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4. PHILOSOPHISCHE PROBLEMATISIERUNG: ZUR KRITIK DES OFFENBARUNGSGLAUBENS 

 

Offenbarungskritik – ein historischer Einstieg 

Am 26. Juni des Jahres 363 n. Chr. stirbt eine historisch interessante Figur: Julian Apostata, ein  theologischer Renegat der antiken Welt. Mit  seinem Tod wird  ein Schlussstrich unter  eine  lange Zeit offene Rechnung gezo‐gen, die das Christentum den religiösen Traditionen des römischen Impe‐riums  aufgemacht  hatte. Wolfram Hogrebe  hat  darauf  aufmerksam  ge‐macht, dass es sich um das vielleicht „spektakulärste Ereignis  im Abriss‐geschehen der habitualisierten  antiken Deutungstradition“ handelt.1 Mit diesem Kaiser stirbt nämlich der letzte Versuch, die Fundamente der alten Ordnung vor den Anfechtungen einer neuen Wissensform des Wirklichen insgesamt  zu  schützen.  Das  ehemals  Etablierte  kann  sich  freilich  nicht noch  einmal durchsetzen. War die Antike  voller Götter,  so  codierte das antike Christentum  diesen Wirklichkeitszugang  um: Die  allgemeine Of‐fenbarungsqualität  der Natur wird monotheistisch  beschnitten. Die  ent‐sprechende Offenbarungskritik  setzt  sich  in der Ablehnung aller Mantik durch die Kirchenväter fest. Man misstraut ihr als Aberglaube, der sich im Zwang naturaler Prozesse verliert: 

„Die  christliche Kritik  der Mantik  ist Kritik  der Unfreiheit  eines  unter  dem Bann von Naturdämonen verängstigt handelnden Menschen.“2

Ironischerweise wird diese Kritik unter  radikalisierten  subjekttheoreti‐schen Vorzeichen den christlichen Offenbarungsglauben später selbst er‐reichen. Man steht vor einer geschichtlichen Weichenstellung, die sich pa‐radigmatisch mit dem toten Justin verbindet. Mit  ihm stirbt eine Sprache für jene Wirklichkeit aus, die sich schon zuvor mit den Mitteln seiner Of‐fenbarungspolitik  nicht  mehr  angemessen  beschreiben  und  besprechen ließ. Zwar lebten die nun christlich offiziell unterdrückten mantischen Le‐bensformen durchaus noch weiter, als ein anonymer Begleiter bis  in die astrologischen Offenbarungsversprechen  unserer Horoskope  –  aber  hier verfällt eine antike Offenbarungsform der Kritik des Faktischen und eines neuen religiösen Wissens: Der Lauf der Dinge lässt sich so nicht mehr deu‐ten. 

1 Hogrebe, Wolfram: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 153. 2 Ebd., 155 

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Antik‐Mittelalterliche Spurensuche 

Demgegenüber  galt  es  innerhalb  der Offenbarungstheologie  bislang  als common sense,  

„daß die Offenbarungskritik als geistesgeschichtliche, literarische und öffentli‐ches Interesse fesselnde Größe erst in der Aufklärungszeit hervorgetreten und im  wesentlichen  auf  sie  beschränkt  geblieben  ist;  ihre Wirkungsgeschichte reicht jedoch bis in die Gegenwart.“3

Natürlich  wird  hier  ein  strenger  Offenbarungsbegriff  eingesetzt,  wie man  ihn klassisch den großen Offenbarungsreligionen abliest. Mit dieser Perspektivenbildung  geraten  freilich  die  historischen  Proportionen  des neuzeitlichen Offenbarungsdiskurses, der  sich  im Zeichen  emanzipatori‐scher Kritik vollzieht, zumindest tendenziell aus dem Blick. Dabei müssen gerade die antiken Vorläufer dieser kritischen Wissensform des Religiösen genannt werden, weil sie spätere Anschlussstellen auch dann noch ermög‐lichten, wenn sie nicht ausdrücklich zitiert wurden. Darüber hinaus sind die verschwiegenen Fragetraditionen nicht zu unterschätzen, über die sich die Distanz zu etablierten Offenbarungsansprüchen vermittelt. Hier wird die  Selbstverständlichkeit  eines  Zugangs  zum  göttlichen  Wissensraum durchbrochen, wie er exemplarisch eben in Form von mantischen Prozes‐sen vorliegt.  Offenbarungskritik tritt historisch  in dem Augenblick auf, als sich eine 

Kultur des Fragens durchsetzt – also  im eigentlichen Sinn Philosophie be‐ginnt. Die Skepsis gegenüber dem bloß Gegebenen stachelt die Frage nach dem Anspruch auf ein Wissen, das sich  rationalem Einspruch zu entzie‐hen droht. Offenbarungskritik in einem weiten, aber grundlegenden Sinn liegt demnach in  jeder Distanzierung von Mythos und Orakel vor. So be‐argwöhnt Cicero ausdrücklich den Traum mit seinen eigenen, ambivalen‐ten Offenbarungsqualitäten.4Offenbarungskritisch  konnotiert  bereits  vor  ihm Xenophanes  (ca.  570‐

470 v. Chr.) die Rede von Gott. Sein  frühes projektionstheoretisches Ar‐gument gegen die Gestalt der Götter hat ein kaum beachtetes Nebengleis: seine fundamentale religiöse Erkenntniskritik. 

3 Schmitz, Josef: Offenbarung, 155. Vgl. auch Seckler, Max / Kessler, Michael: Die Kritik der Offen‐barung,  in: HFTh  2:  Traktat Offenbarung,  29‐59;  besonders  29f.; Werbick,  Jürgen: Art. Offenba‐rungskritik, in: LThK3, 998‐1000. 4 Vgl. Cicero, De div. 11, 149.‐ Hier – wie im Vorhergehenden bereits – folge ich Literaturhinweisen von Wolfram Hogrebe  (Metaphysik und Mantik, 155), der allerdings an  einem anderen als dem offenbarungstheologischen  Zusammenhang  interessiert  ist,  stattdessen  allgemein  hermeneutisch die „Deutungsnatur des Menschen“ analysiert. 

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„Niemals lebte ein Mensch noch wird ein solcher je leben,  Der von den Göttern und allem, wovon ich rede, Gewisses Wüßte; und spräche sogar das Vollkommenste jemand darüber, Weiß er es selbst doch nicht; nur Raten ist alles und Meinung.“5

Diese  erkenntnistheoretische  Begrenzung  der menschlichen  Rede  von Gott bezieht sich indirekt auch auf die Möglichkeit, durch eine gleich wie geartete Offenbarung von Gott zu  sprechen. Man  steht vor  einer  frühen Problematisierung  jeder  möglichen  theologischen  Wissensform,  die  sich später  zu  einer  vehementen Offenbarungskritik  erweitern wird. Grund‐sätzlich gilt: Es gibt keine sichere Information über das Göttliche. Entspre‐chend darf man vorab schon mit keiner Offenbarungsvermittlung rechnen – auch wenn dieses Problem hier nicht eigens benannt wird. Spätere Of‐fenbarungskritiken  können  auf dieses Motivrepertoire  zurückgreifen.  So formuliert Epikur auf dieser Linie: 

„die Meinungen der Menge von den Göttern sind nicht Begriffe, sondern fal‐sche Voraussetzungen“.6

Der Clou dieser Kritik: Epikur rechnet durchaus mit der Möglichkeit ei‐ner Gotteserkenntnis,  aber  er  spielt das bloß überlieferte  religiöse Wissen gegen die rationale Durchdringung des religiösen Feldes aus. Von woher es gespeist wird, markiert er an anderer Stelle: 

„Aus den Traumvorstellungen während des Schlafes haben die Menschen den Begriff von Göttern entnommen.“7

Diese Vorstellungen der Masse erweisen sich jedoch als trügerisch, weil sie vernünftigem Nachdenken nicht standhalten – was Epikur wiederum mit dem Projektionsverdacht des Xenophanes stützt. Erneut steht im Üb‐rigen der Traum als angestammter Ort mit besonderen Offenbarungsqua‐litäten, als Medium eines eigenen Zugangs zum Transzendenten, zur Dis‐position; Ciceros spätere Kritik findet hier ihren Haftpunkt. Was  in offenbarungskritischer Hinsicht  für die Antike gilt, muss – mit 

aller Vorsicht – auch für das Mittelalter in Anschlag gebracht werden. Im Allgemeinen wird das Urteil geteilt, dass „(d)ie mittelalterliche Christen‐heit…  in einer Atmosphäre  freudiger und problemloser Offenbarungsbe‐jahung“  lebte.8 Mindestens der Theorieanlage verschiedener mittelalterli‐ 5  Xenophanes,  Fragment  14;  zitiert  nach: Weger,  Karl‐Heinz  (Hrsg.):  Religionskritik  (Texte  zur Theologie: Fundamentaltheologie), Graz – Wien – Köln: Styria 1991, 20f. 6 Epikur: Brief an Menoikus, zitiert nach: Weger, Karl‐Heinz (Hrsg.): Religionskritik, 24. 7 Epikur: Aus unbestimmten Schriften, zitiert nach: Weger, Karl‐Heinz (Hrsg.): Religionskritik, 24. 8 Seckler, Max / Kessler, Michael: Die Kritik der Offenbarung, in: HFTh 2: Traktat Offenbarung, 29‐59; hier: 30. 

