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Astrid Opitz Altes in neuem Gewand. Zur Rolle des Generalbasses bei Robert Schumann Generalbass? – Man denkt sofort an den Barock, das auch so genannte Generalbasszeit- alter. Auch der frühen Klassik gesteht man noch ein Stück Generalbass zu. Aber General- bass bei Schumann? In der Romantik? Robert Schumann hatte tatsächlich Generalbassunterricht. Nachdem sich Schu- mann entschloss, sich nicht der Juristerei, sondern doch ernsthaft der Musik zu widmen, nahm er neben seinem Klavierunterricht bei Friedrich Wieck ab Mitte Juli 1831 Kompo- sitionsstunden bei dem als Musikdirektor am Leipziger Theater tätigen Heinrich Dorn. Dorn schildert den 21-jährigen Schumann auf dem Gebiet der Theorie als blutigen Anfänger, mit dem er bei den Grundlagen des Generalbasses ansetzte: »Schumann spielte mir seine Variationen über den Namen Abegg vor, die später auch im Druck erschienen. Er hatte damals noch keinen theoretischen Unterricht erhalten – wenigstens keinen regelmäßigen; denn ich fing mit ihm vom Generalbaß abc an, und der erste vierstimmige Choral, den er mir zur Probe seiner harmonischen Kenntnisse aussetzen mußte, war ein Muster regelwidriger Stimmführung.« 1 Von Schumanns Seite wird der erste Unterricht bei Dorn folgendermaßen geschildert: »Auch fing ich gestern bey’m Musickdirektor [Dorn] mit dem edeln Generalbaß an! Er hatte sich vorbereitet u. schien ängstlich, war aber sonst liebenswürdig. Ich war auch gerade recht bey Kopfe u. bey hellen, lichten Verstand. Ich möchte kaum mehr wissen, als ich weiß. Das Dunkel der Fantasie oder Ihr Unbewußtes bleibt ihre Poësie.« 2 Schumanns Anfänge im »edeln Generalbaß« beziehungsweise im »Generalbaß abc« sind zu einem wohl nur geringen Teil in seinen fünf frühen Studien- und Skizzen- büchern erhalten, die mit Ausnahme von Studienbuch II, das wahrscheinlich um 1837 zu datieren ist, schwerpunktmäßig aus den Jahren 1830 bis 1832 stammen. 3 Schumann ließ dabei teilweise lose Blätter beziehungsweise Bögen binden, wohl um Ordnung in seine 1 Georg Eismann: Robert Schumann. Ein Quellenwerk über sein Leben und Schaffen, Leipzig 1956, Bd. 1, S. 74. 2 Robert Schumann. Tagebücher, Bd. 1: 1827–1838, hg. von Georg Eismann, Leipzig 2 1971, S. 349 f. 3 Zur genauen Datierung und Beschreibung der Skizzenbücher siehe Margit L. McCorkle: Thematisch- Bibliographisches Werkverzeichnis , Mainz u. a. 2003 (Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke [im Folgenden rsa], Serie viii: Supplemente, Bd. 6), S. 779ff. und Matthias Wendt: Zu Robert Schu- manns Skizzenbüchern, in: Schumanns Werke – Text und Interpretationen. 16 Studien, hg. von der Robert- Schumann-Gesellschaft Düsseldorf durch Akio Mayeda und Klaus Wolfgang Niemöller, Mainz u. a. 1987, S. 101–119.

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Astrid Opitz

Altes in neuem Gewand.

Zur Rolle des Generalbasses bei Robert Schumann

Generalbass? – Man denkt sofort an den Barock, das auch so genannte Generalbasszeit-alter. Auch der frühen Klassik gesteht man noch ein Stück Generalbass zu. Aber General-bass bei Schumann? In der Romantik?

Robert Schumann hatte tatsächlich Generalbassunterricht. Nachdem sich Schu-mann entschloss, sich nicht der Juristerei, sondern doch ernsthaft der Musik zu widmen,nahm er neben seinem Klavierunterricht bei Friedrich Wieck ab Mitte Juli 1831 Kompo-sitionsstunden bei dem als Musikdirektor am Leipziger Theater tätigen Heinrich Dorn.Dorn schildert den 21-jährigen Schumann auf dem Gebiet der Theorie als blutigenAnfänger, mit dem er bei den Grundlagen des Generalbasses ansetzte:

»Schumann spielte mir seine Variationen über den Namen Abegg vor, die später auch im Druckerschienen. Er hatte damals noch keinen theoretischen Unterricht erhalten – wenigstens keinenregelmäßigen; denn ich fing mit ihm vom Generalbaß abc an, und der erste vierstimmige Choral,den er mir zur Probe seiner harmonischen Kenntnisse aussetzen mußte, war ein Muster regelwidrigerStimmführung.«1

Von Schumanns Seite wird der erste Unterricht bei Dorn folgendermaßen geschildert:

»Auch fing ich gestern bey’m Musickdirektor [Dorn] mit dem edeln Generalbaß an! Er hatte sichvorbereitet u. schien ängstlich, war aber sonst liebenswürdig. Ich war auch gerade recht bey Kopfe u.bey hellen, lichten Verstand. Ich möchte kaum mehr wissen, als ich weiß. Das Dunkel der Fantasieoder Ihr Unbewußtes bleibt ihre Poësie.«2

