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UNTER BRÜDERN
Als sie Teenager waren, trieben sie
nur Sport und hingen ab. Dann rief sie
Allah. Heute sind sie junge Männer und
voll heiligen Ernstes. Die Geschichte von
Serkan, Ahmet, Rahim und Abd al-Hadi –
neuen Fundamentalisten des Islams in
Deutschland.
Von Jan Rübel, Erschienen in "Berliner
Zeitung Magazin", Nr. 70/2013
An diesem grauen Spätnachmittag lässt
sich Gott nicht blicken. Nicht draußen,
in diesem von Müllcontainern und totem
Busch bestandenen Hinterhof, durch den
Serkan eilt. Es ist Frühling. Oder schon
wieder Herbst? Kerzengerade und dennoch
den Blick nach unten gerichtet, erklimmt
Serkan rasch die Treppe im Hinterhaus in
Berlin-Neukölln. Wie kurz er atmet, wie
sich die Tiefe, im ersten Stock
angekommen, vor ihm öffnet. Der
Gebetssaal. Zwei Jungs in Fliegerjacken
eilen an Serkan vorbei, „www.Einladung
zum Paradies.de“ und „Don’t Panic, I’m
Islamic“ steht auf ihren T-Shirts. Er
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saugt am Eingang geschäftige Stille ein:
Kinder spielen lautlos auf dem weiten
Teppich Fangen, Alte lehnen an der
Ostwand. Unterm silberhellen Licht der
zahllosen 18-Watt-Neonröhren riecht es
nach frisch gewaschenen Tüchern und
Weihrauch. Nach Moschus und Mann. Nach
ausgetretenen Socken. Und nach gebratenem
Lamm.
Gehetzt lässt Serkan, 20, seinen Blick
wandern. Heute ist nicht sein Tag. Da war
der arabische Friseur, der seinen Bart
abrasierte – weil Serkan doch noch nicht
so gut Arabisch versteht, sein Bärtchen,
es wuchs für den Flaum zwei Jahre lang.
Und dann war da dieser Mann vom
Verfassungsschutz, der sich ihm in den
Weg gestellt hatte. Berichte solle er
schreiben, jede Spur könne hilfreich
sein. „4000 Euro haben sie einem Kumpel
von mir geboten“, wird er später
erzählen. „Der Typ hat mir alle meine
früheren Telefonnummern gezeigt. Was
wollen die von mir?“
Am Saaleck, unweit der Predigtkanzel,
schart sich eine Gruppe um einen Mann im
Schneidersitz; Serkan eilt hinzu. „Als
ich aus Ägypten wieder nach Deutschland
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heimkehrte“, sagt der Mann, „da taten mir
die Augen weh. So viel Nacktheit, so
wenig Scham!“ Ferid Heider, 33, Prediger,
mustert seine Zuhörer beim Islam-
Unterricht des „Islamischen Kultur- und
Erziehungszentrum“, dem IKEZ:
milchgesichtige Kinder in
Trainingsanzügen, Jugendliche in breiten
Rapperjeans und noch dralleren Basecaps –
und junge Männer, graue Stoffhosen, die
Knöchel so frei gerollt, wie es schon
Muhammad der Prophet wegen des lästigen
Wüstensandes angewiesen hatte, mit Bärten
aller Art. „Ihr sollt Bärte tragen, um zu
zeigen, dass Ihr Muslime seid“, mahnt
Ferid Heider. „Ich wette, dass ich bei
jedem Bart auf der Straße erkennen kann,
ob er einem Muslim gehört oder nicht. Die
Demut macht den Unterschied. Kümmert euch
nicht, wenn sie in der Klasse über euch
scherzen: Eure wahren Freunde sind in der
Moschee.“ Serkan lehnt sich an die Wand.
Jetzt ist er wirklich angekommen.
Ferid Heiders Murmeln erinnert an
Stimmbruch, das macht ihn jünger. Er
beugt sich vor. „Die Gefährten des
Propheten wollten immer die Schnellsten
und Besten bei den guten Taten sein“,
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raunt er. Der Tod klopfe so schnell an
die Tür. „Es könnten eure letzen Tage
sein, nutzt sie also. Vergesst nicht, was
ihr Allah versprochen habt.“ Sein rechter
Daumen schnellt in die Höhe, er zitiert
die siebte Sure des Koran, Vers 5: „Allah
kennt das Innerste der Brüste. Er weiß
alles von euch.“
In einer Viertelstunde ist Abendgebet.
