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Zurück in die Zukunft? Gesellschaftliche und technische
Zukunftsbilder zwischen Utopie und Dystopie
Dr. Veronika Schmid (Universität Marburg)
Dr. Sebastian Schmid (Universität Regensburg)
Fragestellung
• Welche Zukunftsvorstellungen sind vorherrschend?
• Welche Zukunftsvorstellungen werden als mehr oder
weniger wahrscheinlich wahrgenommen?
• Gibt es Unterschiede zwischen technologischen und
gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen?
Theoretischer Hintergrund
• Neuzeit: „Erwartung der Andersartigkeit der Zukunft“
(Habermas 1985: 141)
• „Nachhinken“ der politischen Steuerung angesichts
beschleunigter Strukturentwicklung (z.B. Kommuni-
kation)
Gefahr, dass Gesellschaft den „Charakter als
politisch zu gestaltendes Projekt“ verliert
(Rosa 2005: 437)
Überblick
• Mixed-Method-Design
– qualitativ: Zukunftsbericht („Die Welt in 100 Jahren“)
– quantitativ: Online-Survey mit Zukunftsszenarien
Studie I: Die Welt im Jahr 2114…
Fragestellung
• Wie stellen Studierende sich die Zukunft vor?
• Wie phantasievoll sind die Zukunftsbilder? Alternative
Zukünfte?
Stichprobe
• N = 70 (30 männlich, 38 weiblich, 2 keine Angabe)
• Durchschnittsalter: 22.13 Jahre (SD = 2.33, min = 19
Jahre, max = 29 Jahre)
• Politische Selbstverortung als „links“/„eher links“ (59.7%)
• Sozialwissenschaftler/innen (97.1%)
• 3. Semester (71 %)
Durchführung
• Offene Fragen
– „Was meinen Sie…: Wie sieht die Welt in 100 Jahren
aus?“
– „Was meinen Sie…: Wie sollte die Welt in 100 Jahren
aussehen?“
• 20 Minuten, schriftliche Beantwortung
Deduktiv-induktives Kategoriensystem
• inhaltsanalytische Auswertung
• deduktiv-induktives Kategoriensystem (Mayring 2000)
– deduktiv: literaturwissenschaftliche Überlegungen:
allgemeinen Strukturmerkmalen des utopischen
Romans (Saage 1996)
– induktiv: Differenzierung am Datenmaterial
Kategoriensystem
• insgesamt 18 Kategorien
(+ Zukunftsoptimismus, Zukunftspessimismus)
• Ideeneinheit als Kodiereinheit
• M = 4.55, SD = 3.15, min = 1, max = 18
Beispiele für Kategorien
• Politische Organisationsprinzipien
• Außenpolitik
• Technik
• Natürliche Ressourcen, Umwelt, Klima
• Wirtschaft
• Familie
• Werte und Moral
• Alltag
• …
Kategorie Beispiel
Natürliche Ressourcen,
Umwelt, Klima
„vermüllt, verbaut, dreckiger“
„Polarkappen geschmolzen,
Eisbären ausgestorben“
Ähnlichkeit Status quo „im Prinzip so wie jetzt“
Technik „noch mehr Technik, die ich
nicht mal ansatzweise
verstehe“
„Verschmelzung aller
Individuen in einer smarten
Maschinen“
Beispiele für Kategorien
Generelle Zukunftsorientierung
319
170
116
33
0
50
100
150
200
250
300
350
gesamt negativ neutal positiv
Erwartung: Häufigkeiten
Erwartung: In 100 Jahren…
• hochtechnologisiert
• sozial extrem ungleiche Gesellschaft
• zerstörte Umwelt
• Kriege um die letzten Ressourcen
Wunsch: Häufigkeiten
Fazit: Post-utopisches Denken
• Diskrepanz zwischen Wunsch und Erwartung;
Zukunftspessimismus
• abstrakte Beschreibungen
– weniger egoistisch, leistungsbezogen,
gewinnorientiert
– Gleichheitsnormen
• kaum Beschreibungen alternativer Zukünfte
– (z.B. Auflösung des Patriarchats, neues
Wirtschaftssystem etc.)
Fazit: Post-utopisches Denken
• Zukunft als Fortschreibung der Gegenwart
• keine qualitativen Sprünge
– (z.B. Veränderung des Geschlechterverhältnisses,
neues Wirtschaftssystem etc.)
Studie II: Nicht in 200 Jahren…
Fragestellung
• Welche Bereiche (Technik, Politik, Umweltschutz usw.)
werden überhaupt als veränderbar wahrgenommen?
• Unterschiede zwischen technologischen und
gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen?
• Zusammenhänge mit personenbezogenen Variablen?
