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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.17 Bücherforum Zwischen Vilnius und Bern S chweizerisch-litauische Sichtweisen auf 480 Sei ten und mittlererweile der sechste Band von Her ausgeber Max Schweizer, der sich dem baltisch- eidgenössischem Themenkreis widmet. Insgesamt eine enorme Fleissarbeit. Für den aktuellen Band über Litauen führt das zu der stattlichen Anzahl von etwa 100 Einzel- beiträgen, darunter: Zeitungsartikel, Analysen, Brief- wechsel, Kommentare und Eindrücke. Kapitel I. widmet sich dem Thema „Westwärts“ aus der Zeitperiode von der Singenden Revolution 1989/90 bis heute. Ärgerlich, wieder die vielen skeptischen - diesmal schweizerischen - Blicke auf das Unabhängigkeits- bestreben von Litauen zu lesen. Der Tenor: Dürfen die das überhaupt, können sie das, ist es opportun die Souveräni- tät zu erklären? Und dann die düsteren Hinweise auf die vermeindliche wirtschaftliche Abhängigkeit von der So- wjetunion. Hinter diesen Gedanken verschiedener Auto- ren steckte wohl auch der Widerwille, sich überhaupt mit dem Wiedererstehen der baltischen Staaten befassen zu müssen. Der Westen denkt und dachte global. Aber die Realität sieht bereits 10 Jahre später ganz anders aus, es geht um die Integration in EU und NATO. Das nächste Kapitel zeigt dagegen, dass Litauen beson- ders während der „Selbstbehauptung und Okkupation“ der 40er bis 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Schweiz nicht vergessen war. Aber erst Kapitel III, birgt für deutsche Leser eine echte Überraschung. „Die Schweizer in der grossen Armee von 1812.“ Mit Napoleon in Litauen, denn die Schweiz musste sich dem Willen des mächtigen Franzosen beugen und Militär für den Feldzug nach Moskau bereitstellen. Im- merhin mehrere tausend Soldaten. Endlich erfahren wir von den intensivsten Begegnungen, die jemals zwischen den beiden Nationen stattgefunden haben, und das mitten in einem Kriegsdrama. Es geht um die Plünderungen der schweizerischen Soldateska, ihrem Heldenmut gegen- über der russischen Übermacht, dem Untertauchen bei litauischen Bauern auf der planlosen Flucht in den kalten Wintermonaten. Mit dabei die Hoffnung der Schweizer, in Wilna eine vermeindliche Rettungsinsel auf dem Rück- zug zu finden. In Wirklichkeit herrschte das Kriegschaos. Nur gelegentlich erkannten sie, dass sie jenseits von Preussen mit verschiedenen Bevölkerungen in Kontakt kamen, Weissrussen, Litauern und anderen. Nach dem Krieg verschwanden die Soldaten wieder. Aber bereits ein Jahrhundert zuvor gab es sogar eine bescheidene Besiedlung litauischen Bauernlandes durch Schweizer, genannt die „Repeuplierung“. Grosse Landstriche waren durch eine Pestwelle menschenleer geworden. Die Preussen organisierten die Einwanderung in ihrem litau- isch bewohnten Königreich. In dem Lesebuch von Max Schweizer ist auch immer wieder von der litauischen Kolonie der letzten hundert Jahre in der Schweiz die Rede. Auf ihr beruhen die vielfältigen Wissenschafts- kontakte, die schon vor der ersten Unabhängigkeits- periode Litauens began- nen. Nach dem Kapitel „Li- terarisches“ folgt deshalb noch ein eigenes für Bil- dung und Wissenschaft. Sollten sich die Kontakte zwischen dem Baltikum und der Schweiz weiterhin so entwickeln, dürfte der Rahmen für eine ähnliche Darstellung in sechs Bän- den demnächst gesprengt sein. (Jens Olaf Walter) Schweizerisch- Litauisches Lese- buch, Max Schwei- zer (Hrsg.) Werd Verlag / Swiss Baltic Net / Saules Delta, 2002. 480 Seiten. ISBN3-85932-492-2

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.17

Bücherforum

Zwischen Vilniusund Bern

Schweizerisch-litauische Sichtweisen auf 480 Seiten und mittlererweile der sechste Band von Herausgeber Max Schweizer, der sich dem baltisch-

eidgenössischem Themenkreis widmet. Insgesamt eineenorme Fleissarbeit. Für den aktuellen Band über Litauenführt das zu der stattlichen Anzahl von etwa 100 Einzel-beiträgen, darunter: Zeitungsartikel, Analysen, Brief-wechsel, Kommentare und Eindrücke.

Kapitel I. widmet sich dem Thema „Westwärts“ aus derZeitperiode von der Singenden Revolution 1989/90 bisheute. Ärgerlich, wieder die vielen skeptischen - diesmalschweizerischen - Blicke auf das Unabhängigkeits-bestreben von Litauen zu lesen. Der Tenor: Dürfen die dasüberhaupt, können sie das, ist es opportun die Souveräni-tät zu erklären? Und dann die düsteren Hinweise auf dievermeindliche wirtschaftliche Abhängigkeit von der So-wjetunion. Hinter diesen Gedanken verschiedener Auto-ren steckte wohl auch der Widerwille, sich überhaupt mitdem Wiedererstehen der baltischen Staaten befassen zumüssen. Der Westen denkt und dachte global.

Aber die Realität sieht bereits 10 Jahre später ganzanders aus, es geht um die Integration in EU und NATO.Das nächste Kapitel zeigt dagegen, dass Litauen beson-ders während der „Selbstbehauptung und Okkupation“der 40er bis 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in derSchweiz nicht vergessen war.

Aber erst Kapitel III, birgt für deutsche Leser eine echteÜberraschung. „Die Schweizer in der grossen Armee von1812.“ Mit Napoleon in Litauen, denn die Schweiz musstesich dem Willen des mächtigen Franzosen beugen undMilitär für den Feldzug nach Moskau bereitstellen. Im-merhin mehrere tausend Soldaten. Endlich erfahren wir

von den intensivsten Begegnungen, die jemals zwischenden beiden Nationen stattgefunden haben, und das mittenin einem Kriegsdrama. Es geht um die Plünderungen derschweizerischen Soldateska, ihrem Heldenmut gegen-über der russischen Übermacht, dem Untertauchen beilitauischen Bauern auf der planlosen Flucht in den kaltenWintermonaten. Mit dabei die Hoffnung der Schweizer,in Wilna eine vermeindliche Rettungsinsel auf dem Rück-zug zu finden. In Wirklichkeit herrschte das Kriegschaos.Nur gelegentlich erkannten sie, dass sie jenseits vonPreussen mit verschiedenen Bevölkerungen in Kontaktkamen, Weissrussen, Litauern und anderen. Nach demKrieg verschwanden die Soldaten wieder. Aber bereitsein Jahrhundert zuvor gab es sogar eine bescheideneBesiedlung litauischen Bauernlandes durch Schweizer,genannt die „Repeuplierung“. Grosse Landstriche warendurch eine Pestwelle menschenleer geworden. DiePreussen organisierten die Einwanderung in ihrem litau-isch bewohnten Königreich.

In dem Lesebuch von Max Schweizer ist auch immerwieder von der litauischen Kolonie der letzten hundertJahre in der Schweiz die Rede. Auf ihr beruhen die

vielfältigen Wissenschafts-kontakte, die schon vor derersten Unabhängigkeits-periode Litauens began-nen. Nach dem Kapitel „Li-terarisches“ folgt deshalbnoch ein eigenes für Bil-dung und Wissenschaft.

Sollten sich die Kontaktezwischen dem Baltikumund der Schweiz weiterhinso entwickeln, dürfte derRahmen für eine ähnlicheDarstellung in sechs Bän-den demnächst gesprengtsein. (Jens Olaf Walter)

Schweizerisch-Litauisches Lese-buch, Max Schwei-zer (Hrsg.) WerdVerlag / Swiss BalticNet / Saules Delta,2002. 480 Seiten.ISBN 3-85932-492-2

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Dzîvo balsu zeme – Land derlebendigen Stimmen

“Damit bleibe, was sein wird ...” - Auszug aus demSonderheft DIE HOREN: ein Gedicht von AmandaAizpuriete

Schweiß, der nach Tod schmeckt ...

Und Handteller, wirbelliniengekerbt

In Vabanquespiel, in Rauschnebel schlierende Gestalten

Zu umarmen liegt mir nicht.

Ich liebe keine Helden.

Du bist einer von Ihnen,

auch Dir sind Siege sicher.

Ich gönne Dir alles, was Siegern zusteht, doch danachsind wir per Sie.

(Amanda Aizpuriete, aus dem Lettischen von HorstBernhardt und Manfred Peter Hein)

So hat Amanda Aizpuriete (mit 3 Gedichtbänden beiRowohlt im Programm), die wohl bekannteste lettische Dichterin in Deutschland, ihr Manuskript beti-

telt, das für das Goetheinstitut in Riga entstanden ist. Ineiner Veranstaltungsreihe sollten lettische Dichter vorge-stellt werden und A.Aizpuriete hat dafür eine sehr persön-liche Auswahl getroffen, die durch die persönliche Aus-wahl der Übersetzungen von Margita Gutmane (früherHamburg . heute Riga) nochmals selektiert wurde.

Trotzdem ist es ein ge-lungener Einstieg mit un-terschiedlichen Autorenmit unterschiedlichemBekanntheitsgrad auch inLettland, und da” in Lett-land die Dichter früh ster-ben”, wie Aizpuriete inder Einführung bemerkt,konnten auch 4 der 8 Au-toren nicht mehr persön-lich erlebt werden. Essind dies Monte Kroma (1919-1994),Velga Krile(1946-1991), JurisKunnoss(1948-1999)und KlavsElsbergs(1959-1987).Gunars Salins (1924) wardurch Videoaufnahmenpräsent(er lebt in NewYork), aber Uldis Berzins

(1944), Janis Rokpelnis (1945) und schließlich AmandaAizpuriete (1956) konnten sich selbst einbringen.

Es ist sehr begrüßenswert,das durch die Veröffentli-chung des Manuskripts (bei dem natürlich nur ein Teil derübersetzten Verse dokumentiert wurden) auch die Leserder Literaturzeitschrift “die horen” wenigstens eine kleineAuswahl der lettischen Dichter kennenlernen . Diese Rei-he könnte laut Amanda Aizpuriete mindestens verdrei-facht werden.

Und würde jemand anders seine Auswahl treffen, gäbe es

die horen, Zeitschrift für Literatur,Kunst undKritik. Hrsg.Johann P.Tammen. Band 207/Herbst 2002, 256 Seiten, Euro 10,50. ISSN0018-4942

sicher ebenso viele Kandidaten, denn Dichter gibt es inLettland in großer Zahl und von hoher Qualität- deshalb istauch die Überschrift (s.o.) gerechtfertigt.

Zu jedem Autor gibt es eine kurze Einführung zu lesenund einige Gedichte. Aizpuriete wird mit einem ganzsei-tigen Porträtfoto vorgestellt und hat zehn Gedichte auseinem unveröffentlichen Manuskript beigesteuert, siesind von Horst Bernhardt und Manfred Peter Hein übertra-gen worden.

Noch ein Grund mehr, gerade diese Ausgabe der Zeit-schrift “die horen” zu erwerben, ist der nachfolgende Ar-tikel – sechs Gedichte des litauischen Dichters EugeniusAliðanka – übertragen von Klaus Berthel – “auf demscharfkantigen gestein der sprache ...” (Lauma Zvidrina)

Literarischer Panoramablick – wosteht die litauische Literatur?

Litauen als Gastland auf einer der international wichtigsten Messen des literarischenBetriebs: da wird wohl mancher Literaturkenner, Verleger, oder Schriftsteller etwasnervös geworden sein. Was hat dieses Land denn eigentlich literarisch gesehen zu bieten?Was ist denn überhaupt dem deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht, also über-setzt? Was kann Kulturinteressierten angeboten werden?

Angesichts dieser Fragestellung liegt es vielleicht nahe, zunächst einmal Auszüge ausverschiedenen Werken, kurze Erzählungen von AutorInnen, von denen ansonsten nochmehr zu erwarten ist, oder Abhandlungen Dritter über die litauische Literaturszenevorzuschlagen. Drei sehr verschiedene solche Projekte sollen an dieser Stelle vorgestelltwerden. Es stecken hinter diesen drei Projekten drei Menschen, die vorwiegend auch mitÜbersetzung zu tun haben: Claudia Sinnig, Cornelius Hell und Klaus Berthel.

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Litauen – ein literari-scher Reisebegleiter

Ein breit angelegtes literarisches Panorama hat Claudia Sinnig als Insel Taschenbuch vorgelegt: Litauen, ein literarischer Reisebegleiter.

Taschenbuchmässig klein und kompakt, können sich am-bitionierte BesucherInnen des südlichsten der baltischenStaaten „hineinlesen“ in das zu bereisende, erwartendeUmfeld.