Noch Zeit also für ein paar Anliegen,
mehrere Finger steigen hoch. „Darf ich
Judo machen?“, fragt ein Teenager. Ferid
Heider schmunzelt. „Klar, ich habe früher
selbst Karate trainiert, der Koran
verbietet das nicht.“ Ein anderer will
wissen: „Darf man Insekten töten?“ „Ja,
aber nur schädliche, und das schnell.
Mäuse im Haus schon, das sagte der
Prophet, aber keine Ameisen und Bienen.“
Serkan meldet sich: „Was mache ich, wenn
sich eine Frau für den Islam
interessiert?“ Ferid Heider, große Augen,
rotbraunes Haar auf etwas gelblicher
Haut, lehnt sich zurück. „Tja, verweise
sie am besten an die Frauen in der
Moschee.“
Wer hier sitzt, will die Wahrheit
wissen. Ist weniger auf der Suche nach
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theologischem Wissen, sondern nach
Glauben. Einen, der den Alltag regelt,
mit einem Daumen, der klar nach oben oder
nach unten weist. Diskussionen gibt es
kaum. Nicht, dass der Prediger sie
unterbinden wollte. Aber seine
Koranschule ist eine Art Vorlesung; nur
sitzen vor ihm nicht nur Studenten,
sondern auch Hauptschüler. Sie alle
lauschen einem sehr konservativen Islam,
den Ferid Heider lehrt – mal tritt er im
IKEZ auf, mal im Interkulturellen Zentrum
für Dialog und Bildung (IZDB) in Berlin-
Wedding oder hin und wieder in der
Neuköllner Nur-Moschee: alle unter der
Beobachtung des Verfassungsschutzes. Mit
den Honoraren finanziert er sein
Arabistik-Studium an der Freien
Universität Berlin. Ferid Heider,
religiös ausgebildet bei einer den
islamistischen Muslimbrüdern nahe
stehenden französischen Hochschule,
gründet mit den Predigern Abd al-Adhim
Kammous und Nasr al-Isa in Berlin ein
Dreieck charismatischer junger
deutschsprachiger Imame, die für eine
radikale Hinwendung zum Islam
missionieren; die als Richtschnur fürs
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21. Jahrhundert das Leben Muhammads des
Propheten und seiner Gefährten aus dem
frühen Mittelalter vorgeben. Ihre Lehre
mutet schlicht an, und mit ihr füllen sie
Säle wie kaum eine andere religiöse
Organisation. Sicherheitsdienste schauen
ihnen dabei über die Schulter: Mit
Grundgesetzverletzungen, Gewalt oder gar
Terror haben die drei nichts zu tun. Aber
sie predigen in einem Milieu, dem mancher
Terrorwillige entsteigt. Der sich von
ihnen schließlich lossagt, weil sie Hass
und Ignoranz verdammen. Und immer wieder
Hausverbote gegen jene aussprechen, die
in ihren Augen übertreiben; wie ein
Motor, der heiß läuft.
Kurz vor dem Abendgebet noch ein
kleiner Höhepunkt. Rahim, 20, der seinen
deutschen Namen nicht nennen will, laufen
Tränen die Wangen herunter. Vorne bei
Scheich Ferid steht sein Zwillingsbruder,
er spricht die Schahada, das
Glaubensbekenntnis. „Es gibt keinen Gott
außer Gott“, sagt er, schielt von der
Seite zu seinem Bruder. „Muhammad ist der
Gesandte Gottes.“ Und wird in diesem
Moment Muslim, neun Monate nachdem sein
Bruder Rahim konvertierte. Beide eilen
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zueinander, greifen nach sich, bleiben
wie versteinert stehen, inmitten einer
Traube von Gratulanten. Serkan lächelt
abseits leise.
Alle stehen auf. Einige Besucher
fragen, was der Reporter hier vorhat.
