es in Wahrheit mit einer Krise der Repräsentierten zu tun haben, die gewissermaßen die Krise der Institutionen produziert. Die Parlamente haben eine große Fähigkeit zur Erneue-rung und können zu der Institution werden, die all die neuen Bewegungen mit ihren unterschiedlichen Anforderungen und Wünschen eint. Die politischen Par-teien und Parlamente müssen die Forderungen der Zivilgesellschaft aufnehmen und sie als politischen Akteur anerkennen. Wichtig ist ebenso, dass es neben de-mokratisch gewählten Institutionen auch funktionell repräsentative Organe gibt, die politisch unabhängig sind. Dazu gehören die Justiz sowie unabhängige Behör-den und Wissenschaftler, die Antworten auf Fragen geben, die nach dem Mehr-heitsprinzip nicht gelöst werden können.

Abschließend möchte ich betonen, dass ich mich den 55 % der polnischen Staatsbürger sehr nahe fühle, die daran glauben, dass die EU die nationalen De-mokratien nicht einschränkt, sondern unterstützt. Für uns gilt es in die europä-ische Ebene zu investieren, um neue Lösungen für globale Probleme zu entwi-

ManzellaGerade die italienische Demokratie

ist in der Krise

Die EU schränkt nationale Demokratien

nicht ein, sondern unterstützt sie

Siedentop | Manzella 56

ckeln. So wird die supranationale Politik für die nationale und kommunale Ebene relevant. Wir sollten nicht vergessen, dass wir uns in Florenz an einer Geburts-stätte der kommunalen politischen Kultur befinden. Und wir müssen uns dessen bewusst bleiben, dass die Europäische Union auch institutionell in den Gemein-den beginnt und die Regionen und Länder bis hin zu den Nationen und der supra-nationalen Ebene einschließt. Europa manifestiert sich in einem Netzwerk von Parlamenten.

57 Manzella

In der ersten Diskussionsrunde in diesem wunderbaren Raum aus dem siècle des lumières haben wir in der besten Tradition der Aufklärung These und Antithese definiert und nach der Synthese gesucht. Wir haben den Mitgliederschwund tra-ditioneller Parteien festgestellt und die Entstehung neuer Kräfte wie Attac und anderer als Gegenbewegung gesehen. Dann haben wir einerseits das Aufkommen des Populismus bedauert, andererseits den Wunsch nach stärkerer politischer Verantwortlichkeit entdeckt. In vielen Demokratien verstärkt sich die nationale Nabelschau, aber gleichzeitig wächst die Hoffnung, die europäischen Institutio-nen könnten nationale Mängel wettmachen. Schließlich haben wir ein Gefühl der Ohnmacht in vielen europäischen Gesellschaften diagnostiziert, dem durch neue, repräsentative oder gar direkte Formen der Demokratie begegnet wird.

Die zweite Runde wird sich im Schwerpunkt auf die nationale Ebene konzen-trieren. Wir werden erörtern, inwiefern es ähnliche Herausforderungen und un-terschiedliche Antworten der europäischen Demokratien gibt. Ich freue mich darauf, dass wir uns nun vielleicht stärker der Synthese widmen werden, und bin gespannt auf die beiden Einführungsreferate von Henri de Bresson und Gesine Schwan.

Ich denke, alle Nationalstaaten in Europa sind mit sehr ähnlichen Problemen konfrontiert. So wird zum Beispiel vielerorts die Frage der Regionalisierung dis-kutiert. Um die Anbindung der Bürger an die Politik zu stärken, hat Spanien die Autonomierechte der Regionen reformiert, Italien vertieft diese Reformen gerade, und sogar Frankreich hat den Weg der Dezentralisierung eingeschlagen. Herr Siedentop hat in seinem Buch treffend bemerkt, dass es gegen diesen Prozess in Frankreich starke Widerstände gibt und er deshalb viel langsamer vonstatten geht als in anderen Staaten. Die Identität der Bürger steht in dieser Debatte im Vorder-grund, und ich sehe es als Ironie der Geschichte an, dass 200 Jahre nachdem der Korse Napoleon den französischen Zentralstaat gefestigt hat, wir heute von Kor-sika gezwungen werden, das zentralstaatliche System völlig zu überdenken. Dabei wehren sich interessanterweise nicht nur die Zentralregierung und ihre Institu-tionen gegen die Dezentralisierung, sondern auch andere Gruppen, wie zum Beispiel die Gewerkschaften, die momentan gegen die vorsichtigen Reformen der Regierung Raffarin im Bildungsbereich protestieren.

Die Regionalisierungsdebatte ist zwar sehr interessant, dennoch birgt sie ei-nige Gefahren. Im Europäischen Konvent konnte man gut beobachten, wie die Subsidiaritätsdiskussion einen falschen, meiner Meinung nach zu konservativen

de Weck

de BressonReferat

Trend : Dezentralisierung

II. Die nationale Ebene – ähnliche Herausforderungen, unterschiedliche Antworten ?

de Weck | de Bresson 58

Weg einschlägt. Man kann den Eindruck gewinnen, Bayern und Baden-Württem-berg verwickelten ganz Europa in ihre Probleme mit dem deutschen Föderal-system. Subsidiarität ist in manchen Bereichen geeignet, um einen engeren Bezug zwischen den Bürgern und ihren Lokalregierungen herzustellen. Aber wenn die Nationalstaaten oder die europäischen Institutionen Bildung oder Kultur gar nicht thematisieren dürfen, halte ich das für sehr problematisch.

Herr de Vries meinte, die Demokratie könnte ihre Legitimität durch eine Stär-kung Europas zurückgewinnen. Ich denke, dass wir in Frankreich zwar einen Schritt weiterkommen, wenn sich die Bürger in bestimmten Dingen an die Regi-onen wenden können. Ich bin auch der Meinung, dass es positiv wäre, wenn die Europa-Abgeordneten in den Regionen gewählt werden, weil sie dann mehr Kon-takt zu den Bürgern hätten. Letztlich sollten aber die großen Debatten, die unsere Demokratien bewegen, auf europäischer Ebene geführt werden. Organisationen wie Attac oder die Antiglobalisierungsbewegungen sind in letzter Zeit auch des-halb auf so viel Resonanz gestoßen, weil sie über die Nationalgrenzen hinaus Wirkung gezeigt haben. Zentrale Themen wie Umweltschutz, unser Verhältnis zu Amerika oder zu den Entwicklungsländern müssen schon deshalb auf europä-ischer Ebene diskutiert werden, weil es sich dabei zum Teil um einen Dialog zwischen verschiedenen Kulturkreisen handelt.

Daraus folgt natürlich die Frage, was mit den Nationalstaaten geschehen soll. Herr Siedentop behandelt in seinem Buch ausführlich das französische Staatsmo-dell und behauptet, dieses zentralstaatliche Modell habe sich in Europa durchge-setzt. Das mag für den Beginn der Integration in den ersten Jahren nach den Rö-mischen Verträgen zutreffen, stimmt aber nicht für die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Seitdem hat im Gegenteil das britische System, das ja erst so spät dazugekommen ist, an Einfluss gewonnen.

Doch heute geht es um etwas anderes : Wir wollen das beste politische System für Europa finden. Es ist sicher nicht verwunderlich, wenn der Konvent keine abschließende Antwort auf diese Frage gefunden hat, denn wir befinden uns mit-ten in dem Prozess, eine Synthese zwischen unseren Regierungstraditionen her-zustellen. Deswegen kann ich Herrn Siedentop nicht zustimmen, das eine oder andere System habe eindeutig gewonnen, denn es ist noch nicht klar, wie sich die Strukturen entwickeln werden. Europa muss, wie Herr von Weizsäcker zu Recht gesagt hat, effektiver werden. Dabei kann uns diese fehlende Klarheit in den nächsten Jahren noch große Sorgen bereiten.

Doch zurück zu den Nationalstaaten. Sie werden zweifellos eine wichtige

Wichtige Fragen müssen aber auf

europäischer Ebene geklärt werden

Die Mitgliedstaaten müssen sich auf ein

politisches System für Europa einigen

Letztlich sollten die großen Debatten, die unsere Demokratien bewegen, auf europäischer Ebene geführt werden.

de Bresson

59 de Bresson

Funktion beibehalten, weil sie die Solidaritätsebene darstellen, an die wir ge-wöhnt sind. Aber wir sollten uns darauf nicht allzu sehr verlassen, denn auch auf europäischer Ebene müssen wir bald eine Solidarität erreichen, wenn wir weiter-kommen wollen. Ich finde es wenig überraschend, wenn die Frage der Solidarität von Parteien wie der CSU oder den Konservativen in England gegen Europa ver-wendet wird, da bei diesem Thema immer wieder nationalistische Töne auftau-chen. Dagegen müssen wir angehen und gerade jetzt den Konvent dazu nutzen, um das Prinzip der Solidarität auf der europäischen Ebene zu verankern. Das mag noch einige Zeit dauern, denn in Europa bestehen viele Gegensätze. So habe ich zum Beispiel nie verstanden, warum gerade die nordischen Länder, die im Sozial-bereich am weitesten entwickelt sind, diese Debatte nicht auf europäischer Ebene führen wollen.

Deshalb rufe ich die Medien und andere politikvermittelnde Institutionen wie die Parteien und Gewerkschaften dazu auf, sich in dieser Hinsicht zu verändern. Die fehlende Bereitschaft dieser Gruppierungen, sich wirklich auf Europa einzu-lassen, ist momentan das Haupthindernis für die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Selbst in einer Zeitung wie Le Monde ist es sehr schwierig, Europa angemessen zu thematisieren. Nach langen Diskussionen und erst mit der Einfüh-rung des Euro ist es uns gelungen, eine EU-Seite in Le Monde einzuführen. Trotz-dem fällt es auch jetzt nicht leicht, die Redakteure in anderen Bereichen wie In-nenpolitik oder Wirtschaftspolitik dazu zu bewegen, in europäischen Kategorien zu denken. Beim Wahlkampf in Frankreich letztes Jahr zum Beispiel habe ich angeregt, dass ein Teil des Wahlkampfs auf der Europaseite unserer Zeitung be-handelt wird. Dagegen wandte die Redaktion ein, der Wahlkampf sei eine rein innenpolitische Angelegenheit, so dass all die wichtigen Reden, die von Chirac, Jospin und anderen über Europa gehalten wurden, in unserer Zeitung allenfalls zufällig und kurz erwähnt wurden.

Mir scheint – und in diesem Punkt muss ich Herrn Frey widersprechen –, dass es auch an den Strukturen der Medien liegt, und zwar sowohl beim Fernsehen als auch bei den Zeitungen, wenn diese Themen so wenig behandelt werden. Ich glaube nicht, dass es eine rein wirtschaftliche Frage ist, weil die Medien auf eine große Leserschaft bzw. eine gute Einschaltquote angewiesen sind, wie oft behaup-tet wird, denn das Fernsehen zeigt häufig interessante Reportagen über andere Länder. Diese Sendungen tragen auch dazu bei, dass die Öffentlichkeit besser über die Welt informiert ist. Ich verstehe deshalb nicht, warum das Thema der europä-ischen Demokratie auf diesem Wege nicht vorangebracht wird. Auch die großen

Die Medien sollten sich mehr

auf Europa einlassen ...

de Bresson 60

Gewerkschaften organisieren sich kaum auf europäischer Ebene; die Konfödera-tion europäischer Gewerkschaften in Brüssel hat bisher nur eine völlig nebensäch-liche Rolle gespielt.

Obwohl nahezu alle Länder mit den gleichen Problemen konfrontiert sind – das gilt von den Beziehungen zu Amerika über den Irak-Krieg bis hin zur Renten-problematik –, werden die Lösungsansätze fast ausschließlich national diskutiert. Für die Demokratie wäre es ohne Frage ein großer Gewinn, wenn wir eine leb-hafte Debatte auf der europäischen Ebene erreichen könnten.

Nur eine kurze Zwischenfrage an Herrn Siedentop : Wie reagieren Sie auf Henri de Bressons Kritik, Sie hätten in Ihrem Buch das französische Modell überbewer-tet, und seine Behauptung, in der jüngeren Phase der europäischen Einigung hätten britische Vorstellungen einen größeren Einfluss auf Europa gehabt ?

Ich bitte zu bedenken, dass das Buch bereits vor fünf Jahren geschrieben wurde. Mittlerweile – und da stimme ich Herrn de Bresson voll zu – hat sich die Rolle Frankreichs in der Europäischen Union sehr geändert. Das liegt zum einen daran, dass Frankreich sich nicht mehr ganz im Klaren darüber ist, was für ein Europa es will. Zum anderen liegt es aber auch an dem britischen Beamtentum, das furchtbar effektiv sein kann und das Brüssel quasi übernommen hat.

Unser Thema sind die Herausforderungen der Demokratie. Ich möchte mit der Beobachtung beginnen, dass diese Herausforderungen weder national noch regi-onal sind, sondern global. Wir befinden uns offensichtlich in einer Übergangs-situation.

Dazu eine kleine Episode, die ich in der Zeit des Wechsels von Carter zu Rea-gan am Wilson Center in Washington erlebt habe : Harold MacMillan hielt dort einen Vortrag und erzählte auf seinen Stock gestützt : »Remember the famous story in paradise when Eve caught that apple and Adam ate it and God was very furious and banned them from paradise. Standing at the gates of paradise, Adam showed Eve all that was for them and told her ›Eve, we are now entering a period of transition‹.« Nun, auch wir befinden uns in einer Übergangssituation.

Zunächst müssen wir also erkennen, dass es sich um allgemeine Herausforde-rungen der Demokratie handelt. Das Vertrauen in Institutionen sinkt, und zwar nicht nur periodisch, sondern generell und überall. Wir haben in der Tat einen Mangel an Output-Legitimität, denn die Politik enttäuscht ständig die Erwartun-

... um eine europäische Öffentlichkeit

herzustellen

de Weck

Siedentop

Schwan Referat

Die Herausforderungen der Demokratie

sind global

61 de Bresson | de Weck | Siedentop | Schwan

gen, die in sie gesetzt werden. Während sich die Programme der Parteien kaum noch unterscheiden, tauscht man das politische Personal aus, ohne wesentliche Fortschritte zu erreichen. Ich sehe für diese Entwicklung eine tiefer liegende Ur-sache. Die Macht und der Entscheidungsspielraum der Politik sind derzeit so ein-geschränkt, dass die Politik aus systemischen Gründen die Antworten nicht geben kann, die man von ihr erwartet. Die politische Frustration liegt daher im System begründet und nicht in einzelnen Personen oder Regierungen.

An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Exkurs in die politische Wissen-schaft einfügen. Demokratie ist eine Kombination aus der liberalen Tradition des Rechtsstaats und dem Prinzip der Volkssouveränität, wobei der Liberalismus eine ökonomische und eine politische Komponente hat. Während der letzten Jahrhun-derte konnten diese beiden Komponenten in etwa im Gleichgewicht gehalten werden; ihr Verhältnis steht aber heute vor einer neuen Herausforderung. Der politische Liberalismus im Verbund mit dem Prinzip der Volkssouveränität hat als Hauptziel die gleiche Würde der Menschen, die politisch durch Partizipation ge-sichert wird. Der Mensch ist hier Ziel und Zweck, nicht Mittel. Im Gegensatz zu Herrn Schmitter würde ich also nicht sagen, dass sich die grundlegenden Prinzi-pien der Demokratie immer wieder verändert haben, sondern nur ihre Instituti-onen. Dagegen kennzeichnet sich unser System der Marktwirtschaft mit Wettbe-werb und Internationalisierung auch dadurch, dass der Mensch in der Wirtschaft nicht Zweck, sondern Produktionsmittel ist. Und als solche können Menschen ausgetauscht oder entlassen werden, wenn sie nicht mehr funktionieren.

Das Dilemma ist, dass Demokratie ohne Marktwirtschaft nur schwer denkbar ist, sich ihre Prinzipien aber partiell widersprechen. Bis zum Ende des 20. Jahr-hunderts konnte diese Grundspannung dadurch ausgeglichen werden, dass die Nationalstaaten den Markt regulierten. Auf diese Weise konnte eine der Grundan-forderungen an die Politik, nämlich Sicherheit zu gewährleisten, in etwa erfüllt werden. Die rasante Internationalisierung der Wirtschaft hat nun dieses Gleich-gewicht gestört, weil es keine entsprechenden Mechanismen zur politischen Re-gelsetzung auf der internationalen Ebene gibt. Die Menschen haben zwar nach wie vor Interesse an Politik, aber die nationalen Institutionen verfügen nicht mehr über die Macht, die notwendigen Regeln zu setzen. Herr von Weizsäcker hat sicher Recht, dass die Parlamente Macht an die Exekutiven verloren haben. Aber auch die Exekutiven fühlen sich nicht mächtig – und das gilt bis hinein in die Spitzen-positionen, also für Herrn Schröder oder die graue Eminenz, Kanzleramtschef Steinmeier. Im Gegenteil : Sie sind abhängig von den Machtgruppen, mit denen

Wirtschaftlicher und politischer

Liberalismus geraten

miteinander in Konflikt

Die politische Frustration liegt im System begründet.

Schwan

Schwan 62

sie verhandeln müssen, um unter den Bedingungen einer internationalisierten Wirtschaft zu Ergebnissen zu kommen.

Bei der daraus folgenden Krise der Demokratie geht es nicht einfach um ein neues Prinzip der Repräsentation, weshalb auch das Internet keine befriedigende Lösung darstellen kann. Die Frage ist vielmehr, wo die tatsächliche Macht liegt. Von Bertolt Brecht stammt der Satz : »In der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus, aber wo geht sie hin ?« Ich denke, dieser Frage müssen wir uns stellen.

Die Macht liegt heute meines Erachtens weder bei den Regierungen noch bei internationalen Organisationen oder einzelnen Wirtschaftsunternehmen. Statt-dessen ist sie innenpolitisch und international auf verschiedene soziale Gruppen und Organisationen aufgeteilt, die nicht klar legitimiert sind. Dabei breitet sich das ökonomische Prinzip der Konkurrenz zunehmend auf die anderen Bereiche aus – es treibt alle an. Dazu finde ich einige Beobachtungen von Karl Marx sehr zutreffend, auch wenn ich selbst nie Marxistin gewesen bin. Einmal ist das seine frühe Vorhersage der Globalisierung. Dann seine Erkenntnis, dass der Verlauf der Wirtschaft nicht von einzelnen Personen beeinflusst werden kann, sondern das System eine eigene Dynamik entfaltet. Schließlich seine Behauptung, die Politik sei dieser Dynamik gegenüber machtlos. Marx’ Lösungsvorschläge sind nicht akzeptabel, weil sie zu totalitären Systemen führen, aber die Frage, wie wir gegen-über einem sich verselbstständigenden ökonomischen System politische Macht zu rückgewinnen können, stellt sich uns weiter.

Der Grund für den Vertrauensverlust in die Politik ist also nicht bei individu-ellen Politikerinnen und Politikern zu suchen, sondern darin, dass sie traditio-nelle Grundforderungen an demokratische Regierungen nicht erfüllen können, nämlich Sicherheit und Freiheit zu garantieren. Nehmen Sie als Beispiel den Ar-beitsmarkt, den die Politik nur bedingt beeinflussen oder regulieren kann. Wenn die Bundesbahn 40.000 Menschen einspart, ist das betriebswirtschaftlich wunder-bar. Aber das Problem der Arbeitslosen landet bei der Politik. Dieser Mechanismus wirkt weltweit, weil der Wettbewerb dazu zwingt, betriebswirtschaftlich zu den-ken und die Kosten der Politik zu überlassen. Doch die Politik kann damit nicht fertig werden. Wenn Parteien also behaupten, sie könnten bessere Rahmenbedin-gungen schaffen, muss man sich darüber im Klaren sein, dass das oberflächliche Parteipolitik ist.

Die Dominanz des wirtschaftlichen Systems reicht bis in die Kategorienbil-dung, die Wurzeln der Sprache hinein. Als ich neulich für das Ministerium in Brandenburg eine Vorlage für die leistungsbezogene Mittelzuwendung machen

Durch das Primat der Wirtschaft

verliert die Politik an Macht

Deshalb verliert die Politik an Legitimität

63 Schwan

sollte, wurde das »Produktbeschreibung« genannt. Ich musste also meine Univer-sität als Produkt beschreiben und ihren »Markt« analysieren. Das führt dazu, dass Erfolg nicht mehr daran gemessen wird, ob die Menschen sich sicher fühlen und zu aufgeklärten Bürgern werden, sondern am ökonomischen Ergebnis.

Als Folge entsteht Politik nicht durch Mehrheitsentscheidungen in Parlamen-ten. Stattdessen werden die Akteure identifiziert, die Macht haben, und mit ihnen werden Problemlösungen ausgehandelt. Die Frage der demokratischen Legitima-tion bleibt so auf der Strecke zugunsten von ad hoc Entscheidungen mit den je-weiligen Machtträgern. Die große Gefahr dabei ist, dass immer mehr Menschen national wie international aus dem System fallen. Die Menschen werden sich zunehmend dagegen wehren und so das Gewaltpotenzial erhöhen. Um diesem Problem entgegenzutreten, ist ein grundlegendes Neudenken von Demokratie erforderlich.

Herr de Weck hat uns dazu aufgefordert, uns auch auf die Synthese zu kon-zentrieren. Deshalb will ich fragen, welche praktischen Lösungsvorschläge es gibt. Einmal haben wir natürlich die traditionellen demokratisch legitimierten Institu-tionen : Parlament, Exekutive und Judikative. Dann gibt es zunehmend zivilgesell-schaftliche Gruppen, die so lange Vertrauen genießen, wie sie an ein Gemeinwohl appellieren. Die dritte Gruppe sind große Unternehmen, die sich der Probleme bewusst und zum Engagement bereit sind. Schließlich haben wir die Erkenntnis, dass eine solide Demokratie auf weitgehende Partizipation gegründet ist.

Unter Partizipation verstehe ich dabei nicht nur Bürgerinitiativen, denn die erreichen viele soziale Gruppen nicht. Vielmehr bleibt das, was wir in den siebzi-ger und achtziger Jahren die »demokratische Partizipation in Teilbereichen der Gesellschaft« genannt haben, weiter wichtig. Dazu gehört der gesamte ökonomi-sche Sektor. Auch wenn in unserer postindustriellen Gesellschaft die Wirtschafts-strukturen fragmentiert sind und damit ihre Einbeziehung erschwert wird, müs-sen neue Wege der Teilhabe gefunden werden. Denn nur so kann Partizipation breit angelegt werden.

Abschließend eine Bemerkung zur Europäischen Union. Ich sehe eine große Chance für die EU, den grundlegenden Problemen der Demokratie positiv zu be-gegnen. Dazu müsste sie ihre Größe und ihr Potenzial einsetzen, um Rahmenbe-dingungen für globale Wirtschaftsakteure zu definieren. Dabei müsste sie das Grundbedürfnis der Menschen nach Sicherheit in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit und Altersversorgung nachhaltig aufgreifen. Wenn die Menschen merken, dass die EU sich ihrer Sorgen annimmt, dann wird die EU sicher an Legi-

Alle gesellschaftlichen Akteure sollten

sich im politischen Prozess engagieren

Die EU könnte und sollte das

Primat der Politik über die

Wirtschaft wiederherstellen

Schwan 64

timität gewinnen. Aber sie muss aufhören, alle Sicherheitsbedürfnisse einer radi-kalen Markteffizienz zu opfern, und sie muss das Primat der Politik über die Ökonomie wiederherstellen.

Ebenso wichtig wäre, dass die EU Möglichkeiten zur Partizipation schafft. Denn wenn Menschen weder in der Kommune noch in der Wirtschaft oder in anderen Bereichen an politischen Entscheidungen teilhaben können, wenn sie zugunsten der Effizienz außen vor gelassen werden, werden sie sich wehren. Wenn die Europäische Union also die Sorgen der Menschen ernst nimmt und so das Grundanliegen von Demokratie wieder erfahrbar macht, dann hat sie eine große Chance, in der jetzigen Krise zu bestehen.

Nachdem Gesine Schwan die Machtlosigkeit der Politik in den Vordergrund ge-stellt hat, möchte ich Herrn Szabo fragen, wie das aus amerikanischer Sicht aus-sieht. Man hat das Gefühl, dass in den USA die Exekutive mächtiger ist denn je und das Primat der Politik so groß ist wie schon lange nicht mehr. Sehen Sie eine grundlegend andere Entwicklung in der amerikanischen Demokratie ?

Lassen Sie mich zunächst bemerken, dass die aktuellen Entwicklungen in der amerikanischen Demokratie – ich denke da an die Wahl von George W. Bush und an die Ernennung von Donald Rumsfeld zum Verteidigungsminister – doch eini-ges zur Einigung Europas beigetragen haben, und ich denke, dafür gebührt uns zumindest ein gewisser Dank.