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cher  Ansätze muss man  allerdings  auch  eine  offenbarungstheologische Problematisierung ablesen. Mit Blick auf die Positionen des Nikolaus von Autrecourt hält etwa Peter Hünermann fest: 

„Die Vernunft und die vernünftig erfasste Welt sind zur Sprachlosigkeit verur‐teilt. Offenbarung und Schöpfung sind im Grunde genommen nicht mehr ver‐mittelbar.“9

Problemformulare wie dieses sind nicht auf einen gezielt offenbarungs‐kritischen Vorgang zurückzuführen; aber hier zeichnen sich die neuzeitli‐chen Einsatzpunkte bereits ab.  Im Zeichen  eines hoch  entwickelten Ver‐nunftparadigmas wird man exemplarisch Abelaerd als einen solchen  im‐pliziten Verabschieder einer starken Offenbarungstheologie ansehen müs‐sen.10 Dies gilt u.a. im Blick auf sein methodologisches Denken11, mit dem er sich auf dem Weg zur Subjektivität des autonomen Lesers befindet – ein frühes neuzeitliches Motiv  jener Offenbarungskritik, die nicht zuletzt  im Zuge der aufkommenden historisch‐kritischen Relecture der Bibel an Dy‐namik gewinnen wird.  Zugleich zeichnet sich allmählich eine besondere Problemkonstellation 

ab, die das Offenbarungsdenken belasten wird: das Verhältnis von Natur und Gnade.12 Die Natur wird  zum  Problem.  Im Übergang  zur Neuzeit ereignet sich damit ein entscheidender Stellungswechsel des Wissens. Das mittelalterliche Heraufdämmern der Naturwissenschaft verändert allmäh‐lich, aber einschneidend die grundlegenden Wissensformen: Wissen wird empirisch verankert. Noch ist dies anders; aber der revolutionäre Vorgang selbst ist bereits eingeleitet: 

„Griechisches Denken  fragte umfassend wie nie zuvor nach dem Woher und Warum und Wozu der Welt und des Menschen. Obwohl es dabei die üblichen mythologischen Wurzeln zunehmend abstreifte, blieb es  ihnen doch  insofern verhaftet, als sein Erkenntnisinteresse stets auf die theoretische Erklärung des Kosmos als Ganzen gerichtet war. Auch als Aristoteles und andere einzelwis‐senschaftliche Methoden  entwickelten, wurden  die  entsprechenden Diszipli‐nen auf die Erklärungsprinzipien der allgemeinen Naturphilosophie gegrün‐det. Wissenschaft  verstand  sich  deduktiv  und  stellte Qualitäts‐,  aber  kaum Quantitätsfragen. Naturwissenschaft bestand  in Beobachtung und  logisch ge‐

9 Hünermann, Peter: Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologie als Sprach‐ und Wahrheitsgeschehen, Münster: Aschendorff 2003, 154. 10 Vgl. Schwöbel, Christoph: Art. Offenbarung, religionsphilosophisch, in: RGG 6, 463‐467; hier: 465. 11 Vgl. Flasch, Kurt (Hrsg.): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung: Mittelalter, Stutt‐gart: Reclam 1982, 224. 12  „Gemeinsam  ist  allen Offenbarungskritikern die Aufwertung der Natur, des Diesseitigen, der Vernunft und des Vernunftmäßigen.“ (Schmitz, Josef: Offenbarung, 162.) 

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bändigter Spekulation; das Experiment wurde als Eingriff in das Naturgesche‐hen abgelehnt. Obwohl Aristoteles eine Theorie der poiesis und der techne ent‐wickelte, des praktischen Handelns und der Mechanik, wurden auf Anwen‐dung bezogene Untersuchungen und ihre höchst beachtlichen technischen Er‐rungenschaften zwar geschätzt, hatten aber minderen Rang. Wissenschaftliche Ergebnisse wurden  nicht  durch  Bewährung  in  praktischer  Erfahrung  verifi‐ziert,  sondern durch die Klarheit und  Schönheit  ihrer Argumentation. Diese Rückbindung an die Naturphilosophie und der Vorrang qualifizierender vor quantifizierenden  Fragestellungen  kennzeichnete  die  europäische  Wissen‐schaft bis weit in die Neuzeit.“13

Offenbarungsdenken muss  von  diesem  Paradigmenwechsel  in  seinen Grundfesten  erschüttert werden  –  schließlich  ist  es wesentlich  als  eine Wissensästhetik zu begreifen: als Wahrnehmungsvorgang (Hans Urs von Bal‐thasar).14 Die neue Rationalität  setzt  auf  eine  andere Logik: Zahlen  statt Worte – als zentralem Offenbarungsmedium – garantieren zuverlässiges Wissen. Als Übergang dieser beiden Wissensformen wird sich noch lange die Zahlenmystik halten, aber auch nur als  fragwürdiges, weil unzuver‐lässiges Relikt  eines  subkulturell  ausgewanderten Offenbarungswissens. Die entscheidende Veränderung macht ein besonderes Muster einer neuen Rationalisierung des Alltags deutlich: das Aufkommen von Lebensversi‐cherungen im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem in England. 

 „Selbstverständlich hatte auch die Vormoderne strategischen Umgang mit Ri‐siken  gekannt,  aber  im Rahmen  ihres  religiösen Weltbilds  ohne mathemati‐sches Kalkül. Jetzt aber handelte es sich, vollmundig formuliert, um nichts Ge‐ringeres als den Versuch der Menschheit, mittels mathematischer Rationalität des Schicksals Herr zu werden!“15  

Lebensversicherungen mit Eigenverantwortung  ersetzen den Offenba‐rungsglauben in Erwartung einer soteriologisch unsicheren Zukunft – ein eigenes Kapitel gelebter Offenbarungskritik als Distanzierung bahnt  sich an. Naturwissenschaft kann auf Dauer selbst offenbaren, wie Wirklichkeit funktioniert.  Die Mathematik  liefert  dafür  die  notwendige  Grammatik. Methodisch‐implizit etabliert  sich eine Offenbarungskritik  in der Forma‐tierung eines anderen Weltwissens. Zugleich rückt man damit von einem Natur‐Begriff ab, der lange Zeit mit Gott selbst zu verschmelzen schien.16 

13 Reinhard, Wolfgang:  Lebensformen  Europas.  Eine  historische Kulturanthropologie, München: Beck 2004, 566f. 14  Balthasar, Hans Urs  von: Herrlichkeit.  Eine  theologische Ästhetik,  I‐III,  Einsiedeln:  Johannes 1961ff. 15 Ebd., 574. 16 Le Goff, Jacques: Die Geburt Europas im Mittelalter, München: Beck 2004, 114. 

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Natur wird  zu  einer  eigenständigen  Größe  –  von  der Übernatur  unter‐schieden. Im Namen der Natur – und  ihrer Wissenschaft – kann eine na‐türliche Wissensform gegen eine übernatürliche gesetzt und autonomisiert werden. Diese neue Wissensform  ist höchst erfolgreich und bewährt sich in dem Maße, in dem sich die alte, offenbarungsgestützte Wissensform auf ihrem ureigenen Feld – der Geschichte, also der Erfahrungswirklichkeit – als ambivalente, nicht zuletzt politisch belastete Größe erweist. Das Prob‐lem des neuzeitlichen konfessionellen Pluralismus und der Glaubenskrie‐ge,  aber  auch  zuvor  schon  die  katastrophalen  Erfahrungen  der  großen Pest  des  14.  Jahrhunderts  beschädigen  den  (christlichen) Offenbarungs‐glauben nachhaltig.17 Fortan nehmen ausdrückliche Offenbarungskritiken an Fahrt auf.  