„Wir vertrauen Ihnen nicht!“, sagt ein
Mann, Anfang 20, ganz ruhig. In seiner
braunen Kutte ähnelt er einem
Franziskaner. „Sie alle wollen den Islam
doch nur niederschreiben.“ Die anderen
schauen weg. Serkans Knopfaugen blitzen
neugierig auf.
Auf dem Weg zur U-Bahn schart sich
eine handvoll Jungs um Rahim und Abd al-
Hadi, wie er seit heute heißt. Sie reden
laut durcheinander, eilen durch die
Sonnenallee, vorbei an Bars und
Wettlokalen; der Schritt ist zackig. Wie
anders dagegen die Menge auf dem
Bürgersteig: Ihr Rhythmus ist langsamer
und doch irgendwie schneller. Weicher.
Aus einem Café dringt süßer Rauch von
Wasserpfeifen. „Du musst standhaft
bleiben“, sagt Ahmet zu Rahim. „Sie wird
das nie verstehen.“ Rahim hat sich von
seiner Freundin getrennt, „Allah
verbietet den Kontakt zu Frauen vor der
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Ehe“. Rahim fasst sich an den Kopf. „Sie
ist total sauer. Wenn ich ihr vom Koran
erzähle, hört sie weg.“ Ahmet schaut
grimmig. „Das hast du für Gott getan. Mit
der Versuchung kommst du schon klar.“
Ahmet ist eine Autorität unter den Jungs.
Er ist schmächtig, fein laufen die Züge
in seinem Gesicht zu einer Denkerstirn
zusammen. Ahmet hat gerade Abi und
Zivildienst hinter sich – und von einer
saudischen Stiftung ein Stipendium, zum
Religionsstudium in Riad. Der Koffer ist
schon gepackt.
Die Besucher in Ferid Heiders
Koranschule sind Kinder einer neuen
Strömung – des Neofundamentalismus.
Früher war der Islamismus politisch,
wollte Gesellschaften umkrempeln. Die
Jungs hier aber interessieren sich für
die Geschehnisse in Ägypten und Libyen
nur bedingt; ihre Heimat ist Deutschland.
Für sie ist Religion privat, und sie
trägt christliche Züge, die neu für den
Islam sind: die Angst um Stärke und
Schwäche des Glaubens, den Trend zur
Religiosität, die Betonung des
Individuellen und das Interesse am
Selbst. Er hat mit der Zeit verstanden,
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sagt Serkan, worum es in der Sache mit
den Mädchen geht. „Der Koran lehrt den
Blick zu senken.“ Es ist der nächste
Morgen, er durchstreift Gropiusstadt im
Südosten Berlins: weiße Wohnblocks in
Endlosschleife. Die Familie war kurz vor
seiner Geburt aus Kreuzberg hierher
gezogen, als erste türkische der
Trabantenstadt. Serkan ist unterwegs zur
Arbeit in einer Kita: er lässt sich als
Erzieher ausbilden. „Das hat mit meiner
Religion nichts zu tun, mir macht
Sozialarbeit Spaß.“ Auf der
Erzieherschule sind fast nur Frauen.
„Manche Jungs belegen dort anfangs nur
Seminare, um an die Mädchen ranzukommen“,
lacht er. Und er? „Na, ganz normal. In
meinem Kopf habe ich Klick gemacht. Ich
bin locker mit ihnen, Mann, nur denke ich
dabei nie an das Körperliche.“
Nie?
„Okay, am Eingang zur Moschee darf man
mal kurz rüberschauen zu den Frauen.
Alles andere ist Sünde.“
Was macht junge Männer wie Serkan,
Rahim und Ahmet so keusch?
„Weil Verbote wie Dämme sind. Sie
schützen das gute Leben, wie es Muhammad
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der Prophet vormachte.“
Warum?
„Weil sich am besten jedes Verhalten
auf eine Norm bezieht – und unsere Norm
ist Muhammad, wir kennen keinen, der ihn
toppen kann. Außerdem trägt jeder einen
gewissen Teil an Liebe mit sich, die ihm
gegeben wurde. Die konzentriert er besser
auf die Ehe.“
Hat Liebe etwa ein Gewicht?
Serkan kratzt sich am Hinterkopf.
„Gott regelt alles. Es gibt doch
Sympathie auf den ersten Blick, oder? Man
muss ja nicht schon vor der Heirat auf
dem Top-Niveau der Liebe sein. “ Er sei
doch kein Detektiv.