Doch Spaß beiseite. Die Debatte um die Amerikanisierung und Personalisie-rung der Politik in Europa zeigt, dass in Europa und den Vereinigten Staaten ähnliche politische und gesellschaftliche Entwicklungen ablaufen. Ich habe oft von deutschen Freunden gehört, dass Trends in Kalifornien anfangen, sich auf die Ostküste übertragen und schließlich auch nach Deutschland kommen. Das trifft zum Teil auf unsere Frage zu, denn einige der sozialen Veränderungen einer post-industriellen Gesellschaft haben in den USA eher begonnen und sich schneller entwickelt. Jetzt können wir ähnliche Phänomene auch in Europa beobachten. Während der Wahlen im Jahr 2000 und vor allem wegen der Wahlverfahren und Ergebnisse in Florida haben wir eine schwere Krise der Demokratie erlebt. Aber was mich am meisten überrascht hat, war, dass schließlich das oberste Gericht die letztgültige Entscheidung getroffen hat. Zwar war die Entscheidung sehr umstrit-ten, wurde aber am Ende von allen Konfliktparteien akzeptiert, einschließlich der Demokraten. Die Tatsache, dass es nirgendwo zu Krawallen kam, zeigt, wie tief

de Weck

Szabo

Ähnliche Krisensymptome in den USA :

65 Schwan | de Weck | Szabo

die politische Kultur und die politischen Spielregeln im amerikanischen Volk verwurzelt sind.

Daraus kann Europa wichtige Schlüsse ziehen. Anders als Großbritannien, das sich auf eine ungeschriebene Verfassung stützt, verfügen die USA über ein festgeschriebenes System, in dem Bürgerrechte und Freiheiten explizit definiert sind. Wir brauchen diese gesetzlichen Garantien, die von starken Gerichten ga-rantiert werden, weil unsere Gesellschaft so vielfältig ist. Auch die politischen Kulturen und Interessen in Europa sind vielfältiger als die in Großbritannien, und deshalb sollte Europa sich ebenfalls überlegen, ein sehr formalisiertes System anzunehmen.

Der politische Stil von Schröder, Berlusconi, Aznar und Blair lässt ebenfalls eine Amerikanisierung der europäischen Politik erkennen. Was Gesine Schwan und andere über die Krise der europäischen Demokratie gesagt haben, könnte auch auf die USA angewandt werden. In den letzten dreißig Jahren haben wir ei-nen Niedergang der Parteien erlebt, die Wahlbeteiligung ist auf ein sehr niedriges Niveau abgesunken, und die Parteien leiden unter Mitgliedermangel. Die allge-meine Bevölkerung ist politisch apathisch geworden. Politische Aktionsgruppen oder Lobbyisten haben einen enormen Einfluss gewonnen, weil durch unser Sys-tem der Wahlkampffinanzierung jeder einzelne Kandidat quasi zum Unterneh-mer wird, der das Geld für seine Kampagne alleine zusammenbringen muss. Aus diesem Grund hat die Parteidisziplin stark nachgelassen. Jeder Kandidat ist weit-gehend unabhängig, und die politischen Prozesse sind dadurch weniger starr. Gleichzeitig ist in den vergangenen 15 Jahren durch die Globalisierung das Wohl-standsgefälle deutlich gewachsen. Politische Parteien schaffen es nur noch sehr selten, diese divergierenden Interessen unter einen Hut zu bringen. Stattdessen sind nun viele Gruppen entstanden, die jeweils Einzelinteressen vertreten.

In Europa – und insbesondere in Westeuropa – und in den Vereinigten Staaten spielt sich eine weitreichende Fragmentierung der Gesellschaft ab. Am Ende des industriellen Zeitalters zerbrechen kollektive Identitäten, und damit verlieren auch die Gewerkschaften und politischen Parteien viele ihrer Mitglieder. Durch das Erstarken der Wissensgesellschaft im Zuge der Globalisierung fühlen sich immer weniger Menschen einer gesellschaftlichen Klasse zugehörig. Ich glaube, dass dieses Phänomen auch nationale Identitäten erfassen wird. D.h., die Natio-nen in Europa werden langsam verschwinden. Italien könnte ein Beispiel dafür sein, in welche Richtung sich Europa entwickeln wird. Die Massenorganisationen des industriellen Zeitalters wie Gewerkschaften oder politische Parteien entfer-

Politische Apathie und

Niedergang der Parteien

Gesellschaftliche Fragmentierung

Die Nationen in Europa werden langsam verschwinden.

Szabo

Szabo 66

nen sich immer weiter von den sozialen Veränderungen der letzten 30 oder40 Jahre. Parteien sind nicht mehr der Hauptmittler zwischen Bürger und Politik, längst haben die Medien diese Funktion übernommen. Deshalb können Bürger-initiativen oder Nichtregierungsorganisationen ebenso gut wie die Parteien ihre Meinungen zu Gehör zu bringen, besonders wenn es sich um sehr spezielle Inte-ressen handelt.

Was mich bei jungen Menschen in Europa und insbesondere in Deutschland erstaunt, ist, dass sie kein Generationenbewusstsein haben. Während die 68er sich noch als eine Generation gefühlt haben und auf dieser Basis politisch aktiv wurden, können junge Menschen heute noch nicht einmal die Generation benen-nen, zu der sie gehören, wie die »Generation X« oder »Generation Golf«. Die jungen Frauen und Männer glauben nicht an kollektive Handlungen auf dieser Basis, sie engagieren sich lieber in kleinen, oft transnationalen Gruppen für Menschen-rechte oder die Umwelt. Das Problem dabei ist, dass diese Gruppen zwar in der Lage sind, Interessen zu artikulieren, sie aber nicht zwischen unterschiedlichen Interessen vermitteln können. Es ist sehr schwierig, einen Kompromiss zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu finden, wenn alle ihre eigene, beschränkte soziale Agenda verfolgen. Aber weil Gruppen wie die christliche Rechte, die grie-chische oder die israelische Lobby in den USA Geld und Wähler mobilisieren können, haben diese Gruppen einen überproportional großen Einfluss. Bei einer geringen Wahlbeteiligung können Wahlen mit den Stimmen von nur 20 bis 25 Prozent aller Wahlberechtigten gewonnen werden – und das macht gut orga-nisierte und finanzstarke Minderheiten so mächtig.

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf zwei Unterschiede zwischen Europa und den USA hinweisen. Es wurde immer wieder angesprochen, dass ein Grund für das mangelnde Interesse an politischen Parteien ihre Ähnlichkeit ist. Es gibt keine wirklichen Unterschiede mehr zwischen den einzelnen Parteien. Nach so vielen ideologischen Kämpfen im 20. Jahrhundert sind die Menschen ideologisch erschöpft und damit zufrieden, denjenigen Kandidaten zu wählen, der ein besse-rer Wirtschaftsmanager ist. In dem Maße, wie vermittelnde Institutionen an Be-deutung verlieren, gewinnen Persönlichkeiten an Bedeutung.

Die USA hatten sich auch in diese Richtung entwickelt, aber das hat sich plötzlich geändert, und nun erleben wir eine Re-Ideologisierung, oder zumindest eine stärkere parteipolitische Polarisierung unserer Politik. Eine extreme Strö-mung in der Republikanischen Partei übt überproportionalen Einfluss aus, weil sie sehr diszipliniert und entschieden ist und weil die Demokraten auf so vielfache

Interessen werden artikuliert,

aber nicht gebündelt

Unterschiede :

Re-Ideologisierung der Politik in den USA

67 Szabo

Weise gespalten sind. Aber der Trend zu einem Mehr an Ideologie hatte bereits unter der Clinton-Administration begonnen. Europa hingegen tendiert weiterhin in Richtung einer Politik der Mitte.

Der zweite Unterschied ist, dass es in den Vereinigten Staaten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu einer Rückkehr zur Idee der Nation kam und – zumindest wohl für eine gewisse Zeit – das Vertrauen in die Regierung wieder stärker wurde. Unsere Regierung musste plötzlich ihre Bürger gegen eine reale Gefahr beschützen, die jeder ernst nahm. Damit wuchs die Unterstützung für den Kongress und die Exekutive in der Bevölkerung deutlich. Die größten Gefahren für die amerikanische Demokratie erwachsen nun aus Bedrohung, Angst und Krieg. Aus Angst geben viele Amerikaner ihren kritischen Geist und manchmal sogar ihre Bürgerrechte auf. Die Stärkung des nationalen Zusammen-gehörigkeitsgefühls und des Patriotismus sind positive Folgen des 11. September. Negativ hin gegen ist, dass durch diese Angstpolitik eine viel stärkere Exekutive entsteht. Während der Clinton-Administration dachten die Leute, dass die Macht wieder an den Kongress übergeht, weil nach dem Ende des Kalten Kriegs die Rolle des Präsidenten weniger wichtig erschien. Dieser Trend wurde durch die Ereig-nisse des 11. September umgekehrt, weil Sicherheitsbedenken seither an Bedeu-tung gewonnen haben.

Ich würde gerne eine Zeit lang bei den Vereinigten Staaten verweilen. Richard von Weizsäcker hat von fehlenden checks and balances gesprochen. Und Larry Sieden-top kritisiert in einem Kapitel über Europa und die Vereinigten Staaten die Fran-zosen, weil sie die amerikanische Demokratie zu sehr als Selbstverständlichkeit annehmen und das in ihr enthaltene populistische Potenzial, das im Widerspruch zum Liberalismus steht, unterschätzen. Eine Frage, die wir uns stellen müssen, ist daher : Wird die europäische Demokratie unter dem Einfluss Amerikas ebenfalls autoritärer werden und Bürgerrechte einschränken ? Eine zweite Frage an Herrn Siedentop : Weshalb verliert die amerikanische Demokratie – eine der ältesten und besten der Welt – alle zwanzig oder dreißig Jahre ihre Kontrollmechanismen ? Welches ist der tiefere Mechanismus, der unter McCarthy, während des Viet-namkriegs und auch jetzt wieder diese perfekte Demokratie so unperfekt werden lässt ?

Wir können die Situation in den USA nach dem 11. September auf zwei Arten betrachten. Einerseits könnte man sie, zumindest in einigen Aspekten, mit der

Stärkung des nationalen

Zusammengehörigkeitsgefühls

durch den 11. September

de Weck Weshalb verliert die amerikanische

Demokratie ihre Kontrollmechanismen ?

Siedentop

Szabo | de Weck | Siedentop 68

McCarthy-Zeit vergleichen. Wenn die Amerikaner sich unmittelbar bedroht füh-len, ist das fein justierte und komplexe System der checks and balances, das von Madison und anderen eingeführt wurde, zeitweise aufgehoben. Natürlich hatte Madison diese checks and balances gerade entwickelt, weil er erkannte, dass eine demokratische Gesellschaft mit wechselnden Regierungen immer Gefahr läuft, sich zu einem autoritären Herrschaftssystem zu entwickeln. In den Vereinigten Staaten wird dieses Gleichgewicht zusätzlich durch den außerordentlichen Einfluss der Juristen im politischen System gestützt. Aber immer wenn der öffent-liche Aufruhr groß genug ist, funktioniert das System zeitweise nicht mehr. Im Ganzen denke ich, dass der Vergleich der Ereignisse des 11. September und seiner Folgen mit der McCarthy-Zeit legitim ist. Ich bin auch überzeugt, dass die ame-rikanische politische Klasse nach und nach wieder zu ihren alten Gepflogen-heiten zurückkehren wird und das System der checks and balances wieder funk-tionieren wird.

Die zweite Möglichkeit wäre, die derzeitige Situation als das Ergebnis einer bereits länger andauernden Veränderung des amerikanischen politischen Sys-tems zu sehen. Die Verlagerung von Menschen, Wohlstand und Einfluss in den amerikanischen Süden und Westen macht die politische Kultur Amerikas immer populistischer. In diesem Fall müsste sich Europa damit abfinden, dass die derzei-tige Bush-Administration nicht bloß eine Ausnahme ist. Aber Europa sollte darü-ber nicht verzweifeln, sondern eher versuchen, den Einfluss des nordöstlichen liberalen Establishments zu stärken, der heutzutage eben nicht mehr selbstver-ständlich ist.

Die britische Demokratie hat während des Irakkrieges sehr anders reagiert als die amerikanische. Die britische Presse ist immer kritisch geblieben, im Parlament gab es eine Rebellion in der Regierungspartei, und die Öffentlichkeit war sehr viel skeptischer und hat viel mehr auf ihre Bürgerrechte gepocht. Herr Wallace, was ist der grundlegende Unterschied zwischen der amerikanischen und der briti-schen Demokratie ?

Der größte Unterschied zwischen der amerikanischen und jeder europäischen Demokratie ist die Rolle, die Geld spielt. Jedes Mal, wenn ich in den USA bin, überrascht mich wieder, in welchem Ausmaß die Kongressabgeordneten ständig damit beschäftigt sind, ihren nächsten Wahlkampf zu finanzieren. Dadurch er-halten Lobbyisten eine immens wichtige Stellung, und das ist auch der Grund,

Dieser Kontrollverlust könnte

vorübergehend ...

... oder andauernd sein

de Weck Was unterscheidet Großbritannien

von den USA ?

W. Wallace Die Rolle des Geldes in der US-Politik

69 Siedentop | de Weck | W. Wallace

warum sich unsere Politik auseinander entwickelt hat, und zwar unabhängig von der Kriegssituation.

Was die Reaktionen auf den Krieg angeht, so haben die meisten Briten und Europäer den Irak-Krieg in einem anderen Kontext als die Amerikaner erlebt. Wir Briten sind seit über 30 Jahren von Terroranschlägen in London, Manchester, Bir-mingham oder Belfast betroffen. Deshalb sah die britische Öffentlichkeit die An-schläge auf die Zwillingstürme nicht als Ausdruck einer völlig neuen Bedrohung, wie die Amerikaner das taten. Die Bush-Administration hat das erfolgreich dazu benutzt und alle nationalen Symbole eingesetzt, um eine konservative politische Agenda umzusetzen. Das hat die amerikanische Politik noch weiter von den euro-päischen Standpunkten entfernt.

Andere Unterschiede weisen auf einen länger anhaltenden Trend hin. Die amerikanische Politik orientiert sich langsam weg von den Städten und Küsten und hin zur geografischen Mitte des Landes, die zwischen den Rocky Mountains und den Appalachen liegt. Die beiden unterschiedlichen politischen Kulturen ha-ben jetzt ähnliches Gewicht. Europäische Politik, einschließlich der britischen, konzentriert sich dagegen immer noch auf die Städte. Öffentliche Ordnung und der Wohlfahrtsstaat bleiben deshalb die wichtigsten politischen Themen. Keine europäische Partei könnte es sich leisten, den Wohlfahrtsstaat in dem Maße kappen zu wollen, wie es die ländlich geprägte republikanische Partei derzeit in Amerika tut. In den USA geht man davon aus, dass man aus einer Stadt wegziehen kann, wenn das Leben dort zu gefährlich wird. In Europa können wir so etwas nicht tun.

Ein anderer wichtiger Punkt ist unsere Haltung zum Islam und zur Frage der Einwanderung. Heutzutage avanciert die Einwanderungsfrage in Europa zu dem populistischen Thema schlechthin. Manche halten eine multikulturelle Gesell-schaft für die schlimmste Bedrohung der Nation. Glücklicherweise sind sich die etablierten politischen Eliten in Europa darüber einig, dass man diesem Populis-mus entgegentreten muss und dass die Einwanderung in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren noch zunehmen wird. Viele Wähler werden das ablehnen, und es ist Aufgabe der politischen Eliten, ihren Wählern zu erklären, dass es fast unmöglich ist, alle die auszuschließen, die über die Grenze möchten. Diese Span-nungen könnten die europäische Politik amerikanischer machen, denn auch die Republikaner haben nationalistische Tendenzen in den USA gestärkt, indem sie in der öffentlichen Rhetorik der christlichen Rechten und anti-islamischen Positi-onen Raum geben. Es ist möglich, dass die so genannten Gegen-Eliten in Europa

Mehr Erfahrung mit Terrorismus

in Großbritannien

Amerikanische Politik wird ländlich,

die europäische bleibt städtisch

Unterschiedliche Reaktionen

auf die Einwanderungsfrage

W. Wallace 70

ähnlich reagieren. Allerdings ist sich die herrschende Elite sehr wohl bewusst, wie gefährlich so eine Haltung für das kleine und sehr dicht bevölkerte Westeuropa wäre.

Herr Wallace, Sie haben sehr einleuchtende Gründe dafür genannt, warum Eur o- pa anders auf den Krieg reagiert hat als Amerika. Dabei haben Sie interessanter-weise immerfort von »uns Europäern« gesprochen, was wir von Briten gar nicht mehr gewöhnt sind. Doch die Frage bleibt, warum haben sich die Briten dann in der Irak-Krise so verhalten, wie sie es getan haben ? Nur an der traditionellen und wohlbegründeten besonderen Beziehung zu den Vereinigten Staaten kann es nicht gelegen haben.

Was wir über die Entwicklung der amerikanischen Demokratie zuletzt von Herrn Siedentop und Herrn Szabo gehört haben, ist außerordentlich interessant. Uns stört nicht, dass die Amerikaner vom 11. September tief schockiert waren, im Gegenteil müssen wir prüfen, ob wir den ganzen Ernst der Ereignisse begriffen haben. Was uns irritiert, ist zum einen, dass bekanntlich nicht nur Paul Wolfowitz bereits vor dem 11. September den Wunsch nach einer militärischen Lösung im Irak hatte. George W. Bush hat in seinem Wahlkampf ganz ungeniert öffentlich erklärt, er werde zwei große Fehler seines Vaters, zu dem er eine enge mensch-liche und politische Beziehung habe, nicht wiederholen. Erstens werde er nicht vor Bagdad Halt machen, und zweitens werde er sich wiederwählen lassen.

Zum anderen verstehen wir uneingeschränkt das Streben nach verstärkter Sicherheit nach dem 11. September, das sich auch in einer Stärkung der Exekutive niederschlägt. Nicht verständlich dagegen ist uns der ungeheuer gewachsene Ein-fluss des Justizministeriums unter John Ashcroft. Hier verbindet sich eine christ-liche Glaubenshaltung mit dem Sicherheitsbedürfnis zu einem Sendungsbewusst-sein, das man nur als Fundamentalismus bezeichnen kann. Diese Entwicklung prägt unser derzeitiges Bild von der amerikanischen Demokratie stark.

Dritter Kritikpunkt ist die Art und Weise, wie die Medien bei der Begründung schwerwiegender Entscheidungen in Amerika – und übrigens auch in Großbritan-nien – von der Politik manipuliert wurden. Es ist erschreckend, in welcher Weise Kriegsgründe vorgebracht wurden und welche Beweise dafür in den alleramtlichs-ten Reden, insbesondere der State of the Union Address, genannt wurden. Jeder schwächeren Regierung hätte dieses Vorgehen in kürzester Zeit den Hals gebro-chen. Man mag es noch für eine anständige Rücksichtnahme halten, wenn der Spitze der Exekutive nicht unterstellt wird, sie habe vorsätzlich gelogen. Doch wie

von Weizsäcker

Kritik an den USA :

Kriegspläne existierten bereits

vor dem 11. September

Ashcrofts Einstellung ist

fundamentalistisch

Die Medien wurden manipuliert

71 W. Wallace | von Weizsäcker

verheerend muss der Zustand einer Regierung sein, die äußerst dubiose Quellen in den wichtigsten Reden des Präsidenten aufführt, um so die Welt davon zu überzeugen, dass gegen den Irak Krieg geführt werden müsse. Die Tatsache, dass die Gründe für diese Entscheidung immerfort wechseln, verbessert das Bild nicht.

Mit Recht haben Sie darauf hingewiesen, dass die Medien in Großbritannien eigentlich geblieben sind, was sie immer waren : nämlich eine kritische und ein-drucksvolle Institution, vielleicht mit Ausnahme des Konzerns von Rupert Mur-doch. Es war auch sehr beeindruckend, wie man live aus dem Unterhaus eine Diskussion über den bevorstehenden Irak-Beschluss mitverfolgen konnte – eine Sternstunde eines höchst lebendigen parlamentarischen Ringens. Solche Debat-ten gibt es im Deutschen Bundestag selten. Und Tony Blair, den ich persönlich hoch achte, brachte von allen Beteiligten das größte Maß an Moral in die Diskus-sion ein, so dass man seiner Position kaum widersprechen konnte, ohne sich von vornherein als unmoralisch abzustempeln. Gerade deshalb ist es letzten Endes sehr schwer verständlich, warum die britische Reaktion auf die Haltung der ame-rikanischen Exekutive in der Irak-Krise so ausgefallen ist, wie es der Fall war.

Ich sage dies nicht als verständnislose Kritik, sondern in der Hoffnung, dass es zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa zu einer besseren Verständi-gung über unsere Aufgaben, einschließlich der moralischen Haltung, kommen wird. Dann können wir vielleicht auch der Forderung, die Herr Siedentop formu-liert hat, etwas nachkommen : dazu beizutragen, dass die checks and balances in den USA wieder erstarken. Daran haben wir ein elementares Interesse, denn Ame-rika war immer ein Vorbild für die Demokratie in der ganzen Welt, die an der derzeitigen Krise mitleidet. Genau deshalb müssen wir unsere politische und de-mokratische Freundschaft mit den Amerikanern weiterentwickeln.

Herr von Weizsäcker hat gefragt, warum Großbritannien am Irak-Krieg teilge-nommen hat. Meiner Auffassung nach haben wir diese Entscheidung getroffen, weil es Tony Blairs Strategie war, die USA möglichst weitgehend einzubinden. Sie bestand darin, so dicht wie möglich an der Seite Amerikas zu stehen, in der Hoff-nung, dadurch Einfluss auf die amerikanische Politik nehmen zu können. Wegen der derzeitigen Überlegenheit der USA und des neuen ideologischen Gerüsts, das ihren Handlungen zugrunde liegt, erschien diese Strategie als die einzig sinnvolle. Blair wollte nicht unbedingt in den Krieg ziehen, und er hatte wahrscheinlich gedacht, dass andere Umstände ihn davor bewahren würden. Aber unter den ge-

Weshalb hat sich

Großbritannien so verhalten ?

GibbonWeil Tony Blair die USA

einbinden wollte

von Weizsäcker | Gibbon 72

gebenen Umständen hielt er diese Politik für die richtige. Andere müssen sich dagegen fragen, ob sie überhaupt eine Strategie verfolgten oder ob sie von den Ereignissen überrascht wurden.

Lord Wallace hat die britische Politik als städtisch geprägt beschrieben. Aller-dings leben 75 – 80 Prozent der Briten in Vororten. Das heißt, sie leben in einer sehr fragmentierten Gesellschaft, so wie die meisten Amerikaner auch. Der Un-terschied ist, dass wir weniger ideologisch sind, weil wir mit Ideologie nicht viel anfangen können. Ich habe einmal gehört, wie eine Dame in einem Bus zu einer anderen sagte : »Be philosophical, don‘t think about it.« Damit hat sie den Kern der englischen, vielleicht sogar der britischen Betrachtungsweise der Welt getroffen.

Vielleicht wollte Herr Altmaier uns provozieren, als er sagte, wir sollten uns über geringe Wahlbeteiligungen keine Sorgen machen. Aber ein enger Vertrauter von Tony Blair hat dieses Phänomen einmal ernsthaft als einen Indikator für die Zufriedenheit der Bevölkerung beschrieben : Je glücklicher das Land ist, desto nied-riger fällt die Wahlbeteiligung aus. Leider sieht die Realität ganz anders aus, vor allem wenn man an die Zahl der sozial Bedürftigen unter den Nicht-Wählern denkt. Deshalb müssen wir diese Frage sehr vorsichtig behandeln. Die Wahlbetei-ligung bei Kommunalwahlen ist mittlerweile so tief gesunken, dass einige Politik-berater schon vorgeschlagen haben, Unternehmensberater sollten die Aufgaben der kommunalen Verwaltung übernehmen – als hätten wir nicht ohnehin schon genug Unternehmensberater. Aber die Kommunalwahlen in Großbritannien und die Präsidentschaftswahlen in Frankreich haben gezeigt, dass wir es mit einer ernsten Bedrohung unseres politischen Systems zu tun haben. Bei geringer Wahl-beteiligung haben radikale Kräfte die Chance, mehr Macht zu erringen, als ihrem tatsächlichen Rückhalt in der Bevölkerung entspricht.