 

Neuzeitliche Kritikformate 

Nicht zufällig sind es vor allem britische Philosophen, die mit Beginn der Neuzeit offenbarungskritische Angriffe betreiben. Das Erbe des Nomina‐lismus,  der  die  Übereinstimmungsverhältnisse  von  Wirklichkeit  und Sprache, also auch von konkreten Offenbarungszeichen und der gemein‐ten Realität kritisch untersucht,  ist hier besonders  stark ausgebildet. Auf dieser Linie konnte empirisch ausgerichtetes Denken an Boden gewinnen. Dass die genannten Versicherungsunternehmen von England ausgingen, ist demnach alles Andere als zufällig. Der ökonomisch selbständige Bür‐ger der Neuzeit generiert die Wissensformen  eines autonomen Subjekts, das zum Forum  jener Selbstbestimmung wird, die das wirtschaftende In‐dividuum  zum Erfolg  braucht. Die Erfahrungen mit  einer  regulierbaren Welt müssen dann das übernatürliche Durchbrechen von Naturgesetzen fragwürdig bis bedrohlich  erscheinen  lassen. Die neuzeitlichen Offenba‐rungskritiken stoßen sich entsprechend von diesem Punkt ab.  Einen  ersten  bedeutenden Anlauf  unternimmt Herbert  von Cherbury 

(1583‐1648). Er argumentiert nicht prinzipiell religionskritisch, sieht aber im praktizierten Offenbarungsglauben Wurzeln eines  religiösen Missbrauchs. Die religionspolitischen Verhältnisse, aber auch die offenbarungstheologi‐sche Wissensform seiner Zeit geben seinem Einspruch Verve.  

„Offenbarung ist demnach verstanden als autoritative Belehrung, näherhin als eine unmittelbare göttliche Bekanntmachung, die auf übernatürliche Art und Weise sich ereignet und deren  Inhalt die Vernunft übersteigt. Herbert  ist da‐

17 Vgl. Verweyen, Hansjürgen: Theologie im Zeichen der schwachen Vernunft, Regensburg: Pustet 2000, 48‐53. 

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von überzeugt, daß es solche Offenbarungen gibt, aber er sucht für die beiden Aspekte der Übernatürlichkeit – das prozedural Übernatürliche im Akt der Mit‐teilung und das essentiell Übernatürliche im Inhalt der Mitteilung – nach Mög‐lichkeiten der Kontrolle. Offenbarungsbehauptungen, die sich der Verifikation entziehen,  aber  auch  eigene Offenbarungserlebnisse  können nicht ungeprüft Gegenstand  einer  sittlichen  Bejahung  sein. Was  sich  der  Vernunftkontrolle entzieht,  steht  außerhalb des Bereiches  sittlicher Verantwortung. Als Ort  der Wahrheit  ist die Vernunft  zugleich das Organ  der Verantwortung  und das  In‐strument der Kontrolle für jeden Offenbarungsglauben.“18

Herberts Konzept  schraffiert bereits die Elementarformen  späterer Of‐fenbarungskritik. Das  Problem  der  autonomen Vernunft  konturiert  sich vor  dem Hintergrund  der  ethischen Herausforderung  des  selbsttätigen Subjekts.  Die  Kontrolle wird  nicht  nur  zu  einer methodischen  Instanz, sondern  spiegelt  die  Souveränität  des  einzelnen.  Seine  Rolle  verändert sich. Im Zuge seines politischen Erwachens gewinnen andere Interpretati‐onsmuster an Bedeutung. Vor allem die nachhaltige Erfindung der Öffent‐lichkeit muss Privatoffenbarungen ausschließen.19 Das hat politische Vortei‐le: Jeder offenbarungsfreudige Fanatismus wird sozial, erkenntniskritisch, aber auch  theologisch eingedämmt. Diese Wissenstechniken  spielen eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung des modernen Subjekts und Staa‐tes. Nicht zufällig  finden sich diese Motive  im Folgenden bei Autoren wie 

John Locke (1632‐1704), John Toland (1670‐1722) und David Hume (1711‐1776) wieder. Seine Kritik führt ein eigenes Format ein, denn er denkt ei‐nerseits  vernunftkritisch,  andererseits  auf  der  Basis  eines  empirisch  ge‐stützten Erkenntnismodells auch offenbarungskritisch – denn das Überna‐türliche entzieht sich dem Zugriff der natürlichen Vernunft, die auf sinn‐lich  erschlossenen  Einsichten  beruht.  Der  skeptische  Grundton  Humes findet sich unter den Bedingungen der französischen Aufklärung radikali‐siert. Namentlich die Enzyklopädisten übernehmen hier eine wichtige Rol‐le: 

„In Frankreich nahm in dem Maße, wie die absolutistische Verschmelzung von Thron und Altar sich als unerträglich erwies, die Kritik grundsätzlich offenba‐

18 Seckler, Max: Aufklärung und Offenbarung, in: CGG 21, 5‐78; hier: 41f. 19 Vgl. Habermas,  Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21990. Habermas´ Studie setzt die Entste‐hung einer „’öffentlichen Meinung’ erst im England des späten 17. und im Frankreich des 18. Jahr‐hunderts“ an (ebd., 51) an, macht aber zugleich die allmähliche Entwicklung von Öffentlichkeit als einer eigenen Wissensform kenntlich. Für England muss dabei bereits der Weg zu den voluntary associations des 18. Jh. früh angesetzt werden. Vgl. ebd., 14f. 

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rungsfeindliche und antikirchliche Züge an, in der eine vernünftige Legitima‐tion für eine gesellschaftlich als Institution anzuerkennende Offenbarungsreli‐gion kaum noch erwogen wurde.“20

Die Religionsphilosophie Immanuel Kants (1724‐1804) setzt demgegen‐über  differenzierter  Humes  offenbarungskritische  Linie  fort.  Nach  der Zerschlagung der  theoretischen Gottesbeweise  in  seiner Kritik  der  reinen Vernunft schafft Kant einen Zugang zu einem möglichen Gottesbegriff und –glauben  über  die  praktische Vernunft.  Sein  postulatorischer Gottesauf‐weis  leitet  sich dabei  aus  einer  entscheidenden Einsicht  her: Angesichts einer unbedingten sittlichen Verpflichtung kann es dem Menschen zuge‐mutet werden, sein eigenes Leben einzusetzen. Damit steht aber sein vita‐les Bedürfnis nach umfassendem Glück auf dem Spiel. Wenn nun das Sit‐tengesetz möglich  sein  soll, dann muss  auch dem menschlichen Streben nach Glückseligkeit Rechnung getragen werden, denn es ist der konkrete Mensch, der hier ethisch beansprucht wird. Kant postuliert von daher die Existenz einer unsterblichen Seele und eines allmächtigen Gottes. Er steht für eine Gerechtigkeit ein, die kategorisch gefordert ist und nach mensch‐lichem  Ermessen  zugleich  unmöglich  erscheint.  Zutage  tritt  ein  reiner Vernunftglaube, den Kant in seiner Religionsschrift – „Die Religion inner‐halb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 – ausdrücklich von ei‐nem Kirchenglauben abhebt. Letzterer ist auf eine Offenbarung angewiesen, die  für Kant  allerdings  immer  etwas Nachgeordnetes,  im Grunde Über‐flüssiges  darstellt,  da  das  Entscheidende  an  der  Religion,  nämlich  das Fundament  eines  allgemeinen  Sittengesetzes,  rein über die Vernunft ge‐deckt ist: 

„Die Moral, so  fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines  freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bin‐denden Wesens,  gegründet  ist,  bedarf weder der  Idee  eines  andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.“21