Die Gesamtdarstellung ist bei Claudia Sinnig historischaufgebaut. „Literarische Landschaften“, „fiktive Orte“und „imaginäre Gegenden“ will die Autorin vorstellen,und sie garniert das Ganze mit ein paar realen Reisehin-weisen und einigen sehr schön gedruckten Fotos.

Eine der hervorstechendste Leistung der Herausgeberinist es wohl, in diesem Band interessante Passagen aus denWerken wichtiger Autoren und Quellen hier überhaupterst einmal in deutscher Sprache zugänglich gemacht zuhaben. Allein schon deshalb lohnt sich die Investition der12 Euro Kaufpreis. Fast 300 Textverweise von sehr ver-schiedenen Werken, aus denen im Buch auf genausovielenSeiten zitiert wird, zeugen von der Breite sowohl derAutorInnen mit litauischem Umfeld, wie auch von demErfahrungsschatz der Autorin, der hier teilweise weiterge-geben wird.

Das Buch ist eher „leicht verdaulich“ angelegt, die Au-torin wandert nach einer historischen Einführung durchdie verschiedenen litauischen Landschaften. Einzig stö-rend, aber leider über die gesamte Länge des Buchesdurchgehalten, ist die fehlende optische Abgrenzung zwi-schen selbst Geschriebenem und Zitiertem (beides istlediglich durch einen Absatz getrennt). Das hemmt denLesefluss, denn mehrfach fragt sich der Leser: was lese ichda eigentlich? Man blättert irritiert im Buch, um denVerweis wiederzufinden, der vorher oder nachher dann imText der Autorin zu finden ist. So verwebt sich dann alleszu einer lesbaren Einheit (kann auch ein Vorteil sein), amSchluß bleibt aber der Eindruck, jetzt mehr„Geschichtchen“ und Gesellschaftsreportage hinter sichzu haben, als die Qualitäten litauischer Literatur wirklichkennenzulernen. Andererseits ist viel Gescheites und Sin-nendes versammelt über das Land, die Menschen, dieVergangenheit und die mögliche Zukunft. Eine Empfeh-lung könnte vielleicht lauten: das Buch kann als guteErgänzung zu sonst nur oberflächlichen, gewöhnlichen„Reiseführern“ gesehen werden, und macht vielleichtGeschmack auf mehr.

Meldung überGespenster

Der gebürtige Salzburger Cornelius Hell war bereits in den 80er Jahren an der Universität Vilnius tätigund kann daher den Charakter einer möglicherwei-

se stattgefundenen Umorientierung des Literaturbetriebsam besten einschätzen. Dementsprechend interessant seineBemerkungen zu diesem Thema, die augenscheinlich auchdie Auswahl der vorgestellten AutorInnen und Werke inseiner Anthologie beeinflußt hat. Erstens seien viele in derEmigration entstandene Werke erst in den 90er Jahren inLitauen wahrgenommen und gedruckt worden, dann sei derNachholbedarf an Übersetzungen ins Litauische hinzuge-kommen. Schließlich habe die litauische Literaturgeschich-te erst einmal neu geschrieben werden müssen (leider

werden hier nicht Namen genannt von denen, die sich damitbeschäftigten), gereinigt von ideologischen Formeln undversehen mit neuen Gewichtungen. Zudem seien etliche inder Sowjetzeit verfaßte Werke jetzt erst gedruckt worden –auch davon stellt Hell Beispiele in seinem Buch vor.

Irritierend allerdingsdie Auswahl des Titels:Nein, weder litauischeSagen noch spannendeGespenstergeschich-ten sind hier zu erwar-ten – gemeint sind viel-mehr die „Gespensterdes KGB“ (russischerGeheimdienst), vondenen es ja heisst, sieseien auch schwierig erloszuwerden.

Was stellt CorneliusHell uns nun aber wirk-lich vor? EinigeSchriftstellerInnen sinddabei, die wenigerdurch den bei Hell vor-gestellten Werkaus-schnitt von wenigenSeiten, sondern durchaktuell ins Deutsche übersetzte Bücher bekannt gewordensind. Dazu zählen wohl Renata Ðerelyte („Sterne der Eis-zeit“), Jurga Ivanauskaitë („die Regenhexe“), oder JurgisKunèinas („Mobile Röntgenstationen“). In allen drei Fällenist es Hell gelungen, „typische“ Texte auszuwählen – wersie mag, wird in den genannten Büchern „mehr von diesemStoff“ finden. Die Titelgeschichte „Meldung über Gespen-ster“ des kürzlich leider verstorbenen Rièardas Gavelis(„Friedenstaube“) schließlich, dessen berühmter Romander Wendezeit „Vilniaus Pokeris“ leider noch nicht aufDeutsch vorliegt, spiegelt wohl nicht das stilistisch typischeSchaffen des Autors, wohl aber die Atmosphäre der Sowjet-zeit in Litauen auf anschauliche Weise.

Was fällt sonst bei der Lektüre der Werke der hierimmerhin 20 verschiedenen litauischen AutorInnen be-sonders ins Auge? Vielleicht Juozas Erlickas, der auf sehrironisch-zynische Weise die Verhältnisse im eigenen Landschildert, oder Romualdas Granauskas, dessenFormulierungskunst der schier endlosen Sätze einen dich-ten Teppich von Eindrücken formen, dessen Hintergründeaus den Hintergründen und Ursprüngen der litauischenKultur gebildet zu sein scheint. Vielleicht sind auch ein,zwei eher schwache Werkeindrücke ausgewählt, aber dasist wohl angesichts des angebotenen Variantenreichtumsnahezu unvermeidlich und wahrscheinlich auch ein StückGeschmackssache. Auch in seiner Erscheinungsform (so-lide gebunden) bietet das Buch den feierlichen Leseein-druck, den Literaturinteressierte vielleicht schätzen wer-den. Nur Vorsicht eben: nach Genuß nicht zu Hause(wegen des Titels) falsch einordnen im Regal!

Von diesenTräumen ganzverschiedene

Zehn litauische Gegenwartsautoren stellt KlausBerthel in einem 140-Seiten-Band des Athena-Verlags vor. Die Tatsache, dass von diesen 10

gleich 7 auch in den oben bereits beschriebenen Buch vonCornelius Hell aufgenommen worden sind, fordert zu

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Vergleichen heraus. Zunächst ein Tabubruch: Bloß ein-fach gebotene Seitenzahl und Preis zu vergleichen, dasgehört sich ja vielleicht nicht. Zudem ist der ATHENA-Verlag mit seinen nun im Laufe von nur einem Jahrerschienenen insgesamt 10 Werken der Reihe „Literaturaus Litauen“ wahrscheinlich kaum in der Lage, seineMitarbeiterzahl zu verdoppeln, damit jedes dieser Bücherauch angemessen geschliffen werden kann in Form undInhalt.

Dennoch sei es gesagt: 272Seiten von Cornelius Hellmit 20 vorgestelltenAutorInnen kosten nur we-nige Euro mehr als die 140Seiten mit zehn AutorInnenvon Klaus Berthel. Für Men-schen mit Entscheidungs-schwierigkeiten vielleichtein Argument – die Alterna-tive wäre aber lediglich, stattder kurzen Auszüge zumBeispiel die zitierten Büchereinzelner Autoren wie etwaJurgis Kunèinas oderLeonardas Gutauskas zukaufen, die im selben Verlagerschienen sind.

Nun aber zum Wesentlichen: den Qualitäten dieses Bu-ches. Auffällig gleich beim Durchblättern der Textauszugvon Gavëlis: Endlich ein Textauszug aus „VilniausPokeris“! So kann auch der nicht-Litauischkundige sicheinen kurzen Eindruck von diesem legendären Werk ma-chen (es erzielte bei seinem Erscheinen 1989 Rekord-verkaufszahlen in Litauen). Allerdings wirkt die Wahl derTextstelle wie ein offensichtlicher Vorbehalt: der wirkli-che Kampf um die Veröffentlichung dieses Werkes indeutscher Sprache scheint noch nicht gewonnen.

Angenehm wirkt auch der Aufbau der einzelnen Ab-schnitte: Jedem vorgestellten Autor wird eine Kurz-darstellung vorangestellt, die viele interessante Hinweiseauf die literarische Einordnung der Werke geben – hier hatsich Berthel Unterstützung bei anerkannten litauischenLiteraturkritikerInnen geholt. Auch bei Hell gibt es natür-lich biographische Angaben zu den AutorInnen (wie sohäufig, am Schluß des Buches), aber die konzentrierte ArtBerthels, der kurzen Einführung in das Werk eines Schrift-stellers auch wirklich eine Einführung voran zu stellen,hilft der Orientierung. So wird der hier etwas schmucklospräsentierte Textauszug umrahmt von den Umständen derWerkentstehung und gewinnt dadurch an Wert.

Dass es von Wert sein kann, wenn ähnlich konzipierteBücher sich ergänzen, zeigen zum Beispiel die Textaus-schnitte von Romualdas Granauskas - zurück bleiben zweisehr unterschiedliche Leseeindrücke. Auch im Falle derlitauischen Autorin Jurga Ivanauskaite rundet sich erstnach der Lektüre des bei Berthel zugänglich gemachtenTextauszugs das Bild ab: nicht auf Skandalöses ist derBlick hier gerichtet, denn „die Regenhexe“ erschien inLitauen eben schon 1993! Es werden interessante Einblik-ke geboten in Ivanauskaite’s Erfahrungen und Eindrückein Tibet.

Ein Buch also, dass ebenfalls noch einige neue Aspektebeisteuert zur Diskussion um den Stellenwert der litaui-schen Literatur. Leider macht Berthel keine weiterenAngaben zu den litauischen Co-AutorInnen, die ihm beider fachlich gekonnten Vorstellung der verschiedenenSchriftstellerInnen geholfen haben (im Buch bloss mitNamensnennung erwähnt). Fortsetzung folgt!

(Albert Caspari)

Jûrate Sprindytë, Klaus Berthel: Von diesenTräumen ganz verschiedene. Zehn litauischeGegenwartsautoren und ihre literarische Prosa.Athena Verlag, Oberhausen 2002. 140 Seiten,14,90 EURO. ISBN 3-89896-133-8.

Cornelius Hell (Hg.): Meldung über Gespenster.Otto Müller Verlag, Salzburg 2002. 272 Seiten, 18EURO. ISBN 3-7013-1053-X.

Claudia Sinnig: Litauen. Ein literarischer Reise-begleiter. Insel Verlag Frankfurt am Main undLeipzig, 2002. 320 Seiten, 12 EURO. ISBN 3-458-34544-2.

Sterne der Eiszeit

Kann ein Buch etwas anderes als ein Buch sein?Der kürzlich in deutscher Übersetzung erschienene Roman „Sterne der Eiszeit“ von Renata

Ðerelytë könnte als Beispiel dafür gelten, dass zumindestdie Frage berechtigt ist.

Mit poetischen und erzählerischen Stilmitteln bautÐerelytë zunächst eine Grundlage des Verständnisses fürihren Stoff auf – und läßt damit zunächst an ihre estnischeSchriftstellerinnenkollegin Viivi Luik erinnern („Dersiebte Friedensfrühling“). Ähnlich wie bei Luik, wo aller-dings das abgeschiedene Leben eines Kindes bei Elternund Großeltern auf dem Lande die gesamte Erzählspanneeinnimmt, stellen solche konkret geschilderten, realenFiguren den Halt und den Fingerzeig dar, den dieLeserInnen für das Eintauchen in das Verständnis derlitauischen Perspektive benötigen – insbesondere fürdiejenigen, die selbst einen solchen Erfahrungs-hintergrund nicht haben.

„Wie durch ein Sieb drang die Mitternacht durch uns inandere Tiefen vor. An der Oberfläche blieben schwarzeAnthrazitkörnchen zurück, und irgendwo weit weg schlu-gen im Boden dieHerzen der töner-nen Tauben.“ –Hier werdenBruchstellen be-schrieben, die sichvielleicht ergebenmögen aus Gegen-sätzen zwischenLandleben undModernisierung,Verwerfungen derGesellschaft, oderunterschiedlichenB e w u ß t s e i n s -ebenen und per-sönlichen Per-spektiven. Waskann ein Buch an-deres sein als einBuch? Vielleicht ein Tagtraum, aus dem man immerwieder erwacht. Oder meint, zu erwachen, auf das sich dieRealität kurze Zeit später ebenfalls mit den Traumebenenverspinnt und verwebt. Renata Ðerelytë arbeitet mit die-sen Ebenen, und gibt auch den LeserInnen ihres Buchesmit nummerierten Kapitelüberschriften nur scheinbareOrientierung.