Schumanns Anfänge im »edeln Generalbaß« beziehungsweise im »Generalbaß abc«sind zu einem wohl nur geringen Teil in seinen fünf frühen Studien- und Skizzen-büchern erhalten, die mit Ausnahme von Studienbuch II, das wahrscheinlich um 1837 zudatieren ist, schwerpunktmäßig aus den Jahren 1830 bis 1832 stammen.3 Schumann ließdabei teilweise lose Blätter beziehungsweise Bögen binden, wohl um Ordnung in seine

1 Georg Eismann: Robert Schumann. Ein Quellenwerk über sein Leben und Schaffen, Leipzig 1956, Bd. 1, S. 74.2 Robert Schumann. Tagebücher, Bd. 1: 1827–1838, hg. von Georg Eismann, Leipzig 21971, S. 349 f.3 Zur genauen Datierung und Beschreibung der Skizzenbücher siehe Margit L. McCorkle: Thematisch-

Bibliographisches Werkverzeichnis, Mainz u. a. 2003 (Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke[im Folgenden rsa], Serie viii: Supplemente, Bd. 6), S. 779 ff. und Matthias Wendt: Zu Robert Schu-manns Skizzenbüchern, in: Schumanns Werke – Text und Interpretationen. 16 Studien, hg. von der Robert-Schumann-Gesellschaft Düsseldorf durch Akio Mayeda und Klaus Wolfgang Niemöller, Mainz u. a.1987, S. 101–119.

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Skizzen, Studien und Übungen zu bringen. Ehemals in der Sammlung Wiede, liegendiese Bücher heute unter der Signatur nl Schumann 13–17 in der Universitätsbibliothekin Bonn und stehen seit 2011 auch digitalisiert online zur Verfügung.4 Neben tatsächli-chen Skizzen, pianistischen Studien wie etwa Fingerübungen und Übungstagebüchernenthalten diese Bücher zu einem nicht geringen Teil auch Übungen im Kontrapunktund in der Generalbasslehre. Einige Blätter tragen dabei die Handschrift von HeinrichDorn, so dass der Schluss mehr als gerechtfertigt erscheint, dass nicht nur diese, son-dern auch weitere ähnliche Übungsblätter im Zusammenhang mit Schumanns Unter-richt bei Dorn zu sehen sind.5 Die Blätter sind nicht chronologisch, sondern zunächstnach Hoch- oder Querformat in die Studienbücher geordnet. Auch innerhalb der Stu-dienbücher liegt nur eine grobe Ordnung vor. Teilweise finden sich so Lösungen zu einund derselben Aufgabe über ein oder gar mehrere Studienbücher verteilt und müssenerst zusammengesucht werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass Schumannwichtige Blätter für die Bindung zusammensuchte, so dass nach dem Ausmaß der ver-lorenen Generalbassübungen zu fragen ist. Wenden wir uns aber nun dem zu, waserhalten ist, und versuchen, den Generalbassunterricht bei Dorn annäherungsweise zurekonstruieren.6

Zunächst finden sich grundlegende Beschäftigungen mit dem Aufbau von Akkor-den, verdeutlicht durch die entsprechende Generalbass-Bezifferung.7 Des Weiteren lie-gen sehr einfache Generalbassaussetzungen vor, die in verschiedenen Lagen geübt wer-den. Eine Übung in Sb V, S. [50] 44 umfasst so in der Mehrzahl Grundakkorde, nur einige

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4 http://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/ulbbnhans/content/titleinfo/1043463 (Zugriff am 15. Ja-nuar 2016), Skizzenbuch I: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5:1-26373; Skizzenbuch II: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5:1-26381; Skizzenbuch III: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5:1-26392; Skizzenbuch IV: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5:1-26400; Skizzenbuch V: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5:1-26415. Innerhalb der Neuen Schumann-Gesamtausgabe wurden2010 die Studienbücher I und II im Faksimile samt moderner Übertragung und Kommentar publi-ziert: Robert Schumann. Studien und Skizzen. Studien- und Skizzenbuch I und II, hg. von Matthias Wendt,Mainz u. a. 2010 (rsa vii/3/1). Da ein allgemeiner und leichter Zugriff gewährleistet ist, wird imRahmen dieses Aufsatzes auf Abdrucke aus den Skizzen- und Studienbüchern verzichtet. Es wirdstattdessen im Folgenden stets auf die angegebenen urns verwiesen. Die Seitenzählung folgt dabeider der Universitätsbibliothek Bonn, die alle vorhandenen Seiten samt Deckel-, Vorsatz- und leer-gebliebenen Seiten des überlieferten Autografs durchnummeriert und in Klammern voranstellt, da-nach die Paginierung von Bibliothekarshand.

5 Vgl. Matthias Wendt: Zu Schumanns Kompositionsstudien, in: Atti del xiv congresso della Società

Internazionale di Musicologia. Trasmissione e recezione delle forme di cultura musicale, Bd. 3: Free Papers,hg. von Angelo Pompilio u. a., Turin 1990, S. 793–804.

6 Die folgende Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann in diesem Rahmennur einige erste Beobachtungen liefern.