Auffällig  erscheint, wie Kant Offenbarung  charakterisiert. Er  geht der Frage nach, ob nicht  „doch noch  eine durch Vernunft nicht  erkennbare, sondern eine der Offenbarung bedürftige göttliche Gesetzgebung“22 not‐wendig  sei  –  und  beantwortet  sie  letztlich  negativ.  Ganz  offensichtlich 

20 Verweyen, Hansjürgen: Gottes  letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg: Pustet 32000, 224. 21 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: WA VIII, 645‐879; hier: 649. 22 Ebd., 766. 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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wird Offenbarung hier gegen Vernunft ausgespielt, wobei dieser der Pri‐mat zukommt. Im selben Zusammenhang hält Kant fest:  „Wenn es nun also einmal nicht zu ändern  steht, daß nicht ein  statuarischer Kirchenglaube  dem reinen Religionsglauben, als Vehikel und Mittel der öf‐fentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des letztern beigegeben werde, so muß man auch eingestehen, daß die unveränderliche Aufbehaltung desselben, die allgemeine einförmige Ausbreitung, und selbst die Achtung für die in ihm angenommene Offenbarung, schwerlich durch Tradition, sondern nur durch Schrift , die selbst wiederum als Offenbarung für Zeitgenossen und Nachkommenschaft ein Gegenstand der Hochachtung sein muß, hinreichende gesorgt werden kann; denn das fördert das Bedürfnis der Menschen, um ihrer gottesdienstlichen Pflicht gewiß zu sein.“23

 Kant sieht also den offenbarungsgestützten Kirchenglauben bestenfalls 

als Prothese des eigentlichen sittlichen Bewusstseins an. Die Auseinander‐setzungen um Glaube und Vernunft besetzen unter den Vorzeichen der Aufklärung zunehmend das Feld der Offenbarungstheologie. Dieser Pro‐zess setzt sich  in der Nachfolge Kants  fort. So  integriert Hegels kritische Umstellung, die  sich  als weltgeschichtlicher Offenbarungsdiskurs  entfal‐tet,  den  Offenbarungsbegriff  radikal  geistphilosophisch.  Er  überholt  die angestammte  jüdisch‐christliche Offenbarungstheologie  und markiert  so die dekonstruktive Grundoperation neuzeitlicher Offenbarungskritik. 

 

„Critik aller Offenbarung“? Fichte als Schaltstelle 

Die eigentliche Dramatik der neuzeitlichen Offenbarungskritik liegt dabei im folgenreichen Zerfall eines Glaubensformats, das sich eng an besonders starke Wissenstechniken  band. Die weitgehend  selbstverständliche Alli‐anz  von  stabilen  Gottesüberzeugungen,  unzweifelhaften  Erkenntnisan‐sprüchen  und  einer  zuverlässigen  sprachlichen  Repräsentation  dieses Glaubens  in seinen Urkunden zerbrach. Dazu musste das Verhältnis von Natur und Welt neu bestimmt werden. Positiv konnte man nachträglich darauf  setzen, dass nicht nur die Welt  ihre  säkulare Dignität zurück ge‐wonnen,  sondern auch der Glaube  seinen ureigenen Platz wieder einge‐nommen  habe  –  jenseits  einer  zu  stark  aufgeladenen  Ambition  auf  er‐kenntnistheoretische  Sicherheit. Doch  das  eigentliche  Problem  lässt  sich 

23 Ebd., 767. 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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seit der Aufklärung – auch mit diesen berechtigten Deutungsperspektiven – nicht mehr umgehen.  Johann Gottlieb Fichte hat es mit  seinem  frühen „Versuch einer Critik 

aller Offenbarung“ von 1792 auf den Punkt gebracht. Dieser Text erscheint in mehrfacher Hinsicht  als  eine  epochale  Schaltstelle des Offenbarungs‐denkens. Mit  vielen Aufklärungsphilosophen  teilt  Fichte  nicht  nur  den christlich  grundierten Gottesglauben,  sondern  er  sucht  auch  nach  einer Möglichkeit,  das  angestammte  Offenbarungsdenken  theoretisch  neu  zu verankern. Ausgehend von Kant, dem man Fichtes zunächst anonym er‐schienenen Versuch ursprünglich zuschrieb,  führt er über  ihn hinaus,  in‐dem  er  zwar  die  religionsphilosophischen  Einsichten  seiner  „Kritik  der praktischen  Vernunft“  voraussetzt,  sie  aber  zu  einem  eigenen Offenba‐rungsmodell weiterentwickelt. Das wiederum  ist  in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: mit  seiner  subjekttheoretischen Basis, die  cartesianische Züge trägt, aber auf moderne Konzepte vorweist; mit der Etablierung ei‐ner Wissensform, die  sich an den Polen des  Innen und Außen orientiert und  die  besondere  Problematik  seines  idealistischen  Ansatzes  austrägt; schließlich mit einer streng  rationalen Kriteriologie  jedes möglichen Ver‐nunftanspruchs.  Es  ist  dieses  Theorie‐Ensemble, mit  dem  Fichte  in  der jüngeren Vergangenheit fundamentaltheologische Neuauflagen erlebte.24Was  hat  es  also mit  dieser  spezifischen Offenbarungskritik  auf  sich? 

Fichte  übernimmt  zunächst  einmal  als  grundlegende  Voraussetzung Kants Gottespostulat. Konsequent setzt er dann die Offenbarung Gottes in der Vernunft des Menschen an, denn  

„schon der Begriff von Gott wird uns bloß durch unsere Vernunft gegeben, und  bloß  durch  sie,  insofern  sie  a  priori  gebietend  ist,  realisiert,  und  es  ist schlechterdings keine andere Art gedenkbar, auf welche wir zu diesem Begrif‐fe kommen könnten. Ferner verbindet uns die Vernunft ihrem Gesetze zu ge‐horchen, ohne Rückweisung an einen Gesetzgeber über sie, so dass sie selbst verwirrt und  schlechterdings vernichtet wird, und aufhört Vernunft zu  sein, wenn man annimmt, daß noch  etwas  anderes  ihr gebiete,  als  sie  sich  selbst. Stellt sie uns nun den Willen Gottes als völlig gleichlautend mit ihrem Gesetze dar,  so verbindet  sie uns  freilich mittelbar,  auch diesem  zu gehorchen;  aber diese  Verbindlichkeit  gründet  sich  auf  nichts  anderes,  als  auf  die Überein‐stimmung desselben mit ihrem eigenen Gesetze, und es ist kein Gehorsam ge‐gen Gott möglich, ohne aus Gehorsam gegen die Vernunft.“ (21) 

24 Vgl. vor allem Verweyen, Hansjürgen: Gottes letztes Wort. Verweyen hat auch Fichtes „Versuch einer  Kritik  aller  Offenbarung“  in  der  Philosophischen  Bibliothek  herausgegeben  und  eingeleitet (Hamburg: Meiner 1983 [PhB 354]); nach dieser Ausgabe wird  im Folgenden mit Seitenzahlen  im Text zitiert. Vgl. Kapitel 7: Systematische Problemeröffnung: Entwicklungslinien. 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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Das Problem einer Offenbarung Gottes wird hier unter zwei Gesichts‐punkten angesprochen, auch wenn der Titel nicht  fällt. Zunächst stammt die Möglichkeit, über Gott etwas  sagen zu können, aus dem Reflexions‐raum der Vernunft, die den Begriff Gottes hervorbringt – eben aus morali‐schem Grund. Diese  formale Offenbarung bindet Gott streng an die Ver‐nunft und ihre Richterfunktion. So wird es die Vernunft sein, die im wei‐teren Fortgang der Untersuchung zur entscheidenden Beurteilungsinstanz dafür wird, was  als Offenbarung  anerkannt werden  kann. Dafür  erhält wiederum ein Kriterium Bedeutung, das Fichte hier bereits offen  legt:  In Fragen der Gotteserkenntnis darf keine externe Stimme einsprechen. Die Autonomie  der menschlichen Vernunft  steht  trennscharf  einer möglichen heteronomen  göttlichen  Überforderung  gegenüber,  z.  B.  durch  ein  ihr fremdes Gesetz – und natürlich muss dies den Offenbarungsbegriff betref‐fen.  Fichte unterscheidet von daher natürliche und geoffenbarte Religion. Na‐

türlich  kann  erkannt werden,  dass  das  göttliche  Sittengesetz mit  jenem ident ist, das die Vernunft aus sich selbst erarbeitet. Theologisch entspricht dem die Einsicht, dass Gott als Weltschöpfer die menschliche Natur ge‐schaffen hat, die aus eigener Freiheit das ethische Gesetz entdeckt. „Wir selbst also sind als moralische Wesen (objektiv) Endzweck der Schöpfung“ (29) und Gott ist wiederum ihre Finalität, denn  