Lassen Sie mich einen Vorschlag aus der Sicht der Medien unterbreiten : Poli-tiker sprechen oft in einer unglaublich abschreckenden Weise. Ihre Grammatik und ihre ganze Art, sich zu geben, hat nichts mit dem Leben von normalen Men-schen zu tun. Wie kann man jemandem trauen, der mit den Armen in der Luft herumfuchtelt, auf das Rednerpult hämmert und eine Sprache spricht, die man nicht versteht ? Dazu nehmen Politiker oft automatisch eine Angriffshaltung ein, verteufeln, was immer auch der Gegner sagt. Die Medien unterstützen dieses Ver-halten, denn wir lieben scharfe Auseinandersetzungen und berichten ausführlich darüber. Dennoch würden Politiker sicherlich auch ihr Publikum finden, wenn sie ihre Meinungen anders präsentieren würden. Tony Blair hatte das versprochen, als er an die Macht kam, genauso wie Ian Duncan Smith, als er zum Vorsitzenden

Geringe Wahlbeteiligung stellt

ein ernsthaftes Problem dar

Politiker müssen Inhalte

besser präsentieren

Kern der britischen Betrachtungsweise der Welt :»Be philosophical, don‘t think about it.«

Gibbon

73 Gibbon

der konservativen Partei gewählt wurde. Unsere Regierung versucht dieses Ver-sprechen unter anderem dadurch umzusetzen, dass sie die Bevölkerung mehr in die Lokalpolitik einbezieht. Dieser Ansatz könnte hilfreich sein, aber nur wenn die Regierungen trotz aller zentralistischen Tendenzen ehrlich bemüht sind, Ent-scheidungen auch auf die lokale Ebene zu verlagern.

Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte zur Lokalisierung der Macht sagen, die Frau Schwan angesprochen hatte. Ein Minister, der gerade ein Gesetzes-vorhaben im Parlament einbringen wollte, sagte mir einmal, dass der schwierigste Teil seiner Arbeit bereits hinter ihm liege, denn er habe während der Entwurfspe-riode schon mit allen Lobbyisten und Aktionsgruppen gesprochen. Das bedeutet, dass diese Menschen sehr viel politische Macht an sich gerissen haben und dass sich die Politik von der öffentlichen in die private Sphäre verlagert hat. Dieser Mangel an Transparenz ist eine große Gefahr.

Ich möchte kurz Herrn von Weizsäcker antworten. Der britische Premierminister überzeugte sein Land, in den Krieg zu ziehen, um so etwas Kontrolle über die Vereinigten Staaten zu behalten. Als Ergebnis waren die USA – zumindest bis zum Beginn des Kriegs – eher bereit, die Vereinten Nationen einzubeziehen. Großbri-tanniens öffentliche Unterstützung hat die US-Administration auch dazu bewegt, den Nahen Osten mehr als ein Ganzes zu sehen und sich zum Beispiel für die so genannte Road Map für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ein-zusetzen. Blair konnte zwar nicht die gesamte politische Elite überzeugen, aber seine Strategie ist bislang aufgegangen.

In diesem Zusammenhang steht nun die Europäische Union vor einer großen Fra ge : Wie kann diese schwache Union ihre außenpolitische Rolle in der Welt finden ? Der britische Premierminister oder der französische Präsident können entscheiden, ob ihr Land Krieg führt oder nicht. Andere Regierungschefs aber haben diese Entscheidungsgewalt nicht. Die europäische Einigung war bisher nur erfolgreich, weil außenpolitische Probleme ausgeblendet wurden. Aber die aktu-ellen Entwicklungen in den transatlantischen Beziehungen erfordern ein Umden-ken. Nun muss auch die EU mehr über den Rest der Welt und über ihre Ver-antwortlichkeiten gegenüber den anderen Ländern nachdenken. Das ist eine durch aus große Herausforderung für die europäische Demokratie und für die Legitimität ihrer Institutionen.

Ich will es ein wenig konkreter ausdrücken : Die EU hat erklärt, dass sie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat. Der erste Test dieser gemeinsa-

W. Wallace

Die EU muss mehr außenpolitische

Verantwortung übernehmen

Die europäische Einigung war bisher

nur erfolgreich, weil außenpolitische

Probleme ausgeblendet wurden.

W. Wallace

Gibbon | W. Wallace 74

men Politik nach der Irak-Krise wird der Kongo sein. Die EU hat sich verpflichtet, Soldaten zu schicken, um so einen möglichen Völkermord im Osten des Kongo zu verhindern. Frankreich hat die Führung über Truppen aus Großbritannien und einigen anderen Ländern übernommen, aber die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union zögern weiterhin bei solchen Auslandseinsätzen. Daher meine Frage : Wenn wir uns entscheiden, der britischen Strategie nicht zu folgen, und uns also nicht an der Seite der USA engagieren, um diese zu mäßigen, wird dann die Europäische Union in der Lage sein, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwerfen, mit der sie über ihre Grenzen hinaus Verantwortung für Sicherheit und Stabilität übernehmen kann ? Wenn man in Betracht zieht, wie schwach der europäische Staatenbund ist, bin ich pessimistisch.

Um das Kapitel USA-Europa-Großbritannien zügig abzuschließen, möchte ich Sie bitten, sich bei weiteren Kommentaren kurz zu fassen.

Für mich ist die eigentliche Frage, wie die USA mit ihrer heutigen Machtfülle umgehen. Während des Kalten Kriegs gingen die USA immer wieder Koalitionen ein. Sie wurden dazu zum einen durch ihr internes System der checks and balances und zum anderen durch äußeren Druck der Sowjetunion gezwungen. Heute gibt es diesen äußeren Druck nicht mehr, und bis zu einem gewissen Grad haben wir durch die traumatischen Erlebnisse des 11. September und ihre Folgen auch das interne Kontrollsystem verloren. Diese in der amerikanischen Geschichte einma-ligen Ereignisse wurden von einer sehr entschiedenen Gruppe Politiker benutzt, um ihre eigenen Pläne umzusetzen. Wir müssen uns nun fragen, wie die USA ihr Gleichgewicht zurückerlangen können – eine sehr schwierige Aufgabe für so ein mächtiges Land. Ich bin überzeugt, dass Europa die Rolle eines freundlichen Ge-gengewichtes übernehmen könnte, denn wir teilen dieselben Überzeugungen und Werte und dennoch ist Europa eine äußere Kontrolle.

Ich möchte nur drei Fragen äußern. Erstens : Warum hat Amerika sein inneres Gleichgewicht verloren ? Der Machtgewinn der Rechten ist verständlich, aber nicht, warum die Linke so viel an Einfluss verloren hat und nicht den Mut hat, gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Zweitens : Warum werden alle euro-päischen Vorschläge so heftig abgelehnt ? Als die europäischen Staaten anboten, mit Artikel 5 des NATO-Vertrags den Bündnisfall auszurufen, bekamen sie von Washington nur ein gleichgültiges Achselzucken. Militärisch kann ich mir erklä-

de Weck

Szabo Europa könnte ein Gegengewicht

zu den USA sein

de Vries

75 W. Wallace | de Weck | Szabo | de Vries

ren, wie es zu dieser Reaktion kam, aber nicht politisch. Und drittens : Was genau kann Europa tun, um den Vereinigten Staaten zu helfen, ihr inneres Gleichge-wicht wiederzufinden, außer die amerikanischen Forderungen ohne Debatte umzusetzen ?

Herr Szabo hat das Schlüsselwort des »friendly balancers« benutzt. Um ein Gegen-gewicht für die USA darzustellen, müsste die Europäische Union als Einheit auf-treten. Ich denke, es ist eine Illusion zu glauben, einzelne Länder könnten das Verhalten der Vereinigten Staaten beeinflussen. Nehmen Sie zum Beispiel die unglaubliche Situation der Gefangenen in Guantanamo, die völlig rechtlos sind, wogegen Europa aber kaum protestiert.

In der transatlantischen Debatte sind mir zwei Dinge aufgefallen. Erstens : Die Europäer versuchen ihre Standards auf alle anderen anzuwenden. Sie kritisieren, dass die USA und andere Teile der Welt religiöser werden. Aber die zunehmende Säkularisierung in den vergangenen zwanzig Jahren ist ein rein europäisches Phä-nomen. Anderswo spielt der Islam eine zunehmend wichtige Rolle in der Politik, ähnlich wie das Christentum in den Vereinigten Staaten. Was in Europa geschieht, ist daher eher die Ausnahme als die Regel, und das sollte uns auch bewusst sein.

Zweitens : Während Amerika sich sehr auf militärische Macht konzentriert, glauben die Europäer, dass alle Probleme mit ähnlichen Methoden gelöst werden können, wie die Wiederannäherung zwischen Deutschland und Frankreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Beide Positionen sind problematisch, vor allem weil beide Seiten dazu tendieren, das Verhalten der anderen Seite zu kriminalisieren. Die USA kritisieren die Handlungen der Europäer auf das Schärfste, während Europa die Bush-Administration für verrückt erklärt. Dieses Verhalten ist kontra-produktiv und wird in tiefen transatlantischen Verstimmungen enden.

Als Grund für Großbritanniens Verhalten wurde das Bestreben genannt, Einfluss auf die USA auszuüben. Bisher war dieser Versuch zwar nicht immer erfolgreich, denn auch mit der zweiten UN-Sicherheitsratsresolution haben die USA den Eng-ländern letzten Endes keinen Dienst geleistet. Dennoch finde ich diese Überle-gung als Motiv überzeugend.

Zweitens gehört die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu den großen globalen Aufgaben. Die neueste Initiative, die so genannte Road Map, ent-stand im Wesentlichen in einer Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und

Fagiolo Nur als Einheit kann Europa

ein Gegengewicht sein

Krastev

von Weizsäcker

de Vries | Fagiolo | Krastev | von Weizsäcker 76

Deutschland. In dieser Kernfrage weiter voranzugehen ist eine europäische Auf-gabe, und ich bin überzeugt, dass sie uns gelingen wird.

Drittens möchte ich an das Stichwort Saint Malo erinnern, auch wenn das schon bald fünf Jahre zurückliegt. Es ist unsere Aufgabe, den Briten eine neue Mit-Führungsrolle im Prozess der europäischen Integration einzuräumen. Diese Rolle wird auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik liegen, in dem sie bereits wich-tige Schritte zusammen mit den Franzosen unternommen haben, die ganz im Gegensatz zu den vielen Problemen in ihrer gemeinsamen Geschichte stehen. Dem werden dann auch außenpolitische Fragen folgen können. Um Großbritan-nien auf die Weise einzubeziehen, auf die wir sehnsüchtig warten, müssen wir keineswegs unsere Zusammenarbeit mit den Franzosen mindern, wohl aber mit dem Wort Kerneuropa sehr viel vorsichtiger umgehen als bisher.

Schließlich möchte ich Herrn Fagiolo und Herrn de Weck entgegnen, dass ich die Zukunft auf diesem Gebiet nicht so pessimistisch sehe. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, die Briten an unseren gemeinsamen Aufgaben stärker zu interessieren, denn schließlich verstehen wir am Ende dieser schweren Irak-Krise Tony Blair trotz seiner manchmal übersteigerten Moral sehr viel besser als andere, die sich führend zu dieser Krise geäußert haben.

Das Stichwort Islam ist wiederholt gefallen, und ich möchte daher unseren irani-schen Gesprächspartner Ali H. Jafari um seine Sicht der Dinge bitten.

Ich möchte einige Dinge aus einer iranischen Perspektive erläutern. Der Iran ge-hört zu den am weitesten entwickelten Ländern im Nahen Osten und befindet sich gerade in einem Demokratisierungsprozess. Unsere bisherigen Erfahrungen mit Demokratie sind zwar ganz andere als Ihre, aber wir planen die nächsten Schritte in der Konsolidierung unserer eigenen Form von Demokratie. Wir analy-sieren auch die Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre in Ihren Ländern, um dann zu überlegen, wie wir von dieser Erfahrung lernen können. Kürzlich hat unser Präsident in einer Rede klar zwischen Demokratie und Zivilgesellschaft unterschieden, und momentan suchen wir nach Möglichkeiten, wie man die Zi-vilgesellschaft weiterentwickeln kann.

Im Iran und dort vor allem im Lager der Konservativen gibt es aber viele Fra-gen und auch Kritik an der Demokratie, wie sie im Westen praktiziert wird. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antworten zu diesen Zweifeln. Zunächst haben Sie festgestellt, dass niedrige Wahlbeteiligungen im Westen dazu führen, dass die

Großbritannien muss stärker an

europäischer Politik mitwirken

de Weck

Jafari

Iranische Kritik an

westlicher Demokratie :

77 von Weizsäcker | de Weck | Jafari

Abgeordneten schließlich nur noch eine Minderheit vertreten. Im Iran dagegen vertritt der Präsident 70 Prozent der Bevölkerung.

Zweitens sind wir sehr besorgt über die Dominanz des Kapitals und den Ein-fluss wirtschaftlicher Sonderinteressen bei wichtigen Entscheidungen. Diese Son-derinteressen können manchmal sogar demokratische Institutionen außer Kraft setzen.

Drittens stehen einige konkrete Tatsachen im Widerspruch zur Demokratie in Europa. Nehmen wir Österreich als Beispiel. Weil das Ergebnis von wohlge-merkt demokratischen Wahlen der EU nicht passte, wurde Österreich von einigen Konferenzen und anderen formellen Anlässen ausgeschlossen. Wie kann man das demokratisch nennen ? Dann, als nächstes Beispiel, Algerien. Die legitim gewählte Regierung wurde durch einen Staatstreich entmachtet. Wir haben Probleme zu verstehen, warum Westeuropa diese Aktion unterstützt hat, anstatt sie zu verur-teilen.

Schließlich die Türkei, die schon bald Mitglied der Europäischen Union sein könnte. Was wird passieren, wenn eine islamistische Partei dort die Wahlen ge-winnen wird, was bald der Fall sein könnte, wenn man den Umfragen Glauben schenkt ? Würde die EU das als demokratisches Ergebnis akzeptieren ?

Was den Iran angeht, so wissen Sie besser als ich, dass vor mehr als 50 Jahren Dr. Mohammed Mossadeq demokratisch zum Premierminister gewählt wurde. Aber dann wurde die Regierung durch einen angloamerikanischen Staatsstreich gestürzt und der Schah mit Unterstützung des Westens installiert. Und jetzt, wo die Menschen im Iran nicht nach Demokratie verlangen, geht es darum, dem Iran Demokratie aufzuoktroyieren oder sogar in den Iran einzumarschieren. Diese Wider sprüche und offensichtlichen doppelten Standards sind im Iran im-mer wieder Quelle für Zweifel an den Absichten des Westens. Wir suchen noch nach Antworten auf diese Fragen.

An dieser Stelle möchte ich ein kurzes Zwischenfazit ziehen, ehe wir die Diskus-sion fortsetzen. In unserer bisherigen Diskussion haben wir uns oft nicht auf institutionelle, sondern kulturelle Faktoren bezogen. Eine der Lehren für mich ist daher, dass das Funktionieren einer Demokratie auch sehr stark vom Kulturel-len abhängt. Dieser Aspekt scheint gerade in der europäischen Diskussion über Demokratie oft zu kurz zu kommen.

Dann haben wir – gerade im Zusammenhang mit dem Krieg im Irak – unsere Beziehung zum Islam thematisiert. Wichtiger kultureller Unterschied zwischen

Widersprüchliche Politik

und doppelte Standards

de Weck

Jafari | de Weck 78

Europa und den Vereinigten Staaten ist, dass der Islam in Europa als Teil unserer Geschichte, als unser direkter Nachbar und mitten in unseren Gesellschaften auf-tritt. Diese enge Verbindung erklärt meines Erachtens die Unterschiede im Ver-gleich zu den USA.

Schließlich eine reale Utopie : Stellen Sie sich vor, die Türkei ist irgendwann Mitglied der Europäischen Union und wir haben eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit einem europäischen Außenminister. Dieser Außenminister müsste mit den Nachbarn Irak und Iran umgehen. Allein diese Tatsache zeigt, welche Ansprüche an eine gemeinsame Außenpolitik gestellt würden.

Doch ehe wir wieder zur Debatte über Demokratie und die Nation zurückkeh-ren, möchte ich Ihnen eine gute Nachricht übermitteln. Die Tschechen haben mit großer Mehrheit für den Beitritt zur Europäischen Union votiert. Nach neuen Zwischenergebnissen aus Prag stimmten rund 76 % für die Mitgliedschaft. An dem zweitägigen Referendum beteiligten sich mehr als 54 % der 8 Millionen Wahlbe-rechtigten. Dazu ein Kommentar von Frau Kolarska-Bobinska :

Ich bin wirklich sehr glücklich und auch sehr erstaunt über dieses Ergebnis, denn die Tschechen haben bislang den EU-Beitritt immer mit Skepsis betrachtet. Und nun haben sie sogar noch eine höhere Wahlbeteiligung und ein besseres Ergebnis als die Ungarn erzielt. Dabei galten die Ungarn immer als die enthusiastischste Nation hinsichtlich des EU-Beitritts. Dieses Ergebnis ist auch eine Vorentschei-dung für andere Referenden. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass zum Beispiel die baltischen Staaten nach diesem Ergebnis noch »Nein« sagen könnten. Dadurch, dass die Referenden nacheinander abgehalten wurden, ist in der Region ein Ge-fühl der Solidarität entstanden. Daher glaube ich auch, dass die zuvor in Ungarn, der Slowakei und Polen abgehaltenen Referenden den Tschechen geholfen haben, nun diese Entscheidung zu treffen. Dass ein Land sich in dieser Weise am Verhal-ten seiner Nachbarstaaten orientiert, ist neu, und ich finde das sehr positiv.

Ich möchte vorschlagen, dass wir Vaclav Havel gratulieren, der so viel zu den Entwicklungen beigetragen hat, die jetzt in dieser positiven Entscheidung ihren Abschluss finden. Der Ausgang des Referendums zeigt, dass er in gewisser Weise noch »im Amt« ist.

Damit zurück zu unserem Ausgangsthema, dem Verhältnis von Demokratie und Nation. Dazu gehört die Frage der Medien, aber auch die Beziehung zwischen

Tschechien votiert für den EU-Beitritt

Kolarska-Bobinska Dieses Ergebnis hat Signalwirkung

für andere Beitrittsländer

von Weizsäcker

de Weck

79 de Weck | Kolarska-Bobinska | von Weizsäcker | de Weck

Staatsbürgern und Konsumenten : Demokratie und Marktwirtschaft gelten meist als unzertrennlich, aber die Demokratie braucht Bürger und die Marktwirtschaft stellt Verbraucher her. Wenn der Bürgersinn der Konsumhaltung weicht, kann das die Demokratie schwächen. Zu unserem Thema gehört auch die Frage der Elite, also danach, wer künftig diese Demokratien tragen wird.

In ihrem Diskussionsbeitrag hat Gesine Schwan darauf hingewiesen, dass wir in einer Situation, in der nicht mehr klar ist, wer eigentlich die Macht hat, die De-mokratie auf europäischer Ebene stärken müssen. Nur so kann die Effizienz und die Legitimität politischer Entscheidungen gestärkt werden. Das ist richtig, aber in einer Demokratie geht es nicht nur um Institutionen, sondern auch um Iden-tität, um das »Wir« aus »Wir sind das Volk«. Damit meine ich keine ethnisch defi-nierten Gemeinschaften. Aber ein Demos besteht eben nicht nur aus »kommuni-kativem Handeln«, wie Habermas es formuliert, sondern auch aus gemeinsamen Spielregeln und einer zugrunde liegenden gemeinsamen Sprache. Diese Sprache muss nicht nur wortwörtlich, sondern auch symbolisch dieselbe sein. Um einan-der zu verstehen, müssen wir dieselbe Sprache sprechen und auf denselben kultu-rellen Hintergrund zurückgreifen können. Diese Kultur kann selbstverständlich sehr vielfältig sein und immer wieder durch Neuankömmlinge bereichert werden, aber sie muss eine gemeinsame Grundlage haben.

Auf europäischer Ebene ist die gemeinsame Identität noch nicht ausreichend entwickelt. Einige Redner haben auf viel versprechende Entwicklungen hingewie-sen, aber wir sind immer noch weit von diesem Ziel entfernt. Die europäische Demokratie muss daher mit einer Ungleichzeitigkeit zurechtkommen : Einerseits entwickeln sich die demokratischen Institutionen sehr rasch, andererseits bildet sich eine europäische Identität nur sehr langsam. Selbst wenn die Identität auf nationaler Ebene zerbricht, wird es sehr lange dauern, bis sie auf einer europä-ischen Ebene neu entsteht, wenn überhaupt.

Ich möchte noch einmal zur Frage der Lokalisierung von Macht in fragmentierten Gesellschaften zurückkehren. Das Problem der Fragmentierung wird ja in einer supranationalen Gemeinschaft wie der Europäischen Union noch verschärft. Es ist in der Tat schwer festzustellen, bei welchen Akteuren auf welchen Ebenen die Macht zur politischen Gestaltung liegt. Gerade deshalb kommt es aber darauf an, Institutionen wie z. B. die Parlamente zu haben, die dem Wohl und den Interessen aller verpflichtet sind. Es reicht nicht aus, dass wir in einer Demokratie eine faire

Le Gloannec Europäische Demokratie bedarf

einer europäischen Identität

Landfried

de Weck | Le Gloannec | Landfried 80

In einer Demokratie geht es nicht nur um

Institutionen, sondern auch um Identität.

Le Gloannec

Beteiligung möglichst vieler Interessen gewährleisten. Denn wer vertritt die Inte-ressen derjenigen, die sich eine Beteiligung – und sei es eine Beteiligung über die neuen Medien – nicht leisten können ? Das Prinzip »no taxation without represen-tation« lässt sich m.E. nicht einfach in das Prinzip »no representation without taxation« umkehren. Eine Beteiligung möglichst vieler Interessen kann die demo-kratische Legitimation der nationalen oder europäischen Politik nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.

Dann möchte ich auf die Bemerkung von Gesine Schwan eingehen, dass der Vertrauensverlust in die Parteien und die Politik allgemein damit zusammen-hänge, dass nationale Institutionen die Grundbedürfnisse der Menschen wie Arbeit, Bildung und Gesundheit nicht mehr erfüllen könnten. Die Frage ist aber, ob und auf welche Weise es gelingen kann, diese Probleme auf der europäischen Ebene zu lösen.

Für die Problemlösungsfähigkeit der Politik ist es zunächst einmal wichtig, dass auf der nationalen und europäischen Ebene zwischen den Bereichen der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und der Medien unterschieden wird. Wir beobachten immer häufiger, dass die Diffe-renz beispielsweise zwischen Politik und Medien oder zwischen Wissenschaft und Wirtschaft vernachlässigt wird. Eine immer mediengerechter handelnde politische Elite und eine immer politischer handelnde Medienelite tragen aber nicht dazu bei, dass Politik und Medien ihren Aufgaben gerecht werden. Auch die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft werden nicht mehr hinreichend beachtet. Universitäten als Institutionen der Wissenschaft lassen sich nicht an den Kriterien der Wirtschaft messen. Wer versucht, die Wissenschaft zu ökonomisie-ren, wird am Ende sowohl der Wissenschaft als auch der Wirtschaft schaden. Die Beispiele ließen sich vermehren. Wichtig für die Problemlösungsfähigkeit von Parteien und Politik ist das Festhalten an Differenzierungen. Wenn dies nicht geschieht, trägt der Wechsel von der nationalen zur europäischen Ebene nicht zur Problemlösungsfähigkeit der Politik bei. Auf der Basis der Differenzierungen ist es dann in einem nächsten Schritt wichtig, dass über die Grenzen der einzelnen Bereiche hinweg kommuniziert wird.

Was Frau Schwan über die Ökonomisierung der Gesellschaft gesagt hat, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich arbeite beim ZDF, einem der beiden großen öf-fentlich-rechtlichen Sender in Deutschland, und muss bei selbstkritischer Refle-xion einräumen, dass wir natürlich auch den Druck der Ökonomie spüren. Ähn-

Politik, Wirtschaft und Medien müssen

getrennte Bereiche bleiben

Frey

81 Landfried | Frey

lich wie Sie eine »Produktbeschreibung« für Ihre Universität abliefern mussten, stehen auch wir unter finanziellem Druck. Dazu kommt bei uns der Quoten-zwang, den ich im Prinzip bejahe. Wir müssen eine gewisse Zuschauerrelevanz nachweisen, um uns für Gebühren zu qualifizieren. Wir sollten heutzutage Fern-sehprogramme für das Publikum machen und nicht für die Redakteure. Aller-dings kann nicht jede Programm-»Ware« gleich erfolgreich sein. Ein Kulturmaga-zin kann nicht so viele Zuschauer wie ein Krimi erreichen. Deshalb sind Vorgaben wichtig, welche »Nischen« ein Fernsehprogramm, eine Universität, ein Theater ganz bewusst pflegt, um über das »Verkäufliche« hinaus das »Wichtige, kulturell und Gesellschaft Wertvolle« zu verbreiten.