7 Etwa Sb I, S. [98] 96, vollständig von Dorns Hand, oder Sb I, S. [99] 97.

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Sextakkorde kommen vor. Die Seite trägt wohl auch die Handschrift Dorns, die korri-gierend eingreift. Schumanns Mühen, aber in gleicher Weise auch Bemühungen mit denAnfängen des Generalbasses sind hier klar zu erkennen. Dies ist ebenso der Fall bei einerGeneralbassübung in C-Dur, die an eine einfache Oktavregel (mit Sextakkorden) erin-nert. Unter dem bezifferten Bass ist ein weiteres System mit einem vereinfachten Bass,meist in Grundstellungen, hinzugefügt. Auf einem anderen Blatt sind Transpositionendieser Übung nach D-Dur und A-Dur zu finden. In As-Dur angekommen, das sich untenauf der Seite mit der C-Dur-Übung befindet und nur noch auf zwei Linien notiert ist,beherrscht Schumann die Aussetzung einwandfrei.8 Es ist nicht zu sagen, wie viele Blättermit Transpositionen fehlen, ob Dorn sie forderte, oder ob sie Schumann über einigeTranspositionen hinaus zur weiteren Übung freiwillig anfertigte. Schumann schildertDorn als Lehrer mit »Ostpreußenton«,9 Dorn beschreibt Schumann aber zurück-blickend auch als fleißigen Schüler: »Schumann war während seiner Lehrzeit ein un-verdrossner Arbeiter, und wenn ich ihm Ein Beispiel aufgab, lieferte er dann immermehrere.«10

Die Verfahrensweise, einfache Generalbassübungen in verschiedenen Lagen aus-zusetzen und zu transponieren, ist auch anderswo zu erkennen, etwa in der Quintfall-sequenz mit Septakkorden.11 Es finden sich immer wieder Beschäftigungen mit diesemModell, mit und ohne Bezifferung in verschiedenen Tonarten beziehungsweise in Mo-dulationen.12 Es kann angenommen werden, dass mit anderen Generalbassübungenganz ähnlich umgegangen wurde. Interessanterweise finden sich auch einige Aufgaben,in denen nur die Oberstimme samt Generalbassbezifferung gegeben ist, demnach derpassende Bass mit dem entsprechenden Akkordaufbau zu suchen ist.13 Trainiert wurdedamit wohl die Suche nach Akkorden beziehungsweise Bässen, die ihren typischen Platzin der Begleitung einer Oberstimme haben.

Der Generalbass wird wohl schon bald das harmonische Instrument, in dem Schu-mann denkt. Dies ist zu spüren in Kontrapunkt-Übungen, in denen in einem Note-gegen-Note-Satz von zwei Stimmen zu einem cantus-firmus die untere Stimme zumHarmonieverständnis beziffert ist,14 oder etwa in einer Übung, in der zu einer gegebenenMelodie zunächst verschiedene Bässe samt Bezifferung erstellt werden sollen, bevor

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8 Sb I, S. [91] 89; Sb I, S. [22] 20.9 Robert Schumann. Tagebücher, Bd. 1, S. 358.10 Siehe Eismann: Robert Schumann. Ein Quellenwerk über sein Leben und Schaffen, Bd. 1, S. 74.11 Sb I, S. [92] 90.12 Sb I, S. [31] 29 und [76] 74, Sb V, S. [28] 22.13 Zum Beispiel Sb III, S. [15] 7 und [58] 50.14 Zum Beispiel Sb V, S. [66] 60–[68] 62.

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diese ausgesetzt werden,15 am deutlichsten vielleicht in der Abschrift von Bachs c-Moll-Fuge aus dem Ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers, in der zu Beginn die zugrunde-liegende Harmonie mittels eines bezifferten Basses dargestellt ist.16

Aus dem Barock stammende Modelle werden andernorts im Rahmen eines »roman-tischen Generalbasses« genutzt, beispielsweise in Übungen zu Modulationen in ent-ferntere Tonarten, teils mit enharmonischer Verwechslung.17 Generalbassbezifferungenfinden sich explizit in der Harmonisierung einer chromatischen Tonleiter im Bass be-ziehungsweise anschließend in der Oberstimme mit minimalen Bewegungen bezie-hungsweise Strebewirkungen der einzelnen Stimmen von Akkord zu Akkord oder auchin einer Tonsatzstudie mit Note-gegen-Note chromatisch auseinanderlaufenden Außen-stimmen, die vom übermäßigen Quintsextakkord ihren Ausgang nimmt.18 Eine weitere,etwas längere Übung, die sich auch zweimal in unterschiedlichen Tonarten findet, kon-zentriert sich auf den Orgelpunkt sowie die Modulation zur Mediante und Rückmodu-lation zur Ausgangstonart.19

Der Generalbassunterricht bei Dorn schien für Schumann ebenso hart wie prägendzu sein. Er war von relativ kurzer Dauer, reichte von Juli 1831 bis wohl Ende Januar/AnfangFebruar 1832 (und nicht wie von Heinrich Dorn rückwirkend erst Jahre später berichtet,bis April 1832).20 Klar ist, dass der Unterricht aufgrund eines Konflikts zwischen Lehrerund Schüler von Dorn beendet wurde. Spekuliert werden kann, ob dies mit der Lebens-weise von Schumann, dem zu hohen Alkoholkonsum, zusammenhängt, den er in einemBrief an seine Mutter bezogen auf die Monate Februar/März 1832 gesteht.21 Auch wennder Unterricht wohl nur etwa ein halbes Jahr andauerte, so scheint der Generalbass alskompositorisches System entscheidenden Einfluss auf Schumann ausgeübt zu haben.Schumanns meist negative Äußerungen über den Kompositionsunterricht bei Dorn inseinen Tagebüchern, der – wie sich schon im obigen Zitat zum Studienbeginn andeutete– keine Phantasie zuließe, müssen dabei durch die Intensität der Studien relativiertwerden.22 In Briefen an Wieck und seine Mutter bewertet Schumann den theoretischenUnterricht bei Dorn durchaus sehr positiv.23 Über Schumanns gesamte Schaffensperi-