„unsere Furcht, unsere Hoffnung, alle unsere Erwartungen beziehen sich auf ihn: nur in seinem Begriffe von uns finden wir unsern wahren Wert.“ (19) 

Fichte  verlegt  damit Gott  als  äußere Größe  in  den  Innenraum  der Ver‐nunftnatur des Menschen. Dieses Schema setzt sich auch für die präzisere Fassung des Offenbarungsbegriffs durch. Offenbarung  im  strengen  Sinn begreift  Fichte  als  etwas  Äußerliches,  das  gegenüber  einer  inneren  Ver‐nunftauffassung Gottes abgewertet wird. Man hat demnach zwei Optio‐nen  einer möglichen Gotteswahrnehmung,  „deren  eines das Prinzip des Übernatürlichen in uns, das andere das Prinzip eines Übernatürlichen au‐ßer uns ist.“ (31) Offenbarung spielt dabei im Außen der Vernunft und des Subjekts: 

„Der Begriff der Offenbarung ist also ein Begriff von einer durch übernatürli‐che Kausalität von Gott  in der Sinnenwelt hervorgebrachten Wirkung, durch welche er sich als moralischen Gesetzgeber ankündigt.“ (33) 

Formal wie material hängt diese Bestimmung von der autonom vorge‐henden Vernunft ab: formal im Blick auf den Offenbarungsprozess, der jen‐seits der reinen Vernunft, eben in der Sinnenwelt spielt; material hinsicht‐

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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lich der  inhaltlichen Beschreibung Gottes: Gott kann nur  als Garant des Sittengesetzes auftreten. Damit wird aber auch die  rationale Zuspitzung dieses Offenbarungsdiskurses deutlich. Die souveräne Vernunft bestimmt die Souveränität Gottes.  Wenn Gott aber bereits als moralische Leitinstanz im vernünftigen Sub‐

jekt verfugt ist, braucht es dann überhaupt noch eine Offenbarung? Fichte stellt sich einen Fall vor,  in dem die Menschheit das Sittengesetz verliert. Das erscheint denkbar, wenn die natürlichen Antriebe des Menschen seine sittlichen Impulse verdrängen.  

„Dieser Widerstreit des Naturgesetzes gegen das Sittengesetz kann nach Maß‐gabe  der  besonderen  Beschaffenheit  ihrer  sinnlichen Natur  der  Stärke  nach sehr verschieden sein, und es lässt sich ein Grad dieser Stärke denken, bei wel‐chem das Sittengesetz seine Kausalität in ihrer sinnlichen Natur entweder auf immer, oder nur in gewissen Fällen, gänzlich verliert. Sollen nun solche Wesen in diesem Falle der Moralität nicht gänzlich unfähig werden, so muß ihre sinn‐liche Natur selbst durch sinnliche Antriebe bestimmt werden, sich durch das Moralgesetz bestimmen zu lassen.“ (40) 

Eben  das  ist  die  Funktion  einer  übernatürlichen Offenbarung,  die  als göttliche Pädagogik zum Guten  in die sinnlich erfahrbare Welt eingreift. Die Konsequenzen für den Offenbarungsbegriff sind erheblich. Die eigent‐liche Kritik Fichtes liegt in der Entmächtigung dieses Konzepts, in der Be‐schneidung  seiner  Reichweite,  in  der  Unterordnung  des  Außen  Gottes unter das  Innen der Subjektvernunft. Gott behält hier zwar  einen Raum seines  unverfügbaren Auftritts  –  aber  er  ist  nur  beschreibbar  unter  den normativen Voraussetzungen einer moralisch imprägnierten Vernunft, die allem  ihr Maß gibt, ohne sich freilich über  ihre eigenen Voraussetzungen und  die  begrenzte  Reichweite  ihrer  argumentativen  Erschließungskraft Auskunft zu geben. Immerhin ist auch Kants Ethik nicht frei von Eviden‐zen, die sein Konzept tragen und die universale Geltung etwa des Katego‐rischen Imperativs in seinen beiden Fassungen beeinträchtigen. Fichtes Kritik  ist deshalb von hoher Bedeutung, weil sie hartnäckig an 

das  kriteriologische  Problem  der Geltung  von Offenbarungsansprüchen erinnert. Sie bereitet darüber hinaus transzendentaltheologische Reformu‐lierungen des Offenbarungsgedankens vor – markiert aber zugleich schon ihre Grenzen. Denn es  ist das  Innen des Subjekts, das Fichte als eigentli‐chen Offenbarungsort  aufdeckt,  um  das  Problem  des  äußeren Offenba‐rungsworts und der  inneren Urteilskraft der Vernunft anzuschärfen.  Iro‐nischerweise  kann  Fichtes  Subjektinnen  nicht  aus  sich  selbst  heraus  die Moralität  jederzeit  gewährleisten. Die Autonomie  als  Selbstbegründung 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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zerbricht material  in der konkreten Offenbarungsbestimmung,  formal aber vor allem darin, dass überhaupt nach einer externen Offenbarung gesucht wird. Fichtes  späterer Offenbarungsbegriff  liegt  in der Fluchtlinie dieser Problemstellung,  wenn  er  die  Alterität  des  Offenbarungsvorgangs  aus dem  Bewusstsein  des  Subjekts  herausfiltert.  Hansjürgen  Verweyen  hat diese Offenbarung inhaltlich als das Wissen bestimmt, „daß alles erschei‐nende  Sein Bild Gottes, des  absoluten  Seins,  ist  bzw. werden  soll“.25 Es handelt sich um eine Offenbarung sui generis. Ihr Wissen 

„bricht eben irgendwo in der Welt durch zum Bewußtsein, und zwar, so gewiß es der absolute Begriff  ist,  in einem sittlichen Bewußtsein, mit dem Auftrage: mitgeteilt  zu werden  und  verbreitet,  soweit  es  irgend möglich  ist. Dies  ge‐schieht, so gewiß es ein ursprüngliches Durchbrechen  ist, dessen, was  in der Welt noch nirgends vorhanden ist, auf eine unbegreifliche, an kein vorheriges Glied anzuknüpfende Weise; genialisch, als Offenbarung.“26

Entscheidend  ist an dieser Stelle das „unbegreiflich“,  für das der Aus‐druck „genialisch“ eine konkretisierende Metapher anbietet: Es speichert einen  Differenzeintrag  der  Vernunft  und  des  Subjekts  angesichts  einer Offenbarung Gottes ab, die eine unverrechenbare Größe bleibt. Offenbarung muss demnach  als  eine  externe Macht begriffen werden, die das Subjekt betrifft, indem sie es mit einer Inversion der gegebenen Verhältnisse, und zwar noch ihrer vernünftigen Selbst‐ und Weltauffassung, konfrontiert. 