Aber noch einmal : Ich bin hinsichtlich der gut gemeinten Versuche, eine euro-päische Öffentlichkeit herzustellen, skeptisch. Dafür, wie viel Geld in die europä-ischen Sender Arte, 3Sat oder EuroNews fließt, sehen sehr wenige Menschen diese Programme. Das Ziel, ganz breite europäische Kommunikationskanäle zu öffnen, erreichen sie nicht, sondern Eliten, die von der europäischen Idee ohnehin schon überzeugt sind. Notwendig sind diese Anstrengungen trotzdem. Über Wirkung und Reichweite darf man sich keine Illusionen machen. Ein breiterer Erfolg kann sich nur einstellen, wenn der »Entscheidungsraum Europa« für den Bürger klarer wird. Die Medien können nicht erzeugen, was die Politik nicht schafft.

Eine europäische Öffentlichkeit wird erst dann entstehen, wenn sich die eu-ropäischen Akteure den Gesetzen der Demokratie und der damit verbundenen Mediendarstellung unterwerfen. Ganz praktisch meine ich damit zum Beispiel einen öffentlichen Wettbewerb um die drei europäischen Schlüsselpositionen, nämlich den Präsidenten des EU-Rats, den Kommissionspräsidenten und den Au-ßenminister. Die Europawahlen hätten sofort einen anderen Stellenwert, wenn der Bürger mit seiner Stimme Einfluss auf die Besetzung dieser Ämter hätte. Eine Direktwahl würde sowohl die Wahlbeteiligung als auch das Medieninteresse stei-gen lassen. Sie wäre übrigens auch Anreiz für Politiker, sich in fremden Sprachen zu artikulieren, um beim Publikum in anderen Ländern um Zustimmung zu wer-ben. Mir kommt es schon anachronistisch vor, dass keiner der europäischen Spit-zenpolitiker Chirac, Blair oder Schröder heute in der Lage ist, auf Englisch, Fran-zösisch oder Deutsch mit seinen »europäischen Mitbürgern« zu kommunizieren. Unsere politischen Milieus sind – ganz anders als im ökonomischen Umfeld – im-mer noch eng und national, eben weil die Akteure gar kein Interesse daran haben müssen, supranational zu kommunizieren. Gewählt werden sie ja nur von ihrem einheimischen Publikum. Ein Politiker mit dem Ehrgeiz, als Kommissionspräsi-

Die Medien können nicht künstlich eine

europäische Öffentlichkeit herstellen

Europäische Politiker müssen

sich medial darstellen

Die Medien können nicht erzeugen, was die Politik nicht schafft.

Frey

Frey 82

dent direkt gewählt zu werden, könnte es sich gar nicht leisten, so große euro-päische Teilöffentlichkeiten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien zu vernachlässigen, sondern würde von sich aus in Fernsehprogramme und Mei-nungs spalten drängen.

Dazu noch eine persönliche Erfahrung : Als ich 1999 im ZDF für die außen-politische Berichterstattung verantwortlich war, haben wir eine tägliche Nach-richtensendung mit dem Titel »heute in Europa« gegründet. Nicht auf einem zen-tralen Sendeplatz, aber immerhin : Jeden Nachmittag zwischen 16 und 16.15 verlassen wir seitdem bewusst den nationalen Nachrichtenkanon des Tages, um die Welt aus europäischer Perspektive zu sehen. Entgegen den skeptischen Erwar-tungen unserer Programmplaner hatte die Sendung Erfolg, sicher auch weil wir uns nicht auf Brüssel, sondern auf den europäischen Alltag konzentrieren. Wir wollen zeigen, wie man in Österreich, Estland oder Portugal mit ähnlichen Pro-blemen umgeht, vor denen wir in Deutschland stehen. Neben dem Publikumser-folg hat das Programm auch eine Wirkung in den Sender hinein, weil es die Kol-legen der täglichen Nachrichtensendungen »heute« und »heute journal« auf neue Themen aufmerksam macht. »heute in Europa« ist zwar ein bescheidener Anfang, aber dennoch ein Stück Europäisierung, das das ZDF jetzt seit fünf Jahren Werktag für Werktag leistet.

Ich will noch einmal auf die Frage der Ökonomisierung zurückzukommen, in der ich nicht ganz mit Frau Schwan übereinstimme : Ich glaube nicht, dass wir den Geist wieder in die Flasche zurückdrängen können. Die Globalisierung ist Realität, und wir stehen vor der großen Frage, wie wir den ungezügelten Kapitalismus zähmen können. Sicher nicht durch Appelle, wir müssen vielmehr lernen, mit ihm umzugehen und unsere sozialen – wenn man so will : europäischen – Werte zu definieren und zu verteidigen. Diese Debatte wird ja im Moment schmerzhaft geführt, für meine Begriffe jedenfalls in Deutschland ein bisschen zu pragma-tisch, immer unter der Fragestellung, was können wir uns noch leisten, und zu wenig grundsätzlich. Es geht schon um die Verteidigung europäischer Werte. In den USA ist die Herangehensweise an politische Fragen vom Sozialen bis hin zum Militärischen doch ganz anders. Chancengleichheit in der Bildung, Ausgleich regi-onaler Unterschiede durch Infrastrukturmaßnahmen, Absicherung individueller Lebenskrisen – man darf das nicht in Bausch und Bogen als Vollkaskomenta lität verdammen. Es geht hier auch um die Erhaltung eines Stücks Zivilisation, wobei wir in Europa vielleicht in den letzten Jahrzehnten die Verantwortung des Indivi-duums zu klein und die der Gesellschaft zu groß geschrieben haben.

Europa muss seine Werte verteidigen

83 Frey

Sie haben erwähnt, dass eine europäische Nachrichtensendung Erfolg hatte. Trotzdem wird die Berichterstattung fast überall in Europa zunehmend national. Ich würde daher gerne bei Peter Frey und Gary Gibbon nachfragen, woran es liegt, dass man trotz zunehmender Europäisierung und Globalisierung für Europä-isches in den laufenden Nachrichten weiter kämpfen muss.

Meines Erachtens zwingt uns im Fernsehbereich der extreme Wettbewerbsdruck dazu, auf alles Überflüssige zu verzichten. Unter dieser Entwicklung leiden nicht nur europäische, sondern auch nationale Politiker. Trotzdem gibt es neue, ge-sprächsorientierte Formate wie das »Morgenmagazin«, in denen man versucht, durch bestimmte Gäste die europäische Perspektive mit einzubeziehen. Das gab es so vor fünf oder sieben Jahren noch nicht.

Für mich wäre es auch ein Stück praktischer Integrationsarbeit, wenn euro-päische Institutionen und Verbände, ebenso wie nationale, in den Aufsichtsgre-mien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vertreten wären. Die Erfah-rung sagt ja, dass nicht nur die Wirklichkeit, so wie sie ist, sondern auch gewisse Ansprüche aus dem politischen Raum heraus Einfluss auf die Wirklichkeit des Programms haben.

Soweit ich weiß, gibt es im britischen Fernsehen derzeit keine Sendung, die sich explizit mit europäischen Fragen befasst. Und ich glaube auch, dass sich das in nächster Zeit nicht ändern wird.

Frau Landfried bemerkte eben, dass die Politiker nicht mehr in der Lage sind, Lösungen anzubieten. Damit hat sie das wesentliche Dilemma bei dem derzeitigen politischen Trend, nämlich der Suche nach einem dritten Weg, auf den Punkt gebracht : Die Menschen wollen weniger Steuern zahlen, aber gleichzeitig bessere soziale Leistungen erhalten. Das bedeutet, dass wir entweder unsere Politik über-denken müssen oder es schaffen müssen, die Erwartungen herunterzuschrauben. 1997 hat Tony Blair seine ersten Wahlen mit einem für einen Politiker denkbar bescheidenen Slogan gewonnen : »Die Dinge können nur besser werden.« Aber die Medien erzeugten mit der Hilfe von Bildern und einigen »sight bites« den Ein-druck, dass die Labour Partei die Dinge wirklich verändern wird. Die Regierung hat ihre bescheidenen Versprechen gehalten, aber erzeugte den Eindruck, alles könne verändert werden. Nun muss die Regierung mit diesen hohen Erwartungen umgehen oder ihre politischen Aussagen ändern. Anderenfalls wird sich eine große Enttäuschung breit machen.

de Weck

Frey

GibbonPolitiker wecken Erwartungen,

die sie nicht erfüllen können

de Weck | Frey | Gibbon 84

Herr de Vries, ist in den Niederlanden die Bereitschaft, Europäisches in den Medien darzustellen, größer ?

Um auf diese Frage zu antworten, muss man zwischen Zeitungen, Radio und Fernsehen unterscheiden. Im holländischen Radio werden europäische Themen normalerweise ganz gut, aber nicht sehr ausführlich behandelt. Es kommt ganz auf die Qualität der Korrespondenten in Brüssel an. Im Allgemeinen werden eu-ropäische Nachrichten noch immer als Nachrichten aus Brüssel definiert. Eine ver gleichende Berichterstattung aus mehreren Ländern über politische Fragen findet bislang nicht statt.

Im Fernsehen ist die Situation am schlimmsten, aus all den Gründen, die Herr Frey dafür angeführt hat. Vor einigen Jahren habe ich einmal den Chef des Aktu-ellen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefragt, warum sie bei den Nachrichten von Den Haag nach Afghanistan springen und Brüssel dabei auslassen. Er antwor-tete darauf : »Krieg produziert gute Fernsehbilder und deshalb gute Einschaltquo-ten. Was sie in Brüssel machen, ist einfach zu kompliziert.« Das war in seiner Of-fenheit ungewöhnlich, spiegelt aber wahrscheinlich die Ansichten vieler wider.

Im Gegensatz dazu ist die Situation im Printbereich in den letzten Jahren sehr viel besser geworden. Mittlerweile werden europäische Fragen recht ausführlich behandelt. So beleuchtet zum Beispiel die große holländische Zeitung »NRC Han-delsblad« seit zwei Jahren alle ihre Rubriken ganz bewusst auch aus einem euro-päischen Blickwinkel. Geht es nun um soziale Fragen oder Frauenrechte, immer müssen die Reporter auch die europäische Politik berücksichtigen, denn mittler-weile wird mindestens die Hälfte aller Gesetze, die für die Niederlande relevant sind, von Brüssel bestimmt. Ohne den europäischen Blickwinkel würden deshalb wesentliche Informationen fehlen. Leider ist das aber immer noch eine Aus-nahme. Eine andere Zeitung hat versucht, einen europäischen Dialog zu initiie-ren, indem sie Artikel von Intellektuellen aus anderen Ländern abdruckte. Dieses interessante Experiment, so etwas wie eine Agora, eine europäische Öffentlich-keit, zu schaffen, ist leider nicht wirklich gelungen.

Auf der anderen Seite muss ich leider zugeben, dass die Informationsstrategie der Europäischen Kommission auch nicht sehr hilfreich ist. Ihre Presseerklärun-gen geben meist den Inhalt der neuen Richtlinien wieder, ohne ihre Auswirkun-gen auf einzelne Länder zu erklären. Wenn aber die Kommission nicht klarmacht, was genau eine neue Regelung in welchem Land verändern wird, so hat die Pres-seerklärung keinen großen Wert für die Medien. Mit einer intelligenteren und

de Weck

de VriesEuropa in den holländischen Medien :

Wird im Radio nur kurz behandelt

Wird im Fernsehen kaum behandelt

Wird von Zeitungen zunehmend behandelt

Krieg produziert gute Fernsehbilder und deshalb gute Einschaltquoten. Was sie in Brüssel machen, ist einfach zu kompliziert.

de Vries

85 de Weck | de Vries

besseren Pressearbeit könnte die Kommission viel dazu beitragen, eine europä-ische Öffentlichkeit zu schaffen.

Ich möchte gerne ein paar Gesichtspunkte aus meinem Erfahrungsbereich anfü-gen, die vielleicht bislang in der Debatte gefehlt haben. Im internationalen Be-reich entstehen Bewegungen, die über die Fragmentierung der Gesellschaft und die Verteidigung eng definierter Interessen hinausweisen. Im August 2002 fand der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung – auch Rio plus zehn genannt – in Johannesburg statt. Mehr als 50.000 Menschen waren dabei. Viele waren nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt, die zur Verabschiedung des Johannesbur-ger Implementierungsplans führten, sondern nahmen an Nebenveranstaltungen teil, wie Treffen von Gewerkschaften, Wirtschafts- oder Nichtregierungsorganisa-tionen oder gemeinsamen Veranstaltungen verschiedener Stakeholder.

In Johannesburg haben diese Gruppen sich nicht nur darum bemüht, ihre Anliegen in den offiziellen Dokumenten unterzubringen. Vielmehr wollten alle diese Gruppen, seien es nun Firmen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerk-schaf t en, lokale Verwaltungen, Frauengruppen, Glaubensgemeinschaften, die Me dien oder andere, ihren Beitrag zur Umsetzung von Entscheidungen anbieten, die bereits zuvor getroffen worden waren. Diese Menschen treffen sich auf sol-chen Gipfeln, um konkrete Aktionspläne zu vereinbaren und nicht nur eine neue Strategie für die Lobbyarbeit. Viele von ihnen sind der Auffassung, dass es das Beste wäre, wenn die Regierungen ihnen freie Hand ließen, damit sie tun können, was nötig ist.

Aber diese Bewegungen müssen auch Fragen über ihre Legitimität und Trans-parenz beantworten. Durch ihre Aktionen kann es zum Beispiel zu größeren Investitionen in Afrika kommen, ohne dass die Weltbank oder nationale Regie-rungen und vereinbarte Entwicklungsstrategien darin einbezogen sind. Sie kön-nen mächtige Allianzen zwischen verschiedenen Gruppierungen schmieden, die gemeinsam viel erreichen und die Medien beeinflussen können. Die Bewegun-gen entstehen als Reaktion auf eine politische Situation, in der Menschen das Gefühl haben, dass Dinge, die passieren müssten, nicht passieren. Aber es findet keine echte Diskussion über ihre Transparenz, Legitimität und Verantwortung statt.

HemmatiNeues Engagement in internationalen

politischen Bewegungen

Sind diese Organisationen

legitim und transparent ?

de Vries | Hemmati 86

Frau Hemmati, Sie schildern uns eine mächtige Bewegung, die sich über alle Grenzen hinweg gebildet hat. Darf ich Sie als Psychologin fragen, ob sich da etwas in der Psyche der Menschen ändert, so dass die Nation nicht mehr als der große Referenzpunkt fungiert ?

Ich habe den Eindruck, dass für viele Menschen Nationalstaaten und deren Regie-rungen heute ein Hindernis darstellen. Mangelhafte Regierungsstrukturen, Kor-ruption und ungenügende oder veraltete Gesetze verhindern Investitionen und machen es schwer für Menschen, die Initiative zu ergreifen und Lösungsvorschlä ge zu machen. Regierungen sind oft nicht in der Lage, die notwendigen Rahmenbe-dingungen zu schaffen. Die Menschen versuchen also nach wie vor, auf nationale Regierungen einzuwirken. Aber wenn sie von Entscheidungen direkt betroffen sind, schreiten sie auch selbst zur Tat. Organisationen wie die Vereinten Nationen oder nationale Regierungen könnten und sollten solche Gruppen zusammen-bringen, um so die Bemühungen, internationale Entscheidungen umzusetzen, zu steuern. Regierungen haben wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass sie nachhal-tige Entwicklung nicht alleine erreichen können. Gerade deshalb sollten sie ihre Zusammenarbeit mit betroffenen Gruppen verbessern und Partnerschaften mit ihnen eingehen.

Ich möchte hiermit unterstreichen, dass viele Individuen und Organisationen bereit sind, sich aktiv politisch zu engagieren. Parteien und Regierungen unter-schätzen oft die Offenheit der Menschen für Veränderung. Auch wenn Menschen nicht immer rational handeln, so investieren sie ihre Energie und Zeit doch ra-tional. Langfristig werden sie sich also nur dann engagieren, wenn sie wirkli chen, erkennbaren Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Sonst machen sie nicht mit. Sie werden sie sich aber auch in einem Rahmen engagieren, mit dem sie sich identifizieren können. Das kann eine Region wie das Languedoc oder Bayern sein oder die eigene Stadt oder gar der ganze Globus. Wenn sie sich aber mit einer Region oder einem Thema identifizieren, weil sie davon betroffen sind, dann werden sie sich auch aktiv einbringen, wenn sie die Gelegenheit da zu-haben.

Herr Altmaier, Herr Schneider, identifizieren sich Ihre Wähler mehr mit der Na-tion als mit Europa ?

de Weck

Hemmati

Menschen engagieren sich in dem Rahmen,

mit dem sie sich identifizieren

de Weck

Für viele Menschen stellen Nationalstaaten und deren Regierungen heute ein Hindernis dar.

Hemmati

87 de Weck | Hemmati

Vaclav Havel hat einmal vor dem Deutschen Bundestag gesagt, wir haben alle eine private, eine lokale, eine regionale, eine nationale, eine europäische und eine internationale Identität. Das Drama des 20. Jahrhunderts sei gewesen, dass die Menschen der nationalen Identität eine weitaus höhere Bedeutung beigemessen haben als allen anderen. In Deutschland aber, vielleicht als Folge der späten deut-schen Wiedervereinigung, wird paradoxerweise die Tendenz zur Identifikation mit dem Nationalstaat stärker, obwohl seine Fähigkeit, Probleme zu lösen, immer schwächer wird. Ähnliche Tendenzen gibt es meiner Meinung nach auch in ande-ren europäischen Ländern, und das sollte uns zu denken geben.

Eine europäische Identität kann man nicht per Gesetz verordnen. Was also müsste geschehen, damit sie entsteht ? Erstens brauchen wir ein europäisches Gegenstück zu CNN. Dieser amerikanische Sender ist vielleicht gar nicht beson-ders gut, kann aber überall empfangen werden und vermittelt weltweit ein bestimmtes Bild von Amerika und von Journalismus. Dagegen ist EuroNews zum Einschlafen geeignet ! Bei allem Respekt vor dem öffentlichen Rundfunk in Deutschland glaube ich nicht, dass eine Kooperation öffentlich-rechtlicher Anstal-ten in Europa dies erreichen kann. Stattdessen müssten wir mit europäischen Mitteln private Rundfunk- und Fernsehgesellschaften fördern, damit sie etwas Ähnliches schaffen wie CNN, mit Korrespondenten in allen Ländern, exzellentem Zugang zu Nachrichten in englischer Sprache und weltweiter Verfügbarkeit. Dass Englisch heute Weltverkehrssprache geworden ist, muss man dabei einfach ak-zeptieren.

Zweitens leidet Europa darunter, dass wir seit 1991 eine starke Renaissance militärischer Problemlösungen haben. Mit dem ersten Golfkrieg, Kosovo, Afgha-nistan und nun dem zweiten Irakkrieg werden militärische Strategien wieder viel stärker akzeptiert, und in diesem Bereich hat Europa wenig zu bieten. Die Schwie-rigkeiten im Kongo zeigen dies schlaglichtartig. Ohne die USA wären wir nicht imstande gewesen, den Kosovo-Krieg zu führen, obwohl das nur ein begrenzter militärischer Konflikt mit einem schwachen serbischen Regime war. Gegenwärtig ist auch kein europäisches Land bereit und fähig, die nötigen Gelder aufzubringen, um den USA vergleichbare militärische Fähigkeiten zu entwickeln.

Unsere einzige Möglichkeit ist daher, durch wesentlich stärkere militärische Kooperation europäische Synergieeffekte zu entwickeln. Früher oder später wirft das die Frage nach der Souveränität auf, denn Arbeitsteilung bedeutet, dass man seine eigenen militärischen Fähigkeiten nicht mehr isoliert und alleine einsetzen

Altmaier

Ein »europäisches CNN« könnte

eine europäische Identität schaffen

Die EU muss ihre militärischen

Fähigkeiten stärken

Eine europäische Identität kann man nicht per Gesetz verordnen.

Altmaier

Altmaier 88

kann. Im Konvent haben wir diese Debatte nicht ansatzweise geführt. Wahr-scheinlich wäre es auch verfrüht gewesen. Doch sie wird im nächsten Europä-ischen Konvent eine zentrale Rolle spielen, denn sie ist sowohl für die europäische Identität als auch die europäische Stellung in der Welt wichtig.

Herr Altmaier, ich glaube nicht an Ihre These. Meine Gegenthese ist : Wir haben bereits ein europäisches CNN, und zwar den BBC Worldservice. Ein genuin euro-päisches Programm kann erst dann entstehen und Erfolg haben, wenn die politi-sche Identität Europas so weit entwickelt ist, dass dieser Sender sie ausdrücken kann. Entscheidend ist die Relevanz. Wenn die Bürger erkennen, dass für sie wich-tige Entscheidungen in Brüssel gefällt werden, dann werden sie sich mit den De-batten im Europäischen Parlament und in der Kommission auseinander setzen. Wenn dort die Rentenproblematik gelöst wird, wenn dort die Entscheidung über die nächste militärische Intervention fällt, dann werden die Bürger auch ein eu-ropäisches Fernsehprogramm anschauen, aber nicht vorher !

CNN drückt nicht nur eine amerikanische Identität aus, sondern schafft sie auch. Das ist meine These.

Nein, CNN schafft höchstens eine Globetrotter-Identität.

Ein Beispiel zur Identitätsfrage. Mein Taxifahrer gestern war britischer Staatsbür-ger, lebt seit 26 Jahren in Italien und ist italienischer und britischer Abstammung. Als ich ihn fragte, als was er sich fühle, sagte er »Europäer«. Doch als ich fragte »und beim Fußball ?«, sagte er »Engländer«. Letztlich kann also jeder doch verorten, wohin er gehört.

Sie haben vorher gefragt, womit sich meine Wähler identifizieren. Die Situa-tion in Thüringen ist eine besondere, weil die deutsche Einheit erst 12 Jahre her ist und es auch Thüringen als Land erst seitdem wieder gibt. Die Menschen fühlen sich zunächst an ihren Wohnsitz gebunden, verorten sich also als Erfurter etc. Dann kommen die Kategorien Deutscher und Europäer, denn der europäische Gedanke ist gerade in meiner Generation tief verankert. Seit der Einführung des Euro nehmen wir Europa als gegeben an, und besonders im Vergleich mit anderen Staaten empfinden wir Europa als unteilbare Einheit.

Herr Frey hat die Notwendigkeit relevanter Ergebnisse auf europäischer Ebe- ne angesprochen. Solche Ergebnisse gibt es, aber sie werden auf nationaler Ebene

FreyDer »BBC Worldservice« ist unser CNN

Altmaier

Frey

Schneider

Nationale Politiker müssen Europa

den Bürgern vermitteln

89 Altmaier | Frey | Altmaier | Schneider

nicht vermittelt. Als Haushälter fällt mir als Beispiel das europäische Beihilferecht ein. Es begrenzt Subventionen in der Regel auf höchstens 35 %, was öffentliche Mittel spart und Effizienz steigert, denn ohne diese Regelung würden die Länder Subventionszahlungen immer weiter in die Höhe treiben. Doch was tun die Län-der ? Sie beschweren sich über Brüssel, das keine höheren Subventionen geneh-migt. Es liegt also in der Verantwortung der Politiker vor Ort, wie sie mit Europa umgehen und ob sie es als Sündenbock missbrauchen.

Eine abschließende Bemerkung zur Stärkung der Parlamente und der Frage der Regionalisierung, die Herr de Bresson aufgeworfen hat. Eine stärkere Regiona-lisierung halte ich zumindest in Deutschland in dieser Kleinteiligkeit nicht für gangbar. Auch fehlen den Landtagen oft Kapazitäten, weshalb viele Länder stark exekutiv orientiert sind. Wichtiger wäre meines Erachtens daher eine Stärkung der nationalen Parlamente, mit einer klaren Kompetenzverteilung, die sich in den Budgets widerspiegelt. So war es zum Beispiel ein Fehler, die Agrarpolitik an die EU zu übertragen. Über die Ausgaben in diesem Bereich haben wir als natio-nales Parlament keine Kontrolle mehr. Die Agrarpolitik der EU aber widerspricht dem Ziel von Lissabon, bis 2010 innovativster Wirtschaftsraum zu werden. Des-halb sollten wir die nationalen Parlamente stärken, auf europäischer Ebene eine zweite Kammer mit nationalen Abgeordneten einrichten und die Aufgaben klar abgrenzen.

Bei Herrn Schneiders Beitrag dachte ich mir, wir armen Italiener, die wir uns ge-rade den deutschen Föderalismus mit dem Bundesrat zum Vorbild auserkoren hatten. Jetzt hat er dieses Vorbild zerstört. So sind die Dinge nun einmal, auch das gehört zu Europa.