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15 Im Zusammenhang einer Übung stehen Sb V, S. [77] 71, [55] 49; Sb III, S. [37] 29 und [56] 48.16 Sb V, S. [7] 1 und [8] 2.17 Etwa Sb I, S. [64] 62.18 Sb I, S. [38] 36; Sb II, S. [23] 18.19 Sb I, S. [100] 98 sowie ein aus dem Studienbuch I herausgerissenes Blatt, das sich heute unter der

Signatur 4645-A1 im Robert-Schumann-Haus in Zwickau befindet, siehe rsa vii/3/1, Sb I, S. 101.20 Wendt: Zu Schumanns Kompositionsstudien, S. 798.21 Siehe ebd., S. 798 f.22 Siehe ebd., S. 793.23 Siehe Eismann: Robert Schumann. Ein Quellenwerk über sein Leben und Schaffen, S. 75.

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ode hinweg tauchen immer wieder beiläufig Bezifferungen in den Skizzen auf. In seinenMusikalischen Haus- und Lebensregeln schreibt Schumann schließlich versöhnlich: »Fürch-te dich nicht vor den Worten: Theorie, Generalbaß, Contrapunkt etc.; sie kommen dirfreundlich entgegen, wenn du dasselbe tust.«24

Es fragt sich, ob der Generalbass, der Schumann von Dorn in kurzer Zeit so ein-gebläut wurde und den er schließlich schätzen lernte, als kompositorisches Prinzip nichtstets zugegen, gar nicht mehr zu umgehen war. Schumanns geschichtliches Bewusstseinsowie seine Verehrung des Barock, speziell natürlich Bachs, muss kaum hervorgehobenwerden. Bach ist nach einer Äußerung in einem Brief an Clara Schumann im März 1838»mein täglich Brod; an ihm [er]labe ich mich, hohle mir neue Gedanken«,25 darüberhinaus unterstützte Schumann die Bachpflege Mendelssohns in Leipzig und beteiligtesich 1850 am Aufruf zur Gründung der Bach-Gesellschaft. Mehrere Äußerungen Schu-manns belegen sein geschichtliches Bewusstsein, etwa »Die Zukunft soll das höhere Echoder Vergangenheit sein«26 oder der Rat zu musikhistorischer Bildung und intensivemStudium der großen Meister der Vergangenheit, »nicht, daß ihr über jedes einzelne jedeseinzelnen in ein gelehrtes Staunen geraten möchtet, sondern die nun erweiterten Kunst-mittel auf ihre Prinzipien zurückführen und deren besonnene Anwendung auffindenlernt.«27

Ich möchte abschließend an einem Klavierstück aus Schumanns Album für die Jugend

– op. 68, Nr. 21 – beispielhaft zeigen, wie fruchtbar eine Analyse mittels des Generalbassessein kann. Der Generalbass hat dabei eine klare, aus dem Barock stammende Syntax, dieder Oktavregel etwa, also einer Regel, in der jeder Basston der jeweils zugrundeliegendenTonleiter nur ganz bestimmte Bezifferungen zulässt – oder umgekehrt formuliert: in derjeder Akkord seinen ganz bestimmten Platz hat –, oder natürlich die Syntax von Kaden-zen, Sequenzen, Initialformeln, Orgelpunkten usw. Romantische Mittel wie Färbungen,harmonische Entfernungen durch Chromatik, enharmonische Verwechslungen ver-fremden diese Grundlage.

Schumanns Inspiration für dieses Stück ist eine Stelle aus Beethovens Fidelio, ausdem Terzett »Euch werde Lohn in bessern Welten« (Nr. 13) des 2. Aktes. Mit den erstenbeiden Takten zitiert Schumann in der Oberstimme die Melodie zu Florestans Worten

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24 Robert Schumann: Musikalische Haus- und Lebensregeln, neu hg. vom Arbeitskreis für Hausmusik,Kassel [1939], S. 6.

25 Siehe Clara und Robert Schumann. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1: 1832–1838, hg. von EvaWeissweiler, Basel/Frankfurt a. M. 1984, S. 126.

26 Schumann. Tagebücher, Bd. 1, S. 304.27 Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hg. von Martin Kreisig, Leipzig 51914,

Bd. 2, S. 270.