Am Park passiert Serkan die Gropius-
Gesamtschule. Zwei Sicherheitsleute
patrouillieren am Eingang. Er mustert
sie, als wäre er vor etwas auf der Hut.
„Islam wird in meiner Familie nicht
bewusst gelebt, meine Eltern sind
säkular“, sagt er und streicht sich über
den lilafarbenen Sportanzug. Den Glauben
gefunden habe er dort drinnen, er zeigt
auf das grauflache Gebäude.
Bis zur zehnten Klasse besuchte er den
Bau. „Damals herrschte echter Krieg.“
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Stühle flogen gegen Lehrer, „mit
gehangen, mit gefangen“, beschreibt er
seine Schulzeit. „Wir hatten eine Clique,
und wir haben uns damals voll isoliert
von den Deutschen.“ Die „Krassen“ unter
ihnen seien es auch gewesen, die ihn zum
Islam brachten. „Wir wurden aufmerksam
auf geheime Treffen der Hizb al-Tahrir.“
Serkan und seine Gang wunderte es, dass
man sich privat traf und nicht in einer
Moschee, und dass die Handys
ausgeschaltet werden sollten. „Aber
spannend war es anfangs schon.“ Die
Tahriris sind in Deutschland verboten,
sie wollen hoch hinaus: eine weltweite
Kalifatsherrschaft. „Die redeten ständig
nur darüber, wo überall unsere Brüder
gefoltert werden. Sollen die ihren Staat
doch allein machen.“ Selbst Schwarzfahren
sei erlaubt, hätten die behauptet, weil
Deutschland kein islamischer Staat ist.
„So ein Quatsch.“
Die Jungs verloren die Lust an
islamischer Revolution, sie zogen weiter,
in eine echte Moschee. Und dort erwischte
es ihn. Das war vor vier Jahren. „Ich
hatte unbewusst darauf gewartet, dass man
mich ruft, ohne Plan.“ Die Stille. Die
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Gemeinschaft im Gebet. Der Plan. Zehn
Mann war die Clique stark. Drei wurden
religiös, „die einzigen, die beruflich
etwas geworden sind. Die anderen zogen
weiter und hängen noch heute ab“.
Es sind oft nicht die Verlierer, die
zurück ins Frühmittelalter streben, die
Schulabbrecher und Halbstarken. In
Deutschland bildet sich eine neue
Jugendbewegung heraus. Kein cooler Pop-
Islam ist unter ihren Anhängern angesagt,
sondern strenger Regelkodex. In einer
Studie des Bundesinnenministeriums aus
dem Jahr 2007 hatten sich bereits 44
Prozent aller muslimischen Jugendlichen
als fundamental erklärt, die Religion sei
ihr zentrales Orientierungssystem. Und
vier Jahre später kommt eine
Ministeriumsstudie zum Ergebnis, unter
befragten deutschen und nicht deutschen
Muslimen zwischen 14 und 32 Jahren lasse
sich eine Subgruppe identifizieren, die
als „streng Religiöse mit starken
Abneigungen gegenüber dem Westen,
tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne
Integrationstendenz“ bezeichnet werden
könne. „Diese Subgruppe umfasst in der
Teilstichprobe der deutschen Muslime rund
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15 Prozent und in der Gruppe der
nichtdeutschen Muslime rund 24 Prozent.“
Die Besucher von Ferid Heiders
Koranschule hat niemand gefragt. Aber
einige von ihnen meinen es jedenfalls
ernst mit ihrem Glauben – und ihrem
Berufsweg. Serkan will unbedingt
Sozialarbeiter werden. Rahim und Abd al-
Hadi studieren Jura, Ahmet plant ein
Leben als Theologe. Religion ist für sie
ein Code. Und das Leben ein Ritual.
In Serkans Kopf klopft gerade die Sure
26 an. Gebannt hört er der Rezitation auf
seinem MP3-Player zu, die hohen Häuser
und engen Seitenstraßen verwandeln
Neukölln in einen Tunnel. Es ist ein paar
Wochen später, Serkan schlendert zur
Moschee. „Ich höre gar keine Musik mehr,
das war eine Entwicklung. Je mehr
Koranlesungen ich lauschte, desto weniger
Verlangen hatte ich nach Musik. Ich quäle
mich nicht mehr.“ So viele Songtexte voll
schlechten Inhalts, oder Liebe. „Die
Leute fangen ja an zu weinen, kriegen
Kummer. Da ist zuviel Emotion.“ Von den
Suren aber, davon kriegt er nicht genug.