Bei der Diskussion um die europäische Identität dürfen wir die Frage der Unionsbürgerschaft nicht aus den Augen verlieren. Es besteht aber Konsens darü-ber, dass die europäische Bürgerschaft die nationalen Staatszugehörigkeiten nicht ersetzt. Damit haben wir gewissermaßen eine Subsidiarität der Identitäten. We gen dieser subsidiären Struktur ist der Versuch zwecklos, eine europäische Öffentlichkeit aufzubauen. Stattdessen sollte man die nationalen Öffentlichkeiten europäisieren und so Europa von unten nach oben bauen. Dazu sind auch die zivilgesellschaftlichen Bewegungen und die Regionalisierung Europas, die hier genannt wurden, so wichtig. Im europäischen Fachjargon würde man sagen, wir brauchen mehr die Methode Lissabon und weniger die Methode Maastricht.

Das spezifische Charakteristikum der europäischen Identität liegt meiner

Die Aufgabenteilung in Europa

muss geklärt werden

Manzella

Wir müssen Europa von

unten nach oben bauen

Es liegt in der Verantwortung der Politiker vor Ort, wie sie mit Europa umgehen.

Schneider

Schneider | Manzella 90

Meinung nach darin, dass wir Demokratie nicht nur als freie, faire und gerechte Wahlen definieren, sondern auch als Rechtsstaat. Damit reagiere ich auch auf das, was unser Freund aus dem Iran gesagt hat : Wahlen alleine reichen nicht aus. Demokratie bedarf auch eines Rechtsstaats, der eine Reihe zusammengehörender Werte verteidigt.

Wir haben über politische Teilhabe gesprochen und dazu die Indikatoren Partei-mitgliedschaft und Wahlbeteiligung genannt. Meine Frage ist jetzt, ob wir über ein allgemein geringeres politisches Interesse und vielleicht über eine Entpoliti-sierung ganzer Gesellschaften sprechen oder ob sich die Menschen jetzt einfach in anderen Zusammenhängen engagieren. Um die Situation korrekt einzuschät-zen, müssen wir bedenken, ob und wieweit die Menschen sich in Bürgerinitia-tiven und ähnlichen Gruppen engagieren. Dann müssen wir eventuell unseren Politikbegriff anders definieren und auch unsere politischen Aktivitäten entspre-chend anders angehen. Wir sollten aufhören, uns immer nur zu beschweren, dass immer weniger Menschen wählen gehen oder Parteimitglieder werden. Unsere demokratischen Gesellschaften sollten stattdessen nach neuen, innovativen We-gen suchen, um das Interesse der Menschen zu wecken und sie in den politischen Prozess einzubeziehen.

Lassen Sie mich auf die Beziehungen zwischen den Medien und der Öffentlichkeit zurückkommen. Die Medien erzeugen einerseits die öffentliche Meinung, ande-rerseits reagieren sie auch teilweise auch auf sie. Die Entwicklung der Printme-dien in Europa in den letzen 15 bis 20 Jahren ist ganz erstaunlich. Die Zeitungen räumen der Innenpolitik und auch internationalen Nachrichten immer weniger Raum ein. Stattdessen gibt es immer mehr Artikel über Lifestyle-Themen, Klatsch und Tratsch sowie Sport. Überall in Europa haben Boulevardmagazine wie »Hello«, »OK« oder »Now« zunehmenden Erfolg. Damit bedienen sie die Wünsche der Leser, die sich von der Politik abwenden. Wir müssen also Wege finden, um Politik wie-der attraktiver zu machen.

Essentiell ist dabei die Qualität politischer Führungsfiguren. Es ist kein Zufall, dass der Typus des großen Staatsmannes, den es in der vorigen Generation noch gab, heute verschwunden ist. Unser Rekrutierungssystem bringt eben keine sol-chen Persönlichkeiten hervor. Wir müssen uns also fragen, wie wir eine neue Generation von Bürgern erziehen und ausbilden können und wie wir unsere Öf-fentlichkeiten davon überzeugen können, dass Politik für jeden Einzelnen wichtig

Kolarska-Bobinska

W. Wallace

Gute Politiker können Politik

wieder attraktiver machen

91 Manzella | Kolarska-Bobinska | W. Wallace

ist. Da die Medien eine zentrale Rolle spielen, müssen wir Wege finden, die Politik so zu vermitteln, dass die Menschen verstehen, dass diese Themen sie angehen. In der britischen Politik wird immer wieder das gleiche Mantra heruntergebetet : nämlich, dass den Wähler nur Bildung, Gesundheit, Renten sowie Recht und Ord-nung interessieren. Globalere Fragen wie Freiheit, die Zivilisationen der Welt und der Hunger in Afrika interessieren nur einen kleinen Teil der europäischen Wäh-ler. Das müssen wir ändern, wenn wir wieder aktive, politisch interessierte Bürger bekommen wollen.

Ich möchte noch einmal auf die Wirkung von mentalen, auch rhetorischen Para-digmen zurückkommen. In Europa und darüber hinaus werden Begriffe aus dem wirtschaftlichen Sektor auf alle anderen Bereich angewendet, so zum Beispiel wenn von der kundenfreundlichen Verwaltung die Rede ist. Diese Rhetorik beein-flusst unsere Denkweise, und das finde ich gefährlich.

Ich möchte Herrn Frey widersprechen, dass wir Arte und EuroNews nicht benöti-gen, weil die Eliten bereits von der Europaidee überzeugt seien. Leider sind die europäischen Eliten ganz und gar nicht überzeugt. Deshalb brauchen wir wirklich gute Programme, um ihnen die Relevanz Europas klarzumachen. Wir Bürger be-zahlen nicht aus Spenderlaune Gebühren für die öffentlichen Rundfunkanstalten, sondern weil sie uns etwas vermitteln und unseren Bildungshorizont erweitern.

Als der französische Sender TF1 privatisiert wurde, hat man den Korrespon-denten aus Berlin abgezogen und es gibt kaum noch Korrespondenten in Brüssel. Wenn nicht einmal die öffentlichen Anstalten diese wichtige Rolle übernehmen, warum sollten wir dann dafür bezahlen ? Wir müssen etwas tun, damit eine euro-päische Öffentlichkeit entsteht. Auch die politischen Eliten brauchen qualifi -zierte Informationen, damit sie eine öffentliche Debatte führen können. Im Radio und in bestimmten Zeitungen gibt es das zu einem gewissen Grad – zumindest herrscht ein Wettbewerb zwischen populistischen und seriöseren Blättern. Beim Fernsehen aber haben wir damit ein großes Problem.

Damit möchte ich ein kurzes Fazit zur Mediendebatte ziehen. Die Europäische Union hat es aus vielerlei Gründen schwer mit den Medien. Die Medien lieben Ereignisse, aber die gesamte Europäische Union ist eine langsame Entwicklung. Die Medien lieben die Simplizität, und der europäische Einigungsprozess ist hoch-komplex. Die Medien konzentrieren sich gerne auf Personen, aber in der EU

Schwan

de Bresson Wir brauchen gute europäische

Medien durchaus !

de Weck

W. Wallace | Schwan | de Bresson | de Weck 92

herrschen Gremien und Versammlungen. Konflikte lassen sich leicht berichten, doch die europäische Einigung ist eine mühselige Suche nach Kompromissen. Und die Medien lieben das Schnelle, die Europäische Union ist langsam. Das Ver-hältnis ist also notwendigerweise schwierig, aber die EU könnte durchaus einen Beitrag leisten. Wenn sie zum Beispiel einen Sprecher hätte, der so bekannt wäre wie der amerikanische Regierungssprecher Ari Fleischer, dann hätte die Europä-ische Union zwar noch keine Telefonnummer, aber immerhin ein Gesicht.

93 de Weck

Ich möchte unsere dritte Sitzung mit einer Anekdote beginnen. Drei kleine Jun-gen, ein Franzose, ein Deutscher und ein Schweizer, debattieren die schwierige Frage, wie Babys auf die Welt kommen. Der kleine Franzose weiß es am besten : »Papa et Maman couchent ensemble et font un bébé.« »Nein«, sagt der kleine Deut-sche, »weiß doch jeder, dass der Storch die Kinder auf die Welt bringt.« »Nein, nein«, sagt der kleine Schweizer, »bei uns ist das von Kanton zu Kanton verschie-den.« Und so ist es auch von EU-Land zu EU-Land verschieden, trotz der vielen Gemeinsamkeiten, was Kultur, Geschichte und eben das Demokratieverständnis angeht. Genau das ist unser Thema : Was ist die Zukunft der europäischen Demo-kratie ? Wie kann sie Gestalt annehmen ?

Dabei sollten wir selbstverständlich den Verfassungsentwurf des Europä-ischen Konvents mitdiskutieren. Wir sollten aber auch neue Entwicklungen in der Demokratie wie die Frage nach der Einführung von Elementen der direkten Demokratie behandeln. Dann sollten wir uns fragen, welche Möglichkeiten zur Stärkung der europäischen Demokratie es jenseits der Verfassungen und der In-stitutionen gibt. Dazu wurden paneuropäische Parteien und eine europäische Staatsbürgerschaft bereits angesprochen. Wenn uns die Zeit reicht, könnten wir außerdem über die europäische Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, denn eine Demokratie, die ihre Interessen nicht verteidigen kann, ist eine Schönwetter-Demokratie. Und das ist nicht, was uns vorschwebt.

Frau Wallace – eine seit eh und je im intellektuellen Diskurs wie in der prak-tischen Politik engagierte Europäerin – und Herr de Vries werden uns kurz in die Thematik einführen.

Zur Frage der Zukunft der Demokratie in Europa möchte ich drei Bedenken äu-ßern und auf drei Herausforderungen hinweisen. Auch wenn meine Argumente etwas negativ und überzeichnet klingen mögen, sie sind als konstruktive Provo-kationen gedacht.

Meine erste Sorge ist, dass wir die Demokratie zu sehr als einen Wert an sich betrachten und zu wenig als Mittel zu dem Zweck, gute politische Prozesse und Ergebnisse zu erzielen. Viele Menschen sind der Meinung, dass eine Demokratie zwar nicht effizient sei, aber dennoch das bestmögliche System. Trotzdem hat mich die ehrliche Bemerkung von Herrn de Vries sehr überrascht, dass der Kon-vent zu wenig Wert auf Effizienz und Output-Legitimität als Reformkriterien ge-legt habe. Ich fürchte, dass dies ein großer Fehler und nicht bloß eine kleine Nachlässigkeit war.

de Weck

Demokratie ist auch ein

Mittel zum Zweck

H. Wallace Referat

III. Die Zukunft der Europäischen Union – Perspektiven einer supranationalen Demokratie

de Weck | H. Wallace 94

Zweitens habe ich Angst, dass wir in eine Falle tappen könnten. Für alle poli-tischen Probleme, die wir national nicht lösen können, und für alle Defekte der nationalen Demokratien haben wir als mögliche Lösung eine Stärkung der euro-päischen Demokratie vorgeschlagen. Auch wenn ich Ihre Begeisterung für eine supranationale Demokratie teile, so dürfen wir nicht unsere Aufgabe vernachläs-sigen, die nationalen Demokratien weiter zu verbessern. Italien zum Beispiel hat sich in der Vergangenheit zu sehr auf Europa als Deus ex Machina verlassen und zahlt nun einen hohen Preis dafür. Allen europäischen Ländern droht dasselbe Risiko.

Meine dritte Sorge ist, dass wir auf europäischer Ebene ein altmodisches Demokratie-Modell entwickeln. In dieser Diskussionsrunde beispielsweise haben nur Minu Hemmati und Philippe Schmitter versucht, unsere Aufmerksamkeit auf die Interessengruppen in unseren Gesellschaften und deren Rolle im politischen Prozess zu lenken. David Simon, der gemeinsam mit Richard von Weizsäcker ein Gutachten für Romano Prodi ausgearbeitet hat, würde in diesem Zusammenhang einige unangenehme Fragen nach unseren Erwartungen an öffentliche Einrich-tungen stellen. Er würde unter anderem danach fragen, inwieweit öffentliche Institutionen die Arbeit privater Akteure erleichtern sollten und wie sie diese in den Reformprozess integrieren sollten. Wir müssen also noch stärker darüber nachdenken, welche Bedingungen eine moderne Demokratie erfüllen muss, in der sich die Aufgabenverteilung zwischen privaten und öffentlichen Institutionen schnell ändert. Dabei müssen wir sowohl unser Bedürfnis nach demokratischer Vertretung wie das nach effizienten Ergebnissen beachten.

Das bringt mich zu den Herausforderungen. Die erste ist Effektivität. Die Bür-ger werden erst dann Vertrauen zu den europäischen Institutionen entwickeln, wenn die EU relevante Ergebnisse erzielt. Ein gewisser Herr Wallace hat sich vor-hin beschwert, dass die Wähler ausschließlich an Themen wie Gesundheit, Woh-nungspolitik, Bildung und Arbeitsplätzen interessiert sind. Aber so sind die Dinge nun mal, diese Realitäten müssen wir einfach akzeptieren. Es ist einfach eine Illusion, von den Bürgern zu erwarten, dass sie sich für die umfassenden und ab-strakten Fragen interessieren, die uns beschäftigen. Die europäische Politik muss Antworten auf die Sorgen der ganz normalen Wähler bieten. Sie verstehen Europa durch Dinge, mit denen sie in ihrem Alltag konfrontiert werden – ein Kollege hat das einmal als »banales Europaverständnis« bezeichnet. Ein gutes Beispiel dafür sind die europäischen Richtlinien zur Gleichbehandlung von Mann und Frau auf dem Arbeitsmarkt. Durch sie hat sich die Situation in allen Mitgliedsländern ver-

EU-Demokratie ist kein Ersatz für

nationale Reformen

Eine moderne europäische

Demokratie muss :

... effektive Antworten auf

Alltagssorgen formulieren ...

95 H. Wallace

bessert, aber diejenigen, die davon profitieren, neigen dazu, dies ihrem lokalen Arbeitgeber und nicht dem europäischen Prozess zuzuschreiben.

Besonders beunruhigt mich die fehlende Effektivität in Wirtschaftsfragen. Larry Siedentop hatte Bedenken, dass bislang in der europäischen Integration Wirtschaftsfragen über die Politik dominiert haben. Aber jetzt laufen wir Gefahr, dass das Primat der Politik so groß wird, dass wir die Wirtschaft aus den Augen verlieren. Offen gesagt ist die europäische Wirtschaft derzeit in einem sehr schlechten Zustand, und das geringe Wirtschaftswachstum ist beunruhigend. Derzeit bin ich in einen Wirtschaftsbericht für Romano Prodi involviert, der Maß-nahmen und Instrumente entwickeln soll, um die europäische Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Ich bin immer wieder überrascht, wie schwierig es ist, klare Empfehlungen zu formulieren. Glücklicherweise treten bald einige mitteleuropäische Länder der Union bei, denn ihre Wachstumsraten werden wahrscheinlich über denen der bisherigen EU-Mitgliedsländer liegen.

Politische Antworten müssen auf allen Ebenen formuliert werden, von den Kommunen bis zur EU. Und wenn das Poldermodell gescheitert ist, wie Gijs de Vries meinte, so sind das schlechte Nachrichten, weil wir gehofft hatten, dass mit ihm lokale Wirtschaften wieder in Schwung gebracht werden könnten. Der Kon-vent aber hat wirtschaftlichen Fragen einfach nicht genug Aufmerksamkeit ge-widmet. Auch wurde die Frage vernachlässigt, wie Europa nationale und lokale Wirtschaftskraft stärken könnte. Auch wenn Beschlüsse zur Subsidiarität beruhigend sind, muss die Diskussion doch darüber hinausführen. Der Konvent sollte uns nicht davon abhalten, auch nach fantasievolleren Reformansätzen zu suchen, die vielleicht nicht alle der Vertragsform bedürfen. Gerade der Europä-ische Rat und die EU-Kommission müssen ihre Effektivität bedeutend steigern. Verfassungsparagraphen allein werden diese Probleme nicht regeln können.

Die zweite Herausforderung betrifft die Erweiterung der Europäischen Union, die neuen Nachbarn und potenziellen Beitrittskandidaten. Die Berichte von Lena Kolarska-Bobinska und Ivan Krastev über das niedrige Vertrauen in nationale In-stitutionen waren erschreckend. Es erscheint mir extrem wichtig, dass die neuen Mitgliedstaaten Vertrauen in ihre Institutionen aufbauen und dadurch Anteil an den Europäisierungsprozessen in ihren Ländern erlangen. In Deutschland zum Beispiel haben die Menschen in den »Neuen Ländern« immer noch das Gefühl, dass sie ihren eigenen Modernisierungs- und Transformationsprozess nicht steu-ern können. Im Gegensatz dazu gab es offenbar in Spanien, Portugal und Grie-chenland ein positiveres Zusammenspiel zwischen dem Transformationsprozess

... wirtschaftliches Wachstum erreichen ...

... Transformationsprozesse in Beitritts-

und Nachbarländern unterstützen ...

H. Wallace 96

im Land und der Europäisierung. Wir müssen nun sichergehen, dass die neuen Mitgliedsländer sich auch in diese positive Richtung entwickeln.

Ein anderes wichtiges Thema sind unsere nächsten Nachbarn, insbesondere auf dem westlichen Balkan und im früheren Jugoslawien. In einigen dieser Länder gibt es noch immer keine funktionierenden Staatsstrukturen, geschweige denn eine funktionierende Demokratie. Bislang war die europäische Politik in diesen Ländern kontrollierend und kolonialistisch, aber wir können uns nicht vor der Verantwortung für diese Länder drücken. Das Ausmaß an Kriminalität und Men-schenhandel ist furchtbar. Die Europäische Union muss ihre Verpflichtung gegen-über der Demokratie dadurch unter Beweis stellen, dass sie die Demokratisierung des westlichen Balkans in Zukunft verantwortungsvoller und kompetenter unter-stützt.

Meines Wissens hat der Konvent die Frage der Bürger aus Drittstaaten nicht behandelt. Wegen unserer Kontrollneurose genießen Ausländer, die sich rechtmä-ßig in einem EU-Land aufhalten, noch immer keine demokratischen Rechte oder die volle Freizügigkeit in der EU. Der Konvent hätte den Ausländern ein Signal senden können, die so wichtig sind, um unser Wirtschaftswachstum wieder an-zukurbeln.

Die dritte Herausforderung betrifft die Schaffung einer europäischen Öffent-lichkeit. Larry Siedentop hat es so formuliert : Die europäische Demokratie würde von einem funktionierenden transnationalen Prozess mit einer lebhaften politi-schen Debatte profitieren. Demokratie entsteht nicht durch eine technokratische Europäisierung ohne menschliches Antlitz. Als Europäer müssen wir immer wie-der wichtige politische Entscheidungen treffen, die zu konstruktivem politischem Meinungsaustausch, aber auch zu einer unangenehmen populistischen Debatte führen können.

So könnte zum Beispiel ein positiver Diskurs über das beste sozio-ökonomi-sche Modell für Europa zu einem hässlichen Streit über die Gewinner und Verlie-rer der Integration werden. Ein zweites Beispiel ist das demographische Defizit in Europa, das mindestens genauso beunruhigend wie das demokratische Defizit ist. Herr de Weck hat einen Witz über Babys gemacht, doch das ist in Europa heute ein ernstes Thema. Wir haben einfach nicht genug Kinder, weder in den alten noch in den neuen Mitgliedstaaten. Wir müssen deshalb der Einwanderung posi-tiv gegenüberstehen und Neuankömmlinge aus anderen europäischen Ländern oder anderen Regionen der Welt bei uns willkommen heißen. Zentrale demokra-tische Werte wie Toleranz und Respekt vor Andersartigkeit müssen gefördert

... eine politische Öffentlichkeit schaffen ...

... Einwanderung steuern und fördern

Demokratie entsteht nicht durch eine technokratische Europäisierung ohne menschliches Antlitz.

H. Wallace

97 H. Wallace

werden, um unserer derzeitigen Neurose gegenüber Migranten oder »Fremden« jeder Form und jeden Hintergrunds entgegentreten zu können. Die Haltung ge-genüber Fremden wird ein wichtiges Signal dafür sein, ob sich die europäische Demokratie zu einem introvertierten oder einem offenen und extrovertierten System entwickeln wird.

Ein letztes Beispiel ist der Irak. Die Zahl der Regenbogenbanner in Florenz ist beeindruckend. Sie hängen nicht nur in den Straßen, sondern auch in den Hinter-höfen. Die Irak-Krise hat in ganz Europa echte und spontane Debatten ausgelöst. Diese Debatten könnten aber auch destruktiv werden, wenn sie in einen unüber-legten Anti-Amerikanismus verfallen sollten. Unsere Aufgabe ist es daher, diese Welle europäischer Meinungsbildung zu kanalisieren und einem konstruktiven Prozess zuzuführen, so dass wir unseren Nachbarn und Partnern gegenüber eine vernünftige Politik machen können.

Lassen Sie mich zunächst mit zwei Bemerkungen auf die Ausführungen von Helen Wallace eingehen, ehe ich in meinem Referat eine andere Sicht der Dinge dar-stelle. Erstens : Es war nicht die Aufgabe des Konvents, sich um Probleme der na-tionalen Demokratien zu kümmern. Natürlich sind diese Probleme ungeheuer wichtig, auch und gerade für den Aufbau einer funktionierenden europäischen Demokratie, aber dazu war der Konvent einfach nicht da. Zweitens : Der Konvent sollte auch nicht die vielen Probleme und Misserfolge der europäischen Politik behandeln. Seine Aufgabe war es, Vorschläge für Verfahrensfragen und instituti-onelle Strukturen zu entwickeln, nicht mehr und nicht weniger.

Mit diesen Einschränkungen im Hinterkopf möchte ich Ihnen jetzt kurz er-läutern, was der Konvent gemacht hat. Der Gipfel von Laeken hatte dem Konvent vier Hauptaufgaben gestellt : die Lage der Menschenrechte in der Europäischen Union zu verbessern, die EU transparenter und verständlicher zu machen, die Effizienz der Union zu erhöhen und sie demokratischer zu gestalten. Der Konvent hat dazu folgende Empfehlungen ausgesprochen :

Was die Menschenrechte anlangt, sollte die Union ermächtigt werden, der Europäischen Menschenrechtserklärung beizutreten. Außerdem sollte die Grund-rechtscharta von einer politischen Willenserklärung in ein rechtlich bindendes Dokument umgewandelt werden. Durch diese beiden Schritte würde der Schutz der Menschenrechte in Europa entscheidend gestärkt.

Um mehr Offenheit und Transparenz zu erreichen, hat der Konvent vorge-schlagen, dass der Ministerrat Gesetzesentwürfe öffentlich diskutieren sollte.

de Vries Referat

Der Konvent debattierte Verfahrens -

fragen, nicht europäische Politik

Aufgaben des Konvents :

Menschenrechte fördern

H. Wallace | de Vries 98

Dadurch würde der Entscheidungsfindung des Rates der Nimbus des Geheimnis-vollen genommen. Die Öffentlichkeit könnte die Entscheidungen genau prüfen, woraus sich wichtige Entwicklungen ergeben könnten. Der Zugang zu Dokumen-ten und die Rechte des Ombudsmanns wurden ebenfalls gestärkt. Noch wichtiger ist vielleicht der Vorschlag, die Entscheidungsstrukturen und die rechtlichen In-strumente, die in der Union genutzt werden, zu vereinfachen. Ein bedeutender Schritt dabei war die Kompetenzaufteilung zwischen der Union und den Mitglied-staaten. Damit wurde die Schlüsselfrage, wer wofür verantwortlich ist, geklärt. In einigen Bereichen genießt die EU ausschließliche Kompetenzen, d. h., nur sie kann Gesetze erlassen, nicht aber die einzelnen Mitgliedstaaten. In Gebieten mit gemeinsamer Kompetenz können Mitgliedstaaten Gesetze erlassen, solange die Union dies noch nicht getan hat. Wo die Union nur unterstützende Kompetenzen hat, darf sie keine Gesetze erlassen. Ein zusätzlicher Flexibilitätsartikel erlaubt der Union, auch auf Gebieten zu agieren, die formal zu keiner dieser Kategorien ge-hören.

Was die Frage der Effektivität angeht, sind die Ergebnisse gemischt. Der Kon-vent hat vorgeschlagen, auch in kontroversen Gebieten, wie der Sozial- und Steuergesetzgebung, dem internationalen Handel, der Asylpolitik und in Budget-fragen, mit qualifizierter Mehrheit abzustimmen. Aber dieser Vorschlag wird wahrscheinlich von der Regierungskonferenz abgelehnt werden, und er bezieht sich nicht auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Als positiv ist der Vorschlag der Berechtigungsklausel zu bewerten. Diese Klausel würde dem Minis-terrat erlauben, durch ein einstimmiges Votum zu qualifizierten Mehrheitsent-scheidungen überzugehen, ohne den Vertragstext zu verändern. Dieser Vorschlag ist äußerst wichtig, und ich hoffe, dass die Regierungskonferenz ihn annehmen wird, auch wenn die britische Regierung bereits ihren Widerstand angekündigt hat. Der Übergang von dem sehr komplexen System einer dreifachen Mehrheit zu einem Verfahren der doppelten Mehrheit ist ebenfalls begrüßenswert. Eine qua-lifizierte Mehrheit wird nun erreicht, wenn 50 % der Mitgliedstaaten und 60 % der Bevölkerung der Europäischen Union zustimmen.