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N o t e n b e i s p i e l Robert Schumann: Album für die Jugend, op. 68, Nr. 21

(mit Generalbassbezifferung © 2007 G. Henle Verlag, München.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

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»O Dank! Ihr habt uns süß erquickt«.28 Erscheint die Stimme bei Beethoven über einemOrgelpunkt, so unterlegt Schumann dem Zitat der Oberstimme eine typische Kadenz-harmonik. Die Deutung von d'' – c'' in Takt 2 als 9-8-Vorhalt stammt dabei bereits vonBeethoven. Schumann führt das kurze Zitat (Takt 1–2) eigenständig fort (Takt 3–4). Durchden Quartsextakkord über d' in Takt 3 wird die Erwartung einer Kadenz nach g erzeugt,die durch die Färbung des eigentlich erwarteten fis' zu f ' in der Mittelstimme sowie denschrittweisen Abstieg des Basses zerstört wird. Durch das beibehaltene f ' entsteht inTakt 4 ein Quintsextakkord über h, der in die Wiederholung (Takt 5–8) der vorgestelltenMelodie (Takt 1–4) mündet. Der Auftakt wird dabei anders als am Anfang durch eineC-Dur-Harmonie unterstützt. Auch der Bass in Takt 5 erscheint nicht wie in Takt 1 mitden Mittelstimmen nachschlagend begleitend, sondern schwungvoll durch einen Vor-schlag von der unteren Oktave her erreicht auf der Eins des Taktes.

In Gegenbewegung zur Oberstimme wird der punktierte Rhythmus mit- und eigen-ständig weiter vollzogen. Die Harmonisierung der Melodie ändert sich hier. Die Färbungvon c'' zu cis'' in Takt 5 führt ein d-Moll als Grundakkord herbei, die anschließendeFärbung von g zu gis des Basses schließlich ein a-Moll, über dem d'' – c'' der Oberstimmenicht wie zuvor über c' als 9-8-, sondern nun als 4-3-Vorhalt über a erscheint. Auch derAuftakt e'' zum 2. Glied der musikalischen Idee ist nun harmonisiert und mit einempunktierten Rhythmus, der das g'' der Oberstimme vorausnimmt, lebendiger gestaltet.Auch der Akkord ais – cis' – e' – g' des Auftaktes ist zu verstehen als Färbung hin zu einemAkkord, der mittels minimaler Bewegung der Stimmen (Halbtonanschluss in den Un-terstimmen, Ganztonanschluss im Sopran, Liegenbleiben im Alt) zum Sextakkord überh hinführt.

Ganz wie in Takt 3 kündigt der Quartsextakkord über d in Takt 7, hier mit demBasston eine Oktave tiefer, abermals eine Kadenz nach g an. Der Basston d färbt sichjedoch diesmal zu dis und der verminderte Septakkord könnte als Platz auf der 7. Bass-stufe nach e-Moll führen (wie in Takt 5/6 der verminderte Septakkord über gis zu a-Moll).Die erwartete kleine Terz wird jedoch zu einer großen gefärbt, so dass am Ende desA-Teils, der von C-Dur seinen Ausgang nahm, ein E-Dur-Akkord in der Luft hängt.

Zwei Takte später steht diesem E-Dur ein B-Dur entgegen. Das E-Dur am Ende desA-Teils macht zunächst den Anschein, als würde es sich mit dem Beginn des B-Teils zua-Moll hin auflösen. Dieser Eindruck wird jedoch nur mit der Eins von Takt 9 erweckt,

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28 Siehe Robert Schumann. Album für die Jugend, opus 68, hg. von Ernst Herttrich, München 2007, S. 92;vgl. auch Kazuko Ozawa: »Ganz original ist keiner.« Inspiration und Zeitgeist, in: Robert Schumann.

Persönlichkeit, Werk und Wirkung. Bericht über die Internationale Musikwissenschaftliche Konferenz vom 22.bis 24. April 2010 in Leipzig, hg. von Helmut Loos, Leipzig 2011, S. 379–399, hier S. 393. Herrn Dr. FlorianEdler danke ich herzlich für diesen Hinweis.

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zwischen der Dezime A – c'' in den Außenstimmen liefern die Mittelstimmen eineHarmonisierung als Quintsextakkord über A nach. Das erwartete e' als Quinte einesa-Moll-Akkords wird also zu es' verfärbt, gleichzeitig tritt ein f ' hinzu. Dieser Akkord hatseinen Platz auf der 7. Bassstufe in B-Dur und führt erwartungsgemäß in Takt 10 auchdorthin.

Eine Sequenz, die mit dem Auftakt zu Takt 11 ansetzt, könnte auf der Grundlage desModells der Takte 9 und 10 gut wieder zu C-Dur zurückführen. Überraschend wirdjedoch die Auftaktgeste samt nachschlagender Achtel in den Mittelstimmen abgespaltenund sequenziert. In Takt 11/12 erscheint so nicht analog zu den Takten 9 und 10 einQuintsextakkord über h, der zu einem C-Dur-Akkord in Grundstellung hinführt. C-Durwird ausgelassen, der harmonische Rhythmus beschleunigt sich, ein weiteres Sequenz-glied der abgespaltenen Auftaktgeste erscheint mit dem Quintsextakkord über cis, der inFortführung der Sequenz zu einem d-Moll-Akkord in Grundstellung hinführt – zumin-dest deuten die Eins in Takt 12 und das vorherige harmonische Geschehen dies an.