Die Leitfigur der Großmutter taucht in verlässlicherRegelmässigkeit zwar immer wieder auf, aber alles ande-

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re, was im „neuen Leben“ der Hauptfigur Belang zu habenscheint, verschwimmt in ihren Grenzen sowohl innerhalbder Erzählstruktur wie auch in der Wahrnehmung derHauptfigur. Da ist einerseits die Stimme eines älterenUnterrnehmers, dessen Gedichte sie als „orangeMappe“von der Redaktion zur Begutachtung einer even-tuellen Veröffentlichung auf den Tisch bekommen hat.Dabei steht Ðerelytës Urteil offenbar fest: „Dichtung passtzu einem Unternehmer wie der Sattel zu einer Kuh.“ Aberdie neuen Zeiten sind nicht so klar begrenzbar wie dieserEinordnungsversuch: Mal spricht der Kaktus, um an-schließend zu verschwinden und ein Loch im Boden zuhinterlassen, in dass man hineinsteigen und in einer ande-ren Realität wieder herauskommen kann. Auch die orangeMappe mischt Thesen und GesprächsfetzenGROSSBUCHSTABIG in die Erzählung ein, der HerrChefreakteur ist ein Chamäleon, und der Kellner in einemCafé sieht aus wie ein verschollener Vetter.

Schließlich scheint selbst die Ebene der Schreibenden mitderjenigen ihrer Kunstfiguren zu verfließen: Die Schrift-stellerin schließt die Augen, und symbolisiert damit denSchaffungsprozess der Fantasie, der ja das Schreiben ei-gentlich darstellen soll. „Ich bin keine literarische Fiktion“,protestiert daraufhin schriftlich die Erscheinung eines En-gels, die sich ausgerechnet auf der Toilette materialisiert.Was also ist Realität, aus deren Repertoire die Künstlerinschöpfen möchte, und was wird durch diese Schöpfungengeschaffen? Hier kommt die beliebte Allegorie des Spiegelsins Spiel, so wie sie auch die deutsche SchriftstellerkolleginChrista Hein („Blick durch den Spiegel“) einsetzt. „Wegmit den Spiegeln!“ – so entfährt es dem Munde von RenataÐerelytës Protagonistin, „ich habe schon genug Projektio-nen in die Vergangenheit und Zukunft!“

„Niemals hätte ich gedacht, dass ich mir selbst so fremdwerde“! läßt Ðerelytë ihre Heldin rufen, als sie dann nachlanger Zeit einmal wieder auf’s Land zurückkehrt. Auchder Vater, früher ein scheinbar hoffnungsloser Trinker, hatsich verändert: seine heimgekehrte Tochter will ihm fastaus Mitleid ein paar Litas in die Hand drücken mit denWorten „geh lieber ins Städtchen und trink was.“, da musssie sich von der Antwort überraschen lassen. „Nein, gleichkommt Sunset Beach und hinterher Home away.“

Da hilft auch der Fluch auf den Satan nichts, der wohl denFernseher erschaffen haben mag, und es bleibt nichts alsdie Rückkehr in den Alltagsstress, dessen Realitätsebenensich immer mehr vermischen. Wie das immer häufigereAufwachen aus einem Traum liest sich stellenweise dasBuch. Dahinter scheint die Frage zu stehen: „Was bleibt“?

Da die Hauptfigur auch Schriftstellerin ist, kann sie auchProgrammatisches verkünden: „Wie stimmen die Jahres-zeiten doch zuweilen mit den Literaturgattungen überein!‚Trage mich ins Märchen! Ins Märchen trage mich! .... Ichwill keinen postmodernen Herbst mehr und keinensozrealistischen Winter!‘ “

Ein erstaunlicher und erfrischender Roman, der den Zau-ber eines ganz eigenen Stils unzweifelhaft hat. Einzig etwaszweifeln läßt sich an den Künsten der Übersetzung. Werunbedingt „Obus“ (für ‚Oberleitungsbus‘ – in Litauen ei-gentlich mehr ‚Trolleybus‘ genannt) und „Berber“ (jederweiß was gemeint ist – aber drücken sich Litauerinnen auchso gewählt aus?) verwenden will, der erscheint allenfallsBEMÜHT um korrektes Wiedergeben. Auch die Verwen-dung des nicht überall in Deutschland gebräuchlichen Wor-tes „Wacker“ (für Pflasterstein?) läßt auf die Verwendungbestimmter Wörterbücher oder Ratgeber deuten.

Angesichts der Freude, einen solchen inspirierendenRoman aber auf Deutsch lesen zu können, spielen derleiRandbemerkungen vielleicht eine geringere Rolle.

(Albert Caspari)

Renata Ðerelytë: Sterne der Eiszeit. Roman. Deutschvon Akvilë Galvosaitë. Rowohlt Verlag, Berlin 2002.315 Seiten, 21 EURO. ISBN 3871344575.

Sonderheft„Litauen“ derZeitschriftOSTEUROPA

Es ist wirklich etwas Besonderes, das Heft 9/10 derZeitschrift OSTEUROPA: Ein Doppelheft, zumersten Mal ein Länderheft „Litauen zu Gast“ und

das Titelblatt schmückt Sledzinskis „Oratorium“, Wilnaals „Feerie von Kirchtürmen und Wolken“. So nenntCzeslaw Milosz dieses Gemälde in seinem Essay „Wilna“,der mit seinen gerade malsechs Seiten vielleicht soetwas wie das Gravitations-zentrum des ganzen Heftesbildet. Und auch das ist un-gewöhnlich für OST-EUROPA. In der Regelwerden hier die „aktuellenEntwicklungen in Politik,Wirtschaft, Gesellschaftund Kultur“ in Osteuropa(was ist jetzt eigentlich„Osteuropa“, wo und wiegrenzt es sich von Mitteleu-ropa ab?) analysiert. So et-was findet sich in diesemHeft auch, etwa RemigiusMisiunas l iteratur-soziologischen Beitrag oderBarbara Christophes ver-gleichende Untersuchungder NationalbewegungenLitauens und Georgiens(dazu unten mehr). Aber den größten Lesegenuss hatte ichbei den Genres, die sich sonst bei OSTEUROPA nichtfinden: Neben dem schon erwähnten Essay von Milosz istes der von Tomas Venclova („Unabhängigkeit“) sowie dieliterarischen Etüden von Laurynas Katkus und FabriceLarat.

Drei dieser vier Texte haben die Hauptstadt Litauenszum Thema, als polnisches Wilna bei Milosz oder litaui-sches Vilnius. Vor der Wiederherstellung der Unabhän-gigkeit Litauens 1990 war hierzulande eigentlich nur diepolnische Schreibweise geläufig. „Eine Herkunft ausWilna, wo sich die verschiedensten Kulturen, Religionenund Sprachen - Litauisch, Polnisch, Russisch, Jiddisch,Weissrussisch und Deutsch - begegneten oder auch zuverdrängen suchten, gilt in Polen noch heute als Auszeich-nung, die alte Wilnaer mit Stolz tragen wie einen funkeln-den Orden. ... Für die Polen ist Wilna ... vor allem «dieWiege der Romantik» (Czeslaw Milosz), der wichtigstenStrömung in der polnischen Geschichte, deren Bedeutungweit über die Literatur hinausgeht. Es ist kein Zufall, dassdas polnische Nationalepos «Pan Tadeusz» von AdamMickiewicz, der in Wilna studierte, mit den Worten be-ginnt: «Litauen, du meine Heimat . . .» „ (Martin Pollack,Neue Zürcher Zeitung, 27. September 2002). Aus dengleichen Quellen dieser romantischen Strömung speist

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sich jedoch auch ein spezifisch litauischer Mythos,für den Vilnius/Wilna, Hauptstadt des Groß-

fürstentums Litauen, zum Symbol scheinbarungebrochener Kontinuität und historischerIdentität wurde. Dieses Litauen war im 14.Jahrhundert eine europäische Großmacht, dievon der Ostsee bis (fast) ans Schwarze Meer

reichte. Dieser Staat war, zumindest vom namens-gebenden Volk und seiner Führung her, heidnisch -

als letzter in Europa. Dafür aber übte er, und das war imdamaligen Europa einmalig, religiöse Toleranz. So konn-ten die Juden, die aus Spanien durch die Inquisition undaus Frankreich vertrieben worden waren, und vor denVerfolgungen in Deutschland, wo viele ihnen die Schuldan der Ausbreitung der „Schwarzen Pest“ gegen Ende des14. Jahrhunderts gaben, geflohen waren, in Litauen Zu-flucht finden. Neben Wilna und Vilnius gab es daher auchdas jüdische Vilne. Bis zum Zweiten Weltkrieg war das«Jerusalem des Nordens», wie die Juden ihre Stadt nann-ten, eines der bedeutendsten Zentren der jüdischen Kulturweltweit.

In diesem Vielvölkerstaat waren die Litauer in derMinderheit. Ihr Adel sprach weißrussisch. Als der litaui-sche Großfürst Jogaila 1386 die schöne polnische Köni-gin Jadwiga heiratete und zum polnischen König gewähltwurde, war der Gipfel litauischer Herrlichkeit erklom-

men. Allein, aus Jogaila wurdeJagiello und der litauische Adel

polonisierte sich im Laufe derZeit selbst, weil der (polnische)Adel die politische Nation despolnisch-litauischen Doppel-staates war. Dieser verschwandEnde des 18. Jahrhunderts nach

den drei polnischen Teilungen fürüber 100 Jahre von der Landkarte.

Wie der aus Litauen stammenden polnischen Nobel-preisträger Czeslaw Milosz, mit dem er seit Jahren einenfreundschaftlichen Dialog über die komplizierten pol-nisch-litauischen Beziehungen führt, warnt der litauischeDichter, Essayist und Literaturwissenschafter TomasVenclova - beide emigrierten zu unterschiedlichen Zeitenin die USA - in seinem Essay vor dem Einfluss „roman-tischer ritueller Gesten“ auf die litauische Politik, die esan Pragmatismus fehlen lasse. Aber er fügt in Klammern- fast ist man geneigt zu sagen, widerstrebend - hinzu,„daß es immer Situationen gab und geben wird, in denendie romantische Geste eine wichtigere Rolle spielt alsrationale Berechnungen.“ Sowohl Solidarnosz als auchSajudis stehen in dieser polnischen romantischen Tradi-tion, wenngleich in einer umsichtigen Form und mitentschiedener Ablehnung jeglicher Gewalt.

Czeslaw Milosz, der als Spross einer polnisch sprechen-den Familie aus Litauen schon viele Jahre die InteressenLitauens vertreten hat, „weiß nicht, was die Litauer inWilna, was vor allem die Schriftsteller denken. Vonwenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie noch nicht lan-ge hier.“ Er fürchtet, dass sie nur einseitig die litauischenSpuren suchen und finden, aber nicht die „emotionaleWahrheit der Menschen, die hier gelebt haben.“ Wennman Katkus literarischen Etüden über die litauischeHauptstadt liest, scheint diese Sorge unbe-gründet. Für Katkus wird der„unsowjetische Geist“ der auf mittelalter-licher Topographie errichteten barockenArchitektur zu einem Widerstands-potential gegen Angriffe „durch das tota-litäre Regime“. Er lässt Bahnhof, Altstadt(die Kirchen mit ihren Türmen!), Universi-tät und die „Unterkünfte“ mit zahlreichen

Textpassagen aus Werken von Tomas Venclova undJurgis Kuncinas, dem Autor der „Mobilen Röntgenstat-ionen“, lebendig werden. Das muss man einfach selberlesen. Die Vielstimmigkeit speziell der Texte vonKuncinas mit ihrem „bunten Mosaik von Sprachen, Dia-lekten, Genres und Sprecharten“ geht in der deutschenÜbersetzung von Akvile Galvosaite natürlich verloren.Ebenso, dass ein „dritter Text - Vilnius selbst - eingewirkthat“. Es muss schon so sein, dass Vilnius Architekturetwas Magisches hat (Milosz). Fabrice Larat begibt sichauf die Spuren der Kindheit des Schriftstellers und Diplo-maten Romain Gary, einer der schillerndsten Figuren derfranzösischen Literatur. Für Larat ist Gary, der 1914 alsRoman Kacev und Mitglied der jüdischen GemeindeVilnius geboren wurde und später nach Frankreich aus-wanderte, eine „europäische Identität“. Geprägt durch diekosmopolitische Atmosphäre seiner Heimatstadt.

Es blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten, dieses Erbedes toleranten „Großlitauen“ zu torpedieren. Polen undLitauen erlangten nach dem 1. Weltkrieg zeitgleich dieUnabhängigkeit. 1920 besetzten polnische NationalistenVilnius. Dass Litauen dann doch seine „historische“Hauptstadt bekam, verdankt es ausgerechnet der Sowjet-union. In der wenigen Monate währenden Schein-selbständigkeit unter sowjetischem Diktat zwischen Hit-ler-Stalin-Pakt vom August 1939 und direkter Annektion1940 bekam es aus dem von der Sowjetunion besetztenOstpolen das Wilna-Gebiet zugeschanzt. 50 Jahre späterwar es dann anders rum. Als sich der Großteil der insge-samt rund eine Viertelmillion zählenden polnischen Min-derheit (bei knapp vier Millionen Einwohnern) im Kampfum die Unabhängigkeit für den Verbleib bei der Sowjet-union aussprach, wurden in Litauen alte Ängste wach.