Um die Effektivität in der Außenpolitik zu steigern, hat der Konvent vorge-schlagen, den Posten eines europäischen Außenministers zu schaffen. Außerdem soll eine Agentur zur Abstimmung der Waffensysteme ins Leben gerufen werden und den Mitgliedern die Möglichkeit gegeben werden, in kleineren Gruppen mi-litärische Entscheidungen zu treffen, ohne auf das letzte Mitglied der Union war-ten zu müssen.

EU transparenter gestalten

Effizienz der Union stärken

99 de Vries

Zur Demokratisierung der Union hat der Konvent vier formale Vorschläge gemacht. Erstens wurde die Gesetzgebungskompetenz des Europäischen Parla-ments entscheidend gestärkt und auch auf den sensiblen Bereich der Agrarpolitik ausgedehnt. Zweitens wurde seine Budgetkompetenz erweitert und auch hier die Agrarpolitik mit eingeschlossen. Drittens soll das Europäische Parlament ein grö-ßeres Mitspracherecht bei der Wahl des Kommissionspräsidenten haben, so dass sie nach 2009 auch die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament wider-spiegelt. Viertens wurde vorgeschlagen, das Instrument der Bürgerinitiative ein-zuführen, so dass die Bürger einzelne Themen auf die Agenda der EU setzen können.

Nachdem ich nun kurz die Vorschläge des Konvents in seinen Hauptaufgaben-bereichen dargestellt habe, lassen Sie mich kurz die anvisierten institutionellen Veränderungen ansprechen. Der Europäische Rat wird einen Präsidenten bekom-men. Dieser Präsident wird für zwei Jahre gewählt und mit begrenzten Vollmach-ten ausgestattet. Diese neue Position wird in ihrer Funktionsweise irgendwo zwi-schen dem deutschen und französischen präsidialen Modell angesiedelt sein, sich aber wohl mehr am deutschen Modell orientieren.

Die Macht der Europäischen Kommission wird auf verschiedene Weise ge-stärkt. Ihr Recht, Gesetzesinitiativen zu ergreifen, wird ausgedehnt. Künftig soll sie mehrjährige politische Strategien vorschlagen können. Diese Regelung mag wie eine langweilige technische Vorschrift klingen, aber sie ist außerordentlich wichtig. Denn nun kann die Kommission, statt wie ursprünglich vorgesehen der Ratspräsident, die strategischen Entscheidungen der Union definieren. Als einer der wenigen positiven Schritte in der Wirtschafts- und Finanzpolitik erhält die Kommission außerdem das Initiativrecht bei Verfahren zu Verletzungen der Sta-bilitätskriterien. Die Vorschläge zur stellvertretenden Gesetzgebung erlauben der Kommission, in einer Reihe von technischen Fragen selbst Regeln zu erlassen, und machen sie so handlungsfähiger. Der Rat und das Parlament, die diese Fragen bislang behandelt haben, können aber ihr Vorrecht in der Gesetzgebung wieder zurückverlangen, wenn sie mit der Politik der Kommission nicht einverstanden sind. Mehr Überwachungskompetenzen und kürzere Verfahren bei Vertragsver-stößen unterstreichen zusätzlich die Rolle der Kommission als Hüterin der Verträge.

In der Außenpolitik bleibt die Kommission weiterhin für alle Verhandlungen verantwortlich. Davon ausgeschlossen sind nur Bereiche, in denen die Verfassung andere Verantwortlichkeiten vorsieht, wie beispielsweise bei der Gemeinsamen

EU demokratisieren

Vorschläge des Konvents

zu institutionellen Reformen :

de Vries 100

Außen- und Sicherheitspolitik oder in Finanzfragen. Künftig wird der Kommissi-onspräsident stärker in die Vorbereitung von Ratstreffen einbezogen. Und als Re-aktion auf den Fall Edith Cresson wird er das Recht haben, einzelne Kommissare zu entlassen. Die Zusammensetzung der Kommission wurde nach schwierigen Verhandlungen durch folgenden Kompromiss geregelt : Weil die neuen Mitglied-staaten darauf beharrt haben, wird jedes Land einen Kommissar haben. Aber weil eine 30-köpfige Kommission schwer handhabbar ist, wird innerhalb der Kommis-sion ein rotierender Vorstand gewählt. Durch die Rotation sind alle Mitgliedstaa-ten gleichermaßen im Vorstand vertreten.

Auch der Europäische Gerichtshof wurde gestärkt. Der Rat kann durch quali-fizierte Mehrheitsentscheidungen zum Beispiel die Statuten des Gerichtshofes ändern. Kandidaten für das Gericht unterliegen neuen Tests, die die Unabhängig-keit des Gerichtshofs sicherstellen sollen.

Alles in allem stärkt der Verfassungsentwurf alle vier wichtigsten europä-ischen Institutionen ein wenig und erhält so eine Balance zwischen ihnen und zwischen den Mitgliedstaaten. Deshalb, und weil sowohl die supranationalen wie die zwischenstaatlichen Elemente der Union gestärkt wurden, ist das Ergebnis ein echter Mittelweg. Die supranationale Komponente ist vertieft, weil das Primat der europäischen über nationale Gesetzgebung festgeschrieben wurde. Dies ist ein wichtiger Schritt, denn zuvor hatten sowohl das deutsche wie das italienische Verfassungsgericht diesen Vorrang angezweifelt. Gleichzeitig soll in mehr Berei-chen mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden, das Kodezisionsverfahren wurde erweitert, und die Rechtsprechungskompetenz des Europäischen Gerichts-hofs wurde ausgedehnt.

Andererseits wurden aber auch die zwischenstaatlichen Elemente der Union gestärkt. Erstens wurde das Übertragungsprinzip im Vertragsentwurf anerkannt, d. h., die Europäische Union kann sich selbst keine neuen Kompetenzen verleihen. Da nur Mitgliedstaaten Macht an die Union übertragen können, wurde die Rolle der EU als Instrument der Nationalstaaten bestätigt. Zweitens wurde eine Aus-trittsklausel eingeführt, nach der Mitgliedstaaten die Union verlassen können, wenn sie dies wünschen.

Ist der Entwurf also eine Verfassung oder nur ein neuer Vertrag ? Ich denke, er ist beides. Die Stärkung der Menschenrechte und die Auflistung der Kompeten-zen der Union sind klassische Elemente einer Verfassung. Die meisten Mitglied-staaten werden ein Referendum über den Verfassungsvertrag abhalten. Durch diese direkte Abstimmung gehen die Bürger einen Gesellschaftsvertrag ein, was

Vier Hauptinstitutionen werden

gestärkt

Entwurf ist teils Verfassung,

teils Vertrag

101 de Vries

oft als notwendiges Attribut einer Verfassung gesehen wird. Rechtlich gesehen haben die Vorschläge des Konvents jedoch die Form eines Vertrags. Und inhaltlich sind viele Schritte zu technisch, um in eine Verfassung aufgenommen zu werden. Aber die vorgeschlagenen Veränderungen sind weit bedeutender als die der Ver-träge von Amsterdam und Nizza.

Zum Schluss möchte ich noch zwei Kritikpunkte anführen, die meine ganz persönliche Meinung und nicht unbedingt die meiner Regierung darstellen. In puncto Demokratisierung fehlen mindestens fünf Elemente. Erstens wird der Kommissionspräsident nicht direkt gewählt. So hätte man die Union politisieren und einen Wettkampf zwischen Persönlichkeiten schaffen können, der auch me-dienwirksam wäre. Die nationalen Regierungen haben eine Direktwahl verhin-dert, weil sie weiterhin den Kommissionspräsidenten ernennen möchten. Zwei-tens fehlt ein gemeinsames Wahlsystem. Europäische Wählerlisten für die Wahl zum Europaparlament wird es wahrscheinlich nicht geben, weil auch hier die nationalen politischen Eliten keine Plätze an eine gemeinsame Liste abgeben wollen. Drittens gibt es keine europäischen Steuern, die der Kontrolle des Europä-ischen Parlaments unterliegen. Steuerfragen sind bei nationalen Wahlen zentral wichtig, aber nicht bei den Europawahlen. Viertens fehlen Regelungen für Bürger aus Drittstaaten, wie Helen Wallace erwähnt hat. Die Frage wurde nicht behan-delt, weil – das muss man leider so sagen – weder nationale noch europäische Institutionen oder Bürgerinitiativen das verlangt haben. Und schließlich bin ich auch der Meinung, dass die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt werden sollte. Zwei interessante Ansätze wurden vielleicht zu leichtfertig ad acta gelegt : die Idee einer zweiten Kammer, die aus Mitgliedern der Nationalparlamente zu-sammengesetzt sein soll, und der Vorschlag eines Wahlgremiums, in dem sowohl Vertreter der Nationalparlamente als auch des Europäischen Parlaments ihren Sitz hätten.

Mein zweiter großer Kritikpunkt betrifft die Empfehlungen zur Verteidi-gungspolitik. Der Konvent war in diesem Bereich nicht sehr einfallsreich, weil die Mitgliedstaaten das nicht zugelassen haben. Gerade nach den transatlantischen Verstimmungen ist es offensichtlich, dass Europa, wenn es ernst genommen wer-den will, in der Verteidigungspolitik enger zusammenarbeiten muss. Politisch wäre die Zeit reif gewesen für mutige und weit reichende Schritte. Ich hoffe, dass nun Deutschland, Frankreich und Großbritannien die Regelung zur verstärkten militärischen Kooperation benutzen werden, vielleicht sogar schon bevor der Vertrag ratifiziert wird. Deutschland ist dabei wichtig, weil es in jeder Hinsicht in

Defizite des Konvents entwurfs : Demo -

kra tisierung nicht genügend ausgeprägt

Vorschläge zur

Verteidigungspolitik zu zaghaft

de Vries 102

der europäischen Integration eine zentrale Rolle spielt. Frankreich und Großbri-tannien müssen teilnehmen, weil sie die einzigen wirklichen militärischen Mächte in der EU sind. Diese drei Länder hätten sich bei den Diskussionen um die Verteidigungspolitik im Konvent aktiver einbringen können. Jetzt hoffe ich, dass sie es in den nächsten Monaten tun werden.

Welche Wirkung der Konvent zeigt, hängt aber wesentlich davon ab, wie die nationalen politischen Eliten ihren Bürgern diese Ergebnisse vermitteln. Natür-lich hätte der Konvent eine bessere Öffentlichkeitsarbeit betreiben können, aber wichtiger ist, ob die Politiker zu Hause weitergeben, was im Konvent besprochen wurde und was nicht. Bislang haben sie sich dieser Verantwortung nicht gestellt. In einigen Mitgliedstaaten sprechen die Politiker so wenig wie möglich über die Europäische Union. Genauso wie die Medien befürchten, dass die Zuschauer um-schalten, sobald das Wort Europa auftaucht, fürchten auch die Politiker, dass ihre Wähler dann die Partei wechseln könnten. Paradoxerweise zeigt sich also das de-mokratische Defizit am klarsten in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten.

Ich stimme fast allem zu, was Gijs de Vries in seinem eindrucksvollen Überblick über die Ergebnisse des Europäischen Konvents erläutert hat.

Erlauben Sie mir aber ein paar Anmerkungen zur Frage der Output-Legitimi-tät, die Helen Wallace angesprochen hatte. Die europäischen Institutionen sind immer weniger in der Lage, mit großen Problemen umzugehen und den acquis communautaire, also die Gesamtheit der europäischen Regelungen und Direktiven, zu verbessern und sie den Umständen anzupassen. Der Konvent hat dieses Pro-blem nicht ausreichend behandelt. Stattdessen hat er die zwischenstaatliche Di-mension der EU gestärkt. Nicht durch die Ausstiegsklausel – denn es war immer klar, dass man keinen Mitgliedstaat daran hindern kann, die Union zu verlassen– und auch nicht durch die Bestätigung des Übertragungsprinzips, sondern durch die Stärkung des Europäischen Rats. Der Rat wird nun als zentrale Institution anerkannt, nicht nur weil er den Ratspräsidenten und den Außenminister er-nennt, sondern auch, weil er sich mit sehr wichtigen europäischen Problemen beschäftigen soll. Das ist beunruhigend, weil der Rat einstimmig entscheidet. In der Vergangenheit fiel es ihm oft schwer, Entscheidungen zu treffen, und ich glaube nicht, dass sich das in Zukunft ändern wird. Die Vertreter der Exekutive und insbesondere die Staats- und Regierungschefs bekommen auf nationaler Ebene immer mehr Macht. Gleichzeitig steigt auch auf europäischer und interna-tionaler Ebene ihr Einfluss. Das könnte eine gefährliche Entwicklung sein, weil

Nationale Politiker müssen die

Konventsergebnisse vermitteln

Altmaier

Konvent hat die zwischenstaatliche

Dimension der EU zu sehr gestärkt

103 de Vries | Altmaier

sie vielleicht nicht in der Lage sind, mit so viel Macht korrekt und effizient um-zugehen.

Zweitens möchte ich über die Reduzierung der Komplexität reden. Roger de Weck hat gesagt, dass die EU auch wegen ihrer Komplexität den Bürgern so schwer vermittelbar sei. Es stimmt, dass die EU ein komplexes politisches System ist, aber es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass die Dinge auf nationaler Ebene einfacher wären. Wer versteht denn wirklich, wie der deutsche Föderalismus funktioniert und welche Gesetzgebungskompetenzen der Bundesrat hat ? Und niemand kann den Bürgern erklären, wer im Schweizer Kantonalsystem für die Sozial- und Ren-tenversicherung zuständig ist. Der Unterschied ist, dass auf nationaler Ebene die Komplexität des Systems auf ganz einfache politische Alternativen reduziert wird. Wir sprechen über rechts und links, alt und neu, gut und schlecht, progressiv und konservativ und politisieren dadurch, wie Gijs de Vries es bezeichnet hat, unsere politischen Systeme. Als Ergebnis gibt es in den meisten europäischen Ländern nur zwei große Parteien. So hat man nur die Wahl zwischen zwei Alternativen, und das ist ganz einfach zu vermitteln.

Auf europäischer Ebene dagegen werden die Dinge komplexer statt einfacher gemacht. Die Ratsmitglieder entscheiden nach ihren nationalen Interessen. Das führt zu immer neuen Koalitionen zwischen großen und kleinen, reichen und armen, landwirtschaftlich oder industriell orientierten Ländern usw. Es ist fast unmöglich, einen Kompromiss zwischen 15 und bald 25 verschiedenen nationa-len Standpunkten zu finden. Dazu kommt, dass die Mitglieder des Rates jeweils den Standpunkt ihrer Regierung vertreten, die meisten Regierungen aber nur von einer schmalen Mehrheit in ihrem Land getragen werden. Eine unserer größten Herausforderungen ist es also, die EU zu politisieren, um die Komplexität des Systems zu reduzieren.

Der Konvent bietet zwei Möglichkeiten, um den politischen Entscheidungs-prozess einfacher zu gestalten. Erstens soll der Rat häufiger Mehrheitsentschei-dungen treffen, und eine qualifizierte Mehrheit bedarf nun einer Mehrheit der Mitgliedstaaten und der Zustimmung von 60 Prozent der europäischen Bevölke-rung. Die Diskussionen im gesetzgebenden Rat würden dann entlang politischen und nicht mehr nationalen Positionen geführt werden. Kompromisse müssten in Zukunft zwischen dem rechten und dem linken Flügel gefunden werden.

Zweitens werden paneuropäische Parteien etwas zu sagen haben, wenn der Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt wird. Sogar mehr als die Mehrheitsentscheidungen wird das Komplexität reduzieren, indem ein

Um Komplexität zu reduzieren

und bürgernäher zu werden ...

... muss die EU-Politik erkennbare

Alternativen bieten ...

Altmaier 104

konservativer gegen einen linken und vielleicht einen liberalen Kandidaten an-tritt. Diese Kandidaten müssen den Wählern ihre Positionen zu beispielsweise den Agrarsubventionen oder dem Freihandel erklären. Deshalb bedaure ich nicht wie Gijs de Vries, dass der Kommissionspräsident nicht direkt gewählt wird. Die Bür-ger hätten dann zwar eine direkte Wahlmöglichkeit, aber unser französischer Konventkollege Alain Lamassoure hat uns davor gewarnt, das französische System auf der europäischen Ebene zu übernehmen, denn es kann zu einer Cohabitation und einer Lähmung der politischen Entscheidungsfähigkeit führen.

Ich freue mich auch, dass wir keine dritte Kammer mit nationalen Abgeord-neten oder ein gemischtes Wahlgremium bekommen, denn dadurch würden die europäischen Bürger ihres Einflusses auf die Wahl des Kommissionspräsidenten ganz beraubt. Es bleibt aber dennoch wesentlich, die nationalen Parlamentarier mehr in den europäischen Prozess einzubeziehen. Nationale und europäische po-litische Eliten müssen miteinander verbunden sein, und das neue Frühwarnsys-tem wird ein erster Ansporn sein, den europäischen Gesetzgebungsprozess ge-nauer zu verfolgen. In der Zukunft können wir hoffentlich auf diesen ersten Schritt aufbauen.

Ich entnehme Ihren Ausführungen, dass dem Europäischen Parlament eine Schlüsselrolle dabei zukommen wird, die Ergebnisse des Konvents umzusetzen und mit Leben zu erfüllen. Herr de Vries, können Sie eine Prognose abgeben, wie sich das Parlament weiterentwickeln wird ?

Das ist eine schwierige Frage, weil die zukünftige Entwicklung des Europäischen Parlaments von vielen Unwägbarkeiten abhängt. Das Parlament ist gewisserma-ßen ein Sieg des politischen Willens über die Schwerkraft. Im Grunde ist es schon ein Wunder, dass das Parlament mit mehr als 600 Abgeordneten aus so vielen verschiedenen Ländern und politischen Parteien, in dem so viele politische Spra-chen gesprochen werden, überhaupt funktioniert. Ich bin seit 14 Jahren Mitglied des Europaparlaments und konnte in dieser Zeit beobachten, wie es immer mehr an Einfluss gewann. Ein oppositioneller nationaler Abgeordneter, wie zum Bei-spiel ein Konservativer im britischen Unterhaus, hat heute weniger Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess als ein Konservativer im Europäischen Parlament, der in einem wichtigen Ausschuss mitarbeitet.

Andererseits ist das Parlament einfach zu groß. Es wird auf über 700 Abgeord-nete anwachsen. Das ist problematisch für den Zusammenhalt der politischen

... und nationale Parlamente einbeziehen

de Weck

de Vries Das Europäische Parlament

hat viel Macht gewonnen ...

... ist aber zu groß

105 Altmaier | de Weck | de Vries

Fraktionen. Schon heute sind sowohl die sozialistische als auch die christdemo-kratische Fraktion größer als so manches nationale Parlament. Je größer sie wer-den, desto schwieriger wird es, in den politischen Gruppierungen zu gemeinsa-men politischen Positionen zu kommen. Deshalb läuft das Europäische Parlament Gefahr, als gesetzgebendes Organ weniger zuverlässig zu werden. Ob das Europä-ische Parlament weiter gegen die Schwerkraft ankommen wird, wird sicher auch von der Qualität seiner Abgeordneten abhängen.

Lord Wallace, wechseln britische konservative Abgeordnete im House of Com-mons dann lieber zum Europäischen Parlament ?

Ihre Frage hängt damit zusammen, welche Rolle das Parlament für sie spielt. Ich glaube, dass das Parlament für einen britischen Konservativen symbolisch sehr wichtig ist. Die Rolle der Opposition ist, in einfachen Worten die Alternativen zwischen Regierung und Opposition zu beschreiben. Peter Altmaier würde sagen, die Wahlmöglichkeiten zu politisieren.

Meine Kritik am Europaparlament ist, dass es sich zu sehr auf die Details einzelner Richtlinien konzentriert. Um in einer Metapher zu sprechen : Es küm-merst sich sehr um kleine Zweige einzelner Bäume, vergisst darüber aber leicht den Wald. Wenn unsere Europaparlamentarier über ihre Arbeit berichten, spre-chen sie häufig über Dinge wie die neuesten Fortschritte in der Novellierung der Richtlinie zur Badewasserqualität oder ähnlich detaillierte Regelungen. In diesem Sinn leisten die europäischen parlamentarischen Ausschüsse fast unpolitische Arbeit, aber vielleicht wird sich das ändern, wenn das Parlament den Kommis-sionspräsidenten wählen wird.

Die Aufgabe des Konvents war es – wie bereits erwähnt –, Antworten auf vier wesentliche Fragen zu finden. Leider hat der Konvent keine Wege dafür gefunden, wie die nationalen Parlamente besser in den europäischen Prozess eingebunden werden könnten. Meiner Ansicht nach ist dies das größte Versäumnis des Kon-vents. Das große Problem, wie die nationalen Parlamente an das Europäische Parlament und damit die nationalen Demokratien an die wachsende europäische Demokratie angebunden werden können, bleibt bestehen.

Die Einführung eines gemischten Wahlgremiums hätte vermutlich zu ähnli-chen Ergebnissen wie die COSAC-Treffen geführt : wunderbares Essen, schöne Konzerte, aber furchtbare und inhaltslose Diskussionen. Wir müssen Wege fin-den, um das, was auf europäischer Ebene passiert, für die national Ebene interes-

de Weck

W. Wallace

Die Einbindung nationaler Parlamente ...

de Vries | de Weck | W. Wallace 106

sant zu machen und beide Ebenen miteinander zu vernetzen. Gleichzeitig müssen wir nationale Parlamentarier darin bestärken, sich in Europa zu engagieren. Erste kleine Schritte auf diesem Weg ist zum Beispiel die britische Regierung gegangen. Sie hat ein Büro in Brüssel eröffnet, das die nationalen Parlamentarier über eu-ropäische Entwicklungen informiert, und stellt Mittel für regelmäßige Besuche der Parlamentarier in Brüssel oder anderen europäischen Hauptstädten zur Ver-fügung.

Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union hat es in der Tat versäumt, sich ausführlich mit den nationalen Demokratien zu beschäftigen. Ein gutes Funktio-nieren der nationalen Demokratien ist aber Voraussetzung für den Erfolg einer europäischen Demokratie.

Immerhin hat der Konvent ein Modell zur Mitwirkung der nationalen Par-lamente in der Europäischen Union erarbeitet, das geeignet wäre, zu einer besse-ren Verknüpfung zwischen nationaler und europäischer Demokratie beizutragen. Nach dem Vorschlag des Konvents könnten die nationalen Parlamente Einspruch erheben, wenn sie der Meinung wären, die Kommission maße sich Kompetenzen an, die ihr nicht zustehen. Die Kommission müsste ihr Vorhaben überprüfen, wenn ein Drittel der nationalen Parlamente zu dem Ergebnis käme, die einschlä-gige Sache würde besser auf der nationalen Ebene geregelt. Freilich bliebe es der Kommission überlassen, ob sie am Ende der Prüfung an ihrem Vorhaben festhielte, es änderte oder zurückzöge. Die nationalen Parlamente hätten dann wiederum die Möglichkeit, ihre Einwände vor dem Europäischen Gerichtshof geltend zu machen.

Der Konvent weist mit diesem »Frühwarnsystem« in die richtige Richtung. Freilich bleibt der Konvent mit seinem Modell auf halbem Wege stehen. Die ge-wählten Abgeordneten der nationalen Parlamente wollen nicht nur Einwände formulieren. Sie wollen nicht nur informiert und konsultiert werden. Sie wollen gestalten.

Ich habe daher vorgeschlagen, eine gemeinsame Konferenz der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlamentes einzurichten und mit Entschei-dungskompetenz auszustatten. Mitglieder der Konferenz wären je 5 Abgeordnete der nationalen Parlamente und eine gleiche Zahl von Abgeordneten des Europä-ischen Parlamentes. Bei 25 Mitgliedstaaten kämen also 125 Abgeordnete aus den nationalen Parlamenten und 125 Abgeordnete aus dem Europaparlament. Die Kon-ferenz könnte man nach ihrer englischen Übersetzung »Conference of Par liaments

Landfried

... in den europäischen Prozess ...

... könnte weiter verbessert werden ...

107 W. Wallace | Landfried

in Europe«, abgekürzt »COPE«, nennen. Der Name würde darauf hinweisen, dass »to cope with« bedeutet : etwas hinbekommen und ein Problem adäquat lösen.