Vor dem Unterricht im IKEZ schaut Serkan
noch in einem kleinen Parfümladen vorbei,
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hunderte kleine Flaschen stehen in
schmalen Regalen. Es gebe vier Dinge,
sagt Serkan, die dem Propheten wichtig
waren, die zu seiner Sunna gehörten: „Die
Schamhaftigkeit, schöne Düfte, die
Vermählung und das Zähneputzen.“
Im Laden trifft er Younes, einen
Kumpel von Ferid Heiders Koranschule.
„Hast du schon das neuste Stück von
Mishari Ibn Rashid al-Afasi gehört?“,
fragt Serkan, und beide zücken ihre
Player. Die Jungs von der Koranschule
tauschen Rezitationen wie Panini-
Fußballbilder. Und mögen es gesellig:
„Treffen wir uns zum Bundesligagucken?“,
fragt Serkan. Seine neue Gang hat vor
zwei Wochen ein interreligiöses
Fußballturnier organisiert, Handreichung
bei einem Straßenfest und
Nachbarschaftshilfen stehen bald an. Man
ist streng und brav zugleich.
Vor dem Unterricht hat Serkan noch
eine Verabredung mit seinem Lehrer. Er
kniet auf dem Teppich, vor ihm ein Koran.
Doch Serkans Augen sind geschlossen, er
singt die Sure aus dem Kopf. „Trage vor,
im Namen deines Herrn, der geschaffen
hat“, summt er auf Arabisch. Der Koran
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ist ihm ein liturgischer Text, seine
Lesung ein Gebet. Serkans Stimme dehnt
die Buchstaben, schwingt sich auf, hält
inne und endet tief, als würde er von
weit weg singen. Wer lernt, den Koran
richtig zu rezitieren, sagen die
Gelehrten, der versteht auch besser
seinen Sinn. „Das ist ja schon ganz gut“,
lobt Scheich Ferid am Ende. „Du musst
aber noch die Buchstaben
unterschiedlicher betonen.“ Irgendwann
will Serkan ein Hafiz sein, wie sein
Lehrer. Einer, der den Koran auswendig
kennt. Der festhält, was ihm wichtig ist.
In der Koranstunde selbst spricht
Ferid Heider immer wieder aus, was ihn
bewegt: In 65 Minuten sagt er heute 21
Mal „Allah“ und 55 Mal „Muhammad“ – stets
mit dem Zusatz „Sallah Allah Alleihi Wa
Sallam“, Gott preiste und grüßte ihn.
„Die unterste Glaubensstufe im Islam ist
eine verdammt wichtige“, sagt er. „Sie
bedeutet, den Dreck, der andere Menschen
stört, auf der Straße wegzuräumen.“ Er
blickt in die Runde. „Warum ist Neukölln
dann so schmutzig?“ Jeder Muslim solle
der Gesellschaft nutzen. „Ihr sollt
arbeiten, euch einbringen. Es ist schon
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komisch, wenn manche Leute fünf Mal am
Tag in der Moschee sitzen. Ein besonderer
Glaubensbeweis ist das nicht.“
Integration ist für niemanden hier
eine Frage. Die aktuelle Studie aus dem
Bundesinnenministerium, wonach die
religiös Extremen integrationsunwillig
seien, sie widerspricht der Realität in
diesem Saal: Alle sehen sich als Teil des
Landes, ihres Landes, beanspruchen ihren
Platz. Parallelgesellschaften verachten
sie. Die Frommsten unter den religiösen
Muslimen, die Hardliner, verhalten sich
ziemlich deutsch: Halten es gern korrekt
und mit der Disziplin. Reden nur Deutsch
miteinander und lachen kaum. Als Ferid
Heider 15 wurde, war Schluss mit lustig.