Das Schicksal des jüdischen Vilne wurde durch denÜberfall der deutschen Wehrmacht 1941 besiegelt. 95Prozent der litauischen Juden wur-den von den Nationalsozialistenermordet - unter tatkräftigerMithilfe litauischer Kollabo-rateure.

Larat findet zwar Garys Ge-burtshaus, aber nach 80 Jah-ren keine Spuren mehr. Dochzurück auf den kleinen schmalenGassen wird plötzlich „eine Vergan-genheit wachgerufen, die vielleicht nie existiert hat“.

Wer Vilnius auf sich wirken lässt, gerät vielleicht inSuchtgefahr. (Klaus Ehrlich)

Litauen zu Gast. Vom Mythos der Mitte ins Zen-trum des Interesses. Heft 9/10 der Zeitschrift OST-EUROPA. Hrsg: Deutsche Gesellschaft für Ost-europakunde, Berlin 2002. Einzelheft 8,50 Euro.Erscheint monatlich. Preis im Abo 75,00 Eurojährlich.

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.23

Sigitas Geda –Gedichte

Sigitas Geda, Jahrgang 1943, ist einer der bekanntesten litauischen Schriftsteller. Er studierteLituanistik an der Universität Vilnius und hat in den

Redaktionen zahlreicher litauischer Zeitungen und Zeit-schriften gearbeitet. Geda ist Lyriker, hat aber auch Thea-terstücke, Librettos, Drehbücher und Gedichte für Kindergeschrieben. Sein erstes Buch „Pedas“ (Fußspuren) er-schien 1966 und sorgte gleich für Aufregung. Inzwischensind etwa 2O Bücher erschienen, darunter auch einigeNachdichtungen aus verschiedenen Sprachen. Natürlichsind auch Gedas Gedichte in andere Sprachen übersetztworden. Sein Buch „Eilerasciai – Gedichte“ (ebenfallsübersetzt von Antonas Gailius) wurde schon im Heft 2/99INFOBALT.DE vorgestellt. Auf der diesjährigen Frank-furter Buchmesse hielt Sigitas Geda die Eröffnungsrede.

Für den vorliegenden Gedichtband hat Antonas Gailiusüber 50 Gedichte und Epitaphe aus Gedas letzten dreiBänden ausgewählt. Sigitas Geda hat sehr moderne Ge-dichte geschrieben, die zum Teil auch grafisch gestaltetsind, so das auch das Schriftbild nicht nur Gestaltungs-merkmal ist, sondern auch von inhaltlicher Bedeutung. Erist ein nationaler orientierter Schriftsteller, der sich inseinen Werken oft auf historische Daten und litauischePersönlichkeiten bezieht. Der Übersetzer hat deshalb inseinen Erläuterungen die Ortsangaben, Personennamenund Geschichtsdaten kurz erklärt und damit zum Ver-ständnis der Gedichte beigetragen.

Geda ist aber auch ein Dichter, der immer wieder auchsich selbst und seine Erlebnisse und Erfahrungen be-schreibt und gerade dabei ist er zutiefst ironisch, manch-mal auch bewußt provozierend, aber mit viel Humor –wie er auch selbst (z.B. auf dem Titelblatt zu sehen) meisthintergründig lächelt – oder doch grinst ? Seine Poesieläßt sich immer wieder lesen und sich bildlich vorstellen.

Neu im Sortiment:Zwei Reisebücher

Anfang der 90er Jahre entdeckten die deutschenReisebuchverlage die baltischen Staaten neu –die meisten der heute erfolgreichsten Bücher in

diesem Sortiment erfuhren bis 1995 ihre Erstauflage.(siehe Reiseführer-Test inINFOBALT-Heft 2/95).Dass der baltische Reise-markt zur Zeit im Wachsenbegriffen ist, zeigt sich vonZeit zu Zeit auch daran, dassnun neue weitere Verlagedas Zielgebiet entdecken.

Ein Beispiel für diese „New-comer“ ist jetzt auch das Buch„Baltische Staaten“ aus demNelles Verlag in München.Die Autoren BarbaraWarning und Tomasz Torbuslegen mit diesem Band, derauch Informationen zum Ge-biet Kaliningrad umfasst, einedurchaus interessante, neueKonzeption vor.

Wannings Schwerpunktrussische Geschichte kommen hier zusammen mit denErfahrungen von Torbus, eigentlich Spezialist osteuro-päischer Kunst- und Kulturgeschichte, der über die Bur-gen des Deutschen Ordens promovierte. Herausgekom-men ist mit 256 Seiten ein sehr kompaktes Buch, das aberoptische Qualitäten nicht vernachlässigt. Ausserdem istes wohl in erster Linie für preisbewußte Kunden konzi-piert, die viel Inhalt relativ wenig Geld bezahlen müssen.

Kleine Einbußen bringt der Lesegenuß mit sich: Dichtgedrängt das Schriftbild, oft viele verschiedene Sehens-würdigkeiten in einem zusammenfassenden Satz unter-gebracht. So sind denn die wichtigsten Stellen FETTmarkiert, sonst würde man wohl wegen fehlenden Absät-zen optisch die Orientierung verlieren. Jeder Zentimeter

Geda mags auch sehr lakonisch und deshalb hat er sichder Epitaphe (Grabinschriften) angenommen , z. B. AUF-SCHRIFT AN DER LEEREN GRABSTELLE EINESSTUDENTEN IM JAHRE 2000

- der Mann, der aus seinem Grabe geflohen ist –

- hier sollte(zwangsweise)begraben werden –

- ein Litauer aus dem Ende des 20.Jahrhunderts -

- vor Schreck ist er –

- 2000 Jahre zurückgesprungen –

- in die urtümliche Hölle -

Aber obwohl Geda auf diese Weise über die Vergangen-heit nachsinnt, ist er auch schon für die Zukunft bereit(und rächt sich gleichzeitig an der Vergangenheit) , wieseine ANTWORT AUF EINE ANFRAGE DERMARSIANER beweist (S.27). Er ist und bleibt aktuellund wird uns sicher noch öfter provozieren, überraschenund erfreuen! (Lauma Zvidrina)

Antwort auf eine Anfrage der Marsianer

der Erbeder Dynastieder LinkshändigenSigitasGedawirdnach der2000-jährigenIsolierungim Reservatder Rechtshändigennicht mehrverfolgtin Litauennachdem Kriegehat zwarder ZeichenlehrerKunickisihnmit der Tafelüber den ausgestrecktenKopfgeschlagen

Sigitas Geda – Gedichte. Aus dem Litauischen vonAntanas Gailius. Verlag Baltos lankos,Vilnius2002. ISBN 9955-429-83-6. 87 Seiten, 7 Euro.

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S.24 INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02

im Buch ist prall gefüllt – allerdings nicht zu Lasten desBildmaterials. Das klar konzipierte Layout nach der De-vise „lieber ein schönes Foto, als drei belanglose“ bietetdem Auge zusätzlich Erholungsmöglichkeiten beimDurchblättern. Die im Buch vorhandenen Karten reichenzur ersten Orientierung völlig aus – wer mehr verlangt,

der wird im Adreßanhang aufleistungsfähige baltische Ver-lage hingewiesen.

Gegenüber dem sonst oft ge-sehenen Aufbau von Reisefüh-rern kommt der NELLES-GUIDE ebenfalls mit neuerStruktur daher: Keine langeVorrede zu verschiedenen Kul-tursparten, Umwelt und Natur,Literatur, Theater oder Wirt-schaft – man konzentriert sichauf einen Ratgeber für das, wasvor Ort Reisende auch selbstsich erschließen können. Sowird Vytautas Landsbergisschon mal schlicht als „Pia-nist“ und Valdas Adamkus als„Umweltpoliker“ bezeichnet.Die politische Gegenwart inden baltischen Staaten wird beiNELLES schlicht als„postkommnistisch“ klassifi-ziert, und wiederholt ist voneiner angeblichen „Selbstauf-

lösung der Sowjetunion“ die Rede, welche den baltischenStaaten die erneute Unabhängigkeit gebracht habe (derMoskauer Putsch gegen Gorbatschow und die RolleJelzins in Bezug auf die baltischen Staaten bleiben uner-wähnt). Das birgt einerseits Nachteile und vielleicht dasGefühl, keinen „kompletten“ Reiseführer vor sich zuhaben, schafft aber andererseits offensichtlich Platz fürneue Entdeckungen und Perspektiven. So bemühen sichdie AutorInnen zum Beispiel aufzudecken, dass dasReiterstandbild des Gedeminas in Vilnius angeblich ausradioaktivem ukrainischen Granit sei.

Seriöser kommen da schon die kleinen Anekdoten be-züglich der Architektur der drei baltischen Hauptstädtedaher – hier wird reichliche Reiseleiter-Erfahrung spür-bar; bis hin zur Erwähnung, welche Sprachen die Betrei-ber welcher Museen zu sprechen in der Lage sind. Aufeben solchem Wissen werden wohl auch die wirklichenNeuentdeckungen beruhen, von denen es im Buch aucheinige gibt: endlich einmal kompetente Aussagen überdie Burganlagen am Ufer des Nemunas (Memel), imnordlitauischen Seda wird eine alte Synagoge entdeckt,die sonst in keinem Reiseführer erwähnt wird, und dieÄnderungen bei den auf digital umgestellten Telefonsy-stemen sind ebenfalls berücksichtigt. Höchst interessantdie als „Features“ bezeichneten gesonderten Abhandlun-gen am Schluß, wo länderübergreifend beschrieben wird:Sangesfreude, Holzbaukunst, baltische Küche und vorallem „vom schwierigen Umgang miteinander“. Jedochhat auch die Freude über diesen für einen Reiseführergroßen publizistischen Mut der Herausgeber Grenzen:über manche hier erwähnte Aussage möchte man gernemitdiskutieren oder mehr Hintergründe erfahren. Viel-leicht bekommen die Autoren ja mal eine Chance, ananderer Stelle mehr zu erzählen.

Auch die Einschätzung der politischen Situation in denbaltischen Staaten, insbesondere das 20.Jahrhundert be-treffend, wirkt sachgerecht und kompetent – in Reise-büchern vielfach keine Selbstverständlichkeit. Leiderschließt diese Beschreibung der Verhältnisse an vielenStellen bei der Jetztzeit – was sich in den 90er Jahren

geändert hat, kommt im Buch kaum vor. Was den prakti-schen Teil angeht (getrennt vom übrigen Inhalt auf „gel-ben Seiten“ untergebracht), so haben die Autoren wohlvor allem die Unterkünfte intensiv getestet – die hierknapp gehaltenen Beschreibungen enthalten wertvolleTipps zur Einordnung und zur Planung der eigenenReise.

Dabei scheut man auch nicht ein kritisches Urteil anscheinbar Arriviertem: So wird die Upper-Class Herber-ge „de Rome“ in Riga mit ungewohnten Attributen be-legt: „verströmt den Charme eines teuren Flughafen-hotels“. Vielleicht liegt diese ungewöhnliche Abqualifi-zierung daran, dass hier wirklich übernachtet wurde,während man sich andere Hotels nur kurz zeigen gelassenhat? Oder der Besuch in Riga liegt länger zurück – das alsTipp für „deutsche Küche“ empfohlene Jever-Bistro gibtes jedenfalls inzwischen nicht mehr. Allerdings hat derLeser den Eindruck, dass die Buchautoren ansonstenwirklich vor Ort waren – ebenfalls leider oft keine Selbst-verständlichkeit.

Gesamturteil: hier sollte vielleicht in erster Linie vomPreis-Leistungs-Verhältnis die Rede sein (der Druckwurde in Slovenien in Auftrag gegeben). Für sein Geldbietet das Buch verhältnismässig viel – vielleicht, bis mandann auf das nächste Buch über die baltischen Staatenstößt, das mehr erzählt. Der aktuelle Kaliningrad-Bezugwertet das Buch ebenfalls auf, und die optisch schöneGestaltung bietet einen guten ersten Gesamteindruck vonden vier beschriebenen Regionen.

Marco Polo entdeckt diebaltische Region

Schon seit Jahren gibt es auch für die baltischenStaaten in der Reihe MARCO POLO ein ReisebuchBaltikum. Frisch neu auf den Tisch erhielten wir

die 5.Auflage, die komplett überarbeitet ist.

Das Erscheinungsbild des kleinen Büchleins im Ta-schenbuch-Format hat sich überraschenderweise gewan-delt: Weg von den oberflächlichen Allgemeinheiten, wiesie vielleicht Geschäftsreisende, die sich für ein, zweiTage vorübergehend mal Baltikum aufhalten, kostenloszugesteckt bekommen. Auch gibt man sich nicht mehrzufrieden mit Informationen, die inzwischen zu Selbst-verständlichkeiten geworden sind. Der neue Aufmachersagt viel über das Motto des Buches: Tipps für Insider.