Stichprobe
• N = 711 (252 männlich, 443 weiblich, 16 keine Angabe)
• Durchschnittsalter: 28.04 Jahre (SD = 9.87, min = 17
Jahre, max = 74 Jahre)
• Studierende (65.4%) und Angestellte (24.2%) der Uni
Marburg
• hoher Bildungsabschluss
– Hochschulabschluss: 39.4%
– Abitur: 49.5%
Durchführung
• Online-Untersuchung
– Rating von Zukunftsszenarien: „Stellen Sie sich
einmal vor…“
• Erwartbarkeit (Jahresschätzungen)
• Wünschbarkeit
– Personenbezogene Variablen
4 x 4 Zukunftsszenarien
positiv negativ
Gesellschaft • Muslima wird Kanzlerin
• Tierrechte
• bedürfnisgerechte Produktion
• Grundeinkommen
• pränatalen Diagnostik (Pflicht)
• Privatisierung
• erbitterte Arbeitskämpfe
• Ghettoisierung
Technik • Weltraumtourismus
• ökologische
Energieversorgung
• menschliche Organe ersetzbar
• Ökoautos
• Überwachungsstaat
• Computer-Hirnschnittstellen
• Regierung durch A.I.
• neue Weltuntergangs-
Waffentechnik
Beispiel: Rating der Zukunftsszenarien: Erwartung
Beispiel: Rating der Zukunftsszenarien: Wunsch
Personenbezogene Variablen
• Einschätzung der Szenarien (Erwartung, Wunsch) in
Abhängigkeit von:
– Politische Protest- und Partizipationsbereitschaft
– Überwertiger Realismus:
Idealisierung des Status Quo
– Autoritarismus
– Machtlosigkeit in Politik und Gesellschaft
Verwendete Instrumente
Konstrukt Itembeispiel Items α
Autoritarismus Verbrechen sollten härter bestraft
werden.
4 .73
Protest-/Partizi-
pationsbereitschaft
Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie…
…zu einer politischen Veranstaltung
gehen?
3 .79
Machtlosigkeit Leute wie ich haben sowieso keinen
Einfluss darauf, was die Regierung
tut.
2 .68
Idealisierung des
Status Quo
So, wie wir jetzt in Deutschland
zusammenleben, hat es schon seine
Richtigkeit.
6 .77
Gesellschaftliche Szenarien: Jahresschätzungen
Technische Szenarien: Jahresschätzungen
Gesellschaftliche Szenarien: Wünschbarkeit
Technische Szenarien: Wünschbarkeit
Analysen mit Mehrebenenmodellen
• Ebene 1: Szenarien (Jahresschätzungen, Wünschbarkeit)
• Ebene 2: Personen (personenbezogene Variablen)
Scenario
1
Scenario
2
Scenario
16
Scenario
1
Scenario
2
Scenario
16
Person 1 Person 2
… …
…
• Vorteile: – Simultane Analyse von Zusammenhängen auf beiden
Ebenen
– Berücksichtigung der komplexen Fehlerstruktur
Modell I: Jahresschätzungen für
gesellschaftliche/technologische Szenarien
Ebene 1: Jahr = 0 + 1 Scenario + r
(Scenario: 1 = gesellschaftlich; 0 = technologisch)
Ebene 2: 0 = 00 + u0
1 = 01 + u1
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 128.69 1,86 69.20***
Für 1 (Slope)
01 (Szenario) 024.54 1.85 13.24***
*** p < .001
Modell I: Jahresschätzungen für
gesellschaftliche/technologische Szenarien
• Gesellschaftliche Szenarien werden in eine fernere
Zukunft projiziert als technologische Szenarien
• Mittlere Differenz: 24.54 Jahre, SD = 1.85.
Modell II: Jahresschätzungen in Abhängigkeit von
der Wünschbarkeit
Ebene 1: Jahr = 0 + 1 Wünschbarkeit + r
Ebene 2: 0 = 00 + u0
1 = 01 + u1
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 140.97 1,77 79.61***
Für 1 (Slope)
01 (Wünschbarkeit) xx-2.12 0.26 -8.13***
*** p < .001
Modell II: Jahresschätzungen in Abhängigkeit von
der Wünschbarkeit
0
Wünschbarkeit
• Je weniger
erwünscht ein
Szenario ist, desto
weiter wird es in die
Zukunft projiziert
Modell III: Interaktion Wünschbarkeit und Typ des
Scenarios
Ebene 1: Jahr = 0 + 1 Scenario + 2 Wünschbarkeit
+ 3 Scenario x Wünschbarkeit + r
Ebene 2: 0 = 00 + u0, 1 = 01 + u1
2 = 02 + u2, 3 = 03 + u3
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 122.05 1.76 69.01***
Für 1 (Slope)
01 (Szenario) 031.86 2.11 15.07***
02 (Wünschbarkeit) 0-3.48 0.24 -14.44***
03 (Interaktion) 004.04 0.41 9.78***
*** p < .001
Modell III: Interaktion Wünschbarkeit und Typ des
Scenarios
0
Wünschbarkeit
• Kein Zusammen-
hang zwischen
Wünschbarkeit und
Jahresschätzungen
bei gesellschaft-
lichen Szenarien gesellschaftlich
Modell IV: Jahresschätzungen
und politische Partizipationsbereitschaft
Ebene 1: Jahr = 0 + r
Ebene 2: 0 = 00 + 01 Partizipationsbereitschaft + u0
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 141.00 1,75 80.67***
01 (Partizipation) 0-8.89 2.05 -4.34***
*** p < .001
Modell IV: Jahresschätzungen
und politische Partizipationsbereitschaft
75
100
125
150
175
200
1 2
Jahr
Partizipationsbereitschaft
niedrig
(-1 SD) hoch
(1 SD)
• Je geringer die
politische
Partizipations-
bereitschaft, desto
weiter werden die
Szenarien in die
Zukunft projiziert.