Mit dem verfrühten Anschluss eines weiteren (abgespaltenen) Sequenzgliedes stehenzwei Quintsextakkorde über H und cis nebeneinander, die nicht motivisch, jedoch zu-mindest harmonisch rückwirkend als 6. und 7. Bassstufe in d-Moll gedeutet werdenkönnen (und beispielsweise von Bach – wenn auch natürlich nicht in gleicher Lagehintereinander – so eingesetzt werden). Das Gerüst der Außenstimmen beruht in diesemMittelteil auf Dezimparallelen. Die Dezime d – f '' in Takt 12 wird jedoch ähnlich wieschon zu Beginn des B-Teils durch die Mittelstimmen wenig später anders als erwartet,nicht mehr als d-Moll harmonisiert.

Ein Terzquartakkord über d führt als typischer Akkord auf der 2. Bassstufe mit demSextakkord über e auf der dritten Bassstufe zurück zu C-Dur und damit zurück in denvariierten A-Teil. Die zwei vorgestellten Harmonisierungen des ersten Taktes des Beet-hoven-Zitats (Takt 1 und 5) werden nun kombiniert. Der Bass erscheint in Takt 13 dabeieine Oktave tiefer und nimmt rhythmisch die erste Punktierung aus Takt 5 auf, belässtaber die zweite Hälfte wie in Takt 1 in Viertelnoten. Die absteigende Quinte wird dabeizu einer aufsteigenden Quarte verändert. Diese rhythmische Kombination der Takte 1und 5 geht einher mit einer harmonischen Kombination. Steht in Takt 5 ein �6-Akkordüber e', so ist er in Takt 13 zu einem

�643-Akkord erweitert, beides sind typische Akkorde

der 2. Bassstufe in d-Moll und führen auf der Drei des Taktes erwartungsgemäß auchdorthin. Die zweite Hälfte von Takt 13 schließt ausgehend nun von dem Moll-Grund-akkord über d mit dem Septakkord über g wiederum an Takt 1 an, man erwartet infolge-dessen in Takt 14 einen Grundakkord über c. Der Kadenz wird jedoch entflohen, dieSeptime der Mittelstimme löst sich in einer Heterolepsis im Bass zu e auf. Der Wechseld'' – c'' der Oberstimme, so legt die Eins des Taktes nahe, wird somit bezogen auf einenabermals anderen Basston als ein neuer Vorhalt, ein 7-6-Vorhalt, gedeutet. Erwartet wird

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harmonisch also eine Auflösung in einen Sextakkord über e, der seinen Platz auf der3. Bassstufe in C-Dur hat. Die Auflösung wird jedoch durch die Einführung eines Motivsin der Mittelstimme verschleiert, das eine innere Erweiterung des A-Teils einführt (Takt15–16).

Dieses Motiv leitet sich aus Takt 14 mit Auftakt ab, indem die Vorhaltsgeste umge-kehrt wird. Harmoniefremde Töne verschleiern das 7-6-Gerüst. Es erscheint mit derZwei von Takt 14 ein a' als harmoniefremder Ton, seinerseits eingeleitet von einem b',das sich zu einem zu gis' verfärbten g' auflöst. Es entsteht so ein Quartsextakkord über e,der als 4-3-Vorhalt zu einem Sextakkord, nicht dem erwarteten mit g', sondern mit gis',zu verstehen ist. Der Sextakkord strebt, geschärft durch einen Halbtonanschluss von gis'

zu a', auf der Vier zu einem Grundakkord über f, ist somit zu verstehen als geschärfterAkkord auf der 7. Bassstufe in F-Dur (e – gis – c' statt regulär e – g – c').

Das eingeführte Motiv der Mittelstimme wird im Folgenden von der Oberstimmeaufgegriffen und mit der Schumann’schen Fortführung des Beethoven-Zitats (Takt 3/4beziehungsweise 7/8) verbunden, die sich in Entsprechung drei Achtel Auftakt in gegen-läufiger Bewegung zum neuen Motiv aneignet (auch die vorausnehmende Tonwieder-holung verbindet die beiden Motive, die Punktierung des Motivs der Mittelstimme inTakt 16 ist dabei in Zusammenhang mit dem Auftakt zu Takt 7 der Oberstimme zu sehen).gis'' erscheint in Takt 15 dabei klar als Vorhalt ( �2 – 3 über f beziehungsweise dem sich beider Auflösung verfärbenden fis), so auch in Takt 16, in dem es erneut von der Mittelstim-me aufgegriffen wird ( �4 – 5 über dem unter das Pedal zu nehmenden Vorschlag d) undin der Kombination mit der Fortführung in der Oberstimme schließlich zum Schlussführt. Das erste a' beziehungsweise a'' erscheint beim zweimaligen Aufgreifen des Motivsnicht mehr akkordfremd, sondern akkordeigen (ein ähnlicher Umgang war bereits mitdem a' der Melodie im 1. beziehungsweise 5. Takt zu beobachten).