Die meisten Reisebücher der vergangenen Jahre mußtendavon ausgehen, dass es vielleicht nur wenig andere Mög-lichkeiten für Reisende gab, schnell und zuverlässig Infor-mationen zu den baltischen Staaten zu bekommen. Alsowurden auch grundsätzliche Abhandlungen zur Geschich-te, Musik, Literatur, Umwelt und Natur, Geographie, oderweitere Hintergrundinformationen einbezogen. Schließ-lich mußte Mißtrauen abgebaut werden – es galt als Wag-nis, die östliche Seite der Ostsee zu bereisen.

Die heutige, aktuelle Ausgabe des MARCO POLOprägt einen Trend: Von Estland, Lettland oder Litauenhaben viele inzwischen schon gehört, und hinreisen woll-te man immer schon. Nicht mehr von angeblich historischbedingten Unvermeidlichkeiten ist die Rede, sondernjetzt ist die Rede von „baltischen Tigern“, „Events“ undquirligen Metropolen.

Ein wesentlicher Teil des neuen Konzepts ist den Auto-ren zuzuschreiben, beide aus der journalistischen Bran-che. Birgit Johannsmeier wohnt in Bremen und Riga, JanPallokat in Berlin und Vilnius. Die touristischen Tippskommen also in diesem Fall nicht von gelegentlichenBesuchern der Region, die Reisebücher „von der Stange“

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.25

machen, sondern stehen selbst für einen neuen Typ euro-päischen Arbeitsalltags: sich einlassen auf die baltischePerspektive.

Was ist nun von dem vorliegenden Band zu erwarten?Der positive Eindruck überwiegt. Das Konzept, innerhalbeines platzmässig beschränkten Umfangs das Maximalean Infos zu einem sehr günstigen Preis zu bieten, könnteaufgehen. Vertiefende Lektüre einzelner Sachthemenwird bewußt anderen Büchern überlassen – konkreteHinweise hierauf fehlen allerdings fast ganz. Warum imentsprechenden Abschnitt nur eine aktuelle Neuerschei-nung und drei ältere Bücher Erwähnung finden, könnteals Nachlässigkeit gewertet werden, denn weitere Lektü-re werden alle brauchen, die Interesse an den baltischenStaaten finden.

Inhaltlich bzw. sachlich gibt es nur ganz wenige Schwä-chen. Zwei Beispiele: Das russischstämmigen Menschenin den baltischen Staaten verboten worden sei, ihre Mut-tersprache zu sprechen, ist eine der krasseren Fehlgriffe.Wirklich gemeint sind hier wohl die verschiedenen (teil-weise ungeschickten und wenig souveränen) Methoden,die jeweiligen Landessprachen im geschäftlichen Um-gang wieder einzuführen.

Täuschen könnte auch die Bemerkung: „Nachts ist Alt-Riga fast menschenleer.“ Erstens: das haben wir auchschon anders gehört, je nach Jahreszeit vielleicht. Zwei-tens: Vielleicht sind hier eher die frühen Morgenstundengemeint? Dennoch: Die Autoren vertreten eben persönli-che Erfahrungen, und vielleicht waren sie bei allzu aus-giebigen Abenteuern oder Trinkgelagen eher vorsichtig?„Vana Tallinn“ wird jedenfalls als „estnischer Vodka“bezeichnet – eine mehr als ungenaue Charakteristik.

Dass man baltisches Essen ansonsten nicht nur ertragen,sondern auch geniessen kann, zeigen die eher ungewöhn-lichen (weil landessprachlichen) Speisehinweise: Emp-fohlen werden zum Beispiel „Buberts“ und „Rasols“ inLettland, „Zagareliai“ und „Koldûnai“ in Litauen, „Krin-gel“ oder „Sült“ in Estland. Das macht Appetit!

Auch der Auswahl der Restauranttipps ist anzumerken,dass hier Originalität und Spaß vor Vollständigkeit geht.Die landschaftlichen „Insidertipps“ werden es wohl nichtlange bleiben (wenn man dem Buch einen guten Erfolgwünscht) – aber solche spannende Anreize braucht derGast wohl für seinen Aufenthalt. Nur der jahreszeitlicheVeranstaltungskalender ist leider etwas knapp geraten.Richtig treffend dafür aber das Kapitel „Angesagt“, dasich so noch in keinem anderen Reisebuch gesehen habe:was ist zu beachten, was zu vermeiden? Die estnische,lettische und litauische „Szene“ in Kurzformat.

Vor „betrunke-nen Elchen“ (fin-nische Touristenin Estland) wirdgewarnt, abermanch andererTipp ist wahr-scheinlich nurdiesem unbefan-genen Blickzweier „Gast-bewohner“ desBaltikums zu ver-danken, die west-e u r o p ä i s c h eHauptstädte ebengenauso kennen:so wird beispiels-weise die Qualitätder Aufführungen

Verglichen damit, dass beim INFOBALT-Reiseführer-test 1995 noch 15 verschiedene Bücher einbezogen wer-den konnten, scheint mit wachsendem Touristeninteressedie Vielfalt geringer zu werden bzw. die Lieferbarkeitkürzer. Unter den aktuell im Handel noch lieferbarenReisebüchern, die in früheren Ausgaben desINFOBALT.DE bereits beschrieben wurden, seien des-halb die folgenden hier zur besseren Übersicht nochmalserwähnt:

Thöns: Litauen entdecken – Europas neuer Mittelpunkt imBaltikum. Trescher Verlag Berlin 2001, 14,95 EURO.

Schäfer: Litauen mit Kaliningrad. Reise-Know-How-Ver-lag Bielefeld 2000. 14,90 EURO.

Baedeker Allianz Reiseführer Baltikum. Estland, Lettland,Litauen und das Kaliningrader Gebiet. Mairs GeografischerVerlag, 4.Auflage 2001. 19,95 EURO.

Gerberding/Gulens/Kuhn: Baltikum – Litauen, Lettland,Estland. Du Mont Verlag Köln, 5.Auflage 2002. 22,50EURO.

Striegler: Litauen. Praktischer Reisebegleiter für Natur- undKulturfreunde. Meyer Reiseführer 1998, Ausgabepreis da-mals: 36,80 DM.

Das ebenfalls von uns als empfehlenswert eingestufte Reise-buch des Michael-Müller-Verlags „Baltische Staaten“ sollAnfang 2003 in Neuauflage erscheinen.

NELLES GUIDE: Baltische Staaten. Estland, Lett-land, Litauen, Kaliningrad. Nelles Verlag München2002. 256 Seiten, 10,90 EURO. ISBN 3-88618-983-X.

MARCO POLO: Baltikum. Estland, Lettland, Li-tauen. Mairs Geografischer Verlag, Ostfildern 2003(5. Komplett neu erstellte Auflage). 128 Seiten, 7,95Euro. ISBN 3-8297-0258-2.

in der lettische Nationaloper Riga hervorgehoben. - EinReiseführer für „Einsteiger“ – für einen Preis, der einenFehlkauf fast ausschließt.

(Albert Caspari)

Henning Mankell - Hunde von Riga -als Hörbuch

Warum einenKrimi lesen, wennman ihn auchhören kann ?

Ein Hinweis vorab: Bei einigen häuslichen Arbeitenist ein Hörbuch ein guter Zeitvertreib, ohne Zeit zuverlieren – während einer Autofahrt nur bedingt zu

empfehlen, da man erstens vielleicht zu gebannt zuhörtund zweitens einige Schusswechsel auch die Umgebungirritieren könnten !

Natürlich können 280 Seiten (soviel hat der Krimi alsBuch - im INFOBLATT 2/94 als Buchtipp vorgestellt )nicht in 2 Stunden vorgelesen werden, aber trotz dernotwendigen Kürzungen kann die Handlung gut verfolgtwerden. Nach einer kurzen Einführung der Hauptfiguren(es fehlt hier allerdings sowohl der schwedische, als auchder lettische Akzent der Sprecher) geht es in dieser Hör-Version gleich nach Riga, wohin Kommissar Kurt Wall-ander gebeten wird, um angeblich bei der Aufklärung des

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S.26 INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02

Mordes an seinen soeben erst gewonnenen Freund MajorKarlis Liepa zu helfen.

In Riga trifft er im lettischen Polizeihauptquartier aufdie beiden Obersten Jazeps Putnis (sein Nachname let-tisch = Vogel) und Juris Murniers, von denen laut derWitwe Baiba Liepa (die für Wallander an Bedeutunggewinnt) der eine ein Kondor (gefährlicher Raubvogel)und der andere ein Kiebitz (harmloser Singvogel) ist –aber wer ist wer ?

Kommissar Wallander wird schnell in den Strudel derEreignisse kurz vor dem Putsch in der Sowjetunion hin-eingerissen und erfährt den Umbruch in Lettland in denJahren 1990/1991 hautnah , da er sich zunehmend persön-lich betroffen fühlt. Die politische Lage in Riga und dieStimmung der Einwohner ist gut wiedergegeben, derVerlauf der Handlung durchaus glaubwürdig und bis zumletzten „Countdown“ (auf dem Dach eines Warenhauses)spannend – da unvorhersehbar.

Das Henning Mankell ein guter Krimiautor ist, wissenwir schon lange, das seine Bücher auch gute Hörspielvor-lagen sind ist eine neue, aber sehr angenehme Erfahrung,die ich gerne weitergebe.

Leider fehlte hiereine sprachkundigeBeratung, so das (zu-mindest für lettischeOhren)einige sehr be-liebte Namen wieMikelis und Inesefalsch gesprochenwerden und auchHintergrundgeräuscheauthentischer seinkönnten. Bei den gu-ten Recherchen, die derAutor offensichtlichdurchgeführt hat, be-vor er seine Hauptfi-gur nach Riga reisenlässt, ist das ein Wer-mutstropfen, bei demsonst so fesselndenHörerlebnis. Ein guterGeschenktipp !(Lauma Zvidrina)

Henning Mankell: Hunde von Riga. Hörspielbearbeitung :Moritz Wulf Lange. Regie und Musik : ChristianHagitte und Simon Berling. Der hörverlag, München. 2 CD (68 und 52 min) 2002, 17,90 EURO (auch als MCfür den selben Preis erhältlich). ISBN 3-89584-598-1 für die CD, ISBN 3-89584-598 für die MC. Ebenfallsvon Henning Mankell im Hörverlag erschienen sind: Die falsche Fährte, Die fünfte Frau, Die Brandmauer,Mittsommermord, Der Mann der lächelte, Mörder ohne Gesicht.

ESTONIA - Tragödie einesSchiffsuntergangs

te nicht an Drohungen und Unterlassungsappellen. Bei-spielhaft dagegen das merkwürdige Verhalten einesKommissionsmitgliedes, der den wichtigen „Atlantik-bolzen“, ein Beweisstück , das nach mühsamen offiziel-len Tauchgängen geborgen worden war, an Ort und Stellewieder ins Meer zurückwarf.

Auch wenn die Indizien und Beweise für ein Bomben-attentat noch nicht ausreichen, so besorgniserregend sinddie geschilderten Verhaltensweisen von Sicherheitsbe-hörden, Kontrollinstitutionen, Kommissionen und Ver-antwortlichen. Da ist viel Befangenheit im Spiel, Mani-pulationen, mangelnder Aufklärungswille. Die wirkli-chen Hintergründe zum Untergang der Estonia schlagendie Phantasie eines jeden Kriminalautoren zu diesemThema. Im übrigen beruhten deren Detailkenntnisse bis-her auf eben diesen Nachforschungen.

Aktuelle Meldung vom 18.11.2002, DIE WELT

„Staatsanwaltschaft stellt „Estonia“-Ermittlungen ein

Hinweise auf ein Bombenattentat als Ursache für denUntergang des Schiffes haben sich nicht bestätigt

Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat nach einemBericht des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ ihreErmittlungen wegen Mordverdachts im Zusammenhangmit dem Untergang der Ostseefähre „Estonia“ einge-stellt. Dem Bericht zufolge haben sich Hinweise auf einBombenattentat als Ursache für den Untergang des Schif-fes, das von der Papenburger Meyer-Werft gebaut wor -

Strafanzeige „gegen Unbekannt wegen Mordes anüber 850 Menschen“ bei der deutschen Staatsanwaltschaft. Diesmal geht es nicht um einen weite-

ren Kriminalroman zum Thema Schiffsuntergang, son-dern um die wirklichen „Ungereimtheiten“ in diesemZusammenhang. Die Journalistin Jutta Rabe gibt nichtauf, den Untergang der Estonia in der Ostsee vor achtJahren zu untersuchen und aufzuklären. Alle noch vor-handenen Puzzle-Stücke sammelt sie in ihrem neu er-schienenen Buch zusammen. Ihre Nachforschungen le-gen den unmissverständlichen rechtlichen Schritt nahe,denn nach ihren Kenntnissen hat die damalige internatio-

nale Havariekommission mit ihremAbschlussbericht nur halbe Arbeit gelei-stet.

Der offizielle Bericht erklärt den Unter-gang mit Wartungsmängeln und techni-schem Versagen. Alle anderen Hinweiseauf kriminelle Machenschaften wurdenignoriert. Am Anfang stand damit sogardie Meyer-Werft in Papenburg als einHauptbeschuldigter im Zentrum derSchuldzuweisungen. Die Estonia war imEmsland konstruiert worden.