 

Exemplarische Fortsetzungen – ein synchrones Panorama 

Hatte Fichtes Kritik ihren Ausgang von einer Rationalisierung des Offen‐barungsdiskurses genommen,  so wurde genau diese Vernunftförmigkeit zum point of no return der anschließenden philosophischen Offenbarungs‐kritiken.  Die  von  Fichte  erschlossene  Spannung  von  Offenbarung  und Vernunft spitze sich zu. Sie wurde besonders unter den Vorzeichen einer grundsätzlicheren Religionskritik – mit der Achsenzeit des 19. Jh. – disku‐tiert  und  führte  im Gegenzug  (katholisch)  zu  einer  apologetischen Ver‐schärfung.  Bis  in die Gegenwart hinein  finden sich Neuauflagen dieses Diskurses 

mit  unterschiedlichen  Akzentuierungen.  Karl  Jaspers  (1883‐1969)  bean‐standet  den  letztlich  autoritären Anspruch  eines Offenbarungsglaubens, 

25 Verweyen, Hansjürgen: Einleitung zu Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenba‐rung, VII‐LXXII; hier: XLVIII. 26 Fichte,  Johann Gottlieb: Nachgelassene Werke XI, hrsg.  v.  Immanuel Hermann  Fichte.  3 Bde., Bonn 1834f., 105; zitiert nach: Verweyen, Hansjürgen: Einleitung, XLVIII. 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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der als objektive Wirklichkeit dem Subjekt  entgegentritt.27 Zwar  sieht  er die menschliche Existenz durchaus unter den Vorzeichen von Transzen‐denz, sie wartet allerdings im Innen des Ich. Das Transzendente selbst lässt sich von daher ansprechen, aber nie wirklich fassen – ein Gedanke, der am biblischen Bilderverbot Maß nimmt und außerdem eine Möglichkeit dafür anbietet, den klassischen Projektionsverdacht aufzuleisten. Schließlich  ist es eben der Innenraum des Subjekts, in dem sich über  jede konkrete Got‐tesidee hinaus ein Vorgang unausweichlichen Transzendierens zeigt. Als Offenbarungskritiker argumentiert Jaspers damit in erstaunlicher Nähe zu transzendentaltheologischen  Lösungsvorschlägen.  Zugleich  weist  sein Ansatz auf die Notwendigkeit einer theologischen Offenbarungskritik hin, die  im positiven Sprechen von Gott die  Intuitionen Negativer Theologie austrägt, also an das Unsagbare in allem Gottsagen erinnert. Offenbarungskritik  gehört  demnach  zum  Eigenprofil  jüdischen  und 

christlichen Sprechens von Gott – auf der Basis des Glaubens an den Of‐fenbar‐Verborgenen. An  diesen  kritischen  Impuls  ist  vor  allem  zu  erin‐nern, wenn materiale Offenbarungskritiken  die  inhumanen  Anteile  der kanonischen  Offenbarungstexte  aufdecken.  Historisch‐kritische  Exegese arbeitet diesen Einsprüchen nicht nur aus dem religiösen Innenbereich zu, sondern  bestimmt die historische Verstrickung  aller Zeichen,  aus denen sich die Gottrede generiert.  Ein besonderer Umstand  fällt  im Übrigen bei diesen Kritiken auf:  Ihre 

Aufklärungsversuche  über  die  unmenschlichen  Schubkräfte  der  Bibel werden oft polemisch aufgeladen.  Ihr aggressiver Schock  fasst durchaus Richtiges, unterbietet  jedoch immer wieder das theoretische Niveau eines Diskurses, der  gerade  aus  kritischem  Interesse  heraus die  zeitbedingten Vorstellungsmuster einordnen sollte. So hat Franz Buggle in seiner Streit‐schrift „Denn sie wissen nicht, was sie glauben“ die Heilige Schrift als Of‐fenbarungsdokument analysiert und  ihre destruktiven Züge beschrieben. Danach weist „die Geschichte des Christentums  in unvorstellbarem Aus‐maß – für  jeden, der Tatsachen noch zur Kenntnis nimmt, nehmen kann, unbestreitbar  –  archaische Grausamkeiten  und Gewalttätigkeiten,  Inhu‐manität und  Intoleranz“  auf.28 Der Prozess  allmählicher und mühsamer Humanisierung gerät ganz aus dem Blick, vor allem aber die Ausbildung jener menschlichen Richtwerte, aus denen sich die eigene Kritik speist.  

27 Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München: Piper 1962. 28 Buggle, Franz: Denn  sie wissen nicht, was  sie glauben. Oder warum man  redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, 26. 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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Anders wenden Odo Marquard und  Jan Assmann gegen den offenba‐rungssicheren Monotheismus ein, dass er ein Wahrheitsprivileg behaupte und sich – mindestens strukturell gewaltförmig – gegen den Pluralismus anderer Überzeugungen wende. Freilich unterschätzen beide die Gewalt‐potenziale  sowohl polytheistischer Religionsformen wie  auch des Plura‐lismus selbst.  Angesichts dieser  neuen Anfragen und  zumal mit  einem  veränderten 

öffentlichen Religionsbewusstsein wird man sich von der  lange Zeit sehr selbstbewussten kritischen Einschätzung verabschieden müssen, wonach der Streit um die Offenbarung mit der Aufklärung bereits durchgekämpft sei – natürlich mit negativem Ausgang für den Glauben. Stattdessen blei‐ben die Debatten aktuell; stattdessen nehmen Offenbarungsansprüche an kultureller und politischer Dynamik zu. Umso dringender erscheinen ge‐rade deshalb kritische Analysen. Sie können darauf hinweisen, dass sich kein Offenbarungsanspruch unvermittelt, also unkritisch aufrechterhalten lässt, weil er die ursächliche Differenz  in allem Sprechen von Gott – und zwar  die  semiotische  wie  die  eschatologische  Differenz!  –  zu  überspielen droht. Dann aber tritt nichts Anderes als ein verbrämter Subjektivismus zu Tage und also nicht weniger als das Gegenteil des eigentlich Behaupteten. 

Semiotische Differenz: Unterschied von Zeichen und Be‐zeichnetem.  Eschatolo‐gische Dif‐ferenz: Gott für uns jetzt ‐  Gott am Ende der Zeit 

  

Der soteriologische Überhang der modernen Offenbarungskritik:  Adornos aporetischer Messianismus 

Auf diese Spannung weist u.a. die negative Dialektik Theodor W. Ador‐nos hin. Adorno zählt neben Jaspers zu den profilierten Offenbarungskri‐tikern des 20. Jh. Nach der Shoa erstarrt für ihn die Rede von einem Gott, der  ausblieb.  Erfahrung  zwingt  zu  dieser  Einsicht;  sie  kann  und muss nicht näher begründet werden:  

„Das Gefühl, das nach Auschwitz gegen  jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unreecht an den Opfern sich sträubt, dagegen, daß aus ihrem Schicksal ein sei´s noch so ausgelaugter Sinn gepresst wird, hat sein objektives Moment nach Ereignissen, welche die Konstruktion eines Sinnes der Immanenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn verurteilen.“29

 Adornos Kritik am gesetzten Sinn ist Einspruch gegen religiöses Offen‐

barungsdenken. Angesichts unvorstellbarer Unmenschlichkeit scheint ein  29 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 61990, 354. 

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solcher Glaube den Ausweg zu verheißen, den sich die Vernunft nicht er‐finden kann. Was Adorno  fürchtet,  ist der Selbstausstieg einer Vernunft, die er gemeinsam mit Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ in  ihren  katastrophischen Zügen  demaskiert  hatte.30 Die Geschichte  der Rationalität bindet an den Zwang des Begreifens, der Herrschaft, der Un‐terdrückung. Adorno will diese Vernunft kritisch an ihre Grenzen führen und sie hier verpflichten: auf eine Humanität, die sich in der Aporie auf‐richtet,  dass  die  Opfer  der  Geschichte  verloren  bleiben.  Offenbarungs‐glaube  erscheint  demgegenüber  als  Salto mortale  einer  utopischen Ver‐nunft, als Wunschgeschäft mit erheblichen Folgekosten. Der ins Transzen‐dente sich erlösende Gedanke bezahlt seine Freiheit mit gesteigerter Ent‐fremdung und forcierter Heteronomie: 

„Die Wendung  zur  Transzendenz  fungiert  als Deckbild  immanenter,  gesell‐schaftlicher Hoffnungslosigkeit.“31

Der Glaube klärt sich nicht über die illusorische Selbstverneinung einer Vernunft auf, die sich aus Gründen ihrer Selbstkritik abzuschaffen droht. Dabei hat der Glaube längst selbst Züge einer Rationalisierung angenom‐men,  indem  er zum  theologischen System avancierte. Der Abschied von der  eigenen  Geschichte  geschieht  zwar  aus  richtiger  Intuition  heraus, stiehlt sich aber im Letzten unkritisch davon, weil er auf Begründungsleis‐tungen verzichtet. Die kann er nach Adorno ohnehin nicht einlösen, was ihn in eine zusätzliche Spannung verwickelt:   

„Warum einer den Glauben annehmen soll und nicht einen anderen, dafür ist dem Bewusstsein heute kein anderer Rechtsgrund gegeben als einzig sein ei‐genes Bedürfnis, das Wahrheit nicht verbürgt. Damit  ich den Offenbarungs‐glauben annehmen könnte, müßte ihm meiner Vernunft gegenüber eine Auto‐rität zukommen, die bereits voraussetzte, daß ich ihn angenommen habe – ein unausweichlicher Zirkel… (D)ie Frage, woher die Autorität der Lehre stammt, ist nicht gelöst, sondern abgeschnitten“.32

Adornos  Kritik  unternimmt  an  dieser  Stelle  einen  erstaunlichen Schwenk. Zunächst einmal kommen seine Überlegungen weitgehend oh‐ne argumentative Anschlüsse aus. Der Text funktioniert thetisch und setzt auf die Evidenz eines Gedankens, der für sich selbst einzustehen hat. Da‐mit verfällt er einem Dezisionismus eigener Art, womit das  in die eigene  30 Horkheimer, Max  / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Fischer 1989. 31  Adorno,  Theodor W.:  Vernunft  und  Offenbarung,  in:  ders.,  Stichworte.  Kritische Modelle  2: Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, 20‐28; hier: 24. 32 Ebd., 25f. 