Die Konferenz hätte die Aufgabe, über Konflikte in Fragen der Kompetenzver-teilung zu entscheiden. Sie würde einberufen, wenn eine bestimmte Zahl der nationalen Parlamente oder eine zu qualifizierende Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes zu dem Ergebnis kämen, dass die Kommission in einem Bereich tätig geworden sei, den man besser auf nationaler Ebene regeln solle. Die Mitglieder der Konferenz würden dann die Entscheidung bei unter-schiedlichen Interpretationen der Kompetenzverteilung fällen.

Eine Konferenz der Parlamente, in der die direkt gewählten Abgeordneten über Konflikte in Fragen der Kompetenzverteilung zu entscheiden hätten, bedeu-tete eine politische Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips. Die nationalen Parla-mente erhielten die Chance, an der Gestaltung der europäischen Politik mitzuwir-ken. Mit dem bloßen Recht auf Anhörung hingegen könnte der Einfluss der Parlamente nicht wirklich gestärkt werden. Bleibt es bei dem jetzigen Vorschlag des Konventes, dann werden die nationalen Parlamente auch weiterhin Zaungäste der europäischen Politik sein.

Die Diskussion über ein zeitgemäßes Demokratiemodell könnte m.E. bei der immer wichtigeren Rolle von Differenzen ansetzen. In den nationalen Demokra-tien und in der Europäischen Union nehmen Differenzen politischer, ökonomi-scher und kultureller Art zu. Während Differenzen häufig als etwas Negatives betrachtet werden, sollten wir überlegen, unter welchen Bedingungen Differen-zen ein Potenzial für die Problemlösungsfähigkeit der Politik sein können. Eine dieser Bedingungen ist der demokratische und kommunikative Umgang mit Dif-ferenzen. Der Entwurf des europäischen Verfassungsvertrages wird u.a. daran zu messen sein, ob dieser Vertrag geeignet ist, demokratische Organisation von Dif-ferenz zu ermöglichen.

Lassen Sie mich mit drei kurzen Bemerkungen auf diese Kritik antworten. Erstens möchte ich wiederholen, dass es nicht Aufgabe des Konvents war, über europä-ische Politik zu diskutieren. Der Konvent sollte vielmehr die europäischen Insti-tutionen untersuchen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Auch ich bin der Meinung, dass wir mehr über die politische Effektivität der EU sprechen müssen. Aber wir sollten unsere Kritik an die richtige Adresse richten, nämlich an den Europäischen Rat, den Ministerrat und vielleicht an das Europäische Parlament. Der Konvent aber sollte sich auf institutionelle Fragen konzentrieren.

... zum Beispiel durch

eine Konferenz der Parlamente

de Vries

Es war nicht Aufgabe des Konvents, über europäische Politik zu diskutieren.

de Vries

Landfried | de Vries 108

Zweitens gab es durchaus intensive Diskussion über die institutionellen As-pekte der Außen-, Justiz-, Innen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die größten Fortschritte wurden im Bereich der Justiz- und Innenpolitik erzielt – übrigens teilweise gegen den Willen meiner Regierung –, weniger erfolgreich waren aber die Gespräche über Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Politikbereiche wurden also sowohl im Plenum als auch in Arbeitsgruppen diskutiert, und die Ergebnisse, auch wenn sie nicht weit reichend genug sind, können in Teil drei des Verfas-sungsvertrags nachgelesen werden.

Drittens stimme ich William Wallace voll und ganz zu, was die mangelnde Verbindung zwischen den nationalen Parlamenten und Europa angeht. Der Kon-vent hat durch seine Zusammensetzung – die meisten seiner Mitglieder waren Abgeordnete nationaler Parlamente – explizit versucht, dies zu überwinden. Aber die Abgeordneten berichteten ihren nationalen Parlamenten kaum, was im Kon-vent besprochen wurde. Der Konvent gab also den nationalen Parlamenten die Möglichkeit, die Antwort auf die fehlende Verbindung selbst zu formulieren, aber fast alle, außer Frankreich, lehnten die Schaffung einer dritten Kammer ab. Die meisten nationalen Parlamente wollten – meiner Meinung nach zu Recht – auf europäischer Ebene keine gesetzgebenden Funktionen übernehmen. Stattdessen werden sie durch das Subsidiaritätsprinzip einbezogen. Zum ersten Mal können sie auf einigen Gebieten ein verzögerndes Veto einlegen, das zur Folge hat, dass die betroffenen Regelungen noch einmal behandelt werden. Das impliziert auch, dass sie den Europäischen Gerichtshof anrufen können, aber es ist fraglich, ob das wirklich begrüßenswert ist. Hoffentlich wird diese formelle Beteiligung die natio-nalen Parlamente dazu bringen, europäische Gesetzesentwürfe stärker zu beach-ten. Erstaunlich bleibt aber, dass die nationalen Parlamente keine weit reichenden und innovativen Schritte vorgeschlagen haben, als sie zum ersten Mal wesentlich an der Gestaltung der europäischen Integration mitwirken konnten.

Als europäischer Ombudsmann habe ich als Beobachter am Konvent teilgenom-men, seit ich im April 2003 dieses Amt übernommen habe. Ich würde gerne einige Beobachtungen aus dieser beschränkten Erfahrung beisteuern.

Erstens hat Herr de Vries völlig Recht, dass der Konvent grundsätzliche Prin-zipien und Regeln formulieren sollte. Sie haben das Ergebnis großzügig als einen »Mittelweg« zwischen Vertrag und Verfassung beschrieben. Dennoch war es eine verfassungsgebende Versammlung, die Grundprinzipien darlegen sollte. Verfas-sungen halten im Allgemeinen keine Details für bestimmte Politikfelder fest.

Nationale Parlamente sind durch

das Subsidiaritätsprinzip einbezogen

Diamandouros

109 de Vries | Diamandouros

Wenn sie das, wie in einigen kontinentaleuropäischen Ländern, doch tun, veral-ten sie schnell und müssen häufig ergänzt werden. Im Vergleich dazu ist die amerikanische Verfassung über mehr als 200 Jahre im Großen und Ganzen unver-ändert geblieben.

Auch wenn wir sehr mit aktuellen Ereignissen und ihren Auswirkungen auf die Politik beschäftigt sind, ist es wichtig, den Konvent in historischer Pers-pektive zu betrachten. Die europäische Integration ist ein evolutionärer Prozess, der sich Schritt für Schritt aufbaut. Deshalb sollten wir uns nun auf die Vor -teile konzentrieren, die aus dem neuen Dokument erwachsen können – und ich denke, wir haben einige wichtige Schritte gemacht, zumindest wichtigere als in Nizza. Diese Bemerkung ist nicht als Rechtfertigung oder Entschuldigung gemeint, ich möchte nur die Ergebnisse des Konvents in die rechte Perspektive rücken.

Lassen Sie mich nun einige Punkte ansprechen, die aus der Sicht des europä-ischen Ombudsmanns relevant erscheinen. Es ist sehr ermutigend, dass die Grund rechtscharta fest in den Verfassungsentwurf integriert wurde. Ein wich-tiger Schritt, um den Bürgern einen direkteren Zugang zu europäischen Institu-tionen zu ermöglichen, ist zum Beispiel der Artikel 41 der Charta, der eine gute Verwaltung als Grundrecht definiert, oder die Aufnahme des Ombudsmanns in den ersten Teil des Entwurfs. Meine Aufgabe ist also, die europäischen Bürger zu informieren, wie sie diese Mechanismen nutzen können, um sich auf europä-ischer Ebene in den demokratischen Prozess einzubringen.

Was die Rolle des Europäischen Parlaments angeht, so müssen wir die inter-nen Hierarchien und Arbeitsweisen der einzelnen Ausschüsse mitberücksichti-gen. Unglücklicherweise hat der Ausschuss, der am meisten mit den Bürgern zu tun hat, nämlich der Petitionsausschuss, bis heute nicht die nötige Ausstattung, um die Bürger zu erreichen und über ihre Rechte zu informieren. Deshalb ist dieser Ausschuss nicht in der Lage, sein Mandat und die Erwartungen, die an ihn gerichtet sind, zu erfüllen. Das ist schade, denn einzig der Petitionsausschuss darf es ahnden, wenn Staaten gegen den acquis communautaire verstoßen.

Der Ombudsmann hat dagegen die Aufgabe, Beschwerden über Verstöße ent-gegenzunehmen, die von europäischen Institutionen begangen werden. Da die große Mehrheit der europäischen Bürger nicht direkt mit europäischen Institu-tionen zu tun hat, haben sie keine Gelegenheit, den Ombudsmann anzurufen. Der Petitionsausschuss wäre daher eine gute Möglichkeit, um die nationale Ebene mit der europäischen zu verknüpfen. Wir müssen das Europäische Parlament dafür

Eine Verfassung darf keine

Details festlegen

Großer Fortschritt : Aufnahme

der Grundrechtscharta

Diamandouros 110

zur Verantwortung ziehen, dass es diesen Ausschuss nicht ausreichend in die Lage versetzt, seine Arbeit zu tun.

Wie Helen Wallace glaube auch ich, dass die Effektivität europäischer Institu-tionen sehr wichtig ist. Dabei spielt politische Verantwortlichkeit eine Schlüssel-rolle. Ich stimme ihr auch zu, dass wir die Demokratie auf der nationalen und europäischen Ebene neu definieren müssen. Aber wir müssen auch unseren Be-griff von Nation überdenken. Unser Verständnis von Demokratie und Nation scheint nach wie vor in der zentralistischen Tradition gefangen. Trotz der födera-len Systeme wie des deutschen behält der Zentralismus in ganz Europa seine Be-deutung. Doch die europäische Integration gemeinsam mit verstärkter Migration und dem demographischen Defizit zwingen uns dazu, dieses Konzept zu überden-ken. Wenn Brüssel nationale Regierungen übergeht, um Fördermittel direkt an Regionen auszuzahlen, so entstehen vielschichtige Regierungsstrukturen. In Spa-nien und Italien zum Beispiel resultieren aus diesem Mechanismus verschiedene Identitäten.

Ein kleines Beispiel mag deutlich machen, wie wichtig es ist, verschiedene Identitäten anzuerkennen : In der Übergangsphase nach Francos Tod 1975 ent-schied sich Spanien für eine Politik der Dezentralisierung und erließ Autonomie-gesetze. Um das Risiko einer katalonischen Unabhängigkeitsbewegung abzuschät-zen, wurden Meinungsumfragen durchgeführt. Auf die Frage : »Fühlen Sie sich als Katalane oder als Spanier ?« antworteten 76 % der Befragten : »Als Katalane«. Aber als gefragt wurde : »Fühlen Sie sich mehr als Katalane oder mehr als Spanier ?« und die Befragten beides sein konnten, anstatt entweder das eine oder das andere auszuschließen, sank diese Zahl auf 32 %. Wir müssen deshalb die Nation so neu denken, dass sie verschiedene Identitäten und Regierungsebenen zulässt.

Abschließend möchte ich sagen, dass das demographische Defizit zu einer explosiven politischen Realität geworden ist, die auch Auswirkungen auf unser Verständnis der Nation hat. Die Überalterung der Bevölkerung in Europa setzt unsere Sozialsysteme, und vor allem die Sozialversicherungssysteme, unter enor-men Druck. Solange die Geburtenraten nicht sprunghaft ansteigen, können wir diesem Druck nur standhalten, wenn wir Einwanderung akzeptieren und bei der Neudefinition der nationalen Identitäten berücksichtigen. Deutschland hat in diesem Zusammenhang eine außerordentliche Entscheidung getroffen und, wenn auch nur teilweise, das ius soli anstelle des ius sanguinis in seiner Definition der Staatsbürgerschaft angenommen. Das ist ein beispielhafter erster Schritt zu einem kontrollierten Einwanderungsprozess.

Wir müssen unser Verständnis

von Nation überdenken

Demografisches Defizit macht

mehr Einwanderung nötig

Wir müssen deshalb die Nation so neu denken, dass sie verschiedene Identitäten und Regierungsebenen zulässt.

Diamandouros

111 Diamandouros

Ein anderes Beispiel ist mein Heimatland : Griechenland. Seit 1991 bestehen etwa 10 % der Bevölkerung aus Personen, die im Ausland geboren wurden, nicht der griechisch-orthodoxen Religion angehören und deren Muttersprache nicht Griechisch ist. Erst durch ein Gesetz aus dem Jahr 2000, das Immigranten soziale Rechte verlieh, nahm die Kriminalität deutlich ab und die Einwanderer, ein-schließlich der Albaner, integrieren sich zunehmend in unsere sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Diese einst unglaublich homogene Nation fängt nun langsam an zu akzeptieren, dass Einwanderer eine Bereicherung für Griechen-land sind. Und wenn das in einem Land, das zum Erbe des Balkans gehört, möglich ist, dann muss es auch anderswo in Europa möglich sein.

Ich würde gerne auf die Frage der europäischen Öffentlichkeit zurückkommen, die Herr de Vries und Herr Altmaier angesprochen haben. Sie hängt eng mit der Frage zusammen, wie man die nationalen Parlamente enger an Europa heranfüh-ren kann. Ich halte es für einen Fehler, die nationalen Parlamente in die europä-ische Gesetzgebung einzubeziehen. Niemand fordert, die Regionalparlamente an der Arbeit der nationalen Parlamente zu beteiligen. Wehalb sollte dieses Prinzip eine Ebene weiter oben anders gehandhabt werden ?

Nationale Parlamente vertreten nicht ihre Länder oder Nationen, sondern po-li tische Parteien. Deshalb werden sie auf europäischer Ebene nur sehr selten mit einer Stimme sprechen, sondern in den meisten Fragen der europäischen Politik geteilter Meinung sein. Aber ebenso wie nationale Abgeordnete gegenüber ihren Parteien rechenschaftspflichtig sind, sollten auch die Mitglieder des Europapar-laments von ihren Parteien zur Verantwortung gezogen werden können. Die po-litischen Parteien sollten sich mehr mit europäischen Themen befassen und ihren Kandidaten klare Aufträge für ihre neuen Aufgaben in Brüssel erteilen. Das bedeu-tet auch, dass sich die Parteien auf europäischer Ebene besser koordinieren müs-sen. Bislang haben sich europäische Parteigruppierungen mehr oder weniger zu-fällig gefunden. Vielleicht müssen sie sich nicht nur besser organisieren, sondern sich auch klarer untereinander ausdifferenzieren. Das Ergebnis könnte sein, dass wir im Europaparlament zukünftig eine christdemokratische und eine etwas kon-servativere rechte Fraktion haben werden.

Lassen Sie mich die Frage der Politisierung aufgreifen und was William Wallace als den Unterschied zwischen Zweigen und einem Wald bezeichnet hat. Nehmen Sie die Außen- und Sicherheitspolitik als Beispiel. Sie besteht aus vielen kleinen

Soziale Rechte fördern

die Integration von Immigranten

de BressonNationale Parlamente nicht

in EU-Gesetzgebung einbeziehen ...

... sondern europäische Parteien ausbauen !

Le Gloannec

Diamandouros | de Bresson | Le Gloannec 112

Initiativen, aber es fehlt eine europäische Gesamtstrategie. Einerseits liegt das daran, dass wir in verschiedenen politischen Kulturen leben und einige Schlüssel-fragen unterschiedlich interpretieren. So wollen Frankreich und Finnland beide eine Verteidigungskooperation. Aber die Franzosen meinen damit Intervention, während die Finnen es als Verteidigung gegen einen feindlichen Nachbarn ver-stehen.

Andererseits wird in Krisenzeiten nach Führungsfiguren gerufen. Die Staats- und Regierungschefs erhalten so den Eindruck, dass sie auf internationaler Ebene etwas bewirken können – unabhängig davon, ob das wirklich so ist. Außenpolitik ist eine der letzten Bastionen der nationalen Souveränität. Lediglich den Posten eines europäischen Außenministers zu schaffen oder die qualifizierte Mehrheit einzuführen wird nicht ausreichen. Vielmehr müssen wir unsere politischen Kul-turen aneinander angleichen und die europäische Außenpolitik demokratischer gestalten. Doch dieser Prozess wird langwierig sein, und es besteht das Risiko, dass die Politik und die öffentliche Meinung weiter auseinander klaffen.

Mein zweites Beispiel ist die europäische Staatsbürgerschaft. Sie ist eine Fata Morgana. Europa spricht seinen Bürgern Menschenrechte und soziale Rechte zu, aber es gibt weder politische Parteien noch Wahlen, außer im nationalen Kontext. In diesem Sinn haben europäische Bürger weder politische Rechte noch Macht. Zu eine Staatsbürgerschaft gehören Rechte und Pflichten, aber wir müssen keine Pflichten erfüllen. Möglich wäre, wie zuvor bereits angesprochen, die wahrschein-lich sehr unpopuläre Maßnahme, eine europäische Steuer einzuführen. Aber wir sollten versuchen, andere Pflichten zu erschaffen. Anders als in der Außen- und Sicherheitspolitik könnte es hier sinnvoll sein, neue Institutionen zu schaffen. Durch politische Initiative könnten die Staatsbürgerschaft mit Leben erfüllt und bereits existierende Elemente des europäischen Demos ausgebaut werden.

Herr von Weizsäcker, was sagen Sie als ehemaliger Bundespräsident dazu, dass die europäische Staatsbürgerschaft eine Fata Morgana ist ?

In Sachen Staatsbürgerschaft haben wir selbst erst den ersten Schritt zu einer gewissen Ordnung gemacht und haben dabei ein besonders abschreckendes Bei-spiel von Populismus gegeben. Ehe wir in Europa eine führende Rolle in dieser Frage übernehmen, müssen wir sie erst zu Hause zufrieden stellend lösen. Dabei kann es aber nicht schaden, wenn Europa seinen Mitgliedstaaten etwas auf die Sprünge hilft.

Es fehlt eine europäische außen- und

sicherheitspolitische Strategie

Eine europäische Staatsbürgerschaft

hat Rechte und Pflichten

de Weck

von Weizsäcker

Die europäische Staatsbürgerschaft ist eine Fata Morgana.

Le Gloannec

113 Le Gloannec | de Weck | von Weizsäcker

Zunächst eine Überlegung zum Begriff der Konsenskultur. Mein Lehrer Ernst Fraenkel hat immer betont, dass Konsens und Konflikt zusammengehören, weil nur durch Konflikt die Argumente richtig ausgetauscht werden. In Deutschland wird oft behauptet, wir hätten eine Kultur des Konsenses. Ich glaube aber viel-mehr, dass wir uns oft zu schnell einigen, weil wir die Auseinandersetzung nicht wagen, denn der Grundkonsens trägt nicht. Ich würde gerne die Runde fragen, wie sie zu dieser These steht.

Dann eine Frage an Gijs de Vries : Gleich zu Beginn haben Sie die Kompetenz-abgrenzung erwähnt. Mich würde interessieren, ob und wie das Subsidiaritäts-prinzip im Konvent weiter spezifiziert wurde. Gingen diese Überlegungen davon aus, was bisher gewachsen ist, oder davon, welche politischen Aufgaben zu erle-digen sind und auf welchem Niveau das am besten geschehen könnte ?

Der Konvent unterscheidet drei Kompetenztypen : die ausschließliche, geteilte und die unterstützende Kompetenz. Das Subsidiaritätsprinzip findet nur bei geteilten Kompetenzen Anwendung. Darüber hinaus haben wir allerdings die Kriterien nicht genauer definiert. Wir haben Mechanismen entwickelt, um dieses Prinzip anzuwenden, aber die inhaltliche Ausführung muss von den nationalen Parla-menten und Regierungen bestimmt werden. Letzten Endes bleibt es aber eine politische Frage, ob man glaubt, dass die Europäische Union ihre Grenzen über-schritten hat oder nicht. Es ist sehr schwierig, Subsidiarität zu einem absoluten und gesetzlich verbindlichen Prinzip zu machen. Die Auslegung des Begriffs wird immer von der Situation und den beteiligten Personen abhängig sein.

Lassen Sie mich zunächst versuchen, unsere Debatte über die Krise der nationalen Demokratien mit den Konventsergebnissen zu verknüpfen. Wir befinden uns in einer seltsamen Situation : Es gelten nur noch die Spielregeln der Demokratie, aber immer weniger Menschen wollen mitspielen. Und, wie Ralf Dahrendorf es ausdrückte, es wird immer mehr zum Profisport, nicht zuletzt im Falle des Kon-vents. Wir versuchen, der zunehmenden Professionalisierung der Politik durch die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen und mehr direkter Demo-kratie zu begegnen. Aber das wird die Entfremdung zwischen den Bürgern und der Politik nicht rückgängig machen, denn sie geht auf eine grundlegendere Ver-änderung dessen zurück, was wir für gute Politik halten. Früher war gute Politik das, worauf sich eine politische Gemeinschaft einigen konnte. Heute ist es, worauf sich Experten einigen können. Die Europäische Union ist sehr stolz darauf, dass

SchwanFehlende Konfliktfreudigkeit

in Deutschland

de VriesDetails des Subsidiaritätsprinzips

KrastevPolitik wird zur Expertenaufgabe

Schwan | de Vries | Krastev 114

sie ihren Handlungsspielraum eingeschränkt hat und viele Entscheidungen Ex-pertenrunden überlässt. Aber dadurch werden die Bürger der Politik entfremdet.

Schließlich noch eine Bemerkung zum westlichen Balkan, der größten He-rausforderung für die europäische Außenpolitik. Bisher war die Erweiterung die einzige erfolgreiche gemeinsame Außenpolitik. Aber sobald Rumänien, Bulgarien und Kroatien integriert sind, wird sich das ändern. Mazedonien, Serbien und der Kosovo sind schwache Staaten, die die Bedingungen der EU nicht umsetzen kön-nen. Die EU müsste hier also neue Integrationsstrategien definieren, aber bisher wird von der nächsten Erweiterungsrunde gesprochen, als wäre es dasselbe wie bei Ungarn. Wir müssen uns auch fragen, warum die EU-Erweiterung im west-lichen Balkan aufhört und nicht in der Ukraine oder Russland. Meines Erachtens liegt das daran, dass auf dem Balkan europäische Soldaten stationiert sind, aber nicht darüber hinaus. Auf diesem Gebiet besteht die europäische Außenpolitik also aus einer eigenartigen Mischung aus Erweiterungsrhetorik und einer Form der Kolonisierung. Ich glaube, dass dies die größte Herausforderung Europas ist. Wenn Europa hier versagt, wird das viel schlimmer für das Projekt einer gemein-samen Außenpolitik sein als die Meinungsverschiedenheiten während der Irak-Krise.

Wenn es darum geht, die Politik wieder an die Öffentlichkeit anzubinden, haben wir meines Erachtens eine große Chance verpasst. Die Erweiterung hätte dazu genutzt werden können, gemeinsame Interessen und Strategien zu definieren. Durch das gemeinsame Ziel hätte man eine gemeinsame europäische Identität schaffen können. Aber westliche Politiker sahen die Erweiterung als eine rein technische Frage und verpassten so die Gelegenheit eines Dialogs mit ihren Ge-sellschaften, der zur Schaffung des europäischen Demos beitragen könnte.

Mit der europäischen Verfassung bekommen wir jetzt eine zweite Chance. Es mag sein, dass der Konvent nicht genügend Öffentlichkeitsarbeit betrieben hat, aber in vielen Ländern muss die Verfassung durch ein Referendum bestätigt wer-den. Dadurch werden die Eliten gezwungen, den Inhalt der Verfassung, ihre Ziel-setzung und die Konfliktpunkte und Widersprüche zu erläutern, um ihre Gesell-schaften für das Verfassungsprojekt zu gewinnen. Diese Debatte wird gleichzeitig in vielen europäischen Ländern stattfinden, so dass die Bürger ihre Bedenken mit den Ängsten anderer Gesellschaften vergleichen können. Die Ratifizierung des Verfassungsvertrags gibt uns also die wunderbare Gelegenheit, eine paneuropä-ische Debatte zu führen und die Öffentlichkeit für europäische Fragen zu interes-

Europa braucht Integrationsstrategien

für den Balkan, die Ukraine und Russland

Kolarska-Bobinska

Durch die Verfassungsdebatte kann ein

europäischer Demos entstehen ...

115 Krastev | Kolarska-Bobinska

sieren. Dieser Prozess wird zu der Bildung eines europäischen Demos beitragen. Diese Phase wird entscheidend sein, und ich hoffe, dass wir diesmal unsere Chance nutzen werden.

Dem kann ich nur zustimmen. Ein weiterer wichtiger Faktor für eine europaweite Debatte ist politische Führung. Führungsqualitäten hängen von den persönlichen Fähigkeiten der Politiker ab und können durch institutionelle Positionen nur unterstützt werden. Ein Politiker, der die größeren Zusammenhänge gut im Griff hat, wird durch die Position des Außenministers eine größere Wirkungskraft er-reichen. Und wenn wir als Ratspräsidenten jemanden wählen, der die Aufmerk-samkeit so gut auf die wichtigen Fragen lenken kann wie Kommissionspräsident Romano Prodi, dann wird es uns vielleicht gelingen, eine europaweite Debatte anzustoßen.