Um aber den kriminellen Hintergrundrund um die Estonia zu beleuchten, führteJutta Rabe auch mehrere Tauch-

expeditionen zum Wrack in 80 m Tiefe durch. Trotz derLage in internationalen Gewässern wurde sie dabei be-sonders von schwedischer Seite heftig behindert. Es fehl-

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.27

den war, nicht bestätigt. Das hätten Untersuchungen vongeborgenen Wrackteilen durch einen Gutachter der Tech-nischen Universität in Braunschweig ergeben. Struktur-veränderungen in den Metallproben seien schon beimBau des Schiffes verursacht worden. Bei der schwerstenzivilen Schiffskatastrophe nach dem Zweiten Weltkriegam 28. September 1994 waren 852 Menschen ums Lebengekommen, darunter fünf Deutsche. Die Proben hatteeine private Expedition im August 2000 vom Grund derOstsee geborgen. Die Teilnehmer hatten zwei Gutachtenvorgelegt, nach denen sich an den Proben Merkmale vonSprengstoffexplosionen gefunden haben sollen, und An-zeige erstattet. Im offiziellen Untersuchungsbericht hattedie internationale Havariekommission vor allemKonstruktions- und Baufehler an der Bugklappe alsUnglücksursache in den Vordergrund gestellt. „

Obwohl das Braunschweiger Ergebnis keineExplosionsspuren an den Estonia-Metallfragmenten na-helegt, kann davon ausgegangen werden, dass die Sa-che noch nicht ausgestanden ist. Dafür gibt es mittler-weile zu gegensätzliche Expertenmeinungen. JuttaRabe wird voraussichtlich ihre Arbeit fortsetzen.

(Jens Olaf Walter)

Mavrik Vulfson: ImZwiegespräch mitdem Leser. BaltischeSchicksale

Mavrik Vulfson, ein lettischer Jude aus einerRigaer Familie mit Königsberger Wurzeln istvielen als Journalist und Politiker bekannt. Als

Mitorganisator der „Volksfront“ kämpfte er aktiv um dieWiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands und war1989 Abgeordneter des Obersten Sowjets. Dabei spielteauch die Umdeutung der Geschichte eine wesentlicheRolle: Die Moskauer Zentralmacht sträubte sich, dieExistenz des Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt an-zuerkennen, da eine solche Anerkennung denOkkupationscharakter des sowjetischen Vorgehens belegtund die Mythen der „Volksrevolutionen“ zerstört hätte.

Nun hat Vulfson ein historisches Buch zum Zustande-kommen des besagten Paktes vorgelegt, das auf lettischund russisch bereits erschienen ist. Eins ist sicher: Alle,für die Vulfson vorher nur ein Name war, werden nach derLektüre des Buches auch wissen, wie er aussieht. Schonauf dem Einband ist das lächelnde Konterfei des Autorenauf die berühmte Karte der Sowjetischen und deutschenInteressensphären sowie weitere mit dem Molotov-Ribbentrop Pakt in Verbindung stehende Dokumentemontiert. Den Rückumschlag ziert eine Montage vonsechs Bildern, die den Autoren jeweils in Begleitung vonPolitprominenz zeigen: Gorbatschow, Helmut Schmidt,Vaira Vike-Freiberga, und Algirdas Brasauskas, um nurdie Wichtigsten zu nennen.

Kollagenhaft geht das Buch dann auch weiter. Zunächsterfährt der Leser in vier Sprachen, dass der Autor seinBuchprojekt mit Marion Gräfin von Dönhoff besprach.Nicht genug damit: Zwei Emails von Ende 2001 sindneben ein Bild montiert, das die Gräfin mit Mavrik

Vulfson zeigt. Wem dies an Bildmaterial noch nichtgenügt, der wird im Mittelteil des Buches fündig. Dortfinden sich weitere 8 Seiten, die uns unter anderemzeigen, dass Vulfson auch alle wichtigen Protagonistender baltischen Unabhängigkeitsbewegungen kannte - al-lerdings nicht immer mit richtigem Namen: eine MarijaLaurestin wird es in der estnischen Volksfront kaumgegeben haben, wohl aber eine Marju Lauristin.

Was aber gibt der Band her, wennwir uns den Blick nicht durch dievielen Bilder verstellen lassen? DerAutor kündigt nicht wenig an: Kei-ne „sterile, chronologische Wider-spiegelung der Ereignisse soll derText werden, sondern vielmehr eine„Akzentierung [sic!] der besondersumstrittenen Probleme dieser wi-derspruchsvollen Zeit [...]“. Es istdann wohl auch in der Ablehnungsteriler Geschichtswissenschaft be-gründet, dass dem Autoren Litera-tur und Forschungsstand fast voll-ständig unbekannt sind. WederRoberts: „The Unholy Alliance“von 1989, noch Pietrows grundlegende deutschsprachigeStudie zur sowjetischen Außenpolitik von 1983 (Stalinis-mus, Sicherheit, Offensive) noch Gorodetskys „GrandDelusion“ von 1999 finden Aufnahme in sein Buch.

Dies allein reicht allerdings noch nicht aus, die unglaub-liche Fehlerhaftigkeit im Detail zu erklären, die das Buchdurchzieht. Von der grossen Anzahl an Tippfehlern (dererste schon auf der Titelseite!) und dem offenbaren Feh-len einer sprachlichen Redaktion des Textes einmal abge-sehen: Wie kann es sein, dass zu Beginn des 20. Jahrhun-derts 300.000 Russen Lettland verließen, wenn wir zweiSätze vorher erfahren haben, das es kurz zuvor nur 146.000Russen in Lettland gegeben hatte? (S. 38) Warum datiertVulfson die Wiedererlangung der Unabhängigkeit derBaltischen Staaten auf das Jahr 1980 und die ersten freienWahlen auf 1988? Und woher stammt das Zitat, mit demKurt Tucholsky angeblich die Niederlage des ZweitenWeltkriegs kommentierte? Tucholsky nahm sich schon1934 das Leben!

Neben solchen offenkundigen Sachfehlern finden sich inder Darstellung eine Reihe von ärgerlichen Übertreibun-gen oder Vereinfachungen, etwa wenn die BaltischenStaaten „den Forderungen der Großmächte der Ententefolgen und sich dem ‘Kordon Kordinal’ [sic!]“ anschließenmussten (S. 11f.), wenn viele Generation vor der Umsied-lung der Deutschbalten bereits ihre „Verlettung“ begann(S. 33), oder wenn der Autor für das Jahr 1939 zwei Blöckefeststellt: die Westmächte und den „Stahlblock“. (S. 45)

Auch irritiert mitunter der Sprachgebrach. Der vomAutoren verwendete Begriff Baltendeutsche etwa ist einideologisierter Terminus aus der Nazizeit, der im Balti-schen nur ein zufälliges Attribut, im Deutschen aber daseigentliche Wesen sieht. Die Selbstbezeichnung lautetdaher umgekehrt: „Deutschbalten“. Interessant auch, dassVulfson den umtriebigen Exilletten Andrejs Urdze, aufdessen Verdienste er mit Recht hinweist, zu einem „Bal-ten-Deutschen“ macht.

Dies alles ließe sich vielleicht noch verschmerzen, wenndas Buch wenigstens in den großen Linien mit Neuemaufwarten könnte. Kann es aber nicht. Die in anekdoten-haftem Stil vorgetragenen Ereignisse um das Jahr 1939tragen weder zur Debatte um verpasste Gelegenheiten,Hitler einzudämmen, etwas bei, noch zur Frage überStalins Verhalten. Wenn Vulfson als neue Meinung aus-gibt, dass Stalin über den bevorstehenden Angriff weit-

Jutta Rabe: ESTONIA - Tragödie eines Schiffs-untergangs. Delius Klasing Verlag, Bielefeld, 1.Auflage 2002, 240 Seiten. ISBN 3-7688-1267-7.

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S.28 INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02

Die Radiosendung mit baltischen ThemenBaltische Stunde

aus mehr Informationen zugespielt bekommen hatte, alses die sowjetische Historiografie jahrelang glauben ma-chen wollte, so zeigt dies nur aufs Neue seine mangelndeLiteraturkenntnis. In der westlichen Geschichtsschrei-bung war diese Ansicht immer präsent, in Russland wirdihr spätestens seit 1995 größte Aufmerksamkeit geschenkt(Sekrety Gitlera na stole u Stalina [Vinogradov]). Eshandelt sich hier also nur um Handbuchwissen, währenddie eigentliche Frage, warum Stalin die Warnungen inden Wind schlug, auch bei Vulfson nicht thematisiertwird.

Auch quellenmässig ist die Untersuchung viel wenigersensationell, als der Autor glauben machen will. Bereitsveröffentlichte Dokumente ignorierend (nur beispiels-weise seien genannt: Semirjaga (Hg.): Sekretntyedokumenty iz osobych papok. In: VI (1993), H. 1, S. 3-22;König: Das deutschsowjetische Vertragswerk von 1939und seine Geheimen Zusatzprotokolle. Eine Dokumenta-tion. In: OE 39 (1998) 413-458; Rosenbusch, Schützler,Striegnitz: Schauplatz Baltikum. Szenarium einer Okku-pation und Angliederung. Dokumente 1939/1940. Berlin1991) verweist er auf einen eigenen Dokumentenanhang.Als Dokumente werden hier jedoch auf Miniaturgrößeverkleinerte Fakzimile-Abdrucke der Akten des HitlerStalin-Paktes verstanden, die - mit künstlerischem An-spruch? - kreuz und quer übereinander liegen und daherkaum zu lesen sind: Der Autor versucht somit wohl dieGlaubwürdigkeit seiner Quellenbasis, zu belegen, derLeser aber darf sie hier im Einzelnen nicht nachvollzie-hen. Gänzlich unbegreiflich ist, dass der Autor in weite-ren Anhängen auch zwei eigene Aufsätze und einenBeitrag von Vestermanis in der gleichen Montagetechnikwiedergibt.

Wirklich neu ist daher eigentlich nur der in einemweiteren Anhang wiedergegebene Nachruf, den Frau vonHase über ihren Mann, den Widerständler General-Leut-nant Paul von Hase verfasst hat. Wie aber bezieht er sichzum Rest des Buches? Die Bemerkung Vulfsons, „welchewohlwollende Position der Widerstand in Bezug auf diebaltischen Staaten hatte“ wäre sicher eine eigene Unter-suchung wert. Er hat aber keinerlei Bezug zu dem vorlie-

genden Dokument und ist daher als Überleitung etwasschwach. Wir haben es also mit einem kollagenartigenWerk zu tun, das seine Flickteppichstruktur nie verliertund inhaltlich — sehen wir von der veritablen Fotogaleriedes Autoren einmal ab — kaum Neues zu vermitteln hat.Wozu wurde es geschrieben? Der Rezensent vermag esnicht zu sagen. (David Feest)

Nicht nur lesen, sondern auch hören!

Seit August 2000 in Bremen auf Sendung - alle vier Wochen donnerstagsjeweils von 18.00-19.00 Uhr, und zwar im Raum Bremen auf UKW 92,5 oder imKabel auf 101,85.Programmverantwortliche ist Aina Urdze, Tel. 0421-5976526.Anregungen, Tipps, Musikwünsche, Hinweise auf interessante Ereignisse sindgenauso gern gesehen wie aktive Mitarbeit!Gäste aus Estland, Lettland oder Litauen, Life-Interviews von interessantenEreignissen, oder unsere beliebten Rubriken wie „Sprachkurs“, „baltischeNachrichten“, „Poesie“, und vieles mehr. Wir stellen regelmässig musikalischeNeuerscheinungen Estlands, Lettlands und Litauens vor und berichten vonEreignissen mit baltischen Bezügen, nicht nur aus Bremen.Möchten Sie einmal als Studiogast über Ihre Projekte oder Erlebnisse berich-ten? Rufen Sie uns an - wir laden Sie herzlich ein.

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Mavrik Vulfson: Im Zwiegespräch mit dem Leser.Baltische Schicksale. Mit Blick auf den ZweitenWeltkrieg. 100 Tage, die den Frieden zerstörten.Splitter der geheimen Diplomatie 1939-1941. Wirsind Christen. Epilog. Riga, Hamburg, Rostock 2002

Baltische Länderaus deutscher Sicht

Lange Zeit musste, wer die Geschichte der baltischen Länder im Überblick studieren wollte, zudrei Büchern greifen, von denen zwei nicht mehr

jüngsten Datums waren. Standardwerk für die Zeit biszum Zweiten Weltkrieg war Reinhard Wittrams „Balti-sche Geschichte“ von 1954. Diese hatte zwar den Nach-teil als umgearbeitete Fassung seiner „Geschichte desbaltischen Deutschtums“; doch sie setzte einen deutlichenAkzent auf die deutschbaltische Geschichte und bezogkonsequenterweise das historisch andersartige Litauennicht mit ein. Dafür entschädigten aber der elegante undluzide Stil des Werkes sowie die auch in Bezug auf dieEsten und Letten erstaunliche Sachkenntnis des Autoren.