Dem irakischen Vater und der polnischen
Mutter passte es nicht, dass Ferid jeden
Tag kiffte, in den Straßen von
Charlottenburg lungerte. Sie schickten
ihn für ein Jahr in eine ägyptische
Gastfamilie, eine disziplinierende
Auszeit. An Religion dachten sie nicht.
Doch aus dem Jahr wurden drei. Zurück kam
ihr Sohn mit einer Mission.
Scheich Ferid schaut in die Runde.
„Ihr seid Vorbilder! Euch geht es in
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Deutschland so wie Muhammad in Mekka.
Anfangs stand er allein mit seinem
Glauben, und er sammelte mehr und mehr
Anhänger.“ Integration ist für Ferid
Heider selbstverständlich. Und sie ist
auch Schmierstoff für die Mission. In
jedem Menschen sieht er eine Seele, die
gerettet werden kann.
Am Ende seiner Lektion steht Ferid
Heider auf, gleich beginnt das
Abendgebet. „Ferid…“, murmelt Serkan und
zeigt auf das kleine Funkmikro am Revers.
Beide grinsen. Ferid Heider nimmt es
schnell ab. Einmal hatte ein Imam in der
Nur-Moschee nach seiner Predigt das Mikro
mit aufs Klo genommen; live lauschten 200
Brüder über die Lautsprecher mit.
An der Garderobe räuspert sich zaghaft
ein Teenager, er schaut seinen Imam
unsicher an. „Mein Vater will meiner
Schwester die Heirat verbieten. Darf er
das?“ Die Frage zieht sofort drei, vier
Zuhörer an. Scheich Ferid setzt sich noch
einmal auf den Teppich. „Ja, er darf Veto
einlegen. Aber nur mit einer islamischen
Begründung.“ Klar, zwischen Frauen und
Männern herrsche im Islam
Gleichberechtigung, „aber nicht mit
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identischen Rechten, sondern angepasst an
die Natur“. Er drechselt jetzt jedes
Wort. „Der Mann hat wegen seiner
körperlichen Stärke mehr
Führungskompetenzen. In der Familie soll
er im Zweifel das letzte Wort haben.“ Die
Jungs sind ganz Ohr.
Was hat denn Muskelkraft mit
Erziehungskompetenz zu tun?
„Frauen sind in der Regel emotionaler,
und Männer agieren eher rational.“
Steht das im Koran?
„Das sagt mir meine Erfahrung.“ Er
fragt: „Ist immer alles, was altmodisch
ist, schlecht?“ Es klingt trotzig.
In den folgenden Monaten macht sich
Serkan rar. Er wechselt zweimal die
Handynummer, beantwortet keine Mails.
Dann plötzlich ein Anruf. „Komm am
Sonntag in die Nur-Moschee. Da gibt es
ein Mega-Event.“ Serkan ist ein
Organisator. Einer, der Kongresse und
Seminare in der fundamentalistischen
Szene ganz Deutschlands zusammenstellt.
Einer, der in seiner Freizeit islamisch
netzwerkt. Durchs Land fährt, Brüder
mobilisiert, Predigern lauscht.
Mal gehen er und seine Freunde zu
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Ferid Heider, für den Islam und Moderne
nicht im Widerspruch zueinander stehen –
auch wenn er in kumpelhaftem Ton die
Regeln vergangener Zeitalter bemüht. Mal
zu Abdul Adhim Qammous, der ruft und
singt und schreit bei seinen Predigten
vor Begeisterung; den evangelikalen
Predigern im US-Fernsehen nicht
unähnlich. Oder sie ziehen zu Nasr al-
Isa, der redet ihnen zwar ein wenig dröge
und monoton, gilt aber als besonders
streng. Und manchmal treffen all diese
Strömungen des Neofundamentalismus
zusammen, wie an diesem Sonntag.
Aus ganz Deutschland sind sie
gekommen. Vor der Nur-Moschee stauen sich
Autos mit Kennzeichen aus Hamburg,
Stuttgart und München. Serkan hat einen
Star in die Moschee geladen: Loon, einen
US-Rapper, der stand früher mit Puff
Diddy auf der Bühne und nennt sich heute
Amir Junaid. Er soll Zeugnis ablegen, wie
er zum Islam kam, wie aus einem Bad Boy
ein Good Boy wurde. In der Moschee
drängeln sich viele Dutzend junger
Männer, draußen warten Fernsehkameras auf
Loon. „Ex-Rapper will Hass in Berlin
predigen“, titelt eine Boulevardzeitung
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heute. Stickig ist es im Saal. Vor drei
Tagen wurden zwei junge Männer aus einer
Weddinger Moschee festgenommen, sie
sollen an einer Bombe gebastelt haben.