Modell V: Interaktion Partizipationsbereitschaft
und Typ des Szenarios
Ebene 1: Jahr = 0 + 1 Scenario + r
Ebene 2: 0 = 00 + 01 Partizipation + u1
0 = 10 + 11 Partizipation + u1
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 128.70 1.84 68.62***
01 (Parizipation) -6.33 2.20 -2.88**
Für 1 (Slope)
10 (Szenario) 024.56 1.84 13.31***
11 (Interaktion) 0-3.48 2.18 -2.35*
*** p < .001
Modell V: Interaktion Partizipationsbereitschaft
und Typ des Szenarios
75
100
125
150
175
200
1 2
Jahr
Partizipationsbereitschaft
niedrig
(-1 SD) hoch
(1 SD)
• Stärkerer
Zusammenhang
zwischen politischer
Partizipations-
bereitschaft und
Jahresschätzungen
bei gesellschaft-
lichen Szenarien
Modell VI: Jahresschätzungen und Idealisierung
des Status Quo (ISQ)
Ebene 1: Jahr = 0 + r
Ebene 2: 0 = 00 + 01 ISQ + u0
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 140.25 1,76 80.19***
01 (ISQ) 0 8.04 2.44 3.30***
*** p < .001
Modell VI: Jahresschätzungen und Idealisierung
des Status Quo (ISQ)
• Je höher die
Idealisierung des
Status Quo, desto
weiter werden die
Szenarien in die
Zukunft projiziert
75
100
125
150
175
200
1 2
Jahr
ISQ
niedrig
(-1 SD) hoch
(1 SD)
Modell VII: Interaktion ISQ und Typ des Szenarios
Ebene 1: Jahr = 0 + 1 Scenario + r
Ebene 2: 0 = 00 + 01 ISQ + u1
0 = 10 + 11 ISQ + u1
Effekt Koeffizient SD t(711)
Für 0 (Intercept)
00 128.67 1.86 69.22***
01 (ISQ) 2.83 2.62 1.09
Für 1 (Slope)
10 (Szenario) 024.50 1.83 13.39***
11 (Interaktion) 0-10.36 2.59 3.99***
*** p < .001
75
100
125
150
175
200
1 2
Jahr
Modell VII: Interaktion ISQ und Typ des Szenarios
technologisch
• Stärkerer
Zusammenhang
zwischen
Idealisierung des
Status Quo und
Jahresschätzungen
bei gesellschaft-
lichen Szenarien
ISQ
niedrig
(-1 SD) hoch
(1 SD)
Zusammenhänge mit soziodemographischen
Variablen
• Alter: Ältere Teilnehmer/innen projizieren die Szenarien
in eine fernere Zukunft,
01 = -0.41, SD = 0.20, t(710) = -2.10, p < .05
• Geschlecht: Frauen projizieren die Szenarien in eine
fernere Zukunft als Männer:
– Mweiblich = 130.36 Jahre
– Mmännlich = 147.03 Jahre
– SDDifferenz = 3.59, t(710) = -4.65, p < .001
Fazit
• Gesellschaftliche Szenarien werden in eine fernere
Zukunft projiziert als technologische Szenarien
• Technologische Szenarien werden in eine fernere
Zukunft projiziert, wenn sie wenig erwünscht sind
(bzw. befürchtet werden)
• Gesellschaftliche Szenarien werden in eine fernere
Zukunft projiziert bei
– geringer politischer Partizipationsbereitschaft
– hoher Identifikation mit dem Status Quo
Geplante Analysen
• Berücksichtigung weiterer Personenvariablen
(z.B. Autoritarismus)
• Analyse von Interaktionen höherer Ordnung
(z.B.: Wünschbarkeit x Typ Szenario x ISQ)
VIELEN DANK FÜR
IHRE AUFMERKSAMKEIT!