Das zweite Buch war Georg von Rauchs „Geschichte derBaltischen Staaten“, das geschickt synchron die eigen-ständigen Staaten Estland, Lettland und Litauen behan-delt. Mit dem Jahr 1939 hörte der Wirkungsbereich derdeutschbaltischen Historiographie auf. Um das Schicksalder baltischen Staaten in der Sowjetzeit musste manRomuald J. Misiunas und Rein Taageperas „The Baltic

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.29

Riga, das Tor zum Baltikum –wir bringen Sie hin!

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S.30 INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02

States. Years of Dependence 1940—1990“ von 1993bemühen.

Seit 1998 hat sich die Lage teilweise geändert. Der vonGert von Pistohlkors herausgegebene Band bot eine neueÜbersicht über den estnisch und lettisch besiedelten Teil,wobei neue Forschungen berücksichtigt wurden und denMehrheitsvölkern eine etwas größere Aufmerksamkeitgeschenkt wurde. Als Beitrag für die Reihe „DeutscheGeschichte im Osten Europas“ handelt es sich jedochauch hier um eine Geschichte der Deutschbalten, diekeine Auskunft über den Zeitabschnitt von derSowjetisierung bis zur „singenden Revolution“ gibt.

Michael Garleff, seinerseits ein Schüler Georg vonRauchs, hat nun versucht, die Lücke zu füllen. Herausge-kommen ist ein gut lesbarer kurzer Band, der einenÜberblick über je-nen geographischenRaum anstrebt, derheute (übrigens inVerwendung einesLudendorffschenKriegszielbegriffs)häufig als „das Bal-tikum“ bezeichnetwird: Estland, Lett-land und Litauen.Für ein populärwis-s e n s c h a f t l i c h e sWerk ist diese Her-angehensweise si-cher richtig. Dennobwohl man die hi-storisch andere Ent-wicklung Litauensbis zum erstenWeltkrieg betonen muss, gilt das Interesse vom heutigenStandpunkt aus meistens allen drei Staaten. Das machtallerdings den Aufbau des Bandes nicht so leicht. Dennerstens fällt Litauen bis zur Zwischenkriegszeit ebendoch aus dem Kanon heraus und muss gesondert betrach-tet werden. Zum anderen besteht die Gefahr vonWiderholungen, die Garleff versucht zu umgehen, indemer für alle drei Staaten Typisches exemplarisch an einemStaat darstellt.

Garleff hat sich gewiss nicht zum Ziel gesetzt, diebaltische Geschichtsschreibung zu revolutionieren. Auchfehlen ihm zur eingehenden Integration der in den Län-dern selbst vertretenen Perspektiven die Sprachkenntnis-se. Doch bleibt auf dem kurzen Raum für eingehendereForschungsdebatten auch kein Platz: Auf Fußnoten undLiteraturverweise ist bewusst verzichtet worden. Außer-dem muss betont werden, dass Garlef sich stillschwei-gend von einigen deutschbaltischen Sichtweisen löst. DieRussifizierung etwa erscheint hier nicht mehr nur als einnationalitätenpolitischer Frontalangriff gegen dieDeutschbalten, sondern wird auch von ihrer modernisie-renden Seite her gesehen, von der die Mehrheitsvölkerdurchaus profitierten. Auch die Abschnitte über die so-wjetische Zeit, in denen der Autor im deutschsprachigenRaum Neuland betritt, sind ausgewogen und sachlich.

So kann der Band allen empfohlen werden, die einenschnellen Überblick über die komplexe Geschichte derbaltischen Provinzen und Staaten suchen. (David Feest)

Michael Garleff: Die baltischen Länder. Estland,Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegen-wart. Reihe Ost- und Südosteuropa, (Geschichteder Länder und Völker). Friedrich Pustet VerlagRegensburg 2001, 272 Seiten, 24,90 Euro.

DeutschbaltischeKirche undNationalsozialismusBereits 2001 im Böhlau-Verlag erschien dasBuch „Deutschbalten, Weimarer Republikund Drittes Reich“ (siehe auch weitere Bei-träge in INFOBALT.DE Heft 1/02 und 2/01). Hierin fasst Herausgeber MichaelGarleff zusammen, was die Baltische Histo-rische Kommission bisher zusammengetra-gen hat. Diesmal untersucht Laima Urdzeden dort enthaltenen Beitrag von LorePoelchau zu „Christentum und Nationalso-zialismus im Spiegel der deutschbaltischenkirchlichen Presse der 30er Jahre“.

Frau Poelchau durchforscht mehrere Jahrgänge deroffiziellen deutschen kirchlichen Presse in Lettland (KblL) und Estland (KblE), um darzustellen,

wie diese Presse die Gegensätze „Christentum“ und „Na-tionalsozialismus“ wiedergibt. Genau in diesem Vorha-ben liegt aber die Schwierigkeit, das angegebene Quel-lenmaterial zu untersuchen, um daraus eine Aussage zupräsentieren. In beiden Kirchenblättern wird mit Vorbe-halt über die nationalsozialistische Ideologie und derenAusbreitung berichtet, nämlich nur dann, wenn NS-Maß-nahmen die Lehre der christlichen Kirche und ihre Exi-stenz zu beeinträchtigen oder streitig zu machen drohten.Obwohl die Auswahl der Nachrichten aus der deutschenPresse schon eine Art eigene Meinungsäußerung darstel-len könnte, scheint der Versuch, immer „objektiv“ be-richten zu wollen, doch keine Orientierungshilfe für dieLeser zu sein. Beiträge aus Deutschland in der deutsch-baltischen kirchlichen Presse fast ohne Kommentar ge-druckt.

Es gibt dort auch keine genauere Analysen der wichtig-sten Entwicklungen – Kirchenstreit in Deutschland undSieg der Bewegung oder der Ausbreitung des nationalso-zialistischen Gedankengutes. Hierbei kommt der Ver-dacht auf – wie die Autorin es auch vermutet - dass dieRedaktion der Kirchenzeitungen, besonders in Lettland,die eigene Meinung erst erwerben muss. Das Denken inFeindbildern beeinflußt aber die Entwicklung der eige-nen Meinungsbildung sehr. Die anvisierten Leser sind indiesem Punkt sich selbst überlassen, ob sie kritisch genugsind, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Zuerst werden die technischen Angaben gemacht:Umfang, Erscheinen, Redaktionskollegium (in wech-selnden Zusammensetzungen), Leserschaft, Zielsetzungund Inhalt. Als Aufgabe der Kirchenzeitung wird dieVerkündigung der ewigen Wahrheit des Evangeliums analle Deutschbalten verstanden. Dieser Kurs wird dannauch peinlich genau eingehalten. Es gibt keine Wiederga-be – mit wenigen Ausnahmen – der aktuellen politischenEreignisse, wederaus Lettland nochaus Deutschland.Eine Kirchen-zeitung hat nichtsgemeinsam mit derTagespresse. Ist esNaivität, dass die

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.31

Kirchenzeitung sich selbst ganz bewußt eine thematischeEinschränkung auferlegt, oder sind die hehren Ziele dafürverantwortlich?

Diskussionen der 30er JahreIn den 20er Jahren erschienen in den Kirchenblättern

kritische Stellungnahmen zu verschiedenen politischenund geistigen Themen. Ab 1932 werden die Beiträgeinhaltlich auf die eigene Volksgruppe bezogen, z.B.„Staat-Volk-Kirche“, „Christentum-Volkstum“,„Deutschgläubigkeit“ usw. Als 1933 und 1934 in Deutsch-land respektive Lettland autoritäre Regimes an die Machtkamen, verstummen allmählich solche Diskussionen, bisauf Fragen des evanglischen Bekanntnisses und des all-täglichen Lebens der deutschen Kirche. Ausnahmen stel-len Enteignungen von deutschem Eigentum dar, zumBeispiel die des Domes in Riga. Die offizielle Antwortdes Bischofs auf solches Unrecht war eine Mahnung zurFriedfertigkeit und christlichem Großmut. Die Kirchen-leitung gibt hier ein edelmutiges Beispiel der Konfliktlö-sung. Andererseits wird in der Rubrik „Kirchliche Chro-nik“ – Nachrichten aus der lettischen Kirche, alles kom-mentarlos gedruckt, was von der lettischen Regierungkommt. Traditionell verhält man sich als Deutschbalteloyal dem lettischen Staat gegenüber.

Der ranghöchste Geistliche der deutschen ev.-luth. Ge-meinden von Lettland war Bischof Poelchau (das Bucherwähnt leider keine weiteren Informationen zur namens-gleichen Autorin). Sein Resumée der ersten 10 Jahre des1920 gegründeten Kirchenblattes, wie in diesem Beitragauf Seite 248 wiedergegeben ist, bedarf mancher Erklä-rung. Was war das für eine Kampf um das Recht derkirchlichen Selbstverwaltung der Deutschen? Worüberhat es eine allgemeine Einigung mit den lettischen „Glau-bensgenossen“ gegeben und wie sah die aus? Warum fandein so eifriger Aufbau kleiner deutscher Gemeinden aufdem Lande ausgerechnet jetzt statt? Die Voraussetzungenhierfür werden von Frau Poelchau leider an dieser Stellenicht weiter erläutert: eine genaue Beschreibung der juri-stischen und politischen Lage der Deutschen und derlettischen Kirche sowie deren Aufbau nach 1920 in Lett-land. So aber bleiben die Probleme für wirklich Aussen-stehende unverständlich.

Angst vor Assimilation?Was die Leserschaft der Kirchenzeitungen betraf, so

hatten die Redakteure große Sorgen, dass die Arbeiter,Handwerker und Kleinunternehmer, welche die Mehr-zahl der Deutschen ausmachte, doch nicht erreicht wer-den könnten, weil sie angeblich ihrer Meinung nach durchEntfremdung und Mischehen ihrem Volkstum verlorenzu gehen drohten. Wares Angst vor Assimi-lation, Abwehr gegenIntegration in die letti-sche Gesellschaft?

Die Grundhaltungdes Kirchenblatteszeugt von einem opti-mistischen Aufbau-willen trotz schwieri-ger und bedrückenderVerhältnisse der letz-ten Jahre. Leider gibtdie Autorin Poelchauauch in diesem Punktkeine Erklärung fürdie veränderten Ver-

hältnisse. Einigkeit und Zusammengehörigkeit werdenpraktiziert und beschworen. Für alle Pastoren war wohlein konservatives Wertesystem bindend und bestimmtedie Richtlinien ihrer Aufgaben in den Gemeinden undinnerhalb ihrer eigenen Volksgruppe. Stets wird dieZusammengehörigkeit und damit auch das gemeinsameSchicksal der Deutschen beschworen.

In Ausübung sei-nes Amtes schreibtBischof Poelchau andie Gemeinden, wieer die Umsiedlungim Oktober 1939versteht. DieDeutschbalten soll-ten sich nicht auf denFührer berufen, son-dern sich allein Got-tes Willen fügen.Eine Haltung, diesich auch in einerrealistischen Ein-schätzung der poli-tischen Lage und ei-ner sowjetischenZukunft des Balti-kums manifestierte.Bei Poelchau gibt eskein Hinterfragen, weder der politischen Macht, nochderen Absicht, weil die Loyalität zum lettischen Staat fürdie meisten eine existenzielle Sache war. Also gab eskeine Wahl – nur eine mögliche Entscheidung.

Mit großer Aufmerksamkeit wird im Kirchenblatt dieEntwicklung des Kirchenstreits in Deutschland beobach-tet und dokumentiert. Die Vorgehensweise dabei ist abermanchmal verwunderlich. Mal findet hier „die Regierungder nationalen Erhebung“ (gemeint sind die Nationalso-zialisten) Zuspruch, und alles Gesagte gegen sie beruhtauf Propaganda und Hetze der Bolschewisten und Aus-landsjuden.

Dann wieder weist das Auftreten und die Forderungender Deutschen Christen auf Zwiespalt und drohendeGefahr innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirchehin, und wird deshalb kritisch wiedergegeben. Mit denDeutschgläubigen kommt eine extreme anti-christliche„Dritte Konfession“ ins Spiel. Den „Arierparagraphen“findet man verhängnisvoll, druckt als Antwort eine sehrpositive Darstellung des jüdischen Volkes, befaßt sichaber, in einem der seltenen politischen Berichte, mit derReichswahl vom 12.11.1933 und rechtfertigt den Sieg„der Bewegung“ mit formalen Argumenten. Vielleichtist es die eigene Unsicherheit, was die nationalsozialisti-sche Regierung betrifft, die anvisierten nationalen und

Die 1822 eingeweihte Herz-Jesu-Kirche in Riga ist mit ihrem 27mhohen Glockturm das größte aus Holz gebaute Gotteshaus in Lett-land. Schon 1638 stand hier eine Kirche - gebaut mit Steinen ausLübeck und in Schweden gegossenen Glocken.1688 mußte eine neue Kirche gebaut werden, nachdem die erste1653 beim Rückzug des Heeres von Zar Alexej niedergebranntworden war. Aber bereits 1710, diesmal beim Rückzug des schwedi-schen Heeres, brannte auch die zweite nieder.1733 wurde dann die dritte fertig, diesmal in Fachwerkbauweise, mitgrüner Kuppel und vergoldetem Hahn. Hier diente 1767 bis 1769Johann Gottfried Herder als Pastor Adjunkt. Das Gotteshaus gingaber in der Nacht vom 11. auf den 12.Juli 1812 zugrunde, und soentstand der heute erhaltene Bau.1993 wurde die Kirche umgebaut, und 1992 konnte die Orgelrestauriert werden. Heute finden hier regelmässig auch deutsch-sprachige Gottesdienste statt.