Die innere Erweiterung (Takt 15–16) ist von Vorhalten und Chromatik durchsetzt.Der im Bass chromatisch erreichte Quartsextakkord über g lässt eine Kadenz nach c

erwarten, der Bass wird jedoch abermals chromatisch verfärbt zu gis, über dem ein ver-minderter Septakkord erscheint. In Takt 16 wird so a-Moll erwartet, analog zu Takt 8erklingt jedoch – zusammen mit der Anweisung »Etwas langsamer« – ein Durakkordüber a, dem hier zusätzlich eine kleine Septime hinzugefügt ist. Das Arpeggio diesesAkkords lässt die Auflösung der Septime in der Oberstimme erscheinen. Über zweiQuintfälle führt der A-Dur-Septakkord über einen Septakkord über d erneut hin zumQuartsextakkord über g, der nun über eine kurze Orgelpunktharmonik die Schluss-kadenz nach c einleitet. Nach mehreren Anläufen, eine Kadenz am Ende der kurzenMelodie von 4 Takten zu erzeugen, die zwar angedeutet, aber immer wieder zugunstenüberraschender Wendungen versagt wird (Takt 3/4, 7/8, 15/16), ist der Schluss die ein-zige Stelle, an der die Kadenzerwartung schließlich erfüllt wird. Die letzten Takte sind

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dabei vom stetigen Wechsel zwischen gis und g sowie dem Wechsel zwischen fis und f

geprägt.29

Was bringt eine solche Analyse aus der Sicht des Generalbasses gegenüber anderenharmonischen Analysemitteln? Zunächst einmal scheint sie – so belegen die kurzenDarlegungen zu Schumanns Ausbildung bei Dorn – tatsächlich zeitgemäß. In ihrschwingt darüber hinaus ein weiteres gutes Stück Geschichte mit. Die Kenntnis desbarocken Generalbasses erzeugt Erwartungen, die nicht eingelöst, beziehungsweisedurch Alterationen verfärbt werden und sich anders als erwartet harmonisch fortsetzen.Harmoniefremde Töne, verspätete beziehungsweise versetzte Auflösungen sowie An-,aber schließlich Umdeutungen von erwarteten Harmonien verschleiern zusätzlich dasan sich einfache harmonische Gerüst. Eine Analyse mittels des Generalbasses unterliegtdabei nicht dem Zwang der Funktionstheorie, stets den tonartlichen Zusammenhangdarzustellen, doch ist dieser andererseits anhand von verfestigten Generalbassformelnstets ablesbar.

Natürlich kann man zum Beispiel von einem Dur-/Moll-Parallelismus sprechen,damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, woher dieses Modell stammt – nämlichursprünglich aus einer 5-3-5-3-Begleitung der Oberstimme durch einen Bass, die etwa inKantionalsätzen und noch in Chorälen Bachs vorhanden ist und auch von Schumann inder Aufeinanderfolge von Grundakkorden bei entsprechendem kontrapunktischenModell verwendet wird. Ein anderes Beispiel ist etwa der in der Romantik so typischeübermäßige Quintsextakkord, der häufig als Modulationsmittel verwendet wird. DieFunktionstheorie verstellt den Blick der geschichtlichen Entwicklung, indem sie ihn alsSeptnonenakkord der Doppeldominante ohne Grundton mit tiefalterierter Quintebeschreibt und in seiner Funktion von der einfachen phrygischen Kadenz mit Sub-dominante auf der Terz an Stelle der Paenultima unterscheidet. Der Generalbass machthingegen die Geschichte der kontrapunktischen Entwicklung deutlich. Das Gerüst derphrygischen Kadenz, das von der Sexte in die Oktave führt, bleibt bestehen, währendAlterierungen beziehungsweise Halbtonanschlüsse es in eine typisch romantische Har-monik verwandeln.

Stelle ich mir seit langem die Frage, warum Bach-Choräle so oft mittels Funktions-analyse und nicht aus dem Generalbass heraus analysiert werden, so stellt sich mir dieseFrage mittlerweile auch bezogen auf romantische Musik. Generalbass verstanden alsKurzschrift, die nicht bloß Akkord für Akkord bezeichnet, sondern Kontext stiftet und

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29 Die gestrichene Coda in der Stichvorlage, die das Stück mit einem Orgelpunkt unter dem mehr-maligen Aufgreifen des Beethoven-Zitats ausklingen lässt und in dieser Weise auch harmonisch anBeethoven anschließt, wird hier nicht einbezogen. Siehe Robert Schumann. Album für die Jugend, opus 68,S. 24 und 92.

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harmonische Erwartungen erzeugt, lässt auch noch in der Romantik ganz im SinneSchumanns die »nun erweiterten Kunstmittel« deutlich werden, die »auf ihre Prinzi-pien« zurückgeführt werden können.30

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30 Hingewiesen sei noch auf Anno Schreier: »Kollision« und »Verschiebung«. Satztechnische Modellein Liedern Robert Schumanns, in: zgmth 7 (2010), S. 99–110. Schreier geht barocken Modellen inihrer Verfremdung in den Liedern Robert Schumanns nach.