In den vergangenen Jahren hatten wir in Europa echte Probleme, politische Führungspersönlichkeiten zu finden, die diese Rolle spielen könnten. Hoffentlich werden aus den neuen Mitgliedstaaten fähige Politiker kommen, die eine Diskus-sion über Europas Prioritäten und Verantwortlichkeiten anregen können. Viel-leicht werden sie endlich wieder die Worte finden, die in den vergangenen Jahren kein Premierminister, Außenminister und gar Finanzminister benutzt hat.

Wir haben die meiste Zeit über Institutionen gesprochen, die bereits im öffent-lichen Bewusstsein verankert sind oder es sein werden, sobald der Verfassungsent-wurf in Kraft tritt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf weniger sichtbare Insti-tutionen lenken, die sehr einflussreich sein können und mit dem Stake holder-Ansatz zu tun haben, den ich bereits schon angesprochen hatte. Die Weltkommission für Staudämme beispielsweise hat vor einigen Jahren eine Reihe globa ler Anhörungen zu diesem Thema organisiert und wurde von der Weltbank und mehreren Stiftungen finanziell unterstützt. Die Ergebnisse dieser Kommis-sion haben wichtige Auswirkungen für die Weltbank, den internationalen Wäh-rungsfonds und einige UN-Programme. Verschiedene Parlamente haben die Emp-fehlungen dieser Kommission in ihrer Gesetzgebung umgesetzt. Aber die Mitglieder der Weltkommission für Staudämme sind nicht gewählt worden, und niemand kann sie zur Verantwortung ziehen. Die demokratische Legitimierung solcher Prozesse ist deshalb fraglich.

Europa steht vor der Herausforderung, die Macht und das Engagement der Mitglieder dieser Prozesse zu nutzen und gleichzeitig für eine demokratische

W. Wallace... wenn Führungspersönlichkeiten

das unterstützen

HemmatiStakeholder-Modelle können

effektiv Politik gestalten ...

Kolarska-Bobinska | W. Wallace | Hemmati 116

Verantwortlichkeit zu sorgen. Wir brauchen neue Mitwirkungsmechanismen, um diesen Firmen, Nichtregierungsorganisationen und Medienvertretern ein Mitspra-cherecht zu geben. Wenn eine Regierung oder die EU sich nur auf politische Parteien und die Parlamente bezieht, dann entgehen ihr Kernelemente der par-tizipativen Demokratie, vor allem in der Formulierung und Implementierung von politischen Programmen. Damit entmachtet man sich selbst. Unter der Aufsicht demokratischer Institutionen müssen alle gesellschaftlichen Kräfte sinnvoll in den demokratischen Prozess einbezogen werden.

Beispiele dafür liefern unter anderem die Vereinten Nationen. So hat zum Beispiel die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa die so genannte Aarhus-Konvention über Umweltgerechtigkeit und die Verfügbarkeit von Informationen im Umweltbereich entwickelt. Stakeholdergruppen waren nicht nur an der Formulierung der Konvention beteiligt, sondern auch an der Überwachung ihrer Umsetzung. Dieser Prozess zeigt, wie verschiedene Gruppen auf eine transparente und faire Weise einbezogen werden können, wie ihre Kräfte konstruktiv genutzt werden können und wie dadurch gleichzeitig der gesamte Prozess demokratischer gestaltet werden kann.

Bei der Entwicklung eines solchen Prozesses tauchen viele Schwierigkeiten auf, einschließlich der persönlichen Herausforderung für die Beteiligten. Wer an dem Dialog teilnimmt, muss bereit sein, zu lernen und Veränderungen zu akzep-tieren. Das ist vor allem für diejenigen schwierig, die noch nie aktiv an einem politischen Prozess teilgenommen haben. Aber genau diese Positionen müssen wir beachten. Momentan gibt es wenige Politiker, die wirklich zuhören und ler-nen können. Aber die wenigen Ausnahmen sind visionäre Führungspersönlichkei-ten, die den demokratischen Prozess wiederbeleben und uns den Zielen, die wir erreichen wollen, näher bringen.

Ich möchte zwei Anmerkungen aus amerikanischer Sicht beisteuern. Erstens wurde die amerikanische Verfassung nicht durch den Konvent von Philadelphia in die Öffentlichkeit gebracht. Das geschah durch die »Federalist Papers« und die Debatte um sie. In Europa könnte ein ähnlicher Prozess jetzt mit der von Jür-gen Habermas und anderen prominenten Intellektuellen ausgelösten Debatte beginnen. Doch mehr muss getan werden, um ein Äquivalent zu den »Federalist Papers« zu schaffen, auch von den hier Anwesenden. Mehr als bisher könnte es so gelingen, größere Teile der Gesellschaft einzubeziehen.

Zweitens haben Herr de Vries und Herr Altmaier über die Gewalten teilung

... wenn ihre Verantwortlichkeit

und Legitimität gesichert sind

SzaboIn den USA wurde die Verfassung erst

mit einer Debatte populär

117 Hemmati | Szabo

gesprochen, die im Verfassungsentwurf eingeführt wurde. Ich habe dazu eine Frage zur gerichtlichen Überprüfung : Wird der Europäische Gerichtshof in Zukunft öfter die Rolle eines Schiedsrichters bei Kompetenzstreitigkeiten spielen ?

Ja, das wird er tun. Schon früher hat der Gerichtshof eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des institutionellen Systems der Europäischen Union gespielt. Wir haben nun den nationalen Parlamenten die Option gegeben, alle Fragen zum Subsidiaritätsprinzip vom Europäischen Gerichtshof entscheiden zu lassen, und das erweitert seine Zuständigkeit. Bisher hat der Gerichtshof in fast allen Fällen zugunsten der Union entschieden und dadurch die Integration vorangebracht. Mit der Neudefinition der Kompetenzen in der EU und der Entscheidungskriterien für den Gerichtshof erwarten wir nun ausgeglichenere Entscheidungen. Aus beiden Gründen glaube ich, dass der Gerichtshof sich in den kommenden Jahren zu ei-nem Verfassungsgericht entwickeln wird, auch wenn es heute noch schwierig ist, das öffentlich auszusprechen.

Konsens und Konflikt, hierin möchte ich Gesine Schwan zustimmen, dürfen nicht als unvereinbares Gegensatzpaar gesehen werden. Die Frage, wie weit ein Grund-konsens reichen muss, um einen Konflikt konstruktiv behandeln zu können, ist wahrscheinlich von Fall zu Fall neu zu klären. Im Konflikt der europäischen Staaten in der Frage des Irak-Krieges wäre es gegenüber dem realen Verlauf der Aus einandersetzung schon ein Fortschritt gewesen, wenn die europäischen Staa-ten über ihre unterschiedlichen Interessen gesprochen hätten. Der Alleingang Deutschlands und Frankreichs auf der einen Seite und der offene Brief von acht europäischen Staats- und Regierungschefs zur Unterstützung der USA auf der anderen Seite dokumentierten, dass in der Europäischen Union noch nicht ein-mal Konsens über die konstruktive Behandlung der unterschiedlichen Positionen bestand.

Zum Schluss unserer Diskussion möchte ich Helen Wallace und Gijs de Vries um ihr Fazit bitten und dann Larry Siedentop die Gelegenheit zu einer abschließen-den Bemerkung geben.

Was die Ratifizierung der künftigen europäischen Verfassung angeht, bin ich ganz anderer Auffassung als mein Ehemann. Ich glaube nicht, dass einige prominente

AltmaierDer Europäische Gerichtshof wird

zum Verfassungsgericht

LandfriedDie EU hat nicht genug Grundkonsens

für konstruktiven Konflikt

de Weck

H. Wallace

Szabo | Altmaier | Landfried | de Weck | H. Wallace 118

Politiker ausreichen würden, um eine Debatte in ganz Europa, über alle Unter-schiede hinweg, anzustoßen. Vielmehr brauchen wir verschiedene Stimmen, die unterschiedliche Kreise ansprechen, um eine angemessene öffentliche Debatte über die europäische Verfassung zu führen.

In Irland war das »Irish Civic Forum« mit ausschlaggebend für den positiven Ausgang der zweiten Abstimmung über den Vertrag von Nizza. Dieses Beispiel zeigt klar, dass irische Stimmen den irischen Bürgern erläutern mussten, welchen Einfluss der Vertrag auf ihren Alltag haben würde.

Aber aus der Tatsache, dass die Iren den Vertrag von Nizza im ersten Anlauf abgelehnt haben, sollten wir noch etwas anderes über Ratifizierung lernen. Der Ratifizierungsprozess sollte natürlich ernst genommen werden, aber sollte nicht so wichtig sein, dass wir das Erreichte wieder verlieren, wenn eine Abstimmung negativ ausfällt. Diese Waage zu halten wird eine schwierige Aufgabe für unsere Politiker werden.

Für die Verbindung zwischen europäischer Politik und nationalen Parlamen-ten und der breiteren Öffentlichkeit ist es sicherlich hilfreich, politische Prozesse transparenter zu machen und Bürgern den freien Zugang zu Dokumenten zu er-möglichen. Aber wir wissen auch, dass die meisten Bürger nicht an öffentlichen Sitzungen des gesetzgebenden Rates teilnehmen, Einsicht in bestimmte Doku-mente verlangen oder Beschwerde beim europäischen Ombudsmann Nikiforos Diamandouros einlegen werden, wenn ihre Rechte verweigert werden. Aus mei-ner Sicht her wäre es wichtiger, die führenden Oppositionspolitiker in das euro-päische Politikgeschäft einzubeziehen. Wenn zum Beispiel Ian Duncan-Smith und die konservative Frontriege in Großbritannien überzeugt werden könnten, an den Treffen des gesetzgebenden Rates teilzunehmen, dann, glaube ich, würde etwas hängen bleiben.

Zur politischen Effektivität hat John Ruggie kürzlich ein interessantes Beispiel genannt. Er beschrieb, wie die Vereinten Nationen nach einem effektiven Vertei-lungsmechanismus für AIDS-Prävention in Afrika gesucht haben und schließlich mit Coca-Cola kooperiert haben, weil diese Firma über das beste Distributionssys-tem auf dem Kontinent verfügt. Durch diese unübliche Strategie konnten ganz handfeste Ergebnisse vor Ort erzielt werden. Dieses Beispiel zeigt, dass unkonven-tionelle Ansätze auch in der Politik sehr effektiv sein können. Ich bedaure daher, dass in den Verfassungsentwurf keine Regelungen für Partnerschaften zwischen öffentlichen Institutionen und dem privaten Sektor aufgenommen wurden. Ich denke, hier wurde eine Chance vergeben.

Verschiedene Stimmen müssen

eine Verfassungsdebatte anstoßen

Oppositionspolitiker in den

europäischen Prozess einbeziehen

Unkonventionelle Ansätze

können sehr effektiv sein

119 H. Wallace

Schließlich eine Anmerkung zur Stellung der Regionen in Europa. Im Verfas-sungsentwurf werden Regionen in einigen Paragraphen genannt, und wir sollten das Potenzial dieser Regionen nicht unterschätzen, die manchmal größer sind als so mancher Mitgliedstaat der EU. Wir müssen dieses Thema vorsichtig behandeln und Strategien entwickeln, damit sich starke Regionen wie Katalonien in den Nationalstaaten gut aufgehoben fühlen, zu denen sie gehören.

Und was ist Ihre Prognose für das Schicksal des Verfassungsentwurfs ? Wird er die Brüsseler Mühlen überstehen oder völlig verändert werden ?

Das ist schwer vorherzusagen, aber ich nehme an, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen ist und dass die Regierungskonferenz noch einige Änderungen vornehmen wird. Der Verfassungsentwurf des Konvents enthält bereits eine Reihe von Kompromissen, von denen sich einige widersprechen. Die Regierungskonfe-renz könnte noch mehr solcher Widersprüche einbauen, und das würde es noch schwerer machen, den Bürgern die Errungenschaften des Konvents und der Re-gierungskonferenz nahe zu bringen.

Minu Hemmati hat richtig gesagt, dass es sehr wichtig ist, die Kräfte der Zivil-gesellschaft und ihrer Organisationen nutzbar zu machen. Vor einiger Zeit wollte Romano Prodi eine europäische Debatte über dieses Thema anstoßen und ließ ein Weißbuch zur europäischen Regierungsform verfassen. Dieser Initiative ging schnell die Luft aus, aber die Kommission sollte ermutigt werden, sie wieder aufzugreifen. Wir brauchen nicht nur stärkere und bessere Institutionen, son dern unsere Gesellschaften müssen aktiv in den politischen Prozess einbezogen werden.

Dann stimme ich nicht ganz mit Helen Wallace überein, was die Bedeutung der Regionen angeht. Sicherlich sollte man den Begriff der Nation neu bestimmen und selbstbestimmten regionalen Bewegungen Zugang zur europäischen Ebene gewähren. Gleichzeitig sollten wir uns aber dessen bewusst sein, dass die Schwä-chung der Nationalstaaten gefährlich sein kann. Wir waren alle der Meinung, dass sich die nationale Demokratie in einer Krise befindet. Ich zweifle daran, dass wir eine starke und demokratische Europäische Union auf der Basis von schwächeren und weniger demokratischen Nationalstaaten erreichen können. Ein Zuviel an Regionalisierung könnte die nationale Dimension unterminieren, auf der das europäische Projekt ruht.

de Weck

H. WallaceDas Schicksal des Verfassungs -

entwurfs ist ungewiss

de Vries

Zuviel Regionalisierung

schwächt die Nationalstaaten

H. Wallace | de Weck | H. Wallace | de Vries 120

Zu guter Letzt möchte ich zur Versöhnung in der Familie Wallace beitragen, denn ich denke, sowohl Helen als auch William haben Recht. Führende nationale Politiker müssen über die Grenzen hinweg für das europäische Projekt werben. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, damit ein Grieche oder Däne Einfluss auf die Debatten in Deutschland oder den Niederlanden gewinnen kann. Nur so können die Bürger das Gefühl haben, zu einer europäischen Öffentlichkeit zu gehören. Zunächst brauchen wir aber politische Initiative in den Mitgliedstaaten. Lokale Politiker müssen das europäische Projekt weiterbringen, es verbessern und ver-hindern, dass es Stück für Stück von Beamten zerpflückt wird. Wenn Beamte in der Regierungskonferenz zu sehr das Sagen haben, dann werden sie Hunderte von Einwänden gegen die Konventsergebnisse vorbringen, und nur ihre politischen Vorgesetzten können sie davon abhalten.

Erlauben Sie mir dazu eine kurze persönliche Frage an Carsten Schneider. Haben Sie als junger Politiker nach dieser Diskussion das Gefühl, dass Sie eines Tages lieber im Europäischen Parlament als im Bundestag arbeiten würden ?

Zurzeit nicht, denn ich denke, die nationalen Parlamente sind weiterhin sehr wichtig. Aber diese Dinge können sich ja weiterentwickeln.

Ich nehme auch die Aufforderung an mich als nationalen Politiker ernst, die Ergebnisse des Konvents in meinem Wahlkreis zu vermitteln. Doch das ist keine leichte Aufgabe. Meine Erfahrungen mit der Grundrechtscharta deuten darauf hin, dass die Bevölkerung die Verfassung erst zu schätzen weiß, wenn sie umge-setzt wird und sich in konkreten Veränderungen niederschlägt. So hat zum Bei-spiel das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Aufnahme von Frauen in die Bundeswehr dazu geführt, dass die Menschen die Bedeutung der europäischen Ebene klarer wahrnehmen und sich stärker mit ihr identifizieren.

Jetzt sind wir gespannt auf Ihre Bewertung des Konvents, Herr Siedentop.

In einem zeitgenössischen Brief über den letzten Tag des Konvents von Philadel-phia heißt es, dass am Ende der Beratungen ein Abgeordneter sagte : »Meine Her-ren, wir haben gut und hart gearbeitet. Was wir hier geschaffen haben, könnte die nächsten 50 Jahre überdauern.« Daraufhin brach die Versammlung in Geläch-ter aus. Die Auswirkungen des Europäischen Konvents vorherzusehen ist ebenso schwierig.

de Weck

Schneider

Die Bevölkerung wird die Verfassung erst

schätzen, wenn sie sich konkret auswirkt

de Weck

Siedentop

121 de Vries | de Weck | Schneider | Siedentop

Aber meiner Meinung nach trifft das historische Klischee, die Dinge könnten nicht so bleiben, wie sie sind, nicht zu. Allzu oft ändert sich nichts. Die subtilen Kompromisse und Fortschritte im Verfassungsentwurf könnten es erlauben, ge-nauso weiterzumachen wie bisher oder die Dinge nicht schnell genug zu verän-dern, um für die Probleme gewappnet zu sein, die mit der Erweiterung auf die Union zukommen. Und die Größe dieser Herausforderungen kann heute noch niemand abschätzen.

Was den Konsens in der Europäischen Union angeht, so haben die Konvents-mitglieder deutliche Meinungsverschiedenheiten über die finalité, also das Ziel des Integrationsprozesses. Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in der politischen Sprache wider, und wir können das Konventsergebnis nicht begrifflich fassen, da es weder eine Föderation im amerikanischen Sinn noch ein traditioneller Staaten-bund ist. Und während wir die Wichtigkeit der Output-Legitimität betont haben, suggerieren die unterschiedlichen Vorstellungen über die finalité, dass die Prozess-Legitimität für die Entwicklung der Europäischen Union in ihrem gegenwärtigen Stadium weiter wesentlich ist. Nur wenn der politische Prozess als legitim angesehen wird, wird die europäische Integration weiter fortschreiten können.

Politik in den Nationalstaaten ist dann am besten, wenn sie die Öffentlichkeit nicht nur weiterbildet, sondern auch unterhält. Es scheint mir ein Symptom für die Schwierigkeiten und Schwächen der Europäischen Union zu sein, dass sie es bislang nicht geschafft hat, ihrem Bildungsauftrag auch Unterhaltungswert zu geben. Als der Vertrag von Nizza verhandelt wurde, haben es viele bedauert, dass die Kontroversen offen zur Schau getragen wurden. Aber offener Streit kann in-formativ und unterhaltsam sein. Deshalb bin ich für ein weniger klinisch reines Europa, für ein Europa, in dem offen gestritten wird.

Auch Dezentralisierung und eine Stärkung von Europas Regionen könnten viel versprechend sein. Aber ich stimme Herrn de Vries zu, dass niemand und am wenigsten die Europäische Union davon profitieren würde, wenn wir zu einem Punkt kämen, wo die Regionen Brüssel gegen ihre eigenen Nationalstaaten ausspielen. Wenn die Regionen auf diese Weise historische Ressentiments aus-spielen und die nationale Legitimität untergraben würden, wäre niemandem ge-holfen.

Ein besserer Vorschlag, um europäische Politik spannender zu machen, wäre, europäische Steuern einzuführen. Das würde sowohl die Pflichten als auch die Rechte der Bürger betonen. Um einen europäischen Demos zu schaffen, ist es

Prozess-Legitimität

bleibt entscheidend für die EU

Offener Streit über Europa wäre

informativ und unterhaltsam

Europäische Steuern würden

Bürgerrechte und -pflichten betonen

Das historische Klischee, die Dinge könnten nicht so bleiben, wie sie sind, trifft nicht zu.

Siedentop

Siedentop 122

schließlich wesentlich, eine engere Verbindung zwischen den politischen Eliten in Europa und in den Nationalstaaten herzustellen.

Lassen Sie mich mit einem anderen Thema schließen. Wir haben über die vielschichtigen Identitäten gesprochen, die sich in dem immer komplexeren europäischen politischen System entwickeln. Dabei haben wir versäumt, einen wichtigen intellektuellen Faktor zu erwähnen : die vergleichsweise starke Vernachlässigung der europäischen Universitäten. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die nordamerikanischen Universitäten einen ganz außerordentlichen Auf-schwung erlebt, so dass heute nur noch wenige europäische Universitäten mit ihnen konkurrieren können. Um eine europäische Demokratie von der Basis her aufzubauen, bedarf es aber einer guten Bildung. In Ländern, die seit 1945 so un-glaublich wohlhabend geworden sind, ist die fortwährende Vernachlässigung der universitären Ausbildung nichts anderes als eine Schande.

Larry Siedentop hat gesagt, wir hätten keinen Ausdruck, mit dem wir die Europä-ische Union umschreiben könnten. Ähnlich hat sie Jacques Delors als objet poli-tique non-identifié bezeichnet. Darin liegt zugleich die Schwäche und die Stärke der EU. Sie ist weder Imperium noch Nation und damit ein neues Phänomen in der Weltgeschichte, das seine Form noch finden muss. Diese Schwäche kann aber lang fristig zur Stärke werden, weil sie eine demokratische Regierungsform über den Nationalstaat hinaus bietet. So können Probleme angegangen werden, für die der Nationalstaat zu klein geworden ist, ohne die Herrschaft eines Imperiums zu errichten.

Von André Glucksmann stammt der Ausspruch, Europa habe eine negative Identität. In der Abgrenzung zum Nicht-Europäischen wissen wir sehr genau, was Europa ist, dazu müssen wir nur eine amerikanische Fernsehserie ansehen. Doch wir sind dabei, auch eine positive Identität zu entwickeln, und der Verfassungs-entwurf wird dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Ich hoffe, dass auch dieser Gesprächskreis ein wenig dazu beigetragen hat. Ehe ich das Wort an Richard von Weizsäcker übergebe, möchte ich allen Teilneh-merinnen und Teilnehmern, den Organisatoren und den Dolmetschern ganz herzlich dafür danken, dass sie dieses anregende Gespräch möglich gemacht haben, das die öffentliche Diskussion in Europa bereichern und beflügeln wird.

Ich darf mich Ihrem Beifall für die verantwortlichen Damen und Herren, die Dol-metscher und den Kreis der Diskutierenden ganzen Herzens anschließen. Aber

Europäische Universitäten bilden

die Basis europäischer Demokratie

de Weck

Europa hat eine negative Identität

und entwickelt eine positive

von Weizsäcker

123 Siedentop | de Weck | von Weizsäcker

natürlich gilt unser Dank besonders unserem Vorsitzenden, Herrn de Weck, der uns auf eindrucksvolle Weise bewiesen hat, wie wichtig Führungsverantwortung auch in der Demokratie bleibt, und uns so erfolgreich durch ein schwieriges Gespräch geleitet hat.

Meinerseits möchte ich auch den Verantwortlichen der Körber-Stiftung mei-nen Dank für ihre sehr glückliche Hand in der Auswahl der Einladungen ausspre-chen, die diesen Kreis umfasst. Wir kommen aus vielen Ländern, aus ganz unter-schiedlichen Aufgaben, haben eine, nach meiner Erfahrung, weit vielfältigere Diskussion über die europäischen Probleme erlebt, als wir das so als politische Profis sonst über uns ergehen lassen.

Vor dem 1. Weltkrieg kamen junge Menschen oft nach Florenz, um ein Bild von der Welt zu bekommen, einen Ort, der durch seine Geschichte und Kultur einen entscheidenden Beitrag für Europas geistige und kulturelle Zukunft leistet. Ich bin daher besonders froh darüber, dass wir mit diesem großen Schatz, den Florenz für uns alle in Europa bedeutet, wieder vertraut gemacht wurden.

Nach dem 2. Weltkrieg haben gerade die Italiener viel zur Zukunft Europas beigetragen. Sie haben ihre Gedanken häufig weniger laut, dafür effektiver als die Franzosen und die Deutschen vorgetragen. Und auch wenn wir heute so manche Sorgen mit unseren großen und alten Freunden in Italien haben, bin ich ganz sicher, dass dieses Land uns weiter auf dem Weg in die europäische Zukunft helfen wird.

Lassen Sie mich mit einer Erfahrung schließen, die mich das Privileg des Al-ters lehrt : Nicht immer wird alles so bleiben, wie es war, verehrter Herr Siedentop. Als ich so jung war wie unser jüngster Politiker in diesem Kreis, wagte ich auch nicht entfernt von den Dingen zu träumen, die uns heute beschäftigen. Wir kämp-fen sehr mit den Einzelheiten des Europäischen Konvents, dabei grenzt die reine Tatsache, dass es diesen Konvent mit diesem Ergebnis gegeben hat, bereits an ein Wunder. Daher wünsche ich Ihnen allen nicht nur eine gute Heimreise, sondern auch guten Mut für die Aufgaben, die auf Sie warten.

Der Europäische Konvent

grenzt an ein Wunder

Nicht immer wird alles so bleiben, wie es war.

von Weizsäcker

von Weizsäcker 124