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S.32 INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02

Abo-TIPPAn alle Abon-nenten: GebenSie uns bitteÄnderungen derAnschrift recht-zeitig bekannt -nur so erreichtSie zuverlässigdas nächsteHeft

sozialen Bemühungen des Dritten Reiches für das deut-sche Volk oder die eigenen Vorurteile, die für ein wider-sprüchliches Auftreten sorgen. Jedenfalls kommt ausDeutschland wenig Hilfe, dass die Deutschen Kirchen-kreise in Lettland hätten unabhängig urteilen können.

Klare Stellungnahmen:Mangelware

Klartext kommt aber aus den eigenen Reihen mit der„Kundgebung der Pastoren der Deutschen Evang. Lutheri-schen Gemeinden Lettlands“ (im Kirchenblatt erwähnt imDezember 1933), die Maßstäbe setzt zu Fragen des christ-lichen Glaubens, der Kirche und der „gottgesetzten“ Ord-nung. Allein Gottes Wort erhebe den Anspruch in allenbrennenden Tagesfragen die Richtung zu geben, und imgesamten öffentlichen Leben solle Gottes Wille anerkanntwerden. Dies wird fortan die Basis der Haltung des Kirchen-blattes, mit den eigenen Problemen als Schwerpunkt.

Weil man der Bekennenden Kirche in der Gesinnungnäher steht, druckt man in vollem Umfang das „Wort andie Gemeinden“, das die Dritte Bekenntnissynode Juni1935 in Augsburg beschlossen hatte. Auch kirchen-feindliche Nachrichten werden weiterhin gedruckt, alssolche aber bezeichnet – so zum Beispiel Beiträge dersogenannten „deutschen Christen“, die an ein deutsch-gefärbtes Christentum glaubten, oder der „Deutsch-gläubigern“, die sich an der Religion der alten Germanenorientierten. Der Leser erfährt von der Anklage gegenOtto Dibelius im August 1937, so wie von der Überfüh-rung des Pfarrers Martin Niemöller in ein Konzentrations-lager im März 1938.

Der letzte Abschnitt der Abhandlung Poelchau’s, derüber den Einfluss und die Auswirkungen des Nationalso-zialismus auf die deutsche Volksgruppe in Lettland be-richten soll, tut dies nicht. Zwar wird berichtet, dassPastoren weiterhin in der deutsch-baltischen Volksge-meinschaft arbeiten, und bis 1937 den Verband derdeutschen Jugend leiten. Aber wie nun der Nationalsozia-lismus in derselben Volksgruppe sich manifestiert undwie die Kirchen und deren Pastoren darauf reagieren, wirdnicht erzählt.

Das Kirchenblatt befaßt sich in diesem Zeitabschnittweiterhin nur mit kirchlich relevanten Themen, auchwenn es um Berichte aus den anderen existierenden Zei-tungen geht. So erfahren wir nichts davon, was für völki-sche Organisationen, auf Druck des Nationalsozialismus,in Lettland entstanden sind, und in wieweit diese diekirchliche Arbeit beeinträchtigt haben.

Die letzten 5 Seiten des Beitrags von Poelchau sind demestnischen Kirchenblatt gewidmet und beschäftigen sichnicht, wie angekündigt, mit Lettland. Was inhaltlich überdas estnische Kirchenblatt geschrieben wird, ist eine Wie-derholung dessen, was man schon aus dem lettischenKirchenblatt erfahren hatte.

Leider bleibt der letzte Teil ohne Beweise aus der schrift-lichen Quelle, d.h. aus dem Kirchenblatt weil das, wie wirschon am Anfang erfahren hat, gar nicht möglich war.Vielleicht hätte man es auch bleiben lassen können.

Obwohl die Zielsetzung nicht ganz gelungen ist – dieUntersuchung bleibt ein Torso – hat man doch einenwertvollen Einblick gewinnen können, wenigstens im

kirchlichen Bereich einer deutschen Volksgruppe, was dasDenken, Handeln, Glauben und Hoffen in der Diaspora injeder ungewissen Zeit betraf. (Laima Urdze)

Michael Garleff (Hrsg.): Deutschbalten, WeimarerRepublik und Drittes Reich (Band 1). Herausgegebender Karl Ernst von Baer-STiftung in Verbindung mitder Baltischen Historischen Kommission. Böhlau Ver-lag Köln 2001, 17,90 EUR. ISBN 3-412-12199-1.

Rezensionen zu zwei weiteren Beiträgen aus diesemBuch sind bereits erschienen. Zu Alfred Krolls „AlfredRosenberg - der Ideologe als Politiker“ in INFOBALT.DEHeft 1/02, und zu Lars Bosse „vom Baltikum in denReichsgau Wartheland“ in INFOBALT.DE Heft 2/01.

Estnische NixenAnlässlich einer Tagung über die baltischen Staaten

sagte mir einer der Organisatoren kürzlich am Mittags-tisch, wie erstaunt er über die unterschiedliche Selbstdar-stellung Estlands und Litauens sei. Seine Vorkenntnisseseien nicht groß, aber er habe zwei Werbefilme der beidenLänder gesehen. Die Unterschiede könnten kaum krasserausfallen: Der Film über Litauen sei sehr romantischgewesen: er habe hauptsächlich von Wäldern gehandelt,die von Elfen, Zwergen und anderen Fabelwesen bevöl-kert gewesen seien. In dem estnischen Counterpart aberhabe es nur Mobiltelefone, Tigersprünge derComputerisierung sowie eindrucksvolleWirtschaftswachstumsraten gegeben.

Zwei verschiedene Länder, zwei verschiedene Welten.

Ist das wirklich so? Ein in Hans Magnus Enzensbergers„Anderer Bibliothek“ erschienenen Buchs zeigt nun auchden deutschsprachigen Lesern und Leserinnen, dass Est-land nicht nur durch e-Regierung und per Handy bezahl-bare Bustickets definiert ist. Das Buch behandelt diemystischen Wasserwesen, die Nixen, von denen gerade inEstland eine besondere Artenvielfalt existiert. Autor istdas estnische AllroundtalentEnn Vetemaa, Jahrgang1936, ein Chemieingenieur,der sich in seinem Land auchals Komponist, Stücke-schreiber undFernsehjournalist einen Na-men gemacht hat.

Nun sind Sagen über Meer-jungfrauen eigentlich nichtsNeues: wir kennen sie be-sonders aus den nordischenLändern — wer kennt nichtAndersens Meerjungfrau —, die ältesten finden sich be-reits in der griechischenAntike. Doch sind dies ebennur Sagen. Vetemaa dage-gen macht uns in seiner

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INFOBLATT BALTISCHE STAATEN 2/02 S.33

Pionierstudie mit den Fakten und den Methoden ihrerErforschung bekannt.

Und da hat er wirklich Neues zu berichten. Oder hättenSie gewusst, wie eine „nackttittige Wuchtbrumme“(nudimamillaris paidaphila) von einer „minilesbischenHeulsuse“ (lamentosa minilesbica) zu unterscheiden ist,und was diese wieder mit einer „waschversessenen Rubbel-fee“ zu tun haben? Die wissenschaftliche Präzision derNamen deutet bereits darauf hin: Hier geht es nicht darum,hübsche Geschichten zu erzählen (obwohl die Anekdotender estnischen Landbevölkerung über ihre Begegnungenund Erlebnisse mit diversen Nixen zu den hübschestenTeilen des Buches gehören). Hier geht es vielmehr darum,in der klassischen Form des botanischen oder zoologi-schen Bestimmungsbuches das Phänomen der Nixe typi-sierend und taxierend zu erfassen. Insgesamt kommtVetemaa auf 15 Arten. Wir erhalten darüber hinaus wich-tige Hinweise darüber, wel-che Geräte der Nixen-forscher bei sich tragen soll-te (auf jeden Fall einen Blei-stift) und welcher Tag sichfür die Nixenforschung be-sonders eignet (der Don-nerstag). Sprachlich erinnertdas Ganze dann auch an einpositivistisch geprägtes na-turwissenschaftliches Lehr-buch des späten neunzehn-ten Jahrhunderts. Auf dieseWeise mag das Buch viel-leicht doch als Beispiel est-nischer Nüchternheit ge-paart mit Gelehrtenfleiß gel-ten, obwohl Vetemaa dieSympathien, die er für seineForschungsobjekte empfin-det, kaum verhehlen kann. Nicht zufällig gilt auch dasHauptinteresse des „Najadologens“ jenen Nixen, die wieFrauen aussehen, mitunter wie sehr schöne Frauen.

Das Buch ist schon einige Jahre alt. Das Original er-schien in tiefster Sowjetzeit 1983. Wer interessiert undschnell genug war, konnte schon Mitte der achtziger Jahreeine deutsche Ausgabe des Verlag „Volk und Welt“ ergat-tern. Sie bietet die Textgrundlage der aktuellen Ausgabe.Hier liegt dann auch der einzige kleine Makel. Wie in derDDR allgemein üblich, wurde der deutschen Fassung (vonGünter Jäniche) nicht die estnische Originalfassung, son-dern die russische Übersetzung zugrunde gelegt. Wirhaben es also mit der Übersetzung einer Übersetzung zutun. Doch wiegt dieser Mangel nicht so schwer, hält mandagegen, wie viel für die neue Ausgabe hinzugekommenist. Die Berliner Zeichnerin Kat Menschik hat das Buchnicht einfach illustriert, sondern erheblich erweitert. Wäh-rend es in der estnischen Originalausgabe nur etwa einDuzend Abbildungen gab, sind es nun 648. Und sie sindein fortlaufender Kommentar des Textes. Indem Posen,Stil bis hin zu den Gesichtszügen der einen oder anderenNixe dem heutigen Lesepublikum durchaus bekannt vor-kommen dürfte, wird dem bewusst etwas hölzern gehalte-nen Text bisweilen ein origineller Bezug zur Gegenwartzur Seite gestellt. Auf der anderen Seite parodiert Menschikgekonnt den Lehrbuchstil des Werkes. So finden wirwunderschöne ausklappbare anatomische Tafeln der Ni-xen oder holzschnittartige, altertümliche Abbildungen.

Auch versteht Menschik es, die Mischung von Präzisionund Unfug noch zu verstärken. Schon die biedere pseudo-wissenschaftliche Exaktheit des Originaltextes macht denUnsinn seines Inhaltes um so deutlicher fühlbar. Diebeigefügte Landkarte aber macht Estland insgesamt zu

einem virtuellen Traumland, in dem sich Saaremaa mittenauf dem Festland befindet, Rakvere und Haapsalu Nach-barstädte sind und Orte wie Suuri-Jaari, Jährva oderKurresmare existieren. Auch hat sich die Zeichnerin nichtgescheut, den Text umzuarbeiten und ihm neue Detailshinzuzufügen: Enn Vetemaa dürfte etwa sehr überraschtsein, aus der deutschen Ausgabe des Buches zu erfahren,

dass sich Nixen auchtätowieren.

Um es kurz zu sa-gen: das Buch ist wun-derlich und wunder-bar zugleich und ver-führt zu stundenlan-gem Blättern. Fürjene, die sich für dieMythologie der balti-schen Völker interes-sieren ist es ebenso einMuss, wie für alle, dieeinfach nur Freude anschön gemachten undgut illustrierten Bü-chern haben.

Zuletzt sei noch aufein Vorurteil verwie-sen, das durch das vor-

liegende Buch endgültig aus der Welt geschaffen werdensein sollte: Nixen, zumindest die estnischen, tragen keineFischschwänze. Sie haben Beine. (David Feest)

Die Nixen von Estland. Frei nach Enn Vetemaa bearbei-tet und illustriert vom Kat Menschik. Die andere Biblio-thek. Eichborn, Frankfurt am Main 2002, 648 Abb. 336Seiten. Preis: 19,50 EUR, die limitierte Sonderausgabekostet 29,50 EUR.

Ausstellungen

7. März - 3. Mai 2003

Körper in derbaltischen Fotokunst

(un)dressedvol. 2: Estland

9. Mai - 5. Juli 2003

“Myself, Friends, Loversand Others“

Galerie GIEDRE BARTELT,Wielandstr. 31, 10629 Berlinwww.giedre-bartelt-galerie.deGeöffnet: DI-FR 14 - 18.30 UhrSA 11 - 14 Uhr

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