Einer von ihnen war früher Schüler bei
Ferid Heider gewesen, dann kehrte er sich
von ihm ab und ein in eine andere Welt.
Grüßte ihn kaum und suchte den Bruch,
weil er in ihm keinen richtigen Muslim
mehr sah.
Gleich hinterm Eingang sitzen Rahim
und Abd al-Hadi, mit gespannten
Gesichtszügen lauschen sie den Vorwürfen
eines hochgewachsenen Jungen in langem
Gewand. „Wie könnt ihr bloß Jura
studieren?“, schimpft der. „Das ist
verboten. Für uns gilt nur das islamische
Recht.“ Rahim stöhnt. „Nun lass mal die
Moschee im Dorf. Auch Muslime brauchen
einen Rechtsvertrag, und in Deutschland
sind das die Gesetze. Wir kennen doch
auch nichts anderes.“ Der Junge schüttelt
den Kopf, zieht weiter. „Immer diese
Takfiris“, murmelt Rahim. „Sie sind aber
trotzdem Brüder.“ Takfiris erklären
andere zu Ungläubigen, sie sind die
Inquisitoren des radikalen Islams.
Nebenan redet ein roter Lockenkopf auf
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einen Teenager ein, zum ersten Mal ist
der in einer Moschee, „ich wollte mir das
mal anschauen“, sagt er schüchtern. „Hey,
ich krieg nicht genug vom Beten“,
schwärmt der Hausherr, einen
Ministaubsauger in der Hand. „Davon
kriegst du den Geschmack vom Paradies.
Was hält dich davon ab, jetzt zum Islam
zu konvertieren?“ Rahim grinst. „Der hat
es aber eilig.“ Er beugt sich vor. So sei
es bei ihm auch gewesen. Serkan habe ihn
beim ersten Moscheebesuch abgefangen,
„zugetextet hat der mich, ich sollte
sofort die Schahada sprechen“.
Serkan selbst ruht auf seinen
Hinterbeinen in der Saalmitte. Wie
erstarrt sitzt er da, den Blick im
Nirgendwo. Duft von Brathähnchen zieht
von der Küche her, erwartungsvoll wandern
viele umher, schütteln Hände, klopfen
sich auf die Schulter. Sie schauen
entschlossen und weise, als wüssten sie,
was anderen verborgen bleibt. Sie
strahlen Antworten aus, keine Fragen.
Doch Serkans Gesicht wirkt fahl, er weiß
mehr als sie. Er schaut noch einmal auf
die SMS in seinem Handy: Loon hat spontan
abgesagt, das Flugzeug in seiner neuen
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Heimat Kairo nach Berlin gar nicht
genommen. „Man hat ihm gesagt, die
Prediger in Deutschland seien auf dem
falschen Weg“, murmelt Serkan. „Wir seien
ihm zu tolerant und zu offen für andere
Meinungen.“ In einer Halle würde er
auftreten, aber in keiner Moschee.
Serkans Schultern hängen schlaff, wie
ein Boxer, den ein Punch aus unvermuteter
Richtung traf. Schon einmal hatte es ihn
so hingehauen, vor ein paar Wochen, hatte
sein Blick ihn weggetragen. Damals hatte
er geflüstert, nur der Islam sei der Weg
zum Paradies. Es klang flehend.
„Manchmal, in der U-Bahn mit den vielen
Leuten ohne den richtigen Glauben, da
wird mir traurig.“ Wenn die so bleiben,
wie sie sind. Und ihr Zug im Paradies nie
ankommt.
Fein gemacht hatte sich Serkan heute,
seine schwarze Stoffhose angezogen, und
das gestreifte Hemd mit einem Kragen so
weiß wie der eines Priesters. Wer hat nun
die Wahrheit auf seiner Seite, Gott?
Serkan reißt sich hoch, „ich muss mal
telefonieren“. Und geht raus.
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