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Theorie  zurückkehrt, was  für Adorno gerade nach Auschwitz unmöglich wurde:  jeder Positivismus. Gleichzeitig verpflichtet  er  auf  eine Wahrheit, die er selbst bestreitet, weil sie  ihrerseits auf  jener metaphysischen Welt‐sicht beruht, gegen die er vorgeht. Ganz eigentümlich verwickeln sich hier erneut die Probleme von Vernunft und Offenbarung begrünungstheore‐tisch ineinander. Das zeigt sich noch an anderer Stelle, und es ist diese dritte Aporie, die 

offenbarungstheologisch  besonders  folgenreich  ist. Adorno  zwingt näm‐lich der philosophischen Kritik die Notwendigkeit ab, das Undenkbare zu denken. Er kann sich mit dem Tod, zumal der unschuldigen Opfer, nicht abfinden: Er  ist selbst das Undenkbare. Philosophie wäre stattdessen mit einer Option auf Erlösung zu betreiben, mit dem Blick auf einen Sinn, ge‐malt  in  den  Farben  des  Bilderverbots. Was Offenbarung meinte,  solche Erlösung, geht  in der Geschichte unter; aber die Perspektive bleibt erhal‐ten. Sie soll das sein, was dem Unmenschlichen Stand hält. Und so behält die Theologie sogar Recht: als Widerstand gegen das bloß Gegebene.33  

„Philosophie, wie sie Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantwor‐ten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von Erlö‐sung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruk‐tion und bleibt ein Stück Technik.“34

Adornos Perspektive zehrt von einem „Messianischen Lichte“35, das die Katastrophe dieser Welt  erst  sichtbar macht. Erkenntnis wird mit  einem Mal zur Möglichkeit  in der Unmöglichkeit der machtinfizierten Totalität Vernunft. Der Gedanke  transzendiert  sich  in das, was er nicht mehr her‐stellen kann – aber er geht bei Adorno nur wieder ins erneut Aporetische, ins Unauflösbare, in Ausweglosigkeit über:  

„Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen.“36  

Adorno  benutzt  hier  formal wie material den  jüdischen Gottesgedan‐ken. Er strapaziert die inhaltliche Idee in der sprachlichen Form bis in eine äußerste Paradoxie hinein und hält damit offen, wie und woher sich die Möglichkeit  in  aller  Unmöglichkeit  ergeben  könnte.  Zugleich  gilt,  dass 

33 Vgl. Negative Dialektik, 371. 34 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 201991, 333. 35 Ebd., 334. 36 Ebd. 

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angesichts  dieser Denkform  „die  Frage  nach  der Wirklichkeit  oder Un‐wirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig“ wird.37  Hier kommt  es auf  jedes Wort an. Ob  es Erlösung  tatsächlich gibt,  ist 

nicht bedeutungslos  – und wird mit dem  Schlusssatz  auch nicht  ausge‐schlossen. Adorno  verweigert  dem Denken  allerdings  jeden Zugriff  auf eine Vorstellung dieser Option. Sonst verfiele auch diese messianische Per‐spektive begrifflich totalisierendem, einordnendem Zugriff. Die Ordnung der Dinge würde aber gerade von Erlösung durchbrochen. Das Bilderver‐bot setzt sich radikal durch und eröffnet einen kleinen Spielraum für einen Gedanken, der sich nicht mehr streng denken  lässt und der  in Form von Kritik  den  Unheilzusammenhang  transzendiert.  Erlösung  besetzt  einen utopischen Ort – als Hoffnung. Sie zielt auf „Konvergenz, das menschlich verheißene Andere der Geschichte“.38 Durch nichts ersetzbar, durch nichts garantiert, notwendig aus sich selbst heraus, taucht hier ein Alteritätskon‐zept  auf,  das  eben  noch  unter  offenbarungskritischen Heteronomiever‐dacht gestellt wurde. Allerdings  lässt  sich  für Adorno auch von Gott als dem Ganz‐Anderen nicht mehr  sprechen – wohl deshalb, weil er  identi‐tätslogisch eingeebnet wäre. So bleiben nur die Verheißungen der Kunst, die zurückgeschraubt sind ins rein gedanklich Gegenweltliche. Immerhin:  

„Kein Licht  ist auf den Menschen und Dingen,  in dem nicht Transzendenz widerschiene. Untilgbar am Widerstand gegen die fungible Welt des Tauschs ist der des Auges, das nicht will, daß die Farben der Welt zunichte werden. Im Schein verspricht sich das Scheinlose.“39

Der  offenbarungskritische  Diskurs  wandert  mit  Adorno  in  eine  un‐scheinbare Hoffnung  aus,  in der  sich die Vernunft  nicht  länger  verlässt, wohl aber radikal  transzendiert. Ein anderer, ein neuer Ort des Offenba‐rungsdenkens zeichnet sich ab.   

Eine postmoderne Offenbarungswahrheit?  Slavoy Zizeks dekonstruktive Lektüre des Christentums 

Wie  für  Adorno,  so  ist  auch  für  Slavoy  Zizek  der  christliche  Offenba‐rungsglaube um  seine Plausibilität gebracht. Trotzdem behält das Chris‐tentum eine intellektuelle Faszination.  Setzte Adornos Offenbarungskritik noch mit Walter Benjamins erster geschichtsphilosophischer These ein, so kehrt Zizek sie um:  

37 Th. W. Adorno: Minima Moralia, 334. 38 Ebd. 39 Ebd., 396f. 

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„Gewinnen soll immer die Puppe, die man >Theologie< nennt. Sie kann es oh‐ne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie den historischen Materialismus in ihren Dienst nimmt, der heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich oh‐nehin nicht darf blicken lassen.“40

Zizeks Sympathie schlägt  für einen Materialismus, der die Endlichkeit des Menschen ernst nehmen kann, ohne  ihn darum zu  reduzieren. Aus‐gangspunkt seiner Überlegungen ist die Einsicht, dass man es mindestens in den westlichen Kulturen „mit  einer Art  >suspendiertem< Glauben zu tun“ (8) hat: 

„Im Hinblick auf die Religion >glauben wir also nicht mehr wirklich<, sondern befolgen einfach einige der religiösen Rituale und Sitten aus Rücksicht auf den >Lebensstil< der Gemeinschaft, der wir angehören“. (9) 

Der Erklärungswert  religiöser Überzeugungen hat  sich erschöpft; aber ihre  eingeübten  Interpretationsleistungen  behalten  eine  untergründige kulturelle Aufklärungskraft. Der ursprüngliche Offenbarungsbegriff ver‐schiebt sich damit kulturtheoretisch.  Das gilt u.a.  für den Kern der  christlichen Gottesvorstellung. Die Ver‐

zeitlichung  des  Ewigen  ermöglicht  einen  anderen Wirklichkeitszugang. Die Welt gehört einem Schöpfer, der auf sie angewiesen ist, der sich in der Geschichte selbst verliert und finden muss: der sich am Kreuz einem Tod aussetzt, der ihn überhaupt erst sterben lässt. Die Vermenschlichung die‐ses Gottes markiert die absurde Zerrissenheit einer Weltauffassung, in der Gott  immer wieder Menschen dazu  bringt,  gegen  seine Gebote  zu  han‐deln. Er mutet sogar dem eigenen Sohn am Kreuz die äußerste Gottverlas‐senheit zu. 