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Inhalt

Vorwort 8

keynotes

Markus Böggemann Kompositionslehre und Wissenspopularisierung.Ausdifferenzierung und Verbreitungsformen musiktheoretischenWissens im 19. Jahrhundert 11

Thomas Christensen Monumentale Texte, verborgene Theorie 21

aufs ät ze

Torsten Mario Augenstein »Schockweise Quint- und Oktavparallelen«. DieGeneralbass-Aussetzungen der italienischen Duette und Trios von JohannesBrahms für Friedrich Chrysanders Händel-Gesamtausgabe von 1870 und 1880 33

Wendelin Bitzan Die Initialkadenz als Eröffnungstopos im Klavierschaffen FranzLiszts. Zum Fortwirken eines tradierten Generalbassmodells im 19. Jahrhundert 51

Jürgen Blume Die Fugenkonzeption des Theoretikers undKomponisten Anton André 61

Leopold Brauneiss Conus’ Theorie der Metrotektonik undihre Aneignung durch Skrjabin 82

Julian Caskel »Metrische Hasen« und »tonale Igel«. Zur Theorie desTutti-Schlusses am Beispiel von Haydns Londoner Sinfonien 91

Felix Diergarten Joachim Hoffmann.Ein Kompositionslehrer in Schuberts Wien 103

Nicole E. DiPaolo A Glimpse of Heaven. Complex Emotionsin the First Movement of Beethoven’s Piano Sonata No. 31, op. 110 115

Martin Ebeling Konsonanztheorien des 19. Jahrhunderts 124

Stefan Eckert Vom Tonbild zum Tonstück.Wilhelm Dyckerhoffs Compositions-Schule (1870–1876) 139

Florian Edler Carl Maria von Webers und Giacomo MeyerbeersRezeption der Choralsatzlehre Georg Joseph Voglers 149

Thomas Fesefeldt Der Wiener Klaviertanzbei Schubert und seinen Zeitgenossen 162

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Ludwig Holtmeier »Accord«, »disposition«, »face«, »Griff«, »Trias harmonica«.Überlegungen zum Akkordbegriff des 18. Jahrhunderts 171

Ariane Jeßulat Intellectum tibi dabo. Zur Soziologie des Kontrapunkts 189

Martin Kapeller Gleichzeitiges und Ungleichzeitiges. Was manvon historischen Tondokumenten über Tempo rubato erfahren kann 201

Stephan Lewandowski Franz Liszts späte Klavierwerke.Vorboten der Post-Tonalität 212

Nathalie Meidhof Tradition und Revolution.Zur Beurteilung von Charles Simon Catels Traité d’harmonie 218

Johannes Menke Das Projekt »Dreiklang«. Natur und Technikbei Logier, Weitzmann, Wagner und Liszt 228

Astrid Opitz Altes in neuem Gewand. Zur Rolle desGeneralbasses bei Robert Schumann 241

Birger Petersen Rheinbergers Bassübungen für die Harmonielehreund die Partimento-Tradition im 19. Jahrhundert 252

Tihomir Popovic »A perfect knowledge of Oriental music«.Britische Autoren der Kolonialzeit über indische Musik und Musiktheorie 263

Christian Raff »Veränderte Reprisen« in derClaviermusik der Wiener Klassiker? 272

Rob Schultz Melodic Contour, Musical Diachrony and theParadigmatic/Syntagmatic Divide in Frédéric Chopin’s Waltz in B Minor 284

Markus Sotirianos »Impressionismus« vor 1830?Bemerkungen zu Schuberts Lied Die Stadt 293

Kilian Sprau Das Lied als Fragment. Zur Frage der Zyklizitätin Liedkompositionen des 19. Jahrhunderts 302

Marco Targa The Romantic Sonata Form in Theory and Practice 312

Clotilde Verwaerde From Continuo Methods to Harmony Treatises.Reorientation of the Educational Goals in France (1700–1850) 322

Stephan Zirwes/Martin Skamletz Beethoven als Schüler Albrechtsbergers.Zwischen Fugenübung und freier Komposition 334

Namen-, Werk- und Ortsregister 351

Die Autorinnen und Autoren der Beiträge 358

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Musiktheorie im 19. Jahrhundert

11. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie

in Bern 2011 Herausgegeben von Martin Skamletz,

Michael Lehner und Stephan Zirwes unter

redaktioneller Mitarbeit von Daniel Allenbach

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Herausgegeben von Martin Skamletz

und Thomas Gartmann

Band 7

Musikforschung der

Hochschule der Künste Bern

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Dieses Buch ist im März 2017 in erster Auflage in der Edition Argus in Schliengen/Markgräflerland erschienen. Gestaltet und gesetzt wurde es im Verlag aus der Seria undder SeriaSans, die von Martin Majoor im Jahre 2000 gezeichnet wurden. Gedruckt wurdees auf Alster, einem holzfreien, säurefreien, chlorfreien und alterungsbeständigen Werk-druckpapier der Firma Geese in Hamburg. Ebenfalls aus Hamburg, von Igepa, stammtdas Vorsatzpapier Caribic cherry. Rives Tradition, ein Recyclingpapier mit leichter Filznar-bung, das für den Bezug des Umschlags verwendet wurde, stellt die Papierfabrik ArjoWiggins in Issy-les-Moulineaux bei Paris her. Das Kapitalband mit rot-schwarzer Raupelieferte die Firma Dr. Günther Kast aus Sonthofen im Oberallgäu, die auf technischeGewebe und Spezialfasererzeugnisse spezialisiert ist. Gedruckt und gebunden wurde dasBuch von der Firma Bookstation im bayerischen Anzing. Im Internet finden Sie In-formationen über das gesamte Verlagsprogramm unter www.editionargus.de. Zum For-schungsschwerpunkt Interpretation der Hochschule der Künste Bern finden Sie In-formationen unter www.hkb.bfh.ch/interpretation und www.hkb-interpretation.ch. DieDeutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de ab-rufbar. © Edition Argus, Schliengen 2017. Printed in Germany isbn 978-3-931264-87-1