„Diese  >Angelegenheit,  die  finsterer  und  schlimmer  ist,  als  dass  sich  leicht darüber sprechen ließe< betrifft das, was zwangsläufig als der verborgene per‐verse Kern des Christentums erscheinen muß: Wenn es verboten  ist,  im Para‐dies vom Baum der Erkenntnis zu essen, warum hat Gott den Baum dort ü‐berhaupt aufgestellt? Ist dies nicht Teil seiner perversen Strategie, Adam und Eva erst zum Sündenfall zu verleiten, um sie danach zu retten?“ (17) 

Dasselbe gilt für den Verrat des Judas. Mit ihm wird aber die subversive Hermeneutik dieser Theologik deutlich. Die Liebe dokumentiert  sich  im Verrat, der die Liebe auf  ihre  letzte Belastungsprobe stellt. Die Wahrheit dieses Vorgangs kennzeichnet die Unmöglichkeit, direkt zu lieben: 

40 Zizek, Slavoy: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 7. Im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert. 

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„Das Paradox, das diesem Sachverhalt zugrunde liegt, besteht darin, dass die Liebe, genau deshalb, weil sie das Absolute  ist, nicht als direktes Ziel postu‐liert werden, sondern den Status eines Nebenproduktes, das heißt von etwas, das uns als unverdiente Gnade zuteil wird, behalten muß.“ (21) 

Hier geschieht die konsequente Profanisierung des Offenbarungsglau‐bens, der mit seiner religiösen Kritik eine neue  intellektuelle Erklärungs‐kraft gewinnt. Zizek vollzieht dies in immer neuen überraschenden Wen‐dungen,  die  den  christlichen Glauben  nicht  nur  als  kulturellen  Subtext entziffern, sondern  in  ihm eine überaus  leistungsstarke Grammatik unse‐rer Selbstauffassung zu  lesen geben. Das gilt u.a.  für das  religionspoliti‐sche Problem des Pluralismus. Zizek referiert die geläufige Kritik an der vermeintlichen Gewaltimmanenz des Monotheismus, indem er ihn gerade als Ausdruck des bleibenden Unterschieds zwischen Gott und Welt und damit als Motor einer Kultur der Differenzen versteht: 

„Was, wenn es im Gegenteil der Polytheismus ist, der den allgemein geteilten (Hinter‐)Grund der Vielfalt von Göttern voraussetzt, während nur der Mono‐theismus die Lücke als solche, die Lücke im Absoluten selbst thematisiert, die Lücke, die nicht nur  (den einen) Gott von sich selber  trennt, sondern die Lü‐cke, die der Gott  ist. Diese Differenz  ist >reine< Differenz; nicht die Differenz zwischen positiven Entitäten,  sondern Differenz  >als  solche<. Monotheismus ist  daher  die  einzige  konsequente  Theologie  der  Zwei  –  im  Gegensatz  zur Vielheit, die sich nur vor dem Hintergrund des Einen, ihrem neutralen Grund, zur  Schau  stellen kann, wie die Vielheit der Figuren  vor demselben Hinter‐grund,…  ist  radikale Differenz die Differenz des Einen  im Hinblick auf  sich selbst, die Nicht‐Koinzidenz des Einen mit sich selbst, mit seinem eigenen Ort. Aus  diesem  Grund  ist  das  Christentum  kraft  der  Dreieinigkeit  der  einzige wahre Monotheismus. Die Lehre aus der Dreieinigkeit ist, daß Gott völlig mit der Lücke  zwischen Gott und Mensch koinzidiert, daß Gott diese Lücke  ist; dies ist Christus, nicht der jenseitige Gott, der vom Menschen durch die Lücke getrennt ist, sondern die Lücke als solche, die Lücke, die gleichzeitig Gott von Gott und den Mensch vom Menschen trennt.“ (27) 

Das  ist  aber dann  auch die  große Offenbarung des  christlichen Glau‐bens: Der Riss im System, der Bruch im Gefüge unserer Verhältnisse, das Geständnis,  dass  nicht  alles  im  Einen  aufgeht,  sondern  in  der  Spaltung bleibt. Die Sehnsucht nach der Vermittlung von Individualität und Totali‐tät erhält hier  gültigen Ausdruck. Die trinitarische Lösung erscheint dies‐bezüglich genial – nur dass  ihr  leider nicht mehr als die  Idee  selbst ent‐spricht.41  

41 Vgl. ebd., 77. 

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„Es gibt einen Gott, er  ist gut und reagiert auf unsere Wünsche, doch weil er nicht besonders gut hört und unsere Gebete häufig missversteht,  ist er auch die Ursache des Bösen und unseres Unglücks.“ (90) 

Die Offenbarungsbotschaft  von  der  Erlösung  verdoppelt  nur  die Not mit den Träumen und Wünschen nach gelingendem Leben, weil sich die Spaltung bis in das Gottesverhältnis fortsetzt. „Unsere radikale Erfahrung der Trennung von Gott  ist genau  jenes Merkmal, das uns auch mit  Ihm vereint.“ (93) Immerhin trägt dieser Vorgang dazu bei, diese notwendige Entfremdung zu durchschauen – was  im Übrigen auch psychoanalytisch gilt.  Das  aber  muss  auch  theologisch  radikalisiert  werden:  Wenn  das Christentum  die  Offenbarung  als  angemessene  Komplizierung  unserer Welt betreibt, dann  ist es konsequenterweise an den eigenen Enden auf‐zuhängen. Zizek spielt in diese Interesse ein Theaterstück ein – „The Man Who Sued God“ –,  in dem ein Mann aufgrund höherer Gewalt – „Act of God“  –  sein Boot verliert. Da  ihn die Versicherung daraufhin nicht  ent‐schädigen will, verklagt seine Anwältin die Kirchen als Vertreter Gottes. Das Problem: Entweder sie zahlen oder sie leugnen, Repräsentanten Got‐tes zu sein, was sie um ihre Stellung bringt – oder sie stellen ihrerseits die Existenz Gottes in Frage…  „Diese  reductio  in  absurdum verdeutlicht, was mit dieser Logik grundsätzlich nicht stimmt: Sie ist nicht zu radikal, sondern sie ist nicht radikal genug. Die ei‐gentliche Aufgabe  besteht  nicht  darin,  von  den  Verantwortlichen  eine  Ent‐schädigung  zu  erhalten,  sondern  ihnen  jene Position  zu  nehmen, die  sie  zu Verantwortlichen macht.  Statt  von Gott  (oder der  herrschenden Klasse  oder wem  auch  immer) Entschädigung  zu  verlangen,  sollte man  lieber die  Frage stellen: Brauchen wir Gott wirklich?“ (190) 

 Zizeks Offenbarungskritik ist durchschlagend. Sie knüpft am rationalen 

Kern des Christentums an, um von hierher seine inneren Widersprüche zu kennzeichnen. Damit fällt die Möglichkeit, an diesen Gott zu glauben. Die Wissensform selbst aber bewahrt  ihre  interpretative Bedeutung; sie muss sich  freilich  unter  veränderten  Umständen, mit  wesentlichen  Verschie‐bungen bewähren. Das schließt die Profanisierung des offenbarungstheo‐logisch als Allerheiligstes reklamierten Bereichs ein: 

„Vielleicht besteht die eigentliche Leistung des Christentums darin, daß es ein liebendes (unvollkommenes) Wesen in den Rang Gottes, das heißt den  der Vollkommenheit  schlechthin  erhebt. Darauf  beruht  der Kern der christlichen Erfahrung.“ (118) 

2. Philosophische Problematisierung:  Zur Kritik des Offenbarungsglaubens  

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Damit zeichnen  sich aber zugleich  signifikante Verschiebungen  im of‐fenbarungskritischen Diskurs der Moderne ab:  (1) Der Weg von der Bezweiflung der Vernünftigkeit des Offenbarungsglaubens (klassische Aufklärungskritik) führt 

(2) über die Aporetisierung der gesellschaftlichen Rationalisierungsverhältnisse und der Vernunft insgesamt (Adorno)  

(3) hin zur Aufdeckung der Rationalisierungsleistungen der Religion noch in ihrer Unglaubwürdigkeit (Zizek). 

 Vor  diesem  Hintergrund,  mit  diesem  Anforderungsprofil  hat  sich 

christliche Offenbarungstheologie in der Gegenwart zu